Abendspaziergang durch Thionville (F). In einer Seitengasse des Stadtzentrums: Mindestens zwei Drittel der Geschäfte haben dichtgemacht. Entweder sieht man durch verstaubte Fensterscheiben in Berge herabgerissener Wände, Kabel, Farbkübel. Oder die Rollläden sind bis zum Boden heruntergelassen. Oder die Schaufenster sind gänzlich mit Brettern zugenagelt. Oder an den Türen hängen Plakate wie «Geschlossen», «Ladenlokal zu vermieten», «Verkaufsflächen verfügbar». Man kann den vergangenen Glanz einer schmucken Ladengasse mit einem überaus vielfältigen Angebot an Waren und Dienstleistungen nur erahnen. In vier oder fünf Jahren, wenn auch das letzte Geschäft in der Gasse geschlossen sein wird, wird ein Stadtführer seiner Touristengruppe erklären, dass hier dereinst Tausende Menschen von Geschäft zu Geschäft flanierten, Auslagen bestaunten und sich im einen oder anderen Café zum gemütlichen Schwatz niederliessen…
Hat jemals ein Bürgermeister, ein Stadtarchitekt, ein Städteplaner oder die davon betroffenen Häuserbesitzer, Geschäftsführer, Verkäuferinnen, Verkäufer oder die Kundschaft eines Tages beschlossen, dieser Ladengasse den Garaus zu machen? Natürlich nicht. Es ist alles von «selbst» so gekommen. Aber was heisst das: von «selbst»? Es ist die Macht des Geldes. Der Sog nach immer mehr und immer grösser und immer billiger. Kurz: die unsichtbare Hand des Kapitalismus. Schon längst hat der Mensch das Ruder aus der Hand gegeben, nicht nur was einst blühende Ladengeschäfte in unseren Grossstädten betrifft. Auch was den Verkehr betrifft. Auch was die weltweit fluktuierenden Finanzströme betrifft. Auch was die weltweiten Daten- und Informationsnetze betrifft. Der Mensch hat das Ruder aus der Hand gegeben im Vertrauen, dass es etwas Besseres und «Höheres» gibt als den menschlichen Verstand, nämlich den Freien Markt. Und dass alles, wenn man nur so viel als möglich diesem Freien Markt überlässt, am Ende ganz bestimmt gut herauskommt. Ich bezweifle, ob die ehemaligen Ladenbesitzer in Thionville, die Verkäuferinnen und Verkäufer und ihre Kundschaft das auch so sehen…