Archiv des Autors: Peter Sutter

Mein Fahrrad

Mein Fahrrad, das es mir möglich macht, in nur zwei Wochen fast 700 Kilometer mithilfe von nichts anderem als meiner eigenen Muskelkraft zurückzulegen, übertrifft an Genialität jedes noch so ausgeklügelte, „hoch entwickelte“ Automobil.

30. September 2023: Klimademo in Bern

Heute beginnt die Klimademo schon auf dem Hauptbahnhof in Zürich. Der Extrazug um 12.31 Uhr ist bereits zum Bersten voll und immer noch drängen Hunderte in die Wagons. Ein etwa 14Jähriger strahlt übers ganze Gesicht und sagt zu seinem Papa: Wenn dann von allen Seiten so volle Züge nach Bern kommen, wie viele Tausende werden es am Ende wohl sein? Man sieht es den fröhlichen Gesichtern im Zug an, man spürt es förmlich bei den vielen angeregten Gesprächen: Das wird wohl ein ganz besonderer Tag werden…

Und es wird ein ganz besonderer Tag. Als der Zug wegen eines Haltesignals brüsk bremsen muss, entschuldigt sich der offensichtlich gutgelaunte Zugbegleiter über den Lautsprecher und meint ganz spontan, es sei nun mal halt so, „wie es ist“. Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Bern wünscht er allen eine erfolgreiche Demo. Und auch der Lokführer scheint, als er die Menschenmasse in der Nähe des Bahnhofs sieht, ganz begeistert zu sein und lässt zur Begrüssung ein langgedehntes Hornsignal erklingen.

Als ich die versammelte Menge erreiche, hat sich diese bereits dermassen aufgestaut, dass fast eine Stunde verstreicht, bis ein wenig Bewegung in die Reihen der geduldig Wartenden kommt. Später werde ich erfahren, dass die Schlange vom Bollwerk bis zum Bundeshausplatz über 1,3 Kilometer lang war und die Ersten bereits im Ziel eintrafen, bevor die Letzten überhaupt gestartet waren. Auf einmal sind sie alle wieder da, die Leute von den Gewerkschaften, von der SP, von den Grünen, von Greenpeace, vom HEKS, Médecins sans frontières, Jusos, Kommunistinnen und Kommunisten, die Bewegung für den Sozialismus, Amnesty International, der WWF, zahlreiche weitere Umwelt- und Naturschutzorganisationen, Helvetas, der VPOD, der Gewerkschaftsbund, der Verkehrsclub, Caritas, Public Eye, die Alpeninitiative, die Gletscherinitiative, die Kleinbauernvereinigung, die GSoA – über 140 verschiedene Organisationen, die sonst jede für sich und nicht selten auf fast verlorenem Posten kämpfen, jetzt marschieren sie Seite an Seite durch die Berner Innenstadt, was für eine Vielfalt von Flaggen in verschiedensten Farben und mit verschiedensten Symbolen, neben den unzähligen Transparenten bis hin zu winzigen Pappschildern, auf denen Kinder ihre Zukunftsträume einer blühenden Erde voller wundervoller Tiere und Pflanzen aufgemalt haben. Das ist die erste Lektion dieses Tages: Dass man gemeinsam so viel stärker ist, als wenn jeder nur für sich alleine kämpft, und dass alles, was uns verbindet, so viel wichtiger ist und so viel mehr Kraft erzeugt als das, was uns voneinander trennt.

Die zweite Lektion ist, dass man nie aufgeben soll. So viel Resignation hatte sich in den letzten paar Jahren breitgemacht, so viele Träume waren wie Seifenblasen zerplatzt, so viele junge Menschen hatten begonnen, an ihren eigenen Idealen zu verzweifeln, sich immer öfters zu fragen, wozu denn der ganze Aufwand gut sein solle und ob es nicht viel gescheiter wäre, einfach das Leben an jedem einzelnen Tag möglichst zu geniessen, statt stets nur an die Zukunft zu denken und sich alle Lebensfreude zu vermiesen. Ein gefundenes Fressen für all jene, die den Klimawandel immer noch als Hirngespinst abtun, immer noch an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum glauben, immer noch nicht bereit sind, von Machtstreben und rücksichtslosem Profitdenken auf Kosten der Natur und zukünftiger Generationen abzurücken, und mit Genugtuung festgestellt haben, dass die weltweiten Klimastreiks von Mal und Mal weniger Menschen auf die Strassen zu locken vermochten. Und jetzt das. Nicht das Ende, sondern, ganz im Gegenteil, ein neuer Anfang. Auf einmal ist alles wieder da, wie in unseren schönsten Träumen. Und man kann sich nichts sehnlicher wünschen, als dass die Kraft, welche sich diese zehntausenden Menschen heute in Bern gegenseitig geben, so lange wie möglich ausreichen wird, um all die Hindernisse, die noch auf uns zukommen werden, nach und nach zu überwinden. Denn gewiss kommt eine neue Zeit. Aber sie kommt nicht von alleine. Sie braucht, um Wirklichkeit zu werden, jeden und jede Einzelne von uns, so winzig und scheinbar unbedeutend auch die einzelnen Schritte auf unseren täglichen Wegen sein mögen.

Die dritte Lektion ist, dass alles mit allem zusammenhängt. Ein junger Elektrotechniker, Mitglied der Unia und Kommunist, ruft es uns in seiner eindringlichen Rede auf dem Bundeshausplatz in Erinnerung: Das eigentliche Problem ist nicht der Klimawandel. Das eigentliche Problem ist die Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten endloser Profitmaximierung. Der Klimawandel ist nur eine von den zahlreichen zerstörerischen Folgen eines Wirtschaftssystems, das auch in allen anderen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen unaufhörlichen Schaden anrichtet. Ohne Überwindung des Kapitalismus gibt es auch keine Überwindung des Klimawandels. Oder, wie es auf vielen der mitgetragenen Transparente immer wieder zu lesen ist: System Change, not Climate Change.

Die vierte Lektion ist, dass Politik auch anders sein kann. Was für ein Kontrast zwischen dem Feuer und der Leidenschaftlichkeit, mit der junge Menschen Klimastreiks organisieren, moderieren und ihre Statements abgeben, auf der einen Seite – und der Ideen- und Leidenschaftslosigkeit, mit der Politikerinnen und Politiker der traditionellen Art oft jahrelang die immer gleichen Probleme vor sich herschieben, ohne sie wirklich einer Lösung näherzubringen. „Im Jugendidealismus“, sagte der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.“ Darin liegt die eigentliche Chance für unsere Zukunft: Dass diese nicht mehr länger von berechnendem „Vernunftdenken“ Erwachsener gestaltet wird, sondern aus den Träumen und Sehnsüchten nach einer Welt voller Frieden und Gerechtigkeit, die jedes Kind mit seiner Geburt in unsere Wirklichkeit hineinträgt.

Müsste ich dies alles mit einem einzigen Wort zusammenfassen, dann wäre dies die Liebe. Denn Liebe ist nicht nur das, was zwei Menschen miteinander verbinden kann. Liebe ist auch die Liebe zu den Kindern. Die Liebe zu all den Menschen, die in Zukunft noch auf dieser Erde leben werden. Die Liebe zu Tieren und Pflanzen. Die Liebe zur Erde. Die Liebe zur Natur. Die Liebe zu all jenen Menschen, die frieren, hungern, leiden, kein Dach über dem Kopf haben, geschlagen und ausgebeutet werden, nur weil sie zur „falschen“ Zeit am „falschen“ Ort geboren wurden. Und deshalb ist das alles so wichtig: Wir alle, 60’000 Menschen aus allen Ecken und Enden des Landes, sind nicht deshalb hierher gekommen, um dann wieder nachhause zu gehen. Wir sind gekommen, mitten ins Herz der Schweiz, um hier zu bleiben.

Digitale und analoge Welt zusammenführen

Wer, wie ich, immer noch vielerorts mit Bargeld bezahlt, über kein Twintkonto verfügt, seine Bus- und Zugsbillette nach wie vor am Bahnhofsautomaten löst, zuhause noch ein Festnetztelefon hat, sein Handy nicht Tag und Nacht überall dabei hat, nicht seine täglich absolvierten Schritte zählt, im Internet keine Gesundheitschecks absolviert, immer noch eine Agenda ausschliesslich in Form eines Büchleins führt, seine Tageszeitung in der Printausgabe liest, Bücher in der Buchhandlung kauft, noch nie ein E-Book gelesen hat, noch über kein elektronisches Patientendossier verfügt, seine Schuhe und Kleider immer noch im lokalen Fachgeschäft kauft und zum Wandern und Radfahren noch nie ein GPS-Navigationssystem verwendet hat, muss sich heutzutage gegenüber jüngeren, „aufgeschlosseneren“ und „fortschrittlicheren“ Menschen schon fast dafür entschuldigen, sich immer noch an so vielen „alten Zöpfen“ festzuklammern.

Dabei läge doch in der Zusammenführung der digitalen und der analogen Welt die grösste Chance für einen tatsächlich qualitativen Entwicklungsschritt. Denn nicht alles, was früher anders war, war deshalb schlechter. Heutige Jugendliche können sich eine Welt ohne Computer, ohne Smartphone, ohne Internet schon gar nicht mehr vorstellen. Wer aber in einer ausschliesslich analogen Welt aufgewachsen ist, verfügt auch heute noch über die Erinnerung an eine Zeit, die in vielerlei Hinsicht vielfältiger, erlebnisreicher, vor allem aber viel ruhiger, gemächlicher und bedächtiger war als die heutige. Weshalb muss stets das eine gegen das andere ausgespielt werden? Weshalb versuchen wir nicht, das Beste aus den beiden Welten herauszugreifen und das, was keine echte Steigerung an Lebensqualität bringt, kritisch zu hinterfragen oder vielleicht sogar beiseitezulassen?

Auch ich schätze es, Emails schreiben zu können, um rasch und unkompliziert Informationen zu bekommen oder weiterzugeben. Auch ich benütze gern und oft Suchmaschinen für Recherchen zu jeglichem noch so weit hergeholtem Thema, auf das ich sonst nirgendwo eine Antwort finde. Auch den Familienchat auf dem Smartphone schätze ich sehr, um immer über die wichtigsten Neuigkeiten auf dem Laufenden zu sein. Texte, Zeitungsartikel oder ganze Bücher zu schreiben, könnte ich mir ohne digitale Instrumente heute beim besten Willen nicht mehr vorstellen. Rasch und überall die nächste Zugsverbindung herauszufinden, auch das eine tolle Sache. Und da gäbe es wohl auch noch einiges mehr aufzuzählen…

Doch dies alles darf nicht ausschliessen, mögliche Übertreibungen und Auswüchse kritisch zu hinterfragen. Führt allzu häufiges Onlineshopping nicht dazu, dass lokale Fachgeschäfte früher oder später nicht mehr konkurrenzfähig sind und wertvolle Arbeitsplätze, aber auch zwischenmenschliche Kontakte zwischen Verkaufspersonal und Kundschaft mehr und mehr verloren gehen? Was soll ich, wenn es kein Bargeld mehr gibt, dem Strassenmusikanten oder der Strassenmusikantin in ihren Hut legen? Ist ein Kino- oder Theaterbesuch nicht viel erlebnisvoller als das Konsumieren einer Unmenge an Spielfilmen auf einem winzigen Display? Worin besteht die Förderung der Lebensqualität, wenn ich am Abend weiss, wie viele Schritte ich an diesem Tag zurückgelegt und wie sich meine Blutwerte innerhalb der letzten 24 Stunden verändert haben? Drohen wir nicht unseren Orientierungssinn und die Landkarten im eigenen Kopf zu verlieren, wenn wir, beim Wandern, Rad- oder Autofahren, bloss Ausgangspunkt und Zielort in ein GPS-Navigationssystem einzugeben brauchen, um uns dann blindlings von ferngesteuerten Anweisungen leiten zu lassen? Wird die Bereitschaft des Bergsteigers oder der Bergsteigerin, unnötige Risiken einzugehen, nicht dadurch viel grösser, dass sie sich in der Illusion wiegen, jederzeit und überall innerhalb weniger Minuten gerettet werden zu können? Setzen wir nicht möglicherweise unsere eigene Kreativität aufs Spiel, wenn wir Herausforderungen wie das Verfassen eines Texts, die Planung einer Sitzung oder das Organisieren einer Geburtstagsparty immer öfters einer KI überlassen? Setzt uns die Erwartung unserer Freunde oder unseres Chefs, mittels Smartphone überall und jederzeit erreichbar zu sein, nicht masslos unter Druck? Und wozu dienen die Hunderten von Fotos und Filmen, die wir in den Ferien aufnehmen, umso mehr, als ja ohnehin die Zeit, die wir bräuchten, um uns später alles wieder anzusehen, ins Unermessliche steigen würde?

Übertriebene Digitalisierung kann möglicherweise auch gesellschaftliche Entwicklungen beflügeln, die mit einer Steigerung an Lebensqualität auch nicht mehr das Geringste zu tun haben. Die Zeit, die wir im Verlaufe eines Tages in der digitalen Welt verbringen, fehlt dann in der analogen Welt von konkreten menschlichen Begegnungen, dem sozialen Kontakt, dem Pflegen von Freundschaften, aber auch ehrenamtlichen Tätigkeiten, aktiver Gestaltung der Lebensumgebung und politischer Arbeit umso mehr. Das Hin- und Herschicken von Emails innerhalb von Sekundenbruchteilen führt nicht selten zu Überreaktionen, Missverständnissen, gegenseitigen Beschuldigungen oder sogar Streitigkeiten und Hass, die sich in einem persönlichen Gespräch, bei dem man sich gegenseitig in die Augen schaut, sogleich in Luft auflösen würden. Das Konsumieren von „Kurzfutterinfos“ mit möglichst spektakulären Schlagzeilen und Bildern in den sozialen Medien oder ganz allgemein im Internet kann zu einer gefährlichen Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung des Zeitgeschehens führen und Hintergrundwissen sowie das Einordnen von Einzelereignissen in grössere Zusammenhänge, wie es in analogen Zeiten die besondere Stärke der Printmedien war, geradezu verunmöglichen. Besonders verhängnisvoll sind die Auswirkungen auf dem Gebiet des Tourismus: Ein Wasserfall im bernischen Lauterbrunnen wird in den sozialen Medien dermassen hochgepusht, dass Touristinnen und Touristen aus aller Welt nur deshalb hierher anreisen, um diesen Wasserfall zu fotografieren und dann so schnell wie möglich wieder abzureisen, nicht ohne, wie Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes zunehmend beklagen, riesige Müllberge zu hinterlassen oder gar ohne anzuklopfen in Privathäuser eindringen, um dort eine Toilette aufzusuchen – während Schweiz Tourismus Millionen Franken investiert, um in möglichst vielen Ländern Influenzerinnen und Influenzer ausbilden, um noch mehr Reisende in die Schweiz zu locken. Auch dem GPS-Tracking, mit dessen Hilfe der aktuelle Aufenthaltsort des Ehemanns oder der Kinder jederzeit nachverfolgt werden kann, kann man wohl, in Bezug auf die Lebensqualität, nicht wirklich etwas Positives abgewinnen, im Gegenteil: Kinder, die rund um die Uhr überwacht und kontrolliert werden, drohen dadurch weitgehend ihre Selbstständigkeit, eines der wichtigsten Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung, zu verlieren. Und dabei haben wir noch nicht einmal von all den unsichtbaren, unheimlichen und bedrohlichen Tendenzen gesprochen, auf digitalem Weg Personendaten zu sammeln und für kommerzielle Zwecke zu verwenden. Schliesslich haben digitale Systeme, die immer grösser und komplexer werden, auch immer verheerendere Auswirkungen, wenn sie auf einmal ausfallen, wie Vorfälle in jüngster Vergangenheit – von der Swisscom über den gesperrten Geldbezug durch Kreditkarten bis zum Ausfall von Sicherheitssystemen der SBB – immer wieder gezeigt haben.

Nicht zuletzt hat die zunehmende Digitalisierung auch weitreichende ökologische Folgen, obwohl dies kaum je thematisiert wird. Denken wir nur an die Verschwendung natürlicher Ressourcen und die Entsorgung nicht mehr gebrauchter elektronischer Geräte, deren Lebensdauer sich infolge der immer weiter beschleunigenden technischen Entwicklung laufend verkürzt. Und je mehr Daten gespeichert werden müssen, umso mehr Rechenzentren braucht es. Schon heute sind das Internet, Rechenzentren und private Computer gemeinsam für mehr CO2-Emissionen verantwortlich als der gesamte globale Flugverkehr.

Die Lehre der „Dialektik“ definiert gesellschaftlichen Fortschritt so, dass sich zu einer These jeweils eine Antithese bildet und in einem nächsten Schritt dann die These und die Antithese zu einer neuen Synthese verschmelzen. Übertragen auf die Digitalisierung würde dies bedeuten: Die These lautet, in analogen Zeiten sei alles besser gewesen. Die Antithese behauptet, Digitales sei Analogem stets überlegen. Die Synthese würde heissen: Nehmen wir aus beiden Welten das Beste, führen wir die analoge und die digitale Welt zusammen, beide sind unvollkommen und können voneinander lernen. Das wäre dann möglicherweise ein echter Entwicklungsschritt, bei dem sich die Menschen nicht zu Sklavinnen und Sklaven der einen oder anderen Denkrichtung machen lassen, sondern zukünftige Entwicklungen gemeinsam, autonom und selbstbestimmt gestalten. 

Drei volle Jobs um leben zu können

Jahrelang arbeitete sie in einem US-amerikanischen Automobilkonzern, acht bis neun Stunden am Tag. Doch obwohl auch ihr Mann voll erwerbstätig war, reichte es nicht für den Familienunterhalt. Deshalb nahm sie eine zweite Stelle an und arbeitete gleichzeitig in zwei Firmen, in der einen acht bis neun, in der anderen zehn Stunden pro Tag. Schlafen konnte sie nur, wenn überhaupt, im Auto auf dem Parkplatz der einen oder anderen Firma. So kam die Familie einigermassen über die Runden. (Echo der Zeit, SRF1, 28.9.23)

Kinderarmut in Deutschland

3 Millionen Kinder in Deutschland, das ist jedes fünfte, sind von Armut betroffen. Hilfswerke wie die „Arche“ in Berlin sind oft die letzte Hoffnung dieser Kinder. Hier zum Beispiel erhalten sie die einzige sichere Mahlzeit pro Tag. Die gesellschaftliche Vernachlässigung der Kinder kennt keine Grenzen: Viele Kinder sind motorisch zurückgeblieben, wissen nicht, wie man eine Schere hält, manche dürfen nicht vor 21 Uhr nachhause, weil ihre Mütter sie aussperren, andere erfahren psychische und physische Gewalt, einige werden kriminell, bei vielen laufen zuhause den ganzen Tag Pornofilme. „Zum Glück essen meine Kinder nicht gerne Gemüse und Obst“, sagt ein Vater, „ich könnte es mir gar nicht leisten“. Er hat einen 60-Stunden-Job in einer Sicherheitsfirma, seine Frau arbeitet zu 100 Prozent in der Altenpflege, trotzdem müssen sie auf jeden noch so kleinen Luxus verzichten, denn ihr Einkommen liegt immer noch ein paar Euro über dem, was sie zum Bezug von Kindergeld berechtigen würde. Die Musikinstrumente, welche die „Arche“ den Kindern zur Verfügung stellt, nehmen diese nicht nachhause, weil sie Angst haben, die Eltern würden sie verkaufen. (Rendez-vous, SRF1, 28.9.23)

Armutsbekämpfung

„Armutsbekämpfung“ ist ein gängiges Wort in der Sozialpolitik. Doch eigentlich sollte man nicht die Armut bekämpfen, sondern den Reichtum. Denn wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber. Oder, wie Bertolt in seiner Parabel vom reichen und vom armen Mann so treffend sagte: „Wärst du nicht reich“, so der arme Mann zum reichen, „dann wäre ich nicht arm.“

Larissa und die Pferde die von Wolke zu Wolke flogen

Kaum hat der Tag begonnen, brennt das Feuer im Rücken auch schon wieder. Die achtzehnjährige Larissa, mitten in der Ausbildung zur Bereiterin, stösst nach dem Ausmisten der Pferdeställe eine Schubkarre voller Pferdemist über den Hof. „Aber das geht doch auch im Laufschritt, oder nicht?“, brüllt ihr Chef von der anderen Seite des Hofes herüber, „trödeln kannst du, wenn dein Arbeitstag zu Ende ist.“ Larissa beisst auf die Zähne und setzt zum Laufschritt an, quer über den ganzen Hof, mit einer Schubkarre voller Pferdemist, die sich anfühlt wie eine Tonne Zement. Und das noch weitere fünf Mal – ihr Chef schaut zu und scheint sich über den Anblick geradezu zu amüsieren.

Zwölf Stunden später, nach einer Mittagspause von einer halben Stunde und nachdem sie vier Tonnen Heuballen ganz alleine abladen musste, fragt sich Larissa einmal mehr, wie sie das alles bis zum Ende ihrer Ausbildung durchstehen soll. Hundemüde setzt sie sich ans Steuer ihres Autos, muss jetzt noch fast 20 Kilometer bis nachhause fahren. Am schlimmsten ist die Müdigkeit jedes Mal in diesem grauslichen, viel zu langen Tunnel, wenn dann auch noch stinkende Abgase ins Innere des Fahrzeugs dringen…

Und schon ist es passiert – ein ohrenbetäubendes Krachen weckt Larissa aus ihrem Sekundenschlaf, wie im schlimmsten aller möglichen Träume sieht sie die Tunnelwand unmittelbar hinter dem Fenster des Beifahrersitzes vorbeirauschen und gerade noch kann sie das Steuer herumreissen, um das Allerschlimmste zu verhindern. Mit kreischenden Bremsen ist das Auto hinter ihr gerade noch zum Stillstand gekommen. Erbarmungsloses Hupen im tausendfachen Echo des von Scheinwerfern wie von Blitzen durchzuckten Tunnels durchdringt, als wäre nicht alles Bisherige schon schlimm genug, Larissa bis ins Innerste, dazwischen eine ebenso bedrohlich klingende Männerstimme, die fast so klingt wie die Stimme ihres Chefs heute Morgen, ob es denn nicht auch im Laufschritt ginge, zum Trödeln sei allemal später noch genug Zeit…

Eigentlich hätte sich Larissa von diesem Schock wenigstens einen Tag lang ein wenig erholen müssen. Aber nicht mitten in der Ausbildung zur Bereiterin. Und schon gar nicht mit diesem Chef, den sie, hätte sie sich am nächsten Tag kurzfristig von der Arbeit abgemeldet, wohl zur Weissglut getrieben hätte und wahrscheinlich auch dazu, ihr dies noch tagelang vorzuhalten und sie vielleicht noch mehr zu schikanieren, als er dies sowieso schon jeden Tag tat.

Die Ausbildung zur Bereiterin dauert drei Jahre und ist nicht nur körperlich, sondern auch was psychologisches, naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen betrifft, höchst anspruchsvoll. Zu den täglichen Arbeiten gehören das Füttern, Tränken, Putzen und Bewegen der Tiere wie auch die Versorgung kranker und verletzter Pferde, das Anlegen von Bandagen zum Schutz der Gelenke, das Auskratzen der Hufe, das Bürsten und Striegeln, das Sauberhalten der Ställe, der Ausrüstung und der Anlagen. Die zukünftige Bereiterin muss die Tiere in verschiedensten Reit- und Dressurtechniken trainieren und ihnen die verschiedenen Gangarten beibringen können. Sie muss Fohlen und Stuten nach der Geburt adäquat versorgen können und, als etwas vom Wichtigsten, zu jedem Tier ein persönliches Vertrauensverhältnis aufbauen. Auch das Longieren der Tiere gehört zu ihren Aufgaben, ebenso wie auch das tiergerechte und nicht ungefährliche Verladen und Transportieren. Auch muss sie sich in der individuellen Tierfütterung, in Tier- und Umweltschutzfragen sowie in der Gesundheitsvorsorge und im – überaus anspruchsvollen – Erkennen von Krankheitsbildern ebenso auskennen wie in Zuchtmethoden, Besamungstechniken, Hygienemassnahmen und Fragen des Weidemanagements. Sie muss fähig sein, Pferde für Ausstellungen, Prüfungen und Wettkämpfe vorzubereiten. Und sie muss in der Lage sein, Reiterinnen und Reiter in Bezug auf Anlagebewirtschaftung, Planung und Durchführung von Ausbildungsmassnahmen und Grunderziehung des Pferdes professionell zu beraten. Zu alledem muss die zukünftige Bereiterin auch noch die Kunst des Voltigierens beherrschen, akrobatische Kunststücke auf dem Pferderücken, stets verbunden mit der Gefahr abzustürzen und sich schwere Verletzungen zuzuziehen.

Doch trotz aller dieser immensen Anforderungen ist die Bereiterin, hat sie ihre Ausbildung erst einmal erfolgreich abgeschlossen, mit einem durchschnittlichen Monatslohn von 3500 Franken und Tiefstlöhnen von 2700 bis 2800 Franken bei bis zu 50 Arbeitsstunden pro Woche einer der am schlechtesten bezahlten Jobs in der Schweiz.

Und das alles nur, damit dann sonntags die Schönen und Reichen aus der Stadt ihre gesunden, wunderschön glänzenden, perfekt trainierten Pferde ausreiten können, wie Königinnen und Prinzen dies schon seit Jahrhunderten tun, hoch über dem gewöhnlichen Volk thronend. Wer bei alledem immer noch behauptet, so etwas wie die Klassengesellschaft gehöre doch schon längst der Vergangenheit an, hat sich wahrscheinlich kaum je Gedanken darüber gemacht, wie es frühmorgens, wenn die Schönen und Reichen noch schlafen, in all den Ställen und auf all den Höfen landauf landab zu- und hergeht, wo nicht nur Larissa, sondern noch viele, viele andere im Laufschritt Schubkarren mit zentnerschwerem Pferdemist vor sich herschieben und am Abend so kaputt sind, dass sie in grauslich langen, stinkenden Tunnels auch unter grösster Anstrengung ihre Augen nicht mehr offen zu halten vermögen.

Ob Larissa ihre Lehre zu bringen wird? An manchen Tagen glaubt sie daran, an anderen nicht. Nur manchmal denkt sie ein bisschen wehmütig an die Zeit zurück, als sie sich jeden Abend mit ihrem Spielpferdchen aus Plüsch in ihr Bett verkroch, in ihrem Kinderzimmer voller Pferdebilder an allen Wänden, eines schöner als das andere, und fast jede Nacht davon träumte, eine kleine Prinzessin zu sein auf einem schneeweissen, von Wolke zu Wolke fliegenden Pferd. 

Zuwanderung

Die Zuwanderung ist nicht eine Folge linker Willkommenskultur, sondern eine Folge des ungebrochenen kapitalistischen Glaubens an ein endloses Wirtschaftswachstum, welcher nicht zuletzt von der SVP an vorderster Front vorangetrieben wird.

Noten und Lernen

Noten fördern nicht das Lernen, sondern nur den Wettbewerb, was leider immer wieder verwechselt wird. Johann Heinrich Pestalozzi sagte schon vor über 250 Jahren: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“

Bergkarabach: Zweierlei Mass

Wie das „Tagblatt“ am 26. September 2023 berichtet, sind schon Tausende von Menschen durch aserbaidschanische Verbände aus Bergkarabach, das mehrheitlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt wird, vertrieben worden. Seit Monaten warnt Armenien vor „ethnischen Säuberungen“, genau dies ist jetzt bittere Realität. Dafür sprechen Hunderte Tote, darunter auch Kinder, seit Aserbaidschan mit Bodentruppen einmarschierte. Die armenische Armee hat dem hochgerüsteten Aserbaidschan kaum etwas entgegenzusetzen. Doch die EU erwägt trotz ethnischer Säuberungen und Hunderter Toter weiterhin nicht, Sanktionen zu verhängen. Wo bleibt der Aufschrei des Westens, jetzt, wo in Bergkarabach nichts anderes geschieht als das, was im Februar 2022 mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine geschah? Weil jetzt die „Bösen“ die „Guten“ sind oder umgekehrt?