
Wann immer Eltern oder andere Erziehungspersonen mit anderen Eltern oder Erziehungspersonen über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen sprechen und dabei früher oder später dann jemand die Aussage macht, es sei unerlässlich, wichtig und diene sogar letztlich dem Wohl des Kindes, ihm dann und wann seine „Grenzen aufzuzeigen“ oder ihm „Grenzen zu setzen“, dann kann er sich in 99 von 100 Fällen der vollen Zustimmung in der jeweiligen Gesprächsrunde gewiss sein. Es gibt wenige pädagogische „Leitsätze“, über die es einen dermassen breiten Konsens gibt und die so selten hinterfragt werden.
Gerade deshalb will ich es versuchen. Denn wenn jemand etwas sagt und alle anderen ausnahmslos nicken, dann macht mich das meistens ein wenig misstrauisch. Gibt es tatsächlich keine andere Sichtweise? Ist es eine unumstössliche, durch nichts zu widerlegende Tatsache, dass es eine wichtige, ja geradezu unerlässliche Erziehungsaufgabe der Erwachsenen sei , Kindern und Jugendlichen immer wieder „Grenzen zu setzen“? Und weshalb denn sollte das überhaupt nötig sein? Gäbe es keine Alternativen dazu?
Beginnen wir bei der Frage, wem denn überhaupt das „Recht“ zusteht, anderen Grenzen zu setzen. Sogleich wird klar, dass es stets die Erwachsenen sind, welche sich für befugt fühlen, Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen. Das Umgekehrte ist undenkbar. Eltern, Lehrkräfte oder andere „Erziehungspersonen“ könnten sich gegenüber Kindern oder Jugendlichen noch so herablassend, beleidigend oder ausfällig benehmen, sie noch so ungerecht behandeln, sie ungerechtfertigt beschuldigen, sie mit gröbsten Worten beschimpfen, sie sogar verprügeln oder misshandeln – nie haben die Kinder und Jugendlichen das „Recht“ darauf, ihren Eltern „Grenzen“ zu setzen. Und auch die Definition der „Grenzen“, die nicht überschritten werden dürfen, ist einzig und allein eine Sache der Erwachsenen. Eltern, aber auch Lehrkräfte oder andere Erziehungspersonen sind dabei – ohne jegliche Kontrolle von aussen – weitestgehend frei und können willkürlich darüber entscheiden, wie eng oder wie weit sie diese Grenzen ziehen: Was in der einen Familie oder in der einen Schulklasse noch längstens erlaubt ist, zieht in der anderen Familie schon eine grobe Zurechtweisung und in der anderen Schulklasse bereits eine Bestrafung nach sich.
Adultismus nennt man das. Dass Erwachsene mehr Rechte haben als Kinder oder Jugendliche, und zwar einzig und allein deshalb, weil sie älter sind. Das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie entsprechendes Verhalten begründet bzw. geahndet wird: Versuchen Kinder, ihren Eltern Grenzen zu setzen, etwa indem sie ihnen widersprechen, sich ihren Anordnungen widersetzen oder sich schlichtweg verweigern, herumbrüllen oder auf andere Weise ausfällig werden, wird dies als „Ungehorsam“, „Frechheit“ oder „Renitenz“ bezeichnet, je nach Alter auch als „Trotzphase“ oder „typisch pubertäres Verhalten“, usw., während umgekehrt das Ansinnen von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen, stets beschönigend als „Erziehung“ bezeichnet wird, selbst dann, wenn die entsprechenden Massnahmen jegliches vernünftiges Mass überschreiten oder aus reinem Affekt, Hilflosigkeit oder Überforderung erfolgen – bis vor Kurzem wurden sogar Ohrfeigen oder andere Formen von physischer Gewalt selbst von gewissen „Erziehungsfachleuten“ als durchaus legitimes Instrument verharmlost oder geradezu glorifiziert, welches halt zeitweise unumgänglich sei, um die Kinder „auf den richtigen Weg“ zu bringen – ich erinnere mich sogar an einen Vater, der mir einmal erklärte, er ohrfeige seine Kinder bloss deshalb, weil er sie so sehr liebe.
Da aber alle Kinder von Natur aus über einen überaus starken Gerechtigkeitssinn verfügen, geht alles, was ihnen von Erwachsenen angetan wird, nur weil diese älter sind und mehr „Macht“ haben als sie selber, nicht spurlos an ihnen vorüber. Entweder, wenn sie wenig Selbstvertrauen haben, unterwerfen sie sich dieser Vormacht der Erwachsenen, fühlen sich selber schuldig, versuchen, sich möglichst so zu verhalten, dass sie nicht anecken und die Erwartungen der Erwachsenen möglichst adäquat erfüllen. Oder aber, die Wut darüber, ungerecht behandelt zu werden, staut sich in ihrem Inneren auf und bricht dann, oft ganz plötzlich oder unerwartet, zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort umso stärker wieder auf, etwa in der Form von Gewalt oder Bevormundung gegenüber einem jüngeren Geschwister.
Man mag an dieser Stelle einwenden, grobe körperliche Gewalt wie eine Ohrfeige könne man nicht vergleichen mit einem vernünftigen, massvollen „Grenzensetzen“, wie es eben so oft und in so grosser Übereinstimmung als sinnvolle „Erziehungsmassnahme“ begründet wird. Es geht aber in beiden Fällen um Vorrechte von Erwachsenen gegenüber Jüngeren, ohne dass diese auch nur im Entferntesten das Recht hätten, vergleichbare Massnahmen gegenüber Älteren zu ergreifen. Ob es die Ohrfeige ist oder „nur“ die Aufforderung, wegen zu zappligen, lauten und „störenden“ Verhaltens den Mittagstisch zu verlassen und ins Kinderzimmer zu gehen: Das daraus resultierende Gefühl ist im Prinzip das selbe: Das „fehlbare“ Kind fühlt sich zurückgesetzt, gedemütigt, muss seine eigenen Gefühle zurückstecken, sein Verhalten verändern, sich anpassen, sich unterwerfen – oder aber, es muss irgendeine Form von Bestrafung in Kauf nehmen. Und es geht sogar noch weiter: Weil es einigen Kindern leichter fällt, sich anzupassen, anderen dagegen viel schwerer, erfährt das sogenannt „aufmüpfige“ oder „unfolgsame“ Kind immer wieder eine Zurücksetzung und Entwertung seiner selbst, am schlimmsten in der Form von Liebesentzug, wenn das Kind spürt, dass es, ohne dass dies offen ausgesprochen werden müsste, bloss aufgrund seines Verhaltens – das ja nie ein bewusstes „Fehlverhalten“ ist, sondern stets bloss der Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit bzw. seines individuellen Charakters – weniger geliebt wird als ein anderes. Das ist wohl die tiefste, schlimmste und folgenreichste Verletzung, die man einem Kind zufügen kann, und hat häufig lebenslange Folgen: Menschen, die sich als Kinder weniger geliebt fühlten als andere, schleppen diesen Liebesentzug oft lebenslang mit, wie auf der endlosen Suche nach einem verlorenen Schatz, den man dann entweder irgendwann in der Gestalt eines Menschen, der die verlorene Liebe bedingungslos zurückbringt, wieder findet, oder aber dieses Loch mit tausenden Ablenkungen, Beschäftigungen oder Süchten aller Art zu füllen versucht und dennoch diese Leere wie ein lebenslanger Schatten nie gänzlich verschwindet.
Egal, wie man Grenzen zieht: Es sind immer Trennlinien zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“. Sobald es eine Grenze gibt, bin ich entweder „drinnen“ oder „draussen“, entweder akzeptiert oder nicht akzeptiert, entweder geliebt oder nicht geliebt, entweder ein Einheimischer oder ein Flüchtling, entweder legal oder illegal, entweder einer, der ins System passt, oder einer, der nicht ins System passt, entweder ein Angekommener oder ein Randständiger, entweder ein Insider oder ein Outsider, entweder einer, der es geschafft hat, oder einer, der versagt hat. Nur eine Auflösung sämtlicher Grenzen, sowohl auf den Landkarten wie auch in den Köpfen der Menschen, kann umfassende Gerechtigkeit und Menschenwürde schaffen.
Im Jahr 2019 lief in den Kinos der deutsche Spielfilm „Systemsprenger“. Er zeigt den Leidensweg der neunjährigen Benni zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie und Heimen und der erfolglosen Teilnahme an mehreren Therapieprogrammen. Es handelt sich um eine erfundene Geschichte, die aber auf zahlreichen Dokumenten, Berichten und psychologischen Gutachten von Kindern und Jugendlichen mit vergleichbaren Lebensgeschichten beruht.
Je mehr Grenzen man Benni zu setzen versucht, umso wilder gebärdet sie sich. Ihre Wutausbrüche sind auf ein Trauma zurückzuführen, welches sie als Baby erlitten hatte. Ihr war eine Windel ins Gesicht gepresst worden, sodass sie beinahe erstickt wäre. Dieses Trauma hatte auch zur Folge, dass Benni Berührungen im Gesicht nicht erträgt und diese bei ihr eine sofortige heftige, panische und traumatische Reaktion auslösen. Ihre wiederholten Wutausbrüche nehmen dermassen drastische Formen an, dass sie schliesslich aus der Schule fliegt, die mit der kleinen „Bestie“ völlig überfordert ist, und im Folgenden auch durch sämtliche Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen droht, gefangen in einem heillosen Teufelskreis zwischen ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit in einer richtigen Familie und ihrem totalen Unvermögen, die Bedürfnisse anderer Menschen angemessen zu respektieren. Am liebsten würde sie bei ihrer Mutter Bianca leben, doch diese ist mit dem unberechenbaren und gewalttätigen Verhalten ihrer Tochter hoffnungslos überfordert, hat noch mit zwei weiteren Kindern alle Hände voll zu tun und erfährt zudem von ihrem Lebensgefährten Jens, der auf die Entgleisungen der kleinen „Systemsprengerin“ ausschliesslich mit Härte, Strafen und Zurechtweisungen reagiert, keinerlei Unterstützung. Schliesslich eskaliert die Situation vollends, als Jens, weil er sich nicht mehr anders zu helfen weiss, Bennie in einen Schrank einsperrt und von der Polizei abholen lässt. Nach mehreren weiteren gescheiterten Therapieversuchen erklärt sich Bianca, die sich inzwischen von Jens getrennt hat, bereit, Benni bei sich aufzunehmen, zieht ihr Angebot aber aus Angst davor, Bennis Wutausbrüchen nicht gewachsen zu sein, kurz darauf wieder zurück. Auch die Unterbringung bei einer früheren Pflegemutter schlägt fehl, als Benni ein dort wohnendes Pflegekind bei einem weiteren Wutausbruch schwer verletzt. Nun kommen als letzte Optionen nur noch die Einweisung in eine geschlossene pädagogische Einrichtung oder ein längerer Auslandsaufenthalt in Betracht. In äusserster Verzweiflung sucht Benni Schutz bei Micha, einem Sozialarbeiter, von dem sie sich anlässlich einer ihrer zahlreichen Therapien einigermassen verstanden gefühlt hatte. Micha und seine Frau erklären sich bereit, Bennie für eine Nacht bei sich aufzunehmen. Am nächsten Morgen, Micha und seine Frau schlafen noch, gibt Benni dem schreienden Aaron das Fläschchen, sie streichelt das Baby und spielt zärtlich und liebevoll mit ihm die längste Zeit. Wie durch ein Wunder darf Aaron Benni im Gesicht berühren, ohne dass dies bei ihr eine traumatische Reaktion auslöst. Doch als die Mutter auftaucht und Benni auffordert, ihr das Baby in die Arme zu geben, reagiert Benni mit einem weiteren masslosen Wutausbruch, brüllt Aarons Mutter an und schliesst sich mit ihm im Badezimmer ein. Micha, durch den Tumult erwacht, tritt aus Angst um seinen Sohn die Badetür ein. Benni ist aber schon aus dem Badezimmer geflüchtet und rennt Richtung Wald, Micha ihr hinterher. Benni bleibt kurz stehen, überschüttet Micha mit einer Flut von Schimpfwörtern und rennt dann weiter in den Wald. Stunden später wird sie unterkühlt aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Versuch, als letzte Massnahme Benni auf einen Auslandaufenthalt nach Afrika zu schaffen, scheitert, als sie sich im Flughafen weigert, ihr Kuscheltier röntgen zu lassen, und aus dem Sicherheitsbereich wegrennt. Der Film endet, als sie auf der Flucht, laut lachend, in die Luft springt – in diesem Augenblick friert das Bild ein und bekommt Risse, als sei sie gegen eine Glasscheibe gesprungen.
Die Geschichte von Benni zeigt auf eindringliche, geradezu erschütternde Weise: Je mehr Grenzen ihr gesetzt werden, umso schlimmer wird es. Denn damit bekommt sie immer nur genau das Gegenteil dessen, was sie eigentlich bräuchte: Liebe. Hass und Gewalt sind nichts anderes als die unersättliche Sehnsucht nach verweigerter oder verlorener Liebe. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte schon Johann Heinrich Pestalozzi, vor über 250 Jahren, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Und die deutsche Rockband „Die Ärzte“ beschrieb in einem ihrer bekanntesten Songs das Gleiche mit diesen Worten: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“ Nicht Grenzen, nicht Belehrungen, nicht Bevormundung, nicht Machtdemonstration, nicht Härte ist das, was Bennie wirklich braucht. Das Einzige, was auch die tiefsten Verletzungen und Wunden zu heilen vermag, ist die Liebe.
Gehen wir zurück an den Ursprung, an die Quelle, an den Punkt, wo alles angefangen hat. „Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben“, so der italienische Dichter Dante Alighieri: „Kinder, Blumen und Sterne.“ Um die tiefsten Geheimnisse zu ergründen, müssen wir nicht die Erwachsenen fragen, sondern die Kinder. Was sie fühlen und denken, kommt aus dem Paradies, aus dem tiefsten Grund der Seele, aus dem Universum.
Fragst du die Kinder, wirst du kein einziges finden, das sich wünscht, Grenzen gesetzt zu bekommen. Jedes Kind wünscht sich, Grenzen aufzubrechen, Grenzen zu überwinden, Grenzen zu sprengen – und damit ihrem grössten Idol nachzueifern, Pippi Langstrumpf, die sogar mit blossen Händen ein ausgewachsenes Pferd in die Höhe zu stemmen vermag und von der ihre Schöpferin Astrid Lindgren sagt, „egal, ob sie singt, tanzt, spielt oder isst, sie ist immer mit ganzem Herzen dabei.“ Pippi liebt das Leben und das strahlt sie auch mit jeder Zelle ihres Körpers aus. Sie kann allem etwas Positives abgewinnen und begeistert sich auch für die kleinsten Dinge. Um die Meinung anderer Leute kümmert sie sich nicht, sondern hört in sich selber hinein, was gut für sie ist und was nicht. Und so passiert es halt auch immer wieder, dass sie sich mit Autoritäten anlegt, dennoch oder gerade deshalb geht sie unbeirrbar ihren Weg. Sich selber bezeichnet sie als „Sachensucherin“, denn die Welt, so erklärt sie ihrem Freund Tommy, sei voll von Sachen, und es sei wirklich nötig, dass jemand sie finde. Ihr Leitsatz lautet: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“ Denn sie glaubt an die Macht der Phantasie. Sie will zeitlebens ihr inneres Kind bewahren, ihren spontanen Ideen folgen und sich die Dinge vor ihren eigenen Augen so lebendig vorstellen, als wären sie schon Wirklichkeit. „Alles, was an Grossem in der Welt geschah“, so Astrid Lindgren, „vollzog sich zuerst in der Phantasie der Menschen.“ Auch der deutsche Dichter Hermann Hesse war überzeugt: „Damit das Mögliche entstehen kann“, schrieb er, „muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“
In der Tat. Genau das, das Überwinden und Sprengen von Grenzen, ist die Voraussetzung für jegliche Veränderung, für jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt. Grenzen setzen hingegen heisst nichts anderes, als das Bestehende vor Neuem und Unkonventionellen zu schützen und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass alles so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, selbst wenn es sich nicht bewährt hat, selbst wenn es kläglich gescheitert ist. Veränderungen haben immer dann stattgefunden, wenn einzelne Menschen den Mut und genug Selbstbewusstsein hatten, um vorhandene Gesetze, Regeln oder Grenzen, wenn sie sich mit ihren innersten Gefühlen von Liebe und Gerechtigkeit nicht im Einklang befanden, zu verletzen, zu missachten, zu sprengen: In der um 400 v.Chr. vom griechischen Dichter geschriebenen Komödie „Lysistrata“ gelingt es einem Bündnis pazifistischer Frauen, mittels einer Sitzblockade vor dem Parthenon, der Schatzkammer Athens, sowie durch gemeinsame sexuelle Verweigerung gegenüber ihren Ehemännern den Krieg zwischen Athen und Sparta zu beenden. Ebenfalls aus der griechischen Mythologie kennen wir die unerschrockene, einzig und allein ihrem Gewissen folgende Antigone, welche sich weigerte, den Körper ihres geliebten Bruder Eteokles nach einem tödlichen Bruderzwist wilden Tieren zum Frass vorwerfen zu lassen, und stattdessen darauf beharrte, dass er ebenso wie sein Bruder mit allen Ehren begraben wurde, obwohl ihr Vater, der König Kreon, ihr dies mit der Androhung einer Todesstrafe verboten hatte. Der US-Amerikaner Henry David Thoreau verweigerte um 1850 das Bezahlen seiner Steuern, um damit gegen den Krieg der USA gegen Mexiko und den unmenschlichen Sklavenhandel zu protestieren. In die Geschichte eingegangen sind auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die mutig und kompromisslos mit der Verbreitung von Flugblättern und anderen Protestaktionen gegen die Diktatur des Nationalsozialismus ankämpften und dies mit ihrem Tod bezahlen mussten. Berühmt geworden ist auch Rosa Parks, eine 42jährige Schwarze, die sich am 1. Dezember 1955 im US-amerikanischen Montgomery auf der Fahrt in einem städtischen Bus weigerte, ihren Sitzplatz einem weissen Fahrgast zu überlassen, der sich auf das Gesetz berief, wonach Schwarze ihre Plätze für Weisse freigeben müssten, wenn es nicht genug Sitzplätze für alle hätte – dieser Akt von „Grenzverletzung“ war der Auslöser für eine sich in der Folge massenhaft ausbreitende Bürgerrechtsbewegung, welche schliesslich unter der Führung von Martin Luther King die Gleichberechtigung der schwarzen mit der weissen Bevölkerung in den USA entscheidend voranbrachte. Aktuell geben die Hilfs- und Widerstandsaktionen einzelner Aktivistinnen und Aktivisten für sich in Gefahr oder Not befindliche Flüchtlinge zu reden, die sich mutig darüber hinwegsetzen, dass solche Aktionen gemäss EU-Gesetzen „illegal“ sein sollen, besonders bekannt geworden ist die Fluchthelferin Carola Rackete, die, nebst vielen anderen, wegen ihres humanitären Engagements sogar zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Das sind nur ein paar wenige herausragende Beispiele von Menschen, stellvertretend für unzählige andere, die sich im Laufe der Geschichte mit ihrem mutigen Eintreten für Menschenwürde und Gerechtigkeit immer wieder über bestehende Gesetze, Regeln und Vorschriften hinwegsetzten und damit der Tradition eines Rechts auf „zivilen Ungehorsams“ zum Durchbruch verhalfen, auf welches sich bis heute weltweit Menschen berufen, die nicht bereit sind, ihr persönliches Gewissen übergeordneten Gesetzen zu opfern, welche die Menschenwürde zutiefst missachten. Denn „wenn Unrecht zu Recht wird“, so der deutsche Dramatiker Bertolt Brecht, „wird Widerstand zur Pflicht.“
Die „NZZ am Sonntag“ berichtete am 1. Juni 2025 über die dramatische Zunahme körperlicher Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen in Schweizer Familien im Verlauf der letzten paar Jahre. „Oft haben Kleinkinder, die noch nicht einmal laufen können, Brüche“, berichtet Dörthe Harms Huser, leitende Kinderärztin am Kantonsspital Baden, „bei anderen sind auf der Haut Abdrücke einer Gürtelschnalle zu sehen, häufig haben wir es auch mit bereits älteren Brüchen zu tun, die nie behandelt wurden. Kinder werden geschlagen, gekratzt, gebissen, geschüttelt.“ Fachleute sagen, dass es zusätzlich über die in die Spitäler eingelieferten Fälle hinaus eine hohe Dunkelziffer gäbe. Harms Huser erklärt sich die erschreckende Zunahme körperlicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche unter anderem damit, dass sich die Lebensumstände vieler Familien in den letzten Jahren massiv verschärft hätten: Alles werde teurer, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf werde für viele zur kaum mehr zu bewältigenden Herausforderung, wirtschaftliche Unsicherheiten und die Angst vor einem Jobverlust wie auch die geopolitische Lage brächten zusätzliche Schwierigkeiten und Belastungen mit sich und sehr viele Menschen erführen trotz einem riesigen Aufwand an Arbeit und persönlichem Einsatz in ihrem Alltag nur wenig Wertschätzung. Dies alles seien aus ihrer Sicht Faktoren, die mit dem dramatischen Anstieg von Kindsmisshandlungen in Zusammenhang stünden.
Die in einer Gesellschaft herrschende Gewalt kommt – wie es das Wort „herrschend“ schon sagt – nie von unten nach oben, sondern immer nur von oben nach unten, von denen, die mehr Macht haben, gegen die, welche weniger Macht haben, bis hinunter zu den Kindern und Jugendlichen, denen, die am Ende all das ausbaden müssen, was an Druck, Demütigung, Bevormundung und übertriebenen, unrealistischen Forderungen und Erwartungen stufenweise von ganz oben bis ganz nach unten weitergegeben wird. Wer sich im Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen darauf ausrichtet, diese immer wieder in „Schranken“ zu weisen und ihnen „Grenzen“ zu setzen, macht sich unweigerlich, ob er will oder nicht, zum Komplizen dieses Machtsystems. Grenzen setzen sollte man nicht Kindern und Jugendlichen, die aus zeitweiligem Übereifer, aus Ungeduld, Bewegungsfreude oder Abenteuerlust da und dort über die „Stränge“ hauen, bestehende Normen oder Gewohnheiten in Frage stellen oder sich ihnen verweigern. Grenzen setzen müsste man vielmehr dringendst einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtsystem, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, auf Kosten von Lebensfreude, Lebensgenuss und Zwischenmenschlichkeit aus den Menschen auf Schritt und Tritt das Maximum an ökonomisch verwertbarer und materiellen Profit schaffender Leistung herauszupressen und sie dabei einem beständigen gegenseitigen Konkurrenzkampf auszusetzen, aus dem ausgerechnet jene am erfolgreichsten hervorgehen, die sich am wenigsten um das Wohl anderer kümmern. Rebellierende und widerspenstige Kinder, welche bestehende Normen, scheinbare Selbstverständlichkeiten und herrschende Denkgewohnheiten in den Köpfen der Erwachsenen in Frage stellen, sind das wunderbare Geschenk, welches die Kinder uns aus dem „Paradies“ mitgebracht haben, um uns für all die Widersprüche und all die Fremdbestimmung, an die wir uns im Laufe des Älterwerdens nach und nach gewöhnt haben, immer wieder von neuem die Augen zu öffnen. „Macht“, sagte der berühmte britische Schauspieler und Regisseur Charlie Chaplin, „brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe um es zu erledigen.“
(Was für das „Grenzen setzen“ gilt, gilt auch für einen weiteren Leitsatz, der in Zusammenhang mit dem Erziehungsverhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen oft zu hören ist und ebenfalls meist auf ungeteilte Zustimmung seitens der Erwachsenen stösst: nämlich, die Erziehungspersonen müssten möglichst „am gleichen Strick ziehen“. Das wird dann in der Praxis meist so verstanden, dass alle, die gegenüber einem bestimmten Kind eine pädagogische Funktion haben – von den Eltern und der Lehrperson über Schulpsychologen und Vertreterinnen weiterer Fachstellen bis hin zu den zuständigen Behördemitgliedern – möglichst konsequent die gleiche Haltung vertreten und möglichst niemals „ausscheren“ sollten, um dem Kind gar keine andere Wahl zu lassen, als sich der entsprechenden „Erziehungsmassnahme“ zu unterwerfen. Auch hier wird stets mit dem „Wohl des Kindes“ argumentiert. Für ein Kind aber, wenn es sich aufgrund seiner aktuellen Lebenssituation gerade weniger zu Anpassung und Unterwerfung, sondern eher zu Widerstand und Auflehnung hingezogen fühlt, kann so etwas unter Umständen als katastrophale Bevormundung und Fremdbestimmung empfunden werden, verbunden mit einem extremen Ohnmachtsgefühl, wenn es sich ganz alleine einer Übermacht von Erwachsenen gegenübersieht, denen es ausgeliefert ist, ohne dagegen etwas tun zu können, Erwachsenen, die es doch angeblich alle so „gut“ mit ihm meinen. Der vielgelobte Strick wird dann zu einem tödlichen Instrument, mit dem die Erwachsenen, wenn sie gemeinsam nur genug fest daran ziehen, im schlimmsten Fall das Kind „erwürgen“ und – ebenfalls ein Begriff, der in der pädagogischen „Fachliteratur“ nicht selten auftaucht – „seinen Willen brechen“ können, alles zum angeblichen „Wohl“ des Kindes.)