Archiv des Autors: Peter Sutter

Die DDR: ein „gescheiterter“ Staat?

 

Tagesschau am Schweizer Fernsehen, 8. Juli 2023: Berichtet wird über die Schliessung des DDR-Museums in Dresden infolge massiv gesunkener Besucherzahlen. Der Nachrichtensprecher sagt, in diesem Museum seien „Erinnerungen an einen gescheiterten Staat“ ausgestellt gewesen. Doch nicht alle scheinen die Auffassung vom „gescheiterten“ Staat zu teilen, einer der letzten Museumsbesucher meint im Interview: „Nein, in der DDR war nicht alles schlecht.“ In der Tat, wer sich die 40jährige Geschichte der DDR etwas genauer anschaut, wird wohl ebenfalls zum Schluss kommen, dass in der DDR tatsächlich nicht alles schlecht war. So, wie es auch Katja Hoyer in ihrem in diesem Jahr erschienen Buch „Eine neue Geschichte der DDR“ beschreibt, aus dem ich im Folgenden einige Passagen zitiere, wohl wissend, dass es auch sehr viel „Schlechtes“ gab, aber darüber ist schon so viel geschrieben worden, dass es nicht sehr viel bringt, es immer und immer wieder zu wiederholen…

Nach den überaus schwierigen und entbehrungsreichen Nachkriegsjahren, so Hoyer, habe der Lebensstandard in der DDR ab etwa 1950 merklich zu steigen begonnen, das Durchschnittseinkommen hätte sich zwischen 1950 und 1960 fast verdoppelt. Und dies, obwohl die DDR nach dem Krieg hohe Reparationszahlungen an die Sowjetunion entrichten musste, von einem gewaltigen Raubbau an einem Grossteil der intakt gebliebenen Industrie- und Geleiseanlagen durch die Sowjetunion betroffen war wie auch durch eine massive Abwanderung von Fachkräften, zudem nicht, wie Westdeutschland, von einem grosszügigen Marshallplan profitieren konnte und im Vergleich zu Westdeutschland nur über geringe Bodenschätze verfügte. 

Besonders gross war in der DDR von Anfang an das Bemühen um die Gleichberechtigung der Geschlechter. „Ostdeutsche Frauen“, so Hoyer, „hatten ein soziales Leben ausserhalb des häuslichen Bereichs. Sie gingen abends mit ihren Arbeitskollegen ein Bier trinken und fühlten sich als Teil der Gesellschaft, wie es sich in Westdeutschland erst viel später entwickelte. Während in der DDR 1955 etwas mehr als die Hälfte aller Frauen erwerbstätig war und diese Quote bis 1970 auf zwei Drittel anstieg, war in der BRD im Jahr 1950 nur ein Drittel der Frauen erwerbstätig und 1970 waren es nur 27,5 Prozent.“

Bald „schossen kulturelle Einrichtungen wie Theater, Konzerthallen und Kinos überall aus dem Boden und erfreuten sich grosser Beliebtheit. Immer mehr begannen sich die Menschen in der DDR von den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen des Krieges zu erholen.“ Auch seien die sozialen Unterschiede viel geringer gewesen als im Westen: „Im Vergleich zu den politischen Führern anderer Nationen lebten die Eliten der DDR in bescheidenen Verhältnissen, ihre Häuser waren luftig und geräumig, doch keinesfalls extravagant oder luxuriös.“ Viel sei getan worden, um möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern grosszügig subventionierte Urlaubsmöglichkeiten zu bieten, Ferienhäuser am Meer, Hotels, Campingplätze und Bungalows in Bergregionen, Waldgebieten oder an Seen.

Auch der wirtschaftliche Aufschwung hätte sich sehen lassen: „Selbst das westdeutsche Zentrum für Historische Sozialforschung in Köln befand, dass der DDR zwischen 1961 und 1967 allmählich der Anschluss an den Westen gelinge. In diesem Zeitraum verzeichnete die ostdeutsche Wirtschaft ein Wachstum von etwa fünf Prozent, so dass man allgemein den Eindruck hatte, dass die Dinge vorankamen und die DDR zu einem stabilen Staat mit funktionierendem Wirtschaftssystem wurde.“ Der technische Fortschritt sollte mit dem sozialen Fortschritt einhergehen: „1965 führte die Regierung eine Reihe von Bildungsreformen ein, um den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb besuchten alle Kinder in den ersten zehn Jahren ihrer Schulzeit eine Gesamtschule, die Polytechnische Oberschule. Dort erwarben sie neben der allgemeinen Schulbildung auch eine Reihe praktischer Fertigkeiten. Im Gegensatz zum dreigliedrigen System in Westdeutschland, das die Kinder schon in jungen Jahren nach ihren Fähigkeiten einteilte, sollte damit sichergestellt werden, dass Benachteiligungen im kulturellen Umfeld des Elternhauses durch Bildung ausgeglichen würden. Diejenigen, die ein Hochschulstudium anstrebten, mussten gleichzeitig eine Berufsausbildung absolvieren, in der Regel in der Landwirtschaft oder in der Industrie, sodass sie neben einem akademischen auch einen beruflichen Abschluss erwarben. So blieben Intellektuelle, Wissenschaftler und Akademiker weiterhin kulturell mit der Arbeiterklasse verbunden. Wer eine Universität besuchte oder einen akademischen Beruf ausübte, hatte auf diese Weise eine Vorstellung davon, wie das Leben eines Maschinenarbeiters oder eines Milchbauern aussah. Alle Kinder wurden von klein auf mit praktischer Arbeit vertraut gemacht. Obendrein war der Staat bemüht, ehrgeizigen Menschen in jeder Phase ihres Lebens eine Weiterbildungsmöglichkeit zu bieten. Dies führte zu einer beispiellosen sozialen Aufwärtsmobilität für Menschen aus bescheidenen Verhältnissen. Dies war so effektiv, dass 1967 etwa ein Drittel der Universitätsstudenten in der DDR aus der Arbeiterschicht stammte, während es in Westdeutschland lediglich 3 Prozent waren.“ 

„Im Grossen und Ganzen verbesserte sich das Leben der Ostdeutschen zwischen 1960 und 1970 enorm. 1967 wurde die Samstagsarbeit abgeschafft und die Wochenarbeitszeit auf 43,75 Stunden bei gleichem Lohn reduziert. Der monatliche Mindestlohn stieg von 220 auf 300 Mark mit der Massgabe, die Löhne schrittweise anzuheben, sofern sie noch unter 400 Mark lagen. Das Kindergeld stieg von 40 auf 60 Mark für das erste Kind und von 45 auf 70 Mark für weitere Kinder. Subventionen für Mieten, Lebensmittel, Aktivitäten und öffentliche Verkehrsmittel machten das Leben erschwinglich. Ein Kinobesuch kostete ganze 50 Pfennig. Es entwickelte sich eine rege Freizeitkultur, auch die Gastronomie wurde zu einem Wachstumsbereich. Die unaufhaltsame Entwicklung in Richtung eines modernen Lebensstils war überall sichtbar.“

„Zwischen 1969 und 1973 stieg die Arbeitsproduktivität um 23 Prozent. Die meisten Historiker sind sich heute einig, dass die Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre stetig wuchs und und mit einer stabilen Zunahme des Bruttosozialprodukts einherging. Dies hatte zur Folge, dass der Staat enorme Summen in Wohnungsbau, Sozialwesen und Freizeitgestaltung investierte. Die Mieten waren so stark subventioniert, dass die DDR-Bürger ihre Wohnungen problemlos bezahlen konnten. Damals musste ein Vierpersonenhaushalt in Westdeutschland rund 21 Prozent des Nettoeinkommens für Mietkosten aufbringen, während es für eine ähnliche Haushaltsgrösse im Osten lediglich 4,4 Prozent waren. Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern machte grosse Fortschritte. 1975 besass mehr als ein Viertel der Haushalte ein Auto, 1970 waren es erst 15 Prozent gewesen, und bis zum Ende des Jahrzehnts sollte diese Zahl auf 38 Prozent steigen. Zudem war 1980 nahezu jeder Haushalt mit Kühlschrank, Fernseher und Waschmaschine ausgestattet.“

„Selbst Marianne Strauss, die Ehefrau des damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss, meinte anlässlich eines Staatsbesuchs in der DDR anfangs 1982, wie sehr sie das umfassende ostdeutsche System zur Kinderbetreuung, die finanziellen Hilfen für junge Paare sowie die Unterstützung von Frauen während und nach der Schwangerschaft am Arbeitsplatz bewundere. Sie bedaure, dass das Fehlen solcher Massnahmen in Westdeutschland zu einem Bevölkerungsrückgang führe.“

Die DDR hätte, so Hoyer, auch Ende der 80er-Jahre den Eindruck eines stabilen Landes mit einem vergleichsweise hohen Lebensniveau gemacht: „Es herrschte Vollbeschäftigung, und durch die subventionierten Mieten, Lebensmittel, Kulturangebote und Einrichtungen zur Kinderbetreuung gab es kaum Anlass für existenzielle Sorgen. Zu einer Zeit, als Westdeutschland mit einer Arbeitslosenquote von rund 8 Prozent rang und viele Beschäftigte um ihre Stellen bangten, mussten ostdeutsche Familien keinen unerwarteten Einkommensverlust fürchten oder Angst haben, die Miete nicht mehr bezahlen zu können. Geselligkeit und Freizeitaktivitäten standen hoch im Kurs. Klubhäuser, Schrebergärten, Gaststätten, öffentliche Grillplätze und Partyräume in Wohnblocks waren beliebt. Die Mehrheit der Ostdeutschen wünschte sich 1988 weder die Abschaffung des Staates noch eine baldige Wiedervereinigung mit dem Westen. Die DDR war eine hochgebildete, hoch qualifizierte und hoch politisierte Gesellschaft, die selbstbewusst und stolz auf ihre Errungenschaften war und sich weiterentwickeln wollte.“

Allen, die von der DDR als einem „gescheiterten“ Staat sprechen, sei dieses Buch von Katja Hoyer, die freilich auch in Bezug auf die Schattenseiten der DDR kein Blatt vor den Mund nimmt, wärmstens empfohlen. Nein, in der Tat war in der DDR nicht alles schlecht. Ganz im Gegenteil. Leider wurde bei der „Wiedervereinigung“ der BRD mit der DDR 1989 die historische Chance verpasst, die Vorzüge des westlichen Systems – Meinungs- und Gedankenfreiheit – mit den Vorzügen des sozialistischen Systems – soziale Gerechtigkeit – zu verbinden und damit etwas von Grund auf Neues zu schaffen, das für die ganze Welt ein Vorbild hätte sein können…

Ein vierseitiges Zeitungsinserat, um den Menschen Dinge aufzuschwatzen, die sie schon längst gar nicht mehr wirklich brauchen…

 

In meiner heutigen Tageszeitung wird auf vier vollen Seiten von einer Haushaltgerätefirma Werbung gemacht unter anderem für folgende Produkte: Ein Kühlventilator, mit dem „im Nu eine angenehmes Raumklima“ geschaffen werden kann, Stromverbrauch: 160 W, Preis: 329 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für „nur“ 197 Franken. Ein Profimuskelmassagegerät mit Akkubetrieb, das „mit sechs austauschbaren Aufsätzen“ und mit „sechs unterschiedlichen Geschwindigkeitsstufen“ zur „Lockerung der Muskeln im Rücken, Nacken, in Armen usw. oder zur Erholung bei Muskelkater“ dient, Preis: 184 Franken, angeboten mit einem 35-Prozent-Rabatt für 120 Franken. Ein Fugen- und Plattenreiniger mit einem „überaus kraftvollen Elektromotor“, der zur „Behandlung von Stein- und Holzoberflächen sowie zur Reinigung von Fugen und Kanten“ verwendet werden kann, Preis: 240 Franken, angeboten mit einem 30-Prozent-Rabatt für 168 Franken. Eine Akku-Astschere mit integriertem Lithium-Ionen-Akku, die sich für den „Schnitt von Blumen, Büschen, Pflanzentrieben und Ästen bis zu 15 Millimeter Durchmesser“ eignet und mit einer Teleskopverlängerung versehen werden kann, Preis 165 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 99 Franken. Ein elektrisch angetriebener Thermo-Unkrautvernichter, der mit seiner „650 Grad heissen Luft dem Unkraut keine Chance lässt“, Preis: 70 Franken, angeboten mit einem 35-Prozent-Rabatt für 46 Franken. Eine Profi-Wetterstation, welche „Aussen-, Luftfeuchtigkeits-, Wind- und Niederschlagsmengen mit einem drahtlosen Sensor“ erfasst und sämtliche Daten der letzten 24 Stunden aufzeichnet, Preis: 199 Franken, angeboten mit einem 30-Prozent-Rabatt für 139 Franken. Ein mit Akku angetriebener Solar-Marderschreck, der ein Gebiet von 60-90 Quadratmetern überwachen kann und einen für Menschen nicht hörbaren, aber für Tiere sehr unangenehmen Ultraschallton verbreitet, Preis: 90 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 54 Franken. Eine mit einem „kraftvollen Akku“ versehene Camping-Insekten-Tilger-Lampe, die Insekten mittels ultraviolettem Licht in ein elektrisch geladenes Gitter lockt, Preis: 79 Franken, angeboten mit einem 40-Prozent-Rabatt für 47 Franken. Ein Elektroroller, der „mit seinem 500-Watt-Motor und dem Hochleistungsakku an Kraft und Ausdauer kaum zu überbieten ist“ und sogar mit einem „besonders innovativen und nützlichen integrierten Blinker“ ausgestattet ist, Preis: 885 Franken, angeboten mit einem 10-Prozent-Rabatt für 797 Franken. Und bei jedem Artikel ist in einem grossen gelben Balken vermerkt, wie viel Geld die Kundinnen und Kunden dank der „grosszügigen“ Rabatte mit dem Kauf des betreffenden Artikels „sparen“ können. Dumm wäre, wer da nicht ohne lange zu überlegen blitzschnell zugreifen würde, weiss man doch nie, wie lange diese „attraktiven“ Preise noch gültig sein werden…

Und da wundern wir uns noch, wenn der Gesamtverbrauch an Strom immer mehr ins Unermessliche steigt, Rohstoffe und Bodenschätze früher oder später zur Neige gehen werden, die Berge von nicht mehr gebrauchtem Plastik- und Elektroschrott immer weiter in die Höhe wachsen und der Klimawandel scheinbar unaufhaltsam voranschreitet. Die auf den vier Zeitungsseiten angepriesenen Produkte zeigen: Längst geht es nicht mehr darum, das zu produzieren, was die Menschen wirklich brauchen, sondern, im Gegenteil, immer neue Luxusbedürfnisse zu schaffen und all das, was die Menschen kaufen sollen, ohne dass sie es wirklich brauchen, ihnen mit immer aggressiveren Werbemethoden aufzuschwatzen. Ganz abgesehen davon, dass sich dadurch der soziale Graben zwischen denen, die sich fast alles leisten können, und denen, die sich fast nichts mehr leisten können, immer weiter vertieft, indem Annehmlichkeiten aller Art immer mehr zum Privileg jener werden, die sich selbst noch die unnötigsten Dinge kaufen können, auf die viele andere verzichten müssen.

Da können wir noch Tausende von Windrädern und Solaranlagen bauen – so lange nicht eine radikale Abkehr von der kapitalistischen Ideologie eines immerwährenden, endlosen Wachstums erfolgt, wird jeder Schritt nach vorne sogleich von zwei Schritten nach hinten wieder zunichte gemacht. Was Mahatma Gandhi vor über 80 Jahren sagte, hat in der Zwischenzeit an Aktualität nicht das Geringste eingebüsst, ganz im Gegenteil: „Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ 

 

Doch letztlich sitzen die Klimaprotestierer und die Lkw-Fahrer im gleichen Boot…

 

Am 12. Juli 2023 zerrt ein 41jähriger Lkw-Fahrer bei einer Blockadeaktion der „Letzten Generation“ im deutschen Stralsund drei Klimaprotestierer von der Strasse und droht ihnen Schläge an. Dann setzt er sich wieder hinter das Lenkrad und fährt kurz an. Dabei wird ein junger Demonstrant, der sich inzwischen wieder auf die Strasse gesetzt hat, etwa einen Meter nach vorn geschoben. Danach fährt der Lkw-Fahrer weiter, meldet sich aber später bei der Polizei. Nun droht dem Fahrer ein vorübergehender Führerscheinentzug.

So legitim die Aktion der Klimaprotestierer angesichts der drohenden Klimakatastrophe ist, so verständlich ist auch die Reaktion des Lkw-Fahrers, der unter einem ungeheuren Zeitdruck steht, den ihm auferlegten Transportauftrag in der kürzest möglichen Zeit zu erledigen, ansonsten er unter Umständen mit höchst unangenehmen Konsequenzen seitens seines Arbeitgebers zu rechnen hat. Das zutiefst Tragische an diesem Vorfall besteht darin, dass sowohl die Klimaprotestierer wie auch der Lkw-Fahrer letztlich unter dem Druck und der Belastung durch das gleiche, auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftssystem stehen, das sowohl für die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen mit all ihren zerstörerischen Folgen wie auch für den gnadenlosen Konkurrenzkampf und das sich laufend verschärfende Tempo in der Arbeitswelt verantwortlich ist.

Ja. Die Klimaprotestierer und der Lkw-Fahrer sind Opfer des gleichen ausbeuterischen Wirtschaftssystems. Doch statt sich gemeinsam, in gegenseitiger Solidarität, dagegen aufzulehnen, machen sie sich gegenseitig zu Feinden. Das gleiche Phänomen stellen wir beispielsweise auch beim sogenannten „Flüchtlingsproblem“ fest. Kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur sind sowohl die Ursache von Armut, Hunger, Dürren, Naturkatastrophen und Kriegen in vielen Ländern des Südens, welche immer mehr Menschen in die Flucht treiben, wie auch die Ursache von Armut, sozialer Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit in den Ländern des Nordens, sodass begreiflicherweise gerade unter den gesellschaftlich Benachteiligten und Zukurzgekommenen die Empörung über jegliche „Willkommenskultur“ gegenüber Menschen aus fernen Ländern ganz besonders gross ist. Doch auch hier kommt es nicht zur Solidarisierung zwischen den Opfern auf beiden Seiten, sondern zu Hass, Gewalt und gegenseitigen Schuldzuweisungen. 

Zu verurteilen sind weder die Klimaprotestierer noch die Lkw-Fahrer, weder die Flüchtlinge noch all jene Menschen, die sich von ihnen bedroht fühlen. Zu verurteilen ist einzig und allein das kapitalistische Wirtschaftssystem, welches die Menschen dazu antreibt, sich gegenseitig zu bekämpfen, statt sich, über alle Grenzen und alle gegenseitigen Feindbilder hinweg, für eine bessere und gerechtere Welt zu engagieren. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt vor vielen Jahren sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Träumen darf erlaubt sein: Die Ukraine als Brücke zwischen Ost und West…

 

„Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll“, sagte der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger im Jahre 2014, „darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein – sie sollte eine Brücke zwischen beiden Seiten sein.“ Man mag von Kissinger halten, was man will, aber in diesem Punkt hatte er wohl Recht. Dass nun ausgerechnet das, was den russischen Angriff auf die Ukraine überhaupt erst provoziert hat, nämlich die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands, vom Westen eifrigst vorangetrieben wird, widerspricht jeglicher politischer Weitsicht. Man stelle sich einmal das Umgekehrte vor: Kanada und Mexiko würden einem Militärbündnis mit Russland beitreten – undenkbar, dass die USA dies stillschweigend akzeptieren würden. Man führe sich auch vor Augen, dass die USA weltweit über 1000 Militärbasen verfügt, rund 50 Mal mehr als Russland. Da fragt sich dann schon, wer nun eigentlich wen bedroht. Was für eine Chance wäre eine neutrale, blockfreie Ukraine, ein Schmelztiegel, eine Brücke zwischen Ost und West, ein Land, wo die Menschen gelernt haben, Krieg in Frieden zu verwandeln, ein Ort für internationale Konferenzen zur Völkerverständigung, ein Musterbeispiel von Demokratie. Vielleicht müsste man nur die Kinder fragen, wie es weitergehen könnte. Meine Enkelkinder, dreieinhalb Jahre alt, wollten unbedingt Schach spielen. Da haben sie kurzerhand die Spielregeln abgeändert: Wenn zwei gegnerische Figuren aufeinander trafen, haben sie sich nun nicht mehr gegenseitig gefressen, sondern sich ineinander verliebt und das Spielfeld paarweise verlassen…

Umstrittenes elektronisches Patientendossier…

 

„Mehr als die Hälfte der Spitäler foutieren sich um das elektronische Patientendossier (EPD), obwohl es vorgeschrieben ist“, stellt das „Tagblatt“ am 10. Juli 2023 fest. Schon befasst sich der Bundesrat mit der Idee, für renitente Spitäler Bussen einzuführen, zudem will er künftig auch Arztpraxen und Apotheken zum EPD verpflichten. Und für alle Personen in der Schweiz soll kostenlos ein Patientendossier eröffnet werden, sofern sie nicht Widerspruch einlegen.

Doch sind die Bedenken und Widerstände gegen die Einführung eines EPD nicht allzu verständlich? Erstens sei es, wie Yvonne Gilli, Präsidentin der Ärztevereinigung FMH sagt, „in der jetzigen Form wenig nutzbringend“. Zweitens verschlingt seine Einführung, wie der Spitalverband H+ kritisiert, „exorbitante Geldsummen“ – finanzielle Mittel, die man wohl viel nutzbringender in höhere Löhne für das Pflegepersonal und damit in eine tatsächliche Qualitätssteigerung des Gesundheitssystems investieren würde. Drittens ist die technische Anbindung höchst kompliziert, weil die einzelnen Spitäler unterschiedliche Systeme benutzen – was wiederum zu einem immensen, kostspieligen administrativen Aufwand führen muss. Viertens kann es leicht zu einer Überforderung vieler Patientinnen und Patienten kommen, vor allem all jener, die sich heute schon im Dickicht behördlicher Formulare, Abrechnungen etc. kaum zurechtfinden: Patientinnen und Patienten müssen den Antrag auf ein EPD selber stellen und sich sodann für einen der zahlreichen Anbieter entscheiden, ohne hierfür über zuverlässige, neutrale Kriterien zu verfügen. Fünftens ergibt sich für die Hausärztinnen und Hausärzte ein immenser, kaum abschätzbarer Zeitaufwand, um die vorhandenen Gesundheitsdaten der einzelnen Patientinnen und Patienten in das neue System zu übertragen. Sechstens entsteht mit dem EPD ein digitales Mammutgebilde, das auch entsprechend anfällig ist für technische Pannen oder Hackerangriffe, wie Beispiele der SBB, der Swisscom oder von Banken in jüngster Vergangenheit immer wieder gezeigt haben. Was, wenn das System genau in dem Moment ausfällt, wenn für eine heikle Operation auf die Daten der betroffenen Patientin, des betroffenen Patienten zurückgegriffen werden müsste?

Hand aufs Herz. Ich ziehe es vor, meine gesammelten Gesundheitsdaten in der Hand meiner Hausärztin zu wissen statt irgendwo in einem Rechenzentrum in der Wüste von Nevada. Menschen sind ja nicht primär Ersatzteillager auf einem globalen Warenmarkt. Gesundheit hat vor allem auch eine eminent psychische, zwischenmenschliche und soziale Komponente. Die Forderung, dass jeder Mensch einen Hausarzt bzw. eine Hausärztin haben müsste, bei der man sich nicht nur medizinisch, sondern auch psychisch aufgehoben fühlt und die ihre Patientinnen und Patienten nicht nur in Bezug auf ihre Gesundheitsdaten, sondern auch in Bezug auf ihre Lebensgeschichte und ihre sozialen Lebensverhältnisse kennt, wäre wohl um einiges vordringlicher als die Forderung nach einer möglichst lückenlosen Ansammlung von Daten im digitalen Raum. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch menschlich und gesellschaftlich sinnvoll. Oder, wie es Yvonne Gilli sagt: „Ein EPD in der heute vorhandenen Ausgestaltung erhöht weder die Patientensicherheit noch ist es für die Ärzteschaft nutzenbringend.“

Bundesrätin Viola Amherd möchte die Schweiz unter einen internationalen Raketenschirm stellen: Fragwürdiger Entscheid mit weitreichenden Folgen…

 

Die von der schweizerischen Bundesrätin Viola Amherd unterzeichnete Absichtserklärung, die Schweiz gemeinsam mit Deutschland und Österreich unter einen internationalen Raketenschirm zu stellen, wirft viele Fragen auf. Kann ein so weitreichender und möglicherweise folgenschwerer Entscheid tatsächlich, wie Amherd sagt, allein vom Bundesrat, ohne Mitwirkung des Parlaments und des Parlaments, getroffen werden? Lässt sich der Entscheid tatsächlich mit dem schweizerischen Grundsatz der Neutralität vereinbaren, wo er doch eindeutig als „Reaktion europäischer Länder auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine“ begründet wird? Amherd behauptet zwar, die Schweiz würde trotz dieser Absichtserklärung „jegliche Teilnahme an internationalen militärischen Konflikten ausschliessen“. Aber was soll es dann für einen Sinn machen, gemeinsam mit anderen Ländern Waffen anzuschaffen, gemeinsam zu trainieren und eine gemeinsame Logistik aufzubauen – um dann, wenn es tatsächlich drauf und dran käme, aus dem ganzen Projekt wieder auszusteigen? Viel wahrscheinlicher wäre es dann wohl, dass die Schweiz – mitgehangen, mitgefangen – wohl oder übel in einen internationalen militärischen Konflikt hineingerissen würde. Es ist schon bemerkenswert, mit was für einer Hektik und einem vorauseilenden Gehorsam die Schweiz hier in die Bresche springt, während etwa Länder wie Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Polen und die Türkei noch abwartend beiseite stehen. Was noch viel erstaunlicher ist: Dass die Opposition gegen diesen Entscheid ausschliesslich von der SVP kommt, während sich die Linken und die Grünen trotz ihrer pazifistischen und neutralitätspolitischen Tradition vornehm in Schweigen hüllen. 

30 Jahre Diskussionssendung „Arena“ am Schweizer Fernsehen: Vielversprechende Chance verpasst…

 

In der Jubiläumssendung „30 Jahre Arena am Schweizer Fernsehen“ vom 30. Juni 2023 wurde umfassend und mit zahlreichen Einspielungen besonders spektakulärer Momente sowie Kommentaren und Erinnerungen sämtlicher bisheriger Moderatorinnen und Moderatoren dieser Sendung Rückschau gehalten. Es hätte aber auch um einen Blick in die Zukunft gehen sollen und zu diesem Zweck wurden Vertreterinnen und Vertreter jener vier Jungparteien eingeladen, deren „Mutterparteien“ im Bundesrat vertreten sind.

Doch erschreckend, wie wenige Visionen und wie wenige kritische, mutige Blicke in die Zukunft von den Vertreterinnen und Vertretern der Jungparteien zu hören waren. Mehr oder weniger unbesehen plapperten sie die ewig gleichen Parolen ihrer jeweiligen „Mutterpartei“ nach und verharrten weitgehend im gleichen Hickhack und in den gleichen gegenseitigen Anschuldigungen, von welchen schon seit 30 Jahren die Debatten der „Arena“ geprägt sind: Die Vertreterin der jungen SVP warnte vor „Masseneinwanderung“, der Vertreter der jungen FDP lobte die Vorzüge der freien Marktwirtschaft, die Vertreterin der jungen Mitte schob alle Schuld an gegenseitigen Blockierungen den „viel zu extremen Polparteien“ in die Schuhe und selbst der Vertreter der Juso begründete die Notwendigkeit der Zuwanderung von Fachkräften mit den existenziellen Bedürfnissen des Wirtschaftswachstums, obwohl doch nichts so nötig wäre, als, nicht zuletzt im Hinblick auf den Klimawandel, die Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums ganz grundsätzlich in Frage zu stellen. Und ganz in der Tradition der Beharrlichkeit auch die Auswahl der Podiumsteilnehmerinnen und Podiumsteilnehmer: Hätte man, wenn es schon um die Zukunft hätte gehen sollen, nicht auch einen Vertreter oder eine Vertreterin der jungen Grünen einladen sollen? Oder einen Vertreter oder eine Vertreterin all jener jungen Menschen, die sich schon längst von der traditionellen Parteienpolitik verabschiedet haben und von denen wohl viele von einer friedlichen und sozial gerechten Zukunft in Einklang mit der Natur träumen, jenseits von rechthaberischer Selbstprofilierung der einen auf Kosten der anderen, von einer Welt, in der es vor allem darum geht, die grossen Zukunftsprobleme der Menschheit nicht gegeneinander, sondern gemeinsam anzupacken, so wie das Friedrich Dürrenmatt einmal gefordert hatte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Dabei wären ja solche neue, unverbrauchte Stimmen durchaus greifbar gewesen, bei all den Dutzenden Schülerinnen und Schülern und Lehrlingen, die in den hinteren Rängen des Studios sassen und bei denen man sich wirklich fragen muss, wofür sie denn eigentlich in solche Sendungen eingeladen werden, wenn sie dann doch kaum je zu Wort kommen…

Die Jubiläumssendung der „Arena“ hatte, nach 30 Jahren, die Hoffnung auf eine Art Neubeginn geweckt. Doch leider wurde diese Chance ganz gründlich verpasst. Und so ist zu befürchten, dass man sich auch noch die nächsten 30 Jahre lang Argumente und Gegenargumente um den Kopf schlagen wird und man am Ende enttäuscht feststellen wird, dass man, wie eine Diskussionsteilnehmerin treffend sagte, keinen Schritt weitergekommen ist und man immer noch dort ist, wo man schon am Anfang gewesen war.

Sparmassnahmen in Neukölln: Wohin das Geld, das früher offensichtlich in genügendem Masse vorhanden war, plötzlich verschwunden ist…

 

Wie die „Berliner Zeitung“ vom 28. Juni 2023 berichtet, hat der Bezirk Berlin-Neukölln drastische Sparmassnahmen beschlossen. Nach der Zuweisung durch den Senat fehlen dem Bezirksamt Neukölln für die Haushaltsjahre 2024/25 pro Jahr 22,8 Millionen Euro, um den Status Quo zu halten. Folgende Sparmassnahmen sind vorgesehen: Der Wachschutz an zwölf Neuköllner Schulen entfällt; die Tagesreinigung an den Neuköllner Schulen wird aufgehoben; die Obdachlosenhilfe wird reduziert; die aufsuchende Suchthilfe wird gestrichen; Wasserspielplätze werden geschlossen; kaputte Spielgeräte auf Spielplätzen werden nicht mehr repariert; die Müllentsorgung in Grünanlagen wird halbiert; drei Jugendfreizeitzentren und Familieneinrichtungen werden geschlossen; Jugendreisen für besonders betroffene Jugendliche werden nicht mehr finanziert; der Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt fällt weg; freie Stellen im Bezirksamt werden temporär nicht mehr nachbesetzt. „Die Finanzplanungen des Senats“, so Bezirksbürgermeister Martin Hikel von der SPD, „werden auf viele Jahre die soziale Infrastruktur in Neukölln zerstören.“ Auch viele andere Kommunen in Deutschland sind überschuldet und müssen deshalb Schwimmbäder, Bibliotheken und Theater schliessen, Schulen warten auf dringende Renovierungen, in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen herrscht massiver Personalmangel.

Schon erstaunlich, dass die Empörung in der betroffenen Bevölkerung zwar riesig ist, aber dennoch niemand fragt, wohin denn all das Geld, das früher für alle diese staatlichen Leistungen offensichtlich in genügender Menge vorhanden war, denn nun plötzlich verschwunden ist. So selten die Frage gestellt wird, so einfach wäre die Antwort: Das früher vorhandene Geld ist schlicht und einfach nach und nach aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen geflossen, aus dem öffentlichen in den privaten Raum. So gehört heute dem reichsten Prozent der Bevölkerung, das entspricht etwa 840’000 Personen, etwas mehr als ein Drittel aller Vermögen, die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. 20 Prozent der Haushalte besitzen gar kein Vermögen, etwa neun Prozent sind verschuldet. 2022 gab es in Deutschland 1,63 Millionen Millionäre, 6,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Gemäss der Hans-Bröcker-Stiftung sind in fast keinem anderen Land die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Und so wird auch der soziale Graben immer tiefer und die Mauern der sozialen Apartheid werden immer dicker, zwischen denen, die sich bis zum Tiefseetauchen im privaten U-Boot über den Helikopterflug zum Skifahren auf den letzten kanadischen Gletschern und der Luxusreise mit einem Kreuzfahrtschiff immer verrücktere Vergnügungen leisten können, während die anderen schon froh sein müssen, wenn sie am Ende des Monats wenigstens noch eine einzige anständige Mahlzeit auf dem Tisch haben.

Geld wächst bekanntlich nicht auf Bäumen, es fällt auch nicht vom Himmel und man findet es auch nicht in irgendwelchen Muscheln tief auf dem Meeresgrund. Wenn es sich am einen Ort so gigantisch anhäuft, dann muss es an allen anderen Ecken und Enden umso schmerzlicher fehlen. Alle diese Millionen und Milliarden in den Händen der Reichen und Superreichen wurden dem Volk und dem öffentlichen Raum auf die eine oder andere Weise „geklaut“, auf scheinbar „legale“ Weise, etwa dadurch, dass über Generationen angehäufte Reichtümer auf die nächste Generation übertragen werden, ohne dass diese dafür eine entsprechende Arbeitsleistung erbringen müsste. Oder dadurch, dass Millionen von Beschäftigen für ihre Arbeit weit weniger Lohn erhalten, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre, um auf diese Weise die Löhne der Besserverdienenden zu subventionieren und den Unternehmen grösstmögliche Profite zu ermöglichen, die in Form von Dividenden wiederum in den Taschen der Reichen landen, ohne dass diese hierfür einen Finger krumm machen müssen. Oder dadurch, dass es nebst Dividenden, Finanzgeschäften, Einnahmen aus dem Besitz von Immobilien, Spekulation und dem Handel mit Rohstoffen noch viele andere verschlungene Formen von Kapitalbeteiligungen gibt, die alle darauf hinauslaufen, dass insgesamt nicht jene reich werden, die besonders viel und hart arbeiten, sondern ausgerechnet jene, die sowieso schon zu viel besitzen. „Geld“, sagte der CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist vorhanden wie Dreck, nur befindet es sich in den falschen Händen.“ Und seit die Vermögenssteuer in Deutschland im Jahre 1997 abgeschafft wurde, besteht nicht einmal mehr die Möglichkeit, zumindest einen kleinen Teil all dieses geklauten Geldes wieder in die Hände der arbeitenden Bevölkerung, in die Sicherung der Sozialwerke und in die soziale und kulturelle Infrastruktur des öffentlichen Raumes zurückzuholen.

Wir bilden uns ein, von politischen Parteien regiert zu werden. Tatsächlich aber werden wir vom Kapitalismus regiert. Und solange nicht der Kapitalismus als herrschendes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Denksystem überwunden wird, solange werden auch die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, die unaufhörliche Umverteilung von unten nach oben, von der Arbeit zum Kapital und aus dem öffentlichen in den privaten Raum nicht beendet werden können. Wie viele kaputtgesparte Schulen, wie viele Schliessungen von Schwimmbädern, Theatern, Kultur- und Jugendzentren, wie viele soziale Sparprogramme wird es noch brauchen, bis eine Mehrheit der Bevölkerung dies erkennen und daraus die folgerichtigen Schlüsse ziehen wird? 

Helene Fischer: Früher musste eine Sängerin ganz einfach gut singen können – das war einmal…

 

„Helene Fischer“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 20. Juni 2023, „hat sich am Sonntag in Hannover während einer Akrobatiknummer über der Bühne hängend verletzt und brach daraufhin mit Blut im Gesicht die Show ab.“ Sie sei mit dem Gesicht mit voller Wucht in eine Metallstange geknallt. Trotzdem hätte sie ihr Lied bis zum Ende tapfer durchgesungen, um dann von der Bühne zu verschwinden und ins Spital gebracht zu werden. „Dieser Trick“, so der Basler Akrobat Jason Brügger in „20minuten“ vom 20. Juni, „ist schwierig und birgt ein hohes Unfallrisiko. Er braucht mentale Stärke und verlangt Präzision auf höchstem Niveau. Die körperlichen Voraussetzungen müssen stimmen und es erfordert enorme Körperspannung, die sich Profiartisten über viele Jahre antrainieren.“

Wir erinnern uns: Auch die Sängerin Pink erlitt bei einem ihrer Konzerte einen schweren Unfall, dies am 16. Juli 2020. Pink wollte einen Song schwebend über dem Publikum vortragen. Zu diesem Zweck wurde sie von zwei Tänzerinnen an Seilen befestigt. Doch während des Befestigens wurde die Sängerin von den Seilen fortgeschleudert und landete unsanft auf dem Boden vor der Bühne. Die 20’000 Fans waren geschockt, das Konzert musste abgebrochen werden und Pink landete im Spital.

Früher musste eine gute Sängerin vor allem eines: Sie musste gut singen können, alles andere war Nebensache. Heute muss sie, um erfolgreich zu sein und mit ihren Konkurrentinnen mithalten zu können, auch möglichst gut aussehen, sich möglichst aufreizend kleiden, sich möglichst gut bewegen und tanzen, möglichst waghalsige Akrobatikkünste bestreiten, in jedem Interview auf jede noch so dumme Frage eine gescheite Antwort geben können und in den sozialen Medien rund um die Uhr präsent sein. Alles getreu dem kapitalistischen Lehrsatz vom Ausbeutungs- und Profitmaximierungsprinzip, wonach aus jedem Menschen in möglichst kurzer Zeit der grösstmögliche Profit herauszuquetschen sei – bis, was im Showbusiness und insbesondere in der Musikszene nicht selten ist, die ausgepowerten Stars am Ende völlig ausgebrannt sind, in eine Depression verfallen oder ihnen buchstäblich die Stimme versagt, kein Wunder, wenn an 50 oder mehr Auftritten in 50 oder mehr Städten hintereinander Abend für Abend fast ohne Pause stets von neuem eine Höchstleistung erwartet wird, in der buchstäblich alles gegeben werden muss und die möglichst alle bisherigen Höchstleistungen noch um ein Vielfaches übertreffen soll.

Doch genau so funktioniert der Kapitalismus, nicht nur im Showbusiness, sondern auch in der gesamten Arbeitswelt, in der gesamten Wirtschaft: Auf Teufel kommt raus die Menschen im gegenseitigen Konkurrenzkampf ums Überleben zu immer höheren Leistungen anzustacheln, die Kassen all derer, die davon profitieren, immer lauter klingeln zu lassen und all die „Kollateralschäden“ achselzuckend hinzunehmen…

 

Tragischer Todesfall auf der Tour de Suisse: Doch das ist nur die Spitze jenes tödlichen Konkurrenzkampfs, der immer gefährlichere und absurdere Formen annimmt…

 

Der Schweizer Radprofi Gino Mäder ist den schweren Verletzungen, die er sich infolge seines fürchterlichen Sturzes an der Tour de Suisse bei über hundert Stundenkilometern auf der Abfahrt vom Albulapass zugezogen hatte, erlegen. „Die Radwelt steht still“, titelt der „Tagesanzeiger“ am 17. Juni 2023. Anstelle der nächsten Etappe findet am folgenden Tag eine Gedenkfahrt zu Ehren Gino Mäders statt. Als die sechs Fahrer seines Teams geschlossen über die Ziellinie fahren, brandet in den Zuschauerrängen Applaus auf. Auf einer Grossleinwand ist Mäders Bild zu sehen, versehen mit dem Schriftzug „We ride for you, Gino!“ Nach der Gedenkfahrt finden die Athleten nur wenige Worte. Einer sagt: „Das Leben ist nicht immer fair.“ Und ein anderer: „Ich hatte immer das Gefühl, dass er wieder auftaucht, leider ist es aber so, dass er nicht mehr bei uns ist.“

Kaum zu glauben. Da wird seit Jahren alles daran gesetzt, Wettkämpfe im Spitzensport – vom Kunstturnen über das Skirennfahren und Tennisspielen bis zum Radfahren – immer schneller, härter, spektakulärer und gefährlicher zu machen – und dann wundert man sich, wenn die geschundenen Körper nicht mehr mitmachen, schwere Verletzungen oft zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen oder gar Menschen zu Tode kommen. Als würden Kinder mit Streichhölzern bei einem Heustall spielen und sich dann wundern, wenn plötzlich der ganze Stall in Flammen aufgeht.

Der Spitzensport bildet die augenfälligste, extremste und zerstörerischste Spitze des Konkurrenzprinzips, das die Menschen in einen gnadenlosen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt, der naturgemäss immer absurdere Formen annimmt, nicht nur bei sportlichen Wettkämpfen, sondern auch in der Wirtschaft, der Arbeitswelt und ganz besonders früh schon in den Schulen, wo die Kinder dazu angehalten werden, nicht gemeinsam, miteinander und füreinander zu lernen, sondern in gegenseitigem Wettstreit möglichst gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zu erkämpfen. Dass es dabei immer absurder und zerstörerischer zu- und hergeht, liegt daran, dass es ganz vorne, an der Spitze, immer enger wird: Wenn eine Kunstturnerin eine neue Figur entwickelt hat, die an Schwierigkeit und Gefährlichkeit alles Bisherige in den Schatten stellt, dann sind alle anderen Kunstturnerinnen gezwungen, sich diese Figur ebenfalls anzueignen oder, wenn möglich, eine noch schwierigere und gefährlichere Figur einzuüben. Wenn der schnellste Fahrer an der Tour de Suisse mit hundert Stundenkilometern vom Albulapass hinunterrast, sind alle anderen Fahrer gezwungen, sich mindestens so schnell, oder wenn möglich noch schneller, den Berg hinunterzustürzen. Wenn der „beste“ Schüler so lange mit zusätzlichem Privatunterricht gedrillt wurde, bis er unangefochten an der Spitze der Klasse steht, dann sind alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler dazu gezwungen, einen mindestens so hohen oder, wenn möglich, noch einen grösseren Aufwand zu bestreiten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Das Konkurrenzprinzip führt sich selber ad absurdum, weil es für einen immer kleineren Erfolg einen immer grösseren Aufwand erfordert und dabei allen daran Beteiligten, die gar keine andere Wahl haben, immer grössere Leiden, Zerstörungen und Opfer abverlangt. 

Tragische „Einzelfälle“ wie der Tod eines Radprofis sollten nicht bloss dazu führen, dass die Sportwelt für einen Tag lang „still steht“, Tränen vergossen werden, man hilflos um Worte ringt, Trauerfahrten und Gedenkfeiern zelebriert werden. Sie sollten vielmehr dazu führen, das so zerstörerische und immer absurdere Formen annehmende Konkurrenzprinzip grundsätzlich zu hinterfragen. Daran werden all jene, denen – als Unternehmen, Sponsoren, Werbeträgern, Sportverbänden, usw. – fette Gewinne entgehen könnten, sowie all jene, die sich – als Zuschauende – nicht mehr an der Waghalsigkeit und dem prickelnden Gefühl, es könnte jederzeit etwas ganz Furchtbares geschehen, ergötzen können, freilich keine Freude haben. Umso grössere Freude dürften wohl all jene haben, die nicht mehr dazu gezwungen wären, im gegenseitigen Wettkämpfen solche Opfer zu erbringen und gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Einer der Fahrer sagte, Gino schaue jetzt allem „von oben“ zu. Eines ist sicher: „Dort oben“ wird er sich nicht mehr mit hundert Stundenkilometern auf zwei wackligen Rädern in die Tiefe stürzen…