Einer meiner Deutschschüler, den ich seit zwei Monaten unterrichte, flüchtete mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem jüngeren Bruder vor zwei Jahren aus der Ukraine in die Schweiz, eine riesige Erleichterung nach einem Leben in beständiger Angst und Unsicherheit. Heute aber macht er auf mich einen überraschend geknickten Eindruck. Er erzählt…
„Lange Zeit war es einfach nur ein Gefühl der Dankbarkeit, so grosszügig als Flüchtling in der Schweiz aufgenommen zu werden. Doch vor ein paar Tagen erzählte mir eine aus Syrien geflüchtete Kurdin, wie schwierig es in den letzten paar Jahren für Menschen aus ihrem Land und auch aus anderen südlich und östlich gelegenen Ländern wie Afghanistan oder Eritrea geworden sei, in der Schweiz noch eine Chance auf Asyl zu bekommen. Ich hatte das, ehrlicherweise, nicht gewusst. Und es hat mich sehr traurig gemacht. Ich bin zwar glücklich, in der Schweiz so grosszügig ein Aufenthaltsrecht bekommen zu haben. Aber seitdem ich weiss, dass es gleichzeitig für Flüchtlinge aus anderen Ländern immer schwieriger geworden ist, hier aufgenommen zu werden, vermag es mich nicht mehr so richtig glücklich zu machen…„
In der Tat…
Aufgrund des Kriegs in der Ukraine hatte der Bundesrat per 12. März 2022 den Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine aktiviert, die somit kein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Zurzeit haben rund 66‘000 Personen aus der Ukraine einen aktiven Status S in der Schweiz. Der Schutzstatus S gilt bis zur Aufhebung durch den Bundesrat. Voraussetzung für die Aufhebung ist eine nachhaltige Stabilisierung der Lage in der Ukraine. Da sich eine solche zurzeit nicht abzeichnet, hat der Bundesrat beschlossen, den Schutzstatus S bis zum 4. März 2026 nicht aufzuheben. Die erstmals am 13. April 2022 beschlossenen spezifischen Unterstützungsmassnahmen für Personen mit Schutzstatus S werden deshalb ebenfalls bis zum 4. März 2026 verlängert. Der Bund beteiligt sich mit 3000 Franken pro Person und Jahr an den Integrationsanstrengungen der Kantone, insbesondere zur Sprachförderung und zum Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Zudem sollen mithilfe zusätzlicher Massnahmen die Kommunikation und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure, die Unterstützung von Projekten zur Begleitung bei der Anerkennung von Qualifikationen und Diplomen und eine Optimierung der Vermittlung durch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren verbessert werden. Schutzsuchende aus der Ukraine können und sollen durch Integrationsmassnahmen, Bildung und Erwerbsarbeit auch aktiv am sozialen Leben teilnehmen und Fähigkeiten im Hinblick auf eine künftige Rückkehr in die Heimat erhalten und aufbauen.
Als die Schweiz im März 2022 76‘195 anerkannte Flüchtlinge und 44‘779 vorläufig Aufgenommene zählte, zögerte die Regierung keinen Augenblick, weitere 62‘820 Menschen – ausschliesslich Ukrainerinnen und Ukrainer – aufzunehmen und für diese sogar extra einen eigenen Schutzstatus in Form einer S-Bewilligung mit besonderen Privilegien zu schaffen. Wenn heute, dreieinhalb Jahre später, ein paar Tausend Menschen aus Afghanistan, Eritrea oder dem Kongo in der Schweiz Schutz suchen, geht das grosse Wehklagen los, die Schweiz würde von Flüchtlingen «überflutet» und das «Boot» sei langsam «voll».
Als es um die Flüchtlinge aus der Ukraine ging, sprach kein Mensch von Überflutung und einem vollen Boot. Ganz im Gegenteil: Unzählige Türen, die zuvor dicht verschlossen waren, gingen plötzlich wie durch ein Wunder auf. Plötzlich sprachen die Medien auffallend oft, wenn es um Ukrainerinnen und Ukrainer ging, nicht mehr von «Flüchtlingen», sondern von «Schutzsuchenden». Tausende von Familien und Einzelpersonen nahmen ukrainische Flüchtlinge bei sich zuhause auf. Lastwagenweise wurden Möbel, Decken, Kleider, Spielsachen und Nahrungsmittel zusammengekarrt. Ganze Vereine wurden extra zu dem Zweck gegründet, Unterstützung für Menschen aus der Ukraine zu organisieren. Freiwillige Helferinnen und Helfer leisteten Tausende von Stunden Gratisarbeit. Eigens für ukrainische Kinder wurden Spiel- und Lerngruppen geschaffen, pensionierte Lehrkräfte sprangen für Deutschkurse ein, an welchen niemand ausser Menschen aus der Ukraine teilnehmen durften. Man organisierte ganze Kunstausstellungen, Theater- und Konzertaufführungen, an denen sich ausschliesslich Menschen aus der Ukraine aktiv beteiligen durften. An zahllosen Balkonen, auf Kirchtürmen und selbst an Regierungsgebäuden wehten landauf landab auf einmal überall ukrainische Nationalflaggen und nicht wenige Schweizerinnen und Schweizer erachteten es sogar plötzlich als besonders schick, Kleider oder Accessoires in den ukrainischen Nationalfarben zu tragen. Eine schon fast überirdische Euphorie war ausgebrochen, die bis heute, auch wenn sie an ihrer anfänglichen Überschwänglichkeit inzwischen etwas eingebüsst hat, immer noch an allen Ecken und Enden zu spüren ist. Selbst auf der Webseite der «Schweizerischen Flüchtlingshilfe» gibt es eine Hotline ausschliesslich für ukrainische Flüchtlinge, ein Privileg, dass keiner einzigen anderen Nationalität zugestanden wird.
Von Kiew bis an die Schweizer Grenze sind es 2108 Kilometer. Laut Google schafft man das mit einem SUV in 23 Stunden und 23 Minuten. An jedem Grenzübergang wird man freundlich durchgewinkt. Und am Ziel wird man zu einem Festmahl eingeladen in ein prachtvoll eingerichtetes Haus, wo alle Betten schon für die neuen Gäste frisch angezogen worden sind.
Von Kabul bis an die Schweizer Grenze sind es 6705 Kilometer. Rechnet man die vielen Umwege dazu, welche Flüchtlinge aus Afghanistan notgedrungen auf sich nehmen müssen, kommt man auf geschätzte 7500 Kilometer. Zu Fuss ist man zwischen einem und acht Jahren unterwegs. An den Grenzübergängen wird man entweder – als Frau – brutal vergewaltigt oder – als Mann – halb zu Tode geprügelt. Es wird auf einen geschossen, es werden einem die Kleider vom Leib gerissen, man geht sämtlicher Habseligkeiten verlustig und man wird von Bluthunden in unwirtliches Umland gehetzt, wo es nichts zu essen und zu trinken gibt. Hat man das Pech, unterwegs von der Polizei oder von Armeeangehörigen aufgegriffen zu werden, wird man früher oder später an diesen Ort zurückgeschafft, selbst wenn die dortigen Lebensbedingungen jeglicher Menschenwürde spotten. Und steht man dann trotz alledem nach sechs oder acht Jahren an der Schweizer Grenze, gibt es kein Festmahl und keine frisch angezogenen Betten, sondern allerhöchstens einen Fusstritt und ein Stück Papier mit der Aufforderung, sich nie wieder hier blicken zu lassen.
«Was mich umtreibt», schreibt Peter G. Kirchschläger, Ethikprofessor an der Uni Luzern, im «Tagesanzeiger» vom 29.11.24, «ist der Versuch von Bundesrat und Parlament, die grosse Solidarität mit der Ukraine durch gleichzeitig unsolidarisches Handeln gegenüber den Ärmsten in den Ländern des Globalen Südens zu realisieren. Wir sind als humanitärer Akteur unglaubwürdig, wenn unsere Solidarität nur jeweils bis zu unserem nächsten Nachbar reicht und wir vor dem Elend, das weiter weg geschieht, die Augen verschliessen. Von der ohnehin schon knausrigen Schweizer Entwicklungshilfe – sie beträgt derzeit nur knapp die Hälfte des international vereinbarten Ziels von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens – werden 13% ausschliesslich für die Ukraine verwendet. Und die ausschliesslich für den Wiederaufbau der Ukraine vorgesehenen 1,5 Milliarden Franken werden erst noch vom Gesamtbetrag aller Entwicklungshilfegelder abgezogen, sodass für sämtliche Hilfsleistungen beispielsweise in ganz Subsahara-Afrika weniger Geld übrigbleibt als die für die Ukraine gesprochenen Leistungen. Dazu kommt, dass von den für den Wiederaufbau der Ukraine erforderlichen Mitteln ein Drittel an Schweizer Unternehmen fliesst und somit eigentlich nicht als Entwicklungshilfe, sondern als Wirtschaftsförderung budgetiert werden müsste.»