Brauchen wir noch Religionen? Ja, dringender denn je. Ohne Religion hat die Menschheit keine Zukunft…

Peter Sutter, 22. Dezember 2025

Vor rund sieben Jahren begann ich Notizen zu sammeln für einen Artikel mit dem Titel „Brauchen wir in Zukunft noch Religionen?“ und dem Untertitel „Haben sie nicht schon genug Schaden angerichtet?“ Ich dachte an all den Hass, die Gewalt, die Fremdbestimmung und Entmündigung, an all die Kriege, die im Laufe von Jahrhunderten im Namen irgendwelcher „Götter“ geführt wurden und ganze Völker in den Abgrund stürzten, ich dachte an die Kreuzzüge, an die Inquisition, an die Judenverfolgungen, ich dachte daran, wie die Indios in Südamerika von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren so lange gefoltert wurden, bis sie sich zum Christentum bekehren liessen, ich dachte an den US-Präsidenten George W. Bush, der eines Morgens im März 2003 ein Gebet verrichtete, mit der Hand auf der Bibel, bevor er den Einsatzbefehl zum militärischen Angriff auf den Irak erteilte und in der Folge rund eine halbe Million Irakerinnen und Iraker ermorden liess.

Doch trotz alledem würde ich den damals geplanten Artikel heute nicht mehr schreiben. Im Gegenteil. Heute würde ich einen Artikel schreiben mit dem Titel „Ja, wir Menschen brauchen für unsere Zukunft Religionen, wir brauchen sie sogar dringender denn je.“

Woher dieser Sinneswandel innerhalb von sieben Jahren?

Ja, zunächst schien es tatsächlich eine Riesenbefreiung zu sein. Die Aufklärung. Der Siegeszug der Naturwissenschaften. Die kritische Vernunft anstelle des Glaubens an irgendwelche imaginäre Gottheiten, die vielleicht alle bloss erfunden worden waren, um „gläubigen“ Menschen das Recht zu verleihen, „ungläubige“ oder „falsch“ gläubige Menschen zu bevormunden, zu diskriminieren, zu unterjochen, zu entrechten. Endlich selber denken, statt anderen das Denken und die Definition von „Wahrheiten“ zu überlassen. Endlich das Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen!

Aber was so hoffnungsvoll begonnen hatte, geriet schon bald auf die schiefe Bahn. Denn mit all dem „Bösen“ und all dem Machtmissbrauch unter dem Deckmantel von „Religion“ , der über so lange Zeit so unermesslichen Schaden angerichtet hatte, wurde gleichzeitig auch alles Gute und Wertvolle, was in den allerersten Anfängen religiösen Denkens und religiöser Bewegungen gelegen haben mag, unterschiedslos über Bord geworfen. Blind geworden durch einen unbändigen, geradezu euphorischen Fortschrittsglauben, durch die Illusion unbegrenzter Machbarkeit und die Lösbarkeit jedes noch so kleinen oder grossen Problems der Welt durch rein ökonomische oder technologische Mittel, ging der Blick gänzlich verloren auf Werte, die im Zusammenleben von Menschen über Jahrtausende ganz selbstverständlich gewesen waren: An erster Stelle die Verbundenheit mit der Natur, aber auch die Gewissheit, dass Menschen nicht primär voneinander unabhängige Einzelwesen sind, sondern stets Teile kleinerer und grösserer Gemeinschaften, und dass alles mit allem verbunden ist in einem grossen Ganzen, in einer „göttlichen“ Ordnung. Und dass es keinem einzigen Individuum wirklich gut gehen kann, solange es nicht auch der Gemeinschaft, der es angehört – und das ist letztlich die Gemeinschaft sämtlicher Lebewesen auf diesem Planeten über alle Grenzen hinweg – ebenfalls gut geht.

Wir haben uns von alten Mächten nur auf den ersten Blick und nur scheinbar befreit. Tatsächlich aber haben wir uns in tausenderlei neue Abhängigkeiten begeben, die möglicherweise fast noch verheerender und gefährlicher sind als alle früheren Abhängigkeiten, stehen wir als Menschheit heute doch zum ersten Mal in der Geschichte vor der ganz realen Gefahr, uns selber für immer auszulöschen, sei es durch die systematische Vernichtung unserer existenziellen Lebensgrundlagen, sei es durch einen alles vernichtenden dritten Weltkrieg.

Scheinbar haben wir die Religionen und alles Alte, Spirituelle, „Nichtwissenschaftliche“ und nicht unmittelbar ökonomischen Zwecken Dienende „überwunden“, gleichzeitig aber damit das Feld geöffnet für etwas, was man als „neue Religion“ bezeichnen muss, einen neuen, völlig wahnwitzigen und durch und durch „irrationalen“ Glauben. Es ist die Religion des Kapitalismus, die uns heute beherrscht, mit allen ihren Widersprüchen, Lügen und falschen Heilsversprechen vom ewigen Glück durch möglichst grossen und immer weiter wachsenden materiellen Besitz, errungen in einem immer gnadenloseren Kampf aller gegen alle, in einer Welt, in der die sozialen Unterschiede zwischen den Profitierenden und den Ausgebeuteten grösser sind als in der gesamten Menschheitsgeschichte je zuvor, und laufend noch grösser werden. Und diese neue „Religion“, die Religion des Kapitalismus, ist ganz und gar nicht harmloser als frühere Religionen, sondern, im Gegenteil, noch viel heimtückischer und gefährlicher. Denn während in früheren Religionen Missstände meistens früher oder später ans Tageslicht kamen und den Menschen durch kritische Geister ihre Abhängigkeiten und Fremdbestimmungen vielfach bewusst wurden – und damit gesellschaftliche Emanzipationsprozesse in Gang gesetzt wurden – , bleibt die Religion des Kapitalismus nahezu unangetastet, so sehr ist sie bereits von der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen – selbst von den am meisten Benachteiligten und an den Rand Gedrängten – dermassen tief verinnerlicht, dass sich kaum noch irgendwer eine Welt vorzustellen vermag ausserhalb des Kapitalismus. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit hat es eine Religion geschafft, dass sich der Mensch – sich scheinbar völlig „frei“ fühlend – dennoch in totaler Fremdbestimmung und Selbstverleugnung hat dazu abrichten lassen, zum Werkzeug seiner eigenen Selbstzerstörung zu werden.

Vor sieben Jahren wollte ich schreiben: Schafft auch die letzten Überbleibsel der Religionen ab, so wie es John Lennon 1971 in seinem legendären Song „Imagine“ erträumt: „Imagine there’s no heaven, no hell, only sky, all the people living for today, and no religion, too.“ Heute schreibe ich: Nur die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Wurzeln religiösen Denkens und Empfindens in ihren natürlichen Ursprüngen sozialer Gemeinschaften und ihrer Naturverbundenheit können die Menschheit vor ihrem Untergang bewahren. Ohne Religion – im Sinne eines allgemeingültigen moralischen Kompasses – hat die Menschheit keine Zukunft.

Es ist dieser moralische Kompass, der in einem Zeitalter überbordendster Scheinfreiheiten, die sich alle über kurz oder lang als Kräfte der Selbstzerstörung entpuppen werden, ganz und gar abhanden gekommen ist. Was zählt, ist nur noch die „Selbstoptimierung“ – egal, mit was für noch so schädlichen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die gemeinsame Zukunft der Menschheit dies verbunden ist. Seit die britische Premierministerin und Vordenkerin des Neoliberalismus, der letzten und perversesten Stufe des Kapitalismus, im Jahre 1987 vorgebetet hatte, es gäbe „nur Individuen, keine Gesellschaft“, beten fast alle politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Wortführerinnen und Wortführer weltweit ihr das nach. Gesamtgesellschaftliche und historische Zusammenhänge aufzudecken, gilt mittlerweile nachgerade schon fast als Teufelswerk, zu sehr würde es das bereits kaum je noch kritisch hinterfragte und zur absoluten „Wahrheit“ hochstilisierte Menschen- und Weltbild zerstören, wonach jede „böse“ Tat, jede Form von Gewalt oder Kriminalität stets nur als Tat „böser“ Einzelmenschen betrachtet wird, die man hierfür so schnell und hart wie nur möglich bestrafen, therapieren, wegsperren, aussondern oder ausschaffen muss – als gäbe es nicht stets eine Wechselwirkung zwischen der einzelnen Tat und dem Umfeld, in der sie geschieht, eine stete Wechselwirkung zwischen – meist öffentlich sichtbarer – „Individualgewalt“ und – meist verborgener und weitgehend unsichtbarer – „Systemgewalt“.

Nicht einmal an den Universitäten, dereinst Kristallisationspunkte von Aufklärung, Wissensförderung und gesellschaftlichem Fortschritt, wird Denken in gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen heute noch gelehrt. Dort wird nur noch gelehrt, wie man mit dem geringstmöglichen Aufwand möglichst weit auf seiner Karriereleiter emporzuklettern vermag, um sich dereinst ein möglichst „genussreiches“ Leben in der Welt der Schönen und Reichen leisten zu können, fernab von den Sorgen und Nöten der übrigen 99 Prozent der Weltbevölkerung.

Es gab eine Zeit, da man Ärzte, insbesondere männliche, hoch spezialisierte und entsprechend gut bezahlte, als „Götter in Weiss“ zu bezeichnen pflegte – anspielend darauf, dass ihr meist einseitig akademisches Wissen oft in krassem Widerspruch stand zu über lange Zeit bewährten Traditionen aus der mehrheitlich von Frauen praktizierten Natur-, Haus- und Volksmedizin. Heute gibt es nicht nur Götter in Weiss, sondern auch in allen anderen Farben, in der Politik, an den Universitäten, in unzähligen „Fachorganisationen“, Beratungsfirmen, in den HR-Departementen fast jeder grösseren Firma, an sämtlichen Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten, in einer fast unendlich verästelten, ebenfalls in reinem Kosten-Nutzen-Kalkül erstickten Gesundheitsindustrie, in medizinischen, naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungslabors und in der Forschung im Allgemeinen, auf den Arbeits-, Sozial- und Migrationsämtern, im Asylwesen, auf psychologischen und Lebensberatungsstellen, in Entzugs- und Burnoutkliniken, in der Psychiatrie. Doch niemand kommt mehr auf die Idee, sie als „Götter“ zu bezeichnen, so sehr überstrahlt ihr Nimbus als „Expertinnen“ und „Experten“ für jeglichen nur erdenkbaren Lebensbereich alles andere. Kein Zeitungsartikel, kein Radiointerview, keine TV-Dokumentation, in der nicht früher oder später ein „Experte“ zitiert oder befragt wird. Er kann die dümmsten und banalsten „Weisheiten“ von sich geben und, meistens mit einer riesigen, beeindruckenden Bücherwand im Hintergrund, die seinen „Bildungsgrad“ dokumentieren soll, Dinge erzählen, die bald jedes Kind schon weiss und die man, auch ohne jahrelang studiert zu haben, meist mit ein bisschen gesundem Menschenverstand selber herausfinden kann. Dennoch hat der Experte stets das letzte Wort. Wenn er das Thema abgesegnet hat, ist alles gut und es kann zum nächsten Thema weitergeschritten werden.

Hören wir den „Expertinnen“ und „Experten“ aber aufmerksam zu, stellen wir unweigerlich fest, dass sie immer die gleichen Worthülsen und Denkmuster in ihren eigenen und allen anderen „Expertenkreisen“ weiterdrehen. Kapitalistisches, rein individualistisches, unbeirrt wachstumsgläubiges und auf simple Kosten-Nutzen-Erwägungen reduziertes Denken ist das Grundmodell, in der sich fast alle „Expertinnen“ und „Experten“ bewegen, als wären niemals auch radikale Alternativen dazu denkbar. Sie scheinen nicht einmal im Traum auf den Gedanken zu kommen, aus den einzelnen Kästchen, die ihnen vom kapitalistischen, globalisierten Gesamtsystem zugewiesen wurden, auszubrechen, um endlich all die Widersprüche, Selbsttäuschungen und Lügen, in denen sie sich verfangen haben, ans Tageslicht zu bringen. Sie gleichen den Priestern der katholischen Kirche zu der Zeit, als sich das „gemeine“ Volk in den Kirchenbänken Predigten in ausschliesslich lateinischer Sprache anhören musste, von denen niemand auch nur ein einziges Wort verstand. Nur dass die heutigen „Priester“, die Priester des Kapitalismus, hierfür nicht mehr die lateinische Sprache verwenden, sondern die scheinbar „wertfreie“ Sprache der „reinen“ Wissenschaften, angefüllt mit möglichst vielen Fremdwörtern und Scheinwahrheiten, die sie sich im Laufe vieler Jahre akademischer „Bildung“ einverleibt haben und nun diensteifrig nachbeten wie gut auswendig gelernte Bibeltexte.

Wie wenig sich all die „Experten“ inhaltlich voneinander unterscheiden, wie weit sie bloss ihre Glaubensbekenntnisse gegenseitig nachbeten und wie wenig echte Kreativität und freies, systemunabhängiges Denken übrig geblieben sind, zeigt sich etwa darin, dass es beispielsweise von all den Tausenden „Verkehrsexperten“, die rund um die Uhr in den Medien zu hören sind, nicht einen Einzigen gibt, der die Frage aufwerfen würde, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, den Besitz eines privaten Automobils grundsätzlich in Frage zu stellen – obwohl all die „Experten“ eigentlich schon längst wissen müssen, dass sich die in den „fortschrittlichen“ Ländern des Westens etablierte Grundüberzeugung, wonach ein Familienleben ohne privates Auto kaum denkbar sei, augenblicklich als totale Illusion erweisen muss, wollten wir diese Annahme als weltweit geltendes „Menschenrecht“ postulieren. Lieber diskutieren sie endlos über Vor- und Nachteile von Tempo-30-Zonen, über Vor- und Nachteile vier- oder sechsspuriger Autobahnen oder schlagen sich gegenseitig alle möglichen und unmöglichen Argumente für oder gegen Elektromobile um den Kopf – viele werden dabei nicht einmal müde, die „Umweltverträglichkeit“ von Elektromobilen in alle Himmel hinaufzuloben, und scheinen sich keinen Deut darum zu kümmern, dass gleichzeitig beispielsweise in der spanischen Extremadura Hunderte Hektaren Olivenwälder zerstört werden und an zahlreichen anderen Orten der Welt gerade immer noch blutigste Kriege geführt werden, um die für den Antrieb der angeblich „umweltverträglichen“ und „nachhaltigen“ Fahrzeuge unerlässlichen Seltenen Erden zu gewinnen.

Auch die sogenannten „Gesundheitsexperten“. Sie streiten sich über Leistungskataloge, Kosten-Nutzen-Optimierung, Krankenversicherungsmodelle, Spitalschliessungen. Aber ich habe noch kaum je von einem Gesundheitsexperten gehört, der mal die ganz grundsätzliche Frage in den Raum gestellt hätte, ob es nicht letztlich die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen und Zwänge sind, die mit der zunehmenden Vereinsamung der Menschen, dem wachsenden Leistungsdruck in den Schulen und am Arbeitsplatz, der Missachtung zutiefst menschlicher Grundbedürfnisse wie jener nach Wertschätzung und Anerkennung sowie der an allen Ecken und Enden propagierten, letztlich nie gänzlich erfüllbaren „Selbstoptimierung“ dazu führen, dass immer mehr Menschen psychisch und physisch krank werden und die Gesundheitskosten dadurch immer weiter in die Höhe getrieben werden. Auch die weit überwiegende Mehrheit der sogenannten „Bildungsexperten“ drehen nur immer weiter und weiter an den kranken Schrauben eines kranken Schulsystems, statt endlich den überfälligen Schluss zu ziehen, dass es nicht mehr länger darum gehen darf – die Ergebnisse sind dermassen ineffizient, kostspielig und ernüchternd -, Kinder und Jugendliche mit immer grösserem Aufwand zu „therapieren“ und in das System einzupassen, sondern es endlich darum gehen müsste, eine radikale Therapie des gesamten Schul- und Bildungssystems in Angriff zu nehmen. Fast alle der sogenannten „Wirtschaftsexperten“ sind ebenfalls immer noch und immer mehr in der selbstzerstörerischen Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums gefangen und schauen nahezu tatenlos zu, wie eine immer grössere Menge an Luxusgütern produziert werden, die längst schon niemand mehr wirklich braucht und die nur mit immer noch kostspieligeren, aufwendigeren und aggressiveren Werbemethoden abgesetzt werden können, bevor das meiste davon früher oder später ohnehin im Müll landet. Auch ist kaum je ein Wirtschaftsexperte anzutreffen, der knallhart auf den Tisch legen würde, dass der tägliche Hungertod von weltweit über 15’000 Kindern unter fünf Jahren und die unter ihrer Last fast zusammenbrechenden Verkaufsregale in den westlichen Supermärkten nicht voneinander unabhängige Zufälligkeiten sind, sondern die ganz direkte und logische Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo multinationale Konzerne und die globalen Eliten damit am meisten Geld verdienen können. Ebenso die sogenannten „Energieexperten“: Sie streiten bloss darüber, ob zukünftig vor allem der Ausbau von Solarenergie, Wasserkraft, Windenergie oder Atomkraft vermehrt gefördert werden soll, aber es gibt fast keinen Einzigen, der die ganz grundsätzliche, alles entscheidende Frage aufwirft, ob das „Energieproblem“ nicht am einfachsten in der Weise gelöst werden könnte, dass man auf alle unnötigen Luxusansprüche verzichten und den Energieverbrauch auf jenes Minimum reduzieren würde, das auch längerfristig im Einklang steht mit dem, was natürliche Energiequellen, ohne jegliche schädliche Auswirkung auf die Umwelt, zu produzieren vermögen. Auch die sogenannten „Finanzexperten“ rennen nahezu ausschliesslich dem Phantom eines sich selber beständig optimierenden globalen Geldsystems hinterher und verschliessen sich partout der Erkenntnis, dass das Eis, auf welchem dies alles in immer horrenderem Tempo aufgebaut wird, immer dünner wird und entweder das Eis oder das ganze Kartenhaus, das auf ihm schon bis in den Himmel und darüber hinaus aufgetürmt ist, unweigerlich eines Tages zusammenbrechen muss. Und selbst unter den sogenannten „Sicherheitsexperten“ ist kaum je auch nur ein Einziger anzutreffen, der öffentlich erklären würde, dass dauerhafte Sicherheit niemals in einer Welt gegenseitiger Angstmacherei, Aufrüstung und immer grösserer, gefährlicherer und kostspieligerer Waffenarsenale entstehen kann, sondern nur in einer Welt gegenseitigen Dialogs, durch Völkerverständnis und grenzen-lose soziale Gerechtigkeit, ohne eine einzige Waffe und ohne eine einzige Armee. Ist doch, wie selbst der ehemalige US-General Dwight D. Eisenhower einmal sagte, „jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete letztlich ein Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein, sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnungen ihrer Kinder.“

Alle nur erdenkbaren Fragen werden gestellt und diskutiert, nur die wichtigste nicht: Die Frage nach dem Sinn von allem. Es ist wie ein ausser Rand und Band geratener Wettlauf, der die Menschen in immer höherem Tempo dazu zwingt, entweder ihre allerletzten Kräfte aufzubrauchen, um mit dem wachsenden Tempo mithalten zu können, oder aber, für immer auf der Strecke liegen zu bleiben. Doch niemand ruft „Stopp, es ist genug, wir brauchen eine Pause!“ Niemand zieht im Zug, der sich in immer schnellerem Tempo dem Abgrund nähert, die Notbremse. Niemand stellt die Frage, worin denn der Sinn von allem, der innerste Grund und die innerste Motivation dieses Ziels besteht, dem wir alle, zunehmend blindlings, hinterherjagen. Schau in die Gesichter der jungen Männer und Frauen, die allmorgendlich auf den Bahnhöfen zu den Zügen rennen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz oder in der Schule zu sein. Ihre Blicke sind leer, als würden sie in unsichtbarer Ferne etwas suchen, was es dort gar nicht gibt. Kaum sitzen sie im Zugabteil, reissen auch noch die Allerletzten ihre Handys hervor, keiner spricht mit dem andern, alle starren auf 50 Quadratzentimeter Bildfläche, als ob dort eines Tages vielleicht doch noch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von allem erscheinen würde. Aber sie erscheint nicht, rückt bloss in immer noch weitere Ferne. In einer Welt, in welcher der Sinn von allem ganz grundsätzlich abhanden gekommen ist und die bereits vorhandenen Abgründe nur immer noch tiefer und tiefer werden.

Eigentlich wäre jetzt der Moment der letzten Chance gekommen. Eigentlich müssten jetzt die allerletzten verbliebenen Reste von Phantasie, Kreativität und Lebensweisheiten aus früheren Zeiten und Kulturen endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und, bevor der Zug endgültig in den Abgrund rast, dazu helfen, das Steuer herumreissen. Denn „der Kapitalismus“, wie es der französische Philosoph Lucien Sève formulierte, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“

Doch was geschieht? Als hätten die blindgewordenen Priester des Kapitalismus geahnt, dass schon bald Kräfte wiedererwachen könnten, um ihrem Werk ein Ende zu bereiten, ist ein scheinbar „neues“, tatsächlich aber hoffnungslos veraltetes „Denkmodell“ in die Welt gesetzt worden, das, wie alles im Kapitalismus, auf den ersten Blick zwar grenzenlos faszinierend und verheissungsvoll erscheint, gleichzeitig sich aber auf den zweiten Blick als das möglicherweise raffinierteste und gefährlichste Instrument erweisen könnte, um dem menschlichen Leben in Verbundenheit, Sinn und Gemeinschaft auf diesem Planeten endgültig den Garaus zu machen. Es ist das Denkmodell einer sogenannten „Künstlichen Intelligenz“, die sich, so ihre Erfinder und Propagandisten, dereinst zu einer dermassen unübertrefflichen, alle bisherigen Grenzen sprengenden Perfektion weiterentwickeln könnte, dass alles, was mit „natürlicher“ Intelligenz zu tun hat, ganz und gar überflüssig geworden sein wird. Nicht irgendein Psychopath, sondern ein ganz biederer Professor an einer schweizerischen Universität brachte es unlängst mit dieser Aussage auf den Punkt: Die Künstliche Intelligenz werde schon in wenigen Jahren dermassen gewaltige Fortschritte machen, dass sie sich unweigerlich im Universum weiterverbreiten und auf anderen Planeten neue Zivilisationen aufbauen werde, wodurch die bestehende Zivilisation auf dem Planeten Erde hinfällig geworden sein werde. Ein bisschen weniger krass meinte Bill Gates, „schon in zehn Jahren“ würden „Menschen für die meisten Dinge nicht mehr benötigt“.

Doch was ist die „Künstliche Intelligenz“ in ihrem tiefsten Wesen? Sie ist nicht weniger als das Ende der Geschichte. Denn alles, was „Künstliche Intelligenz“ beinhaltet, ist auf die Vergangenheit ausgerichtet, ein milliardenfaches Sammelsurium von allem, was je gedacht und geschrieben wurde, eine milliardenfache Buchstabensuppe, die man zwar, so oft man will, von einem Teller in den anderen giessen kann, deren Inhalt dennoch stets aus den immer wieder gleichen Buchstaben bestehen bleibt, die sich milliardenfach miteinander vermischen, ohne dass auch nur ein einziger neuer dazu käme, ein bis zu den höchsten Wolken reichender Tempel, eine Bibliothek gigantischsten Ausmasses, in der alle Bücher der Vergangenheit aufeinandergestapelt sind, ohne dass auch nur der winzigste Platz frei bliebe für ein von Grund auf neues, noch nie geschriebenes Buch. Die systematische, mit nie dagewesenem Eifer und einem alle Grenzen sprengenden Aufwand an Geld, Zeit und Energie betriebene Verhinderung von Zukunft. Eine umfassende Bankrotterklärung jeglicher echter, natürlicher Intelligenz, geht doch der „moderne“, KI-gläubige Mensch davon aus, dass die Menschen während Tausenden von Jahren genug gedacht, aufgeschrieben und erfunden haben, genug kreativ gewesen sind. Was soll er sich weiter mit solchen unnötigen und mühsamen Dingen herumplagen. Er kann doch jetzt all das der „Künstlichen Intelligenz“ überlassen und sich selber angenehmeren, weniger anstrengenden Aktivitäten hingeben, die seine Gehirnzellen nicht mehr so strapazieren, wie das während Jahrtausenden der Fall war.

Die fast schon religiös anmutende Ehrfurcht und das Staunen über die meist überaus dürftigen und häufig fehlerhaften „Ergebnisse“ und Produkte der „Künstlichen Intelligenz“ lassen sich wohl nur damit erklären, dass Menschen, die sich von diesen Wellen des Staunens und der Ehrfurcht dermassen euphorisiert mitreissen lassen, schon längst zuvor jegliches kritisches Bewusstsein verloren haben müssen. Das geschah nicht von einem Tag auf den andern. Es brauchte eine lange Vorbereitungszeit, bis all die Lügen und all die falschen Heilsversprechen des Kapitalismus so tief in die Seelen der Menschen eingedrungen waren, dass ihnen nun schon lange gar nicht mehr bewusst ist, dass sie sich nicht mehr selber bewegen, sondern durch unsichtbare Fäden, gleich Marionetten, von ferner Hand so gesteuert werden, wie es ihren weit über ihnen thronenden, unsichtbaren Puppenspielern gefällt. Heute sind es „Ökonomen“ oder „Anlageberater“, die sich als Puppenspieler betätigen, morgen irgendein findiger Kopf, der ein verrücktes neues, völlig unnützes Ding erfindet, übermorgen sind es dann vielleicht ausschliesslich nur noch die Priester der „Künstlichen Intelligenz“, mit der selbst die teuflischsten Waffensysteme dermassen systematisch bis zur letzten „Perfektion“ gefüttert werden, dass es dann irgendeines Tages vielleicht nicht einmal mehr ein „richtiger“ Mensch ist, der den Befehl zum Beginn des letzten globalen Vernichtungskriegs geben wird, sondern bloss sein ihm bis in alle Einzelheiten gleichendes digitales Ebenbild. „Die perfekte Diktatur“, so der britische Gesellschaftskritiker Aldous Huxley, Autor des 1932 erschienenen Zukunftsromans „Schöne neue Welt“, dessen Botschaft inzwischen von der Wirklichkeit bereits längst übertroffen worden ist, „wird den Anschein einer Demokratie machen, ein Gefängnis ohne Mauern, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen auszubrechen. Es ist ein System der Sklaverei, bei dem die Sklaven dank Konsum und Unterhaltung ihre Liebe zur Sklaverei perfektioniert haben.“

Ja, und genau deshalb brauchen wir die Religion mehr denn je. Freilich nicht jene Form von Religion, die in Form von künstlich aufgebauten Machtsystemen Menschen unterdrückt, ausbeutet, ausgrenzt oder entrechtet. Sondern jene Form von Religion, die in den tiefsten Wurzeln sämtlicher in der Menschheitsgeschichte entstandener Kulturen zu finden ist und mit dem ganz praktischen Überleben menschlicher Existenz zu tun hat: Mit der Verbundenheit mit der Natur, mit dem Respekt gegenüber den natürlichen Grenzen irdischer Ressourcen, mit der Solidarität der Starken mit den Schwachen, mit der Philosophie des Teilens anstelle der Raffgier, mit Tugenden wie Bedächtigkeit, Musse, Vertrauen, Bescheidenheit und Ehrlichkeit.

Es ist, einfach gesagt, die Liebe. Wir müssen auch gar nicht so weit suchen, sondern können bei unserer eigenen Religion beginnen, der christlichen. Nehmen wir das, was Jesus sagte, ernst, dann ist es ganz einfach: „Liebe deine Nächsten wie dich selbst.“ In diesen wenigen Worten liegt eigentlich schon alles. Jedes Kind, das geboren wird, trägt diese unendliche Sehnsucht in sich, geliebt zu werden. Und wird diese Liebessehnsucht erfüllt, dann wird dieses Kind auch in seinem späteren Leben andere Menschen ebenso lieben können. Es ist so etwas wie die Erinnerung an ein Paradies, die jedes Kind, das die Welt betritt, noch zutiefst in sich trägt, anders kann man sich diese unendliche Liebessehnsucht wohl kaum erklären. Das Kind weiss, dass eine Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und Liebe möglich ist, weil es diese Welt schon vor seiner Geburt erleben durfte, und es wird alles daran setzen, die Welt, in die es geboren wurde, in der Weise zu verändern, dass sie immer mehr und mehr jenem Idealzustand des Paradieses näher kommt. „Drei Dinge“, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, „sind uns aus dem Paradies geblieben: Kinder, Blumen und Sterne.“

Es war wahrscheinlich die wichtigste und zugleich die am meisten missverstandene und missbrauchte Botschaft von Jesus, als er sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr niemals ins Himmelreich kommen.“ Mit jedem neu geborenen Kind – und genau an diesem Punkt werden wir mit reinem „Vernunftdenken“ ohne ein Mindestmass an „religiösem“ Empfinden schlicht und einfach nicht mehr weiterkommen -, mit jedem neu geborenen Kind gibt uns der „Schöpfer“ oder die „Schöpferin“ oder der „liebe Gott“ oder wie immer wieder dieses Wesen nennen möchten, unermüdlich stets von Neuem die Chance, alles Bisherige auf den Kopf zu stellen, die Welt neu zu denken und neu zu leben. Diese Botschaft war so faszinierend, so befreiend, so hoffnungsvoll, für die Mächtigen jener Zeit aber zugleich so gefährlich, dass sie nichts anderes wussten, als ihr eine der grössten Lügen in der Geschichte der Menschheit entgegenzustellen, die Lüge nämlich, dass die Verwirklichung des Paradieses auf Erden gar nicht möglich sei, sondern der Mensch sich den Zugang zu dieser paradiesischen Zukunft erst im „Jenseits“, nach seinem Tode, verschaffen könne, und nur dadurch, dass er sich von früh bis spät abrackere, auf jeglichen unnötigen Lebensgenuss verzichte und seinen Obrigen stets widerspruchslos Gehorsam leiste.

Diese Lüge freilich schien noch nicht genug Wirkung zu zeigen und so erfanden die Mächtigen jener Zeit eine zweite, fast noch verhängnisvollere: Die Lüge von der „Erbsünde“ nämlich, die absolut verrückte und frei erfundene Idee, der Mensch sei von Natur aus „sündig“, und nur dadurch zu „retten“, dass er sein ganzes Leben dem Willen „Gottes“ unterwerfe, der schliesslich seinen eigenen Sohn, Jesus, geopfert habe, um die Welt vom „Bösen“ zu befreien. Das pure Gegenteil dessen, was Jesus den Menschen verkündet hatte, als er sie aufforderte, so zu werden wie die Kinder. Hätte er das wohl so eindringlich gefordert, wenn er von irgendeiner „göttlichen“ Erkenntnis überzeugt gewesen wäre, wonach der Mensch von Natur aus „böse“ und „sündig“ sei? Nein, Jesus musste nicht sterben, um die Menschen vom „Bösen“ zu erlösen. Er musste schlicht und einfach nur deshalb sterben, weil seine Liebesbotschaft den Mächtigen seiner Zeit viel zu bedrohlich und viel zu gefährlich war und sie in ihrer Machtbesessenheit und zugleich totalen Hilflosigkeit keinen anderen Ausweg sahen, als ihn physisch zu vernichten, in der Hoffnung, damit auch seine revolutionäre Vision einer neuen Welt voller Frieden, Liebe und Gerechtigkeit auszulöschen.

Erst wenn die Trümmer der „Religionen“ in Form von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Machtmissbrauch endgültig beiseite geräumt sind, werden wir darunter wieder die Wurzeln entdecken aus der Zeit, als alles angefangen hatte. Die Sterne, die Blumen und die Kinder. Die Quellen aus dem Paradies. Die unendliche Vielfalt, das unendliche Geheimnis der Schöpfung, das unfassbare Wunder, dass es dieser „liebe Gott“ oder wie immer wir es nennen möchten, geschafft hat und bis heute schafft, Abermilliarden von Menschenwesen erfunden zu haben, von denen kein einziges mit irgendeinem anderen identisch ist. Aber nicht nur die Menschenwesen. Milliarden und Abermilliarden von Pflanzen und Tieren, die Erde, der Regen, die Sonne, das ganze Leben, das Paradies. Eigentlich müsste es uns unweigerlich wie Schuppen von den Augen fallen, wie erbärmlich doch sämtliche Versuche noch so „hoch entwickelter“ Technologien sein müssen, diesen „lieben Gott“ nachzuahmen oder sich gar damit zu brüsten, noch vollkommenere Wesen zu schaffen, als es dieser „liebe Gott“ schon seit Jahrmillionen tut. Und erst recht müsste uns bewusst werden, in was für einer „gottlosen“ Zeit wir inzwischen angekommen sind, wenn sich Hotels, Restaurants und andere Vergnügungsstätten heute schon gegenseitig zu überbieten versuchen mit vielfältigsten Angeboten „kinderfreier“ Zeiten und Zonen. Wenn selbst dort, wo das „Leben“ in den schönsten Farben gefeiert wird, an Geburtstags- und Hochzeitsfesten, Kinder je länger je weniger erwünscht sind. Und wenn immer mehr Erwachsene sich bewusst dafür entscheiden, keine Kinder mehr zu haben, weil diese viel zu anstrengend, zu nervig, zu zeitraubend, zu kostspielig seien und den eigenen individuellen Karriereplänen zu sehr im Wege stünden.

Ohne Kinder ist alles nichts. Sie sind die wunderbarsten Quellen der Weisheit. Lassen wir uns auf sie ein, auf ihre Träume, Phantasien, Spielereien, ihr scheinbar „zweckfreies“ Tun, ihren Blick auf alles auf den ersten Blick „Unwichtige“ und „Unwesentliche“, können wir gar nicht anders, als uns immer wieder ein wenig in Richtung des „Himmelreichs“ zu öffnen und zu bewegen. Um die tiefsten Geheimnisse des Lebens kennenzulernen, gibt es keine besseren Lehrmeister als sie. Von ihnen können wir auch das vielleicht Allerwichtigste lernen, was dem Leben wieder jenen Sinn zu geben vermöchte, den viele von uns Erwachsenen so schmerzlich verloren haben: Dass Liebe etwas Allumfassendes ist. Dass zur Liebe zwischen den Menschen auch die Liebe zu den Pflanzen und Tieren gehört, zu jedem noch so winzigen Käferchen. Und dass echte Liebe auch immer mit Mitgefühl zu tun hat. Und dass es eigentlich niemandem auf der Welt wirklich ganz tief in seinem Innersten gut gehen kann, solange es nicht allen anderen Menschen, egal wie weit fort sie leben, ebenso gut geht.

Und ja, auch das noch: Liebe ist immer auch Liebe zur Wahrheit. Was für ein schöneres Bild könnte es dafür geben als die Kinder, wenn sie in ihre „Warum-Lebensphase“ eintreten. Und es muss ja etwas vom Elementarsten sein, gab es doch noch nie ein Kind, dass diese Lebensphase nicht durchschritten hätte. Es ist die Zeit, wenn das Kind unvermittelt mit irgendeiner „Warum-Frage“ beginnt: „Warum können Vögel fliegen?“. Der Papa und die Mama versuchen dann, die Frage so gut wie möglich zu beantworten. Doch unmittelbar darauf, aus der Antwort, entsteht schon wieder die nächste Warum-Frage. Alle Eltern kennen das. Es hört nicht auf. Es geht so lange, bis der Papa oder die Mama eingeschlafen ist oder entnervt dem Kind zu verstehen gibt, dass man das ja noch ins Unendliche weitertreiben könnte, aber irgendwo ist dann wieder Zeit für das Nachtessen oder Zeit, ins Bett zu gehen. Ja, es stimmt. Man könnte es endlos weitertreiben. Es ist die effizienteste Art und Weise, wie Kinder der Welt und ihren Geheimnissen auf die Spur kommen können. Es ist aber auch für die Erwachsenen eine einmalige Herausforderung, indem auch sie selber immer wieder an Grenzen stossen, an denen entweder scheinbar ganz banale Alltäglichkeiten plötzlich unendlich kompliziert erscheinen oder umgekehrt. Es gibt wohl keine andere so wirkungsvolle und tiefgehende Form gemeinsamen und gegenseitigen Lernens. Und ja: Es ist doch auch genau das, was in einer so „hoch entwickelten“ Gesellschaft wie der unseren, in der es – KI lässt grüssen – auf jede Frage eine bereits vorgefertigte Antwort gibt, so schmerzlich fehlt: Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn von allem. Wahrscheinlich würden uns Weisheiten nicht nur wie Kronleuchter, sondern wie ganze Milchstrassen aufgehen, wenn wir auch als Erwachsene, so wie die kleinen Kinder, zeitlebens nicht aufhören würden, einer jeden Antwort auf eine Warum-Frage sogleich eine neue Warum-Frage folgen zu lassen. So wie der Kleine Prinz in der Geschichte von Saint-Exupéry, der an einer Bahnschranke steht und sieht, wie zunächst ein vollbesetzter Zug von der einen Richtung her vorüberrast, und kurz darauf ein anderer, ebenfalls vollbesetzter, in die entgegengesetzte Richtung, und er dann fragt: „Warum sind sie schon wieder zurückgekommen, hat es ihnen dort, wo sie waren, nicht gefallen?“

Ja, die Augen der jungen Frauen und Männer, die frühmorgens zur Arbeit und zur Schule eilen, erscheinen leer. Aber das täuscht. Hinter der Leere wartet eine unendliche Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem Paradies, die Sehnsucht nach einem Sinn von allem. Aber sie werden diesen Sinn nicht auf der 50-Quadratzentimeter-Oberfläche ihrer Handys finden. Doch das heisst nicht, dass es diesen Sinn nicht gäbe. Heerscharen von Engeln warten hinter all den Wolken, die Tag für Tag an uns vorüberziehen, darauf, dass wir unsere Herzen öffnen, die Liebe zulassen, die zerrissenen Fäden der Erinnerung ans Paradies wieder zusammenknüpfen. Die Engel wissen schon alles, sie sehen schon, was wir erst zaghaft in vagen Umrissen zu erkennen vermögen. Doch vielleicht geht es gar nicht mehr so lange, bis alles kippt. Denn auf ewig lässt sich die Sehnsucht nach dem Paradies nicht mehr unterdrücken oder in Bahnen der Selbstzerstörung weglenken. Irgendwann wird es wieder Zeit für das Leben.