
Am 5. November 2025 starb die brasilianische Influencerin Barbara Jankavski im Alter von 31 Jahren, nachdem sie sich insgesamt 27 Operationen unterzogen hatte, um so auszusehen wie eine Barbie-Puppe. Für die Operationen hatte sie insgesamt 50’000 Franken investiert. Um das Geld zusammenzubekommen, hatte sie sämtliche Operationen und weitere, kleinere medizinische Eingriffe peinlichst genau in den sozialen Medien dokumentiert und damit kurz vor ihrem Tod 55’000 Follower auf Instagram gehabt und 344’000 auf Tiktok.
Eigentlich ist Barbara Jankavski nur das vielleicht extremste Beispiel für etwas, was mittlerweile in unseren Köpfen schon so tief eingebrannt zu sein scheint, dass wir es kaum mehr als etwas Besonderes oder Aussergewöhnliches wahrnehmen. Nämlich: Etwas anderes sein zu wollen, als man ist. Immer nach rechts oder nach links zu schauen, nach hinten oder nach vorne, nach oben oder nach unten, in die Vergangenheit oder in die Zukunft, wo immer noch etwas anderes zu finden ist, was noch schöner, noch besser, noch bewundernswerter, noch erfolgreicher ist als man selber. Das führt dazu, dass wir all das, was an individuellem, einzigartigem Potenzial, an Talenten und Begabungen in jedem und jeder Einzelnen von uns steckt, oft gar nicht mehr richtig wahrzunehmen vermögen. Wahrscheinlich hatte Barbara Jankavski in ihrem ganzen Leben nie die Chance gehabt, herauszufinden, wer sie selber war, so dass ihre ganze Hoffnung auf ein einigermassen sinnvolles Leben darin bestand, so zu werden wie eine Barbie-Puppe.
Auch eine Zwanzigjährige, die mir kürzlich berichtete: „Eigentlich weiss ich gar nicht, wer ich bin, ich weiss auch nicht, was ich wirklich kann. Manchmal frage ich mich, weshalb ich überhaupt geboren wurde.“ Kein Wunder, machen sich solche Gedanken breit bei einer jungen Frau, der zeitlebens nie jemand gesagt hat, was sie alles gut gemacht hat, sondern immer nur, was sie alles falsch und schlecht gemacht hat, und die dann, als es um eine Lehrstelle ging, auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt – und da wundert man sich dann noch, wenn immer mehr junge Menschen in Therapien oder psychiatrischen Kliniken landen, wo ihnen dann tragischerweise zu allem Überdruss viel zu oft erst recht noch einmal all das aufgetischt wird, was sie in ihrem Leben falsch und schlecht gemacht haben. Als könnte man todkranke Blumen dadurch gesund machen, dass man ihnen auch noch ihre letzten Wurzeln ausreisst und sie dazu zwingt, sich neue Wurzeln anzulegen, die mit ihrem ureigenen, einzigartigen, unverwechselbaren Wesen nichts zu tun haben.
Ich würde mich, in traditionellem Verständnis, nicht als religiösen Menschen bezeichnen. Und doch trage ich in mir ein Bild, das sich nicht auslöschen lässt und das eben vielleicht doch mit „Religion“ in einem tieferen Sinne etwas zu tun hat. Es ist das Bild eines „lieben“ Gottes, etwas, von dem mir meine aus Wien stammende Mutter oft erzählt hatte und das in einem totalen Gegensatz steht zu jenem auf einem Thron sitzenden alten Mann mit grimmigem Gesicht, herrschend, allmächtig und oft auch strafend, von dem mir dann später der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte. Es war dieser liebe Gott aus Wien, oder vielleicht ist es ja auch eine liebe Göttin oder vielleicht sogar ein Kind – es ist dieses Wesen, von dem meine Mutter mir erzählte, dieses Wesen, das, und davon bin ich bis heute zutiefst überzeugt, die Welt erschaffen hat, die Erde, das Wasser, die Luft, den Regen, alles Lebensnotwendige, alle Pflanzen, alle Tiere und uns Menschen. Denn das alles ist so unglaublich vollkommen, dass ich mir nicht vorstellen kann, es sei alles bloss ein Zufall gewesen.
Und es steckte eine Idee dahinter, die faszinierender nicht sein könnte. Nämlich die Idee der Vielfalt. Kein Stein gleicht dem andern, kein Sandkorn dem andern, kein Regenwurm, kein Kolibri und kein Elefant dem andern. Und bei den Menschen ist die Verschiedenartigkeit noch um ein Vielfaches faszinierender als bei allen anderen Lebewesen. Man stelle sich vor: Rund neun Milliarden Menschen bevölkern zurzeit diesen Planeten. Und schätzungsweise ebenso viele waren schon vor uns da. Und möglicherweise, wenn alles gut geht, werden uns noch viele weitere Milliarden folgen. Kein einziger dieser Menschen gleicht dem andern. Was für ein unvorstellbares Wunderwerk! Ich stelle mir den lieben Gott vor: Bei jedem Klumpen Lehm, den er in die Hand nahm, um einen weiteren Menschen zu formen, musste er sich wieder etwas Neues einfallen lassen, was es vorher noch nie gegeben hatte. Um wie viel einfacher wäre es für ihn doch gewesen, einen Prototypen zu bauen und dann eine Maschine, welche diesen Prototypen in beliebiger Zahl hätte reproduzieren können. Er hätte am Tag darnach schlafen gehen und sich um nichts mehr kümmern müssen. Aber nein, er hat nicht aufgehört, immer wieder neue, nie dagewesene Wesen zu erschaffen, bis zum heutigen Tag, unermüdlich.
Aber zu seinem Leidwesen haben zu viele von uns diese Botschaft, die uns der liebe Gott mit jedem neu geborenen Kind aufs neue sendet, nicht verstanden. Statt vor dieser unglaublichen Vielfalt voller Bewunderung auf die Knie zu fallen, versuchen wir genau das Gegenteil, nämlich, diese so verschiedenartigen Wesen möglichst gleich zu machen, mit den gleichen Regeln zu erziehen, in die gleichen Schulen zu schicken, wo sie alle den gleichen Lernstoff zu bewältigen haben, ihnen die gleichen Ideale und Normen und Werte beizubringen, nach denen sie leben sollten. Und sie dabei beständig miteinander zu vergleichen, zu bewerten, die einen zu belohnen, die anderen zu bestrafen, sie alle immer wieder über die gleich hohen Hürden springen zu lassen, als wären es Maschinen, die alle nach den gleichen Regeln funktionieren müssten, und wehe, jemand weicht allzu stark von der allgemeinen Regel ab, dann wird alles daran gesetzt, ihm so lange die Flügel zu stutzen, bis er, wenigstens äusserlich, möglichst gleich aussieht wie alle anderen. Und irgendwann dann alle, zusätzlich befeuert durch die Wirkung der künstlichen „Intelligenz“, am Ende so aussehen werden wie Barbie-Puppen, Muskelprotze ab dem Fitnessfliessband oder Elon Musks in Weltraumraketen auf dem Flug zu fernen Planeten.
Ja, das Vergleichen, das in seiner Konsequenz zur systematischen Einebnung aller noch vorhandenen Unterschiede führen wird, scheint nachgerade die Hauptleidenschaft unserer Zeit zu sein. Benchmarking, Pisastudien, Ländervergleiche in Bezug auf das Bruttosozialprodukt, Ranglisten an allen Ecken und Enden, wohin man auch schaut. Selbst in dem Modegeschäft, wo eine Freundin von mir arbeitet, gibt es für die dort beschäftigten fünf Verkäuferinnen am Ende jedes Monats eine Rangliste mit den von jeder Einzelnen erreichten Umsatzzahlen. Der Druck, sagt sie, sei so gross, dass sie meistens gegen Ende des Monats kaum mehr schlafen könne und bloss hoffe, möglichst in der Mitte der Rangliste zu stehen, denn wenn man oben sei, bekomme man den Neid der anderen zu spüren, und wenn man unten sei, die Vorwürfe und die abschätzigen Blicke der Chefin. Ranglisten haben mittlerweile einen geradezu heiligen Wert, so sehr, dass beispielsweise Skirennfahrerinnen und Skirennfahrer ihre ganze Gesundheit dafür opfern, auch nach den gefährlichsten und schmerzvollsten Stürzen, kaum einigermassen erholt, schon wieder in die nächsten Rennen zurückrasen und nicht einmal davor zurückschrecken, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, bloss um ein paar Tausendstel Sekunden schneller zu sein als ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten. Denn im ewigen und sich immer weiter verschärfenden gegenseitigen Konkurrenzkampf hat nur der das Ziel, von dem alle anderen ebenso träumen, wirklich voll und ganz erreicht, der am Schluss ganz zuoberst auf der Siegertreppe steht. „The Winner Takes it All“, wie es in einem Song der schwedischen Popgruppe Abba so schön heisst. Und der Erfolg am Ende ist für die, welche es geschafft haben, umso grösser, je mehr andere es nicht geschafft haben, daran gescheitert und zerbrochen sind.
Auch Barbara Jankavski. Auch die Zwanzigjährige, die auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt. Auch unzählige andere, die sich immer mit anderen vergleichen, an anderen messen müssen im Kampf um Erfolg oder Misserfolg und gar nie dazukommen, herauszufinden, wer sie selber eigentlich sind und welches die Idee des lieben Gottes war, als sie erschaffen wurden als einzigartige, unverwechselbare Funken des Universums. Auch jeden Morgen, wenn ich die jungen Leute auf den Bahnhöfen zu den Zügen und Bussen gehen sehe, welche sie an ihre Arbeitsplätze oder zu ihren Schulen bringen werden, fällt es mir so schmerzlich auf: Diese leeren Augen, die Blicke weit weg, an allen anderen Menschen vorbei, als würden sie ganz weit in der Ferne etwas suchen und es doch nie finden. Wer bin ich? Was ist der Sinn von allem? Welche Träume hatte ich einmal und was ist davon geblieben?
„Sei du selbst“, schrieb der irische Schriftsteller Oscar Wilde, „denn alle anderen gibt es schon.“ Und von Coco Chanel, einer der berühmtesten Modeschöpferinnen, stammen diese wunderschönen Worte: „Beauty begins the moment you decide to be yourself.“ Die Wahrheit kann der Mensch nirgendwo anders finden als im tiefsten Grund seines eigenen Wesens, an dem Punkt, wo immer noch die Erinnerung an jenen Augenblick verborgen ist, in dem der liebe Gott genau diesen und keinen anderen Klumpen Lehm in die Hand nahm und genau wusste, weshalb er genau diesen Menschen ganz genau so geformt hat und nicht so wie alle anderen.
Sich selbst zu finden ist der Schlüssel zu allem. Doch das ist nur die eine Seite, die individuelle. Die andere Seite ist die gesellschaftliche. Denn auch mit dem besten Willen und mit der grössten Anstrengung, den eigenen Lebensfaden aufzufinden und sich ihm entlang aufzubauen, wird eine Zwanzigjährige, der man tausend Mal gesagt hat, dass niemand sie braucht und sich niemand für all die in ihr verborgenen Schätze interessiert, am Ende an sich selber zerbrechen müssen. Ohne Liebe von aussen kann man auch sich selber nicht lieben. Wenn dir nie jemand sagt, wie wertvoll und einzigartig du bist, kannst du auch selber nicht wirklich davon überzeugt sein, es sei denn, du verfügst über übermenschliche Kräfte. Der liebe Gott, das war die feste Überzeugung meiner Mutter – und es wird mir immer mehr bewusst, dass sie in meinem Leben die einzige wirklich gute Religionslehrerin gewesen war -, der liebe Gott hat die Menschen bloss geschaffen bis zu dem Punkt, da er sie der Erde übergeben hat. In diesem Moment hat er die Verantwortung abgegeben, ab diesem Moment ist er für das Weitere nicht mehr zuständig. Für alles Weitere liegt die Verantwortung ausschliesslich bei den Menschen, die bereits dagewesen sind, als der neue Mensch geboren wurde. Wie es nach der Geburt weitergeht, entscheidet nicht mehr der liebe Gott, er wäre damit heillos überfordert und braucht seine ganze Zeit und Kraft dafür, Millionen und Milliarden weitere neue Wesen zu schaffen, immer in der Hoffnung, wir, die wir schon hier sind, würden endlich begreifen, was für eine Botschaft er uns damit sendet.
Denn es war, wenn der liebe Gott jedem einzelnen Menschen ein so grenzenloses Potenzial an körperlichen, geistigen und seelischen Kräften, Intelligenz und Phantasie mit auf seinen Lebensweg gegeben hat, wohl kaum seine Absicht, dass diese so im Übermass reichlich ausgestatteten Wesen dieses Potenzial verschwenden und bloss dazu missbrauchen, um sich im Kampf um Erfolg oder Misserfolg gegenseitig zu konkurrenzieren, zu schwächen, krank zu machen oder gar zu zerstören, Reichtum anzuhäufen auf Kosten anderer oder gar, sich gegenseitig umzubringen. Seine Idee war und ist wohl zutiefst eine andere, das, was sich wohl am treffendsten als „Paradies“ bezeichnen lässt. Und er wird ganz bestimmt nicht zur Ruhe kommen, bevor sich dieser Traum erfüllt hat, und zwar nicht irgendwo in einem erfundenen Niemandsland, sondern hier und jetzt, mitten unter uns, auf dieser Erde. Denn es ist die einzige, die wir haben. Und jede Träne eines hungernden Kindes oder einer Mutter, die im Krieg ihr Kind verloren hat, jede junge Frau, die lieber eine Barbie-Puppe sein möchte als sich selber, und jede aufgeritzte Haut einer Zwanzigjährigen, die nach der tausendsten Absage ihrer tausendsten Bewerbung nur noch Tag und Nacht hinter geschlossenen Vorhängen in ihrem Bett liegt, ist die Sehnsucht nach diesem Paradies.
„Linke“ Gesellschaftskonzepte fordern menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein Recht auf sinnvolle Beschäftigung, soziale Netze, damit niemand verloren geht, niemand unter Armut, wirtschaftlicher Ausbeutung, Hunger, Krieg oder politischer Verfolgung leiden muss. „Christlich“ geprägte Gesellschaftskonzepte stellen die Nächstenliebe und die Verbindung des Menschen zu Gott in den Mittelpunkt. Beide Sichtweisen greifen jedoch je für sich alleine zu kurz. Es braucht eine Verbindung beider Sichtweisen zu einem Ganzen. Wenn sich der Traum des lieben Gottes von einer friedlichen Welt voller Liebe und Gerechtigkeit erfüllen soll, dann genügt es nicht, wenn nur der Einzelne diesem Traum nachzuleben versucht. Gleichzeitig müssen auch die äusseren Umstände, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Gesetze und die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen und die Politik so gestaltet sein, dass sich die „Göttlichkeit“ jedes einzelnen Menschen in ihrer ganzen Pracht entfalten kann.
Eigentlich wäre das gar nicht so schwierig. Denn alles, was es braucht, ist längst schon vorhanden. Der Mensch muss nicht künstlich zu etwas anderem hingezogen oder auf etwas anderes hin gezüchtet werden, er muss bloss zu sich selber befreit werden, damit sich sein göttlicher Kern entfalten kann. Hierfür aber ist der Glaube an das Gute im Menschen unabdingbar. Nur wenn wir an das Gute im Menschen glauben, kann seine Selbstverwirklichung zugleich zu einer Verwirklichung des Guten im Grossen wie im Kleinen, im Individuellen wie im Sozialen und Gesamtgesellschaftlichen führen. Ich kann mir auch mit dem besten Willen nichts anderes vorstellen, wenn ich diesen lieben Gott vor mir sehe, wie er pausenlos, ohne zu ruhen, einen Klumpen Lehm nach dem andern in die Hand nimmt und einen Menschen nach dem andern formt. Es wird doch allen Ernstes nicht seine Absicht sein, damit möglichst viel Böses zu schaffen, möglichst viel Leid, Hass und Zerstörung zu verbreiten. Er wird doch im Gegenteil alles daran setzen, diesen Wesen so viel Gutes mitzugeben wie nur irgend möglich, sonst wäre doch nicht jedes dieser neu geborenen Wesen so etwas unbeschreiblich Schönes, Kostbares, Paradiesisches. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi, ein zutiefst religiöser, zugleich aber radikal gesellschaftskritischer Mensch, so treffend formulierte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“
Warum machen wir Menschen es uns so schwer? Betrachten wir doch die Blumen auf der Wiese, die Schmetterlinge, die Bäume im Wald, die Enten im Teich, die Fische im Wasser, die Vögel am Himmel. Sie alle entfalten sich so, wie sie vom lieben Gott gedacht waren. Wo ist das Böse? Es wäre alles so einfach…