Eigentlich war es die Idee von Jalil. Jalil ist der neunjährige Sohn von Esma und Malek, die vor zehn Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Syrien fliehen mussten und seither in der Schweiz leben. Meistens etwa anfangs Dezember, wenn die Tage immer kürzer werden und der erste Schnee fällt, erzählen Esma und Malek ihrem Sohn, dass damals, bevor der Krieg ausbrach, sowohl die islamischen, wie auch die jüdischen und christlichen Feste immer gemeinsam gefeiert wurden, zusammen mit allen Nachbarn im Quartier, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprache, unterschiedlicher Kultur und unterschiedlicher Religionen Seite an Seite friedlich zusammenlebten.
Das wäre doch etwas, sagte Jalil eines Morgens, als er zum ersten Mal in diesem Winter, so Ende November, an einem der Nachbarhäuser die erste Lichterkette sah. Könnten wir nicht auch hier, in der Schweiz, miteinander Weihnachten feiern, Christen und Moslems und vielleicht auch andere Religionen und vielleicht auch solche, die an überhaupt keinen Gott glauben? Esma und Malek waren zwar zunächst etwas skeptisch, denn bisher hatten sie hier in der Schweiz die meisten ihrer Nachbarn als ziemlich verschlossen erlebt, nur selten begegnete ihnen ein freundliches Lächeln, selten ein Gruss, viel öfter abwehrende Blicke, vor allem wegen des Kopftuchs von Esma, das die meisten sehr zu stören schien.
Doch Esma und Malek wollten ihrem Sohn nicht gleich zum Vornherein die ganze Freude verderben. Und ja, Jalil hatte auch schon ziemlich genaue Vorstellungen, wie man die Idee umsetzen könnte. Es lebten nämlich in dem Mehrfamilienhaus, wo sie wohnten, fünf Menschen ganz alleine in ihren Wohnungen, und weitere drei im Nachbarshaus. Man könnte doch, so stellte er sich das vor, diese acht Menschen einladen und mit ihnen gemeinsam Weihnachten feiern. Alle anderen hatten ja ihre Familien und ihre Verwandten, aber diese acht müssten dann an diesem Abend nicht, während andere fröhlich zusammen sein könnten, alleine und traurig in ihren Wohnungen sitzen. Nach und nach fanden auch Esma und Malek immer mehr Gefallen an der Idee. Es könnte ja auch, so dachten sie, eine Chance sein, sich besser kennenzulernen, mindestens diese acht einsamen Menschen, und nächstes Jahr vielleicht sogar alle anderen auch und in zwei oder drei Jahren vielleicht das ganze Dorf, wie damals in ihrer Heimatstadt.
Und dann ging es los. Jalil zeichnete schöne, bunte Einladungskarten mit Sternchen und dem Jesuskind, mit Kamelen, einer Moschee und dem arabischen Halbmond, alles zusammen im gleichen Bild. Esma schrieb den Text für die Einladung. Und Malek warf die Karten zwei Wochen vor Weihnachten in die acht Briefkästen in ihrem und dem Nachbarhaus. Ein kleiner Weihnachtsbaum aus Plastik wurde gekauft, mehr lag nicht drin, doch Jalil faltete aus verschiedenfarbigem Papier so viele bunte Vögel und hängte diese an den Baum, dass man ihn selber vor lauter Papiervögeln am Ende fast nicht mehr sehen konnte. Fürs Essen aber wurde an nichts gespart. Ihre eigenen Mahlzeiten hatten Esma und Malek eine Woche lang auf das absolute Minimum beschränkt, am Weihnachtsabend aber durfte es an nichts fehlen, die Gäste sollten mit einem wahren Festmahl beglückt werden wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Jetzt ist es sieben Uhr. Der Zeitpunkt, den Esma auf die Einladungskarten geschrieben hatte. Alles ist bereit. Das Essen füllt den Tisch bis an den Rand. Ein paar brennende Kerzen verleihen dem winzigen Essraum, in den sich bald schon elf Leute hineinquetschen werden, eine feierliche Atmosphäre. Alle warten gespannt…
Sieben Uhr dreissig. Ausser mir ist noch niemand gekommen. Malek und Esma haben das Essen noch einmal in den Ofen geschoben, damit es nicht kalt wird. Ihre Gesichter und das von Jalil werden länger und länger. Als um acht Uhr immer noch keiner der anderen sieben Eingeladenen da ist, ruft Esma ihre beste Freundin an, ebenfalls eine Flüchtlingsfrau aus Syrien, die mit ihrem Mann und zwei Töchtern am anderen Ende des Dorfes wohnt. Und während eine Viertelstunde später die vier Erwachsenen aus Syrien, ihre drei Kinder und ich rund um den Tisch sitzen, auf dem jetzt alle Köstlichen wieder bereit stehen, fehlt von allen anderen Eingeladenen immer noch jede Spur…
In diesem Augenblick fährt vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse ein grosses weisses Auto vor, lachende Menschen steigen aus, tragen stapelweise aufeinander geschichtete Geschenkpakete, riesige Schüsseln mit Salaten und Schokoladencrème die Treppe hoch und verschwinden nach und nach in dem mittlerweile hell erleuchteten Haus, von dem man munkelt, dass hier die reichste Familie des Dorfes wohnt.
Den dort mit der schwarzen Kappe, platzt es in diesem Augenblick aus Malek heraus, den kenne ich doch, das ist doch der, welcher…
Und jetzt brechen alle diese Geschichten, wie wenn ein Damm geborsten wäre, aus Esma, Malek und ihren Freunden heraus, Geschichten, die sie entweder selber erlebt haben oder die ihnen von anderen syrischen Flüchtlingen erzählt worden sind, die inzwischen schon längst in eine andere Gemeinde umgezogen sind, weil sie den ständigen Druck, die allumfassenden Kontrollen, permanente Bevormundung, Fremdbestimmung und das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, einfach nicht mehr ausgehalten hatten. Weggezogen in irgendeine andere Gemeinde, wo es vielleicht ein bisschen weniger schlimm ist. So hatten sie zum zweiten Mal die Flucht ergriffen. Dieses Mal nicht vor Panzern und Raketen, sondern vor Gemeindebeamten, Lehrerinnen, Gemeinderäten, Schulbehörden und den ganz gewöhnlichen Einwohnerinnen und Einwohnern einer ganz normalen, durchschnittlichen Gemeinde in einem der reichsten Länder der Welt. Sprachlos höre ich zu. Und spüre immer mehr, wie wichtig es ihnen ist, diese Geschichten einem Schweizer erzählen zu können, der ihnen einfach aufmerksam zuhört, ohne schon gleich mit Abwehr und Misstrauen zu reagieren.
Alle diese Geschichten. Die Geschichte eines syrischen Vaters, der wegen eines Streits seines Sohnes mit einem gleichaltrigen Kind auf dem Pausenplatz den Vater dieses Kindes aufsuchte, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu vermeiden, aber gar nicht erst zu Wort kam, sondern von diesem Vater sogleich beschimpft und ihm gedroht wurde, er würde sogleich die Polizei rufen, wenn sich der Syrier noch länger auf seinem Grundstück aufhalten würde. Die Geschichte einer syrischen Frau, die ihre in Finnland lebende Schwester, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und deren Familie für eine Woche zu sich einladen wollte, was ihr aber vom Sozialamt nicht erlaubt wurde, weil dieses befand, in der kleinen Wohnung wäre nicht genug Platz für neun Menschen, auch wenn es bloss für eine Woche wäre. Die Geschichte einer anderen syrischen Frau, die zu ihrem bisher einzigen Festtagskleid ein zweites hinzukaufen wollte, was ihr aber von der zuständigen Sozialbeamtin verweigert wurde mit der Begründung, eines müsste doch genügen – wo doch diese Festlichkeiten im kargen Leben einer Flüchtlingsfamilie die seltenen, wirklich ganz überragenden Gelegenheiten für Fröhlichkeit und Lebensfreude sind und sich doch auch keine einzige Schweizerin dabei stets nur in einem einzigen, immer gleichen Kleid präsentieren möchte. Die Geschichte einer weiteren Frau aus Syrien, die mehreren Kindern in ihrer Wohnung privaten Arabischunterricht erteilte, was bei einer Lehrerin der Volksschule so heftige Anschuldigungen auslöste, dass sie das Unterfangen schliesslich wieder aufgeben musste – die Lehrerin hatte ihr Vorgehen damit begründet, dass diese Kinder dadurch nicht mehr richtig Deutsch lernen würden, obwohl allgemein bekannt ist, dass eine Fremdsprache viel besser erlernt werden kann, wenn man seine eigene Muttersprache möglichst gut beherrscht. Die Geschichte von zwei Schülern einer sechsten Klasse, der eine ein Schweizer, der andere ein Syrier: Obwohl der Syrier in seinem Schlusszeugnis bessere Noten hatte als der Schweizer, wurde er der Realschule zugewiesen, der Schweizer aber der Sekundarschule, dies, weil sich seine Eltern erfolgreich gegen die Empfehlung des Klassenlehrers gewehrt hatten, während sich Flüchtlinge nicht nur in diesem, sondern auch in allen anderen Fällen, wo sie sich ungerecht behandelt fühlen, kaum je zu wehren oder aufzumucken wagen, weil sie stets zusätzliche Repressalien befürchten und die Gefahr, dass ihnen dies bei einem möglichen späteren Einbürgerungsverfahren zur Last gelegt werden könnte. Und schliesslich die Geschichte eines weiteren syrischen Oberstufenschülers, der wegen geringfügigen „Fehlverhaltens“ wie unerledigter Hausaufgaben oder zu lauten Sprechens während des Unterrichts aus der Schule geworfen wurde und drei Monate lang zu Hause bleiben musste, worauf dessen Eltern eines Tages wie ein Blitz aus heiterem Himmel von der Schulbehörde vorgeladen und ihnen mitgeteilt wurde, man hätte beschlossen, ihren Sohn in eine psychiatrische Klinik einzuweisen – ohne dass, was in solchen Fällen unerlässlich ist, ein medizinisches Gutachten vorlag und ohne dass, was ebenfalls unabdingbar ist, den Eltern das rechtliche Gehör gewährt wurde und sie den Entscheid nicht einmal in schriftlicher Form erhielten, was ebenfalls rechtlich zwingend wäre, damit ein Rekurs gegen den Entscheid ergriffen werden könnte. Nur weil der Vater eines ehemaligen Mitschülers des betroffenen Jugendlichen, ein Schweizer, von der Sache Wind bekam, sich einmischte und das missbräuchliche Vorgehen der Behörden auffliegen liess, konnte die Einweisung in eine Klinik rechtzeitig abgewendet und der Jugendliche wieder einer regelmässigen normalen Beschulung zugewiesen werden.
Ich bin tief betroffen. Einen solchen Weihnachtsabend habe ich noch nie erlebt. Ich werde das alles mitnehmen, sage ich, und noch heute in der Nacht eine Geschichte schreiben, eine Weihnachtsgeschichte aus dem Jahre 2024, aus einem der reichsten Länder der Welt.
Inzwischen sind die Kerzen schon fast zur Hälfte abgebrannt. Eigentlich wäre es ja viel schöner gewesen, man hätte einen gemütlichen Abend verbringen können. Aber das wortlose Fernbleiben der eingeladenen Gäste und die plötzlich wieder aufgebrochenen Erinnerungen an so viele Demütigungen von Menschen, die unter so leidvollen Bedingungen ihre ursprüngliche Heimat aufgeben mussten und trotz allen guten Willens dennoch bis heute immer noch keine echte neue Heimat finden konnten, waren einfach viel zu übermächtig.
Und auf einmal, weil ich ja der einzige Christ in der Runde bin, fragt mich Jalil, weshalb denn eigentlich Weihnachten gefeiert werde und was genau der Sinn davon sei. Ich erzähle ihm die Geschichte von Maria und Josef, die sich infolge einer vom römischen Kaiser Augustus angeordneten Volkszählung an den Heimatort von Josef begeben mussten, nach Bethlehem. Als sie in keiner Herberge Platz fanden, weil alles voll war, suchten sie in einem Stall Unterschlupf, wo ihr Kind zur Welt kam, ein ganz aussergewöhnlicher Mensch, wie sich später zeigen sollte. Viele nennen ihn „Sohn Gottes“, für andere ist er einfach ein überaus vorbildlicher Mensch, dessen Botschaft vom Frieden und von der Nächstenliebe unzählige Menschen elektrisierte und uns bis heute, über 2000 Jahre, immer noch tief berührt und gerade in einer so sehr von Hunger, Armut und Kriegen geplagten Welt aktueller ist denn je. Ja, erkläre ich Jalil, eigentlich ist Weihnachten das Fest der Nächstenliebe. Doch im gleichen Moment, da ich das Wort sage, wird mir gleichzeitig bewusst, wie schwer es mir gefallen ist, es über die Lippen zu bringen.
Später räumen Esma und Malek die übrig gebliebenen, während so vieler Stunden gekochten und gebackenen Köstlichkeiten wieder vom Tisch. Die Kerzen sind jetzt endgültig niedergebrannt und auch die anderen Gäste sind inzwischen wieder gegangen. Aus dem Haus auf der anderen Seite der Strasse tönt immer noch fröhliches Gelächter, fast ein wenig schmerzend. Jalil hat die Papiervögel vom kleinen Plastikbaum wieder abgenommen und fein säuberlich nebeneinander auf die Kommode gelegt. Ob man das Bäumchen wohl noch ein weiteres Mal brauchen wird? Als ich mich verabschiede und für alles bedanke, sagt Esma: „Ab heute gehörst du zu unserer Familie. Du brauchst dich nicht anzumelden, nicht vorher anzurufen, du musst nicht einmal an der Türe klopfen, du kommst einfach herein, jederzeit.“
Inzwischen hat sich die Nacht wieder in ihrer vollen Schwärze über das Dorf gelegt. Über dieses Dorf, wo alles in schweizerischer Perfektion und Gründlichkeit funktioniert, millimetergenau, im Sekundentakt, fehlerfrei auf jeden Punkt und jedes Komma gebracht. Wo wirklich alles funktioniert. Alles ausser die Liebe.
Anmerkung 1: Die Rahmenhandlung dieses Textes ist erfunden, beruht aber auf tatsächlichen Begebenheiten und Erfahrungen von syrischen Flüchtlingen im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung einer schweizerischen Kleinstadt. Sie könnte sich zweifellos genau so ereignet haben. Die im Text erwähnten Beispiele von Geschichten, welche syrische Flüchtlinge in dieser Stadt erlebt haben (inkl. Fast-Einweisung eines Jugendlichen in eine psychiatrische Klinik), sind aber alle 1:1 authentisch.
Anmerkung 2: Als Esma den Artikel gelesen hatte, schrieb sie mir, es tue ihr so leid, dass ich an diesem Tag so traurig gewesen sei. Was für wunderbare Menschen. Haben so viel Leid erfahren und bedauern dann sogar noch, dass mich das traurig macht und ich nicht so richtig unbeschwert und fröhlich Weihnachten „feiern“ konnte.