Archiv des Autors: Peter Sutter

Vom Massenstreik in Grossbritannien bis zum Klimawandel: Alles hängt mit allem zusammen

 

In Grossbritannien streiken rund eine halbe Million Menschen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. In Frankreich demonstrieren Hunderttausende in 250 Städten gegen eine Erhöhung des Rentenalters. In Italien verschärft die neue rechte Regierung ihre Politik gegenüber privaten Organisationen, die sich für die Rettung von Bootsflüchtlingen einsetzen. Der Krieg in der Ukraine dauert unvermindert an, macht ganze Dörfer und Städte dem Erdboden gleich und fordert eine wachsende Zahl von Todesopfern. Und über allem hängt, schon fast vergessen, das Damoklesschwert des Klimawandels, der schon in naher Zukunft durch Hitze, Dürre, Überschwemmungen und steigendem Meeresspiegel weite Teile heute noch intakter Lebensgebiete für immer unbewohnbar machen könnte.

Das Eine hätte mit dem anderen nichts zu tun? Und ob! Ist es doch letztlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf permanenter Profitmaximierung durch grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur beruht, welches die Hauptursache bildet für all die gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Fehlentwicklungen, mit denen wir uns heute herumschlagen. Wenn in Grossbritannien eine halbe Million Menschen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen streiken, dann geht es nicht nur um diese konkreten Forderungen. Es geht auch um grenzenlose Wut und den Aufschrei gegen ein System, das einigen Wenigen sagenhaften Reichtum beschert, während Tausende andere in  ungeheizten Wohnungen ausharren oder auf nur einigermassen ausreichendes Essen verzichten müssen, weil für beides zusammen ihr Einkommen schlicht nicht ausreicht. Wenn Französinnen und Franzosen gegen eine Rentenerhöhung auf die Strasse gehen, so ist auch das wiederum ein Aufschrei gegen das kapitalistische Grundprinzip, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Wenn europäische Länder wie Italien ihre Asylpolitik verschärfen, so hat auch dies ganz offensichtlich mit dem Kapitalismus zu tun, indem nämlich durch jahrhundertelange koloniale Ausbeutung zwecks kapitalistischer Gewinnmaximierung die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern so gross geworden sind, dass der Wohlstand des Nordens die verarmten und ausgebeuteten Menschen des Südens geradezu magisch anzieht. Selbst der Krieg in der Ukraine wurzelt in der gleichen Logik wie das kapitalistische Dogma der unbegrenzten Expansion, der kolonialen Unterwerfung möglichst grosser Territorien und der Gewinnmaximierung auf Kosten anderer. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Ukraine, die USA und Russland nicht wesentlich. Wie sehr in diesem Krieg wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen, zeigt sich auch darin, dass mehrere US-Agrarkonzerne bereits 17 Millionen Hektar Agrarfläche, mehr als die gesamte Landwirtschaftsfläche Italiens, aufgekauft haben und sich in der Ostukraine eines der grössten Lithiumvorkommen Europas befindet. „Der Kapitalismus“, sagte der französische Sozialist Jean Jaurès, „trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Schliesslich der Klimawandel. Auch er ist eine direkte Folge des kapitalistischen Dogmas, wonach die Wirtschaft endlos wachsen müsse und hierzu jedes Mittel recht sei, um aus der Erde, dem Boden und der Natur den grösstmöglichen Mehrwert herauszupressen – selbst auf die Gefahr hin, das gesamte Ökosystem früher oder später in sich zusammenbrechen zu lassen.

Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. So geht es uns mit dem Kapitalismus. Wir sehen die einzelnen Bäume, aber nicht das System als Ganzes, in dem alles mit allem zusammenhängt und alles eine gemeinsame Ursache hat. Wie eine Hydra. Kaum haben wir ihr einen Arm abgeschlagen, schon wachsen dutzende neue nach. Nur wenn sich die weltweiten sozialen und ökologischen Bewegungen, die heute noch unabhängig voneinander für ihre jeweiligen spezifischen Interessen kämpfen, zu einer weltweiten antikapitalistischen Bewegung zusammenschliessen, kann an das Grundübel, das kapitalistische Ausbeutungssystem, wirksam herangegangen werden. Das Potenzial wäre längst vorhanden. Wir müssen es nur wollen. Denn, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Plädoyer für eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören

 

Unglaublich, wie hartnäckig sich weiterhin der Mythos am Leben erhält, wonach die Ukraine ein mustergültiges, demokratisches Land sei und sozusagen den Vorpfosten bilde des demokratisch-freiheitlichen Westens im Kampf gegen das autokratische russische „Reich des Bösen“. Dieser Mythos beherrscht wohl nur deshalb den öffentlichen Diskurs, weil Fakten, welches dieses Bild in Frage stellen könnten, in den westlichen Medien systematisch unterdrückt werden.

Die Tatsache zum Beispiel, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder der Welt ist. Die Tatsache, dass das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe schon mehrfach die Haftbedingungen in ukrainischen Gefängnissen, wo Foltermethoden an der Tagesordnung sind, kritisiert hat. Die Tatsache, dass – gemäss Amnesty International – ukrainische Regierungssoldaten und insbesondere das berüchtigte Asowregiment seit 2014 schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine begangen haben. Die Tatsache, dass seit dem 2019 erlassenen ukrainischen Sprachengesetz die Verwendung der russischen Sprache in der öffentlichen Verwaltung, den Schulen und an den Universitäten untersagt ist. Die Tatsache, dass sämtliche Werke russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt wurden und Musikstücke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden dürfen. Die Tatsache, dass oppositionelle politische Parteien, Zeitungen und Fernsehstationen verboten und Gewerkschaftsrechte massiv eingeschränkt worden sind. Die Tatsache, dass ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenüber der Regierung kritisch äussern, auf öffentlichen Plätzen an Laternenpfähle festgebunden und vor den Augen der Passantinnen und Passantinnen verprügelt werden. Die Tatsache, dass selbst Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, die unliebsame Aussagen machen, ins Visier der ukrainischen Staatsbehörden geraten, so zum Beispiel der deutsche SPD-Politiker Rolf Mützenich, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine aussprach und deshalb auf einer staatlichen Terrorliste landete.

Grundsätzlich sind drei mögliche Positionen gegenüber dem Ukrainekonflikt denkbar. Die erste besteht darin, die alleinige Schuld dem russischen „Aggressor“ und insbesondere Wladimir Putin in die Schuhe zu schieben, der sozusagen aus heiterem Himmel in eklatanter Verletzung des internationalen Völkerrechts am 23. Februar 2022 ein friedliches, demokratisches und wehrloses Land überfallen habe und dem es um nichts anderes gehe, als kaltblütig und ohne Rücksicht auf menschliche Opfer sein Herrschaftsgebiet auszudehnen, so wie das blutrünstige Diktatoren im Laufe der Geschichte immer wieder getan hätten. Es ist dieses Bild, das in den allermeisten westlichen Medien vorherrscht und auch als Argument dient, um die Ukraine mit immer mehr Waffen zu beliefern, um damit den heldenhaften Verteidigungskampf des kleinen David gegen den übermächtigen Goliath zu unterstützen.

Die zweite Position ist genau das Gegenteil. Sie sieht das „Böse“ nicht primär bei Russland und Putin, sondern bei den USA, der Nato und einer ukrainischen Regierung, die sich in die Macht- und Expansionspolitik des Westens einspannen lasse. Aus dieser Sicht bilden die Nato-Osterweiterung, die seit dem Zerfall der Sowjetunion systematisch vorangetrieben wurde, die Ausbildung und Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die USA seit 2014, die vom ukrainischen Militär begangenen Menschenrechtsverletzungen im Donbass, die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit sowie der mutmasslich von der CIA gesteuerte Regierungsputsch auf dem Maidan anfangs 2014 die entscheidenden Ursachen für den Angriff Russland im Februar 2022. Anhängerinnen und Anhänger dieser Sichtweise erinnern auch immer wieder daran, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA Gespräche zum zukünftigen Status der Ukraine vorgeschlagen hatte, was aber von der US-Regierung ohne nähere Begründung verworfen wurde.

Die dritte Position geht davon aus, dass die „Wahrheit“ möglicherweise nicht zur Gänze nur auf der einen oder anderen Seite liegen könnte. Sie geht davon aus, dass sowohl Russland wie auch der Westen einen wesentlichen Anteil am Ausbruch dieses Konflikts und seiner weiterführenden Eskalation haben. Sind die beiden ersten Positionen von reinem Schwarzweissdenken und einer Haltung des „Ich bin im Recht, der andere ist im Unrecht“ oder „Der eine ist der Gute, der andere ist der Böse“ geprägt, so versucht die dritte Position, dieses Freundfeinddenken zu durchbrechen, hinter die gängigen Feindbilder zu schauen, die herrschenden Fronten aufzubrechen, das Gespräch, dort, wo es verstummt ist, wieder ins Leben zu rufen. Und noch etwas zeichnet diese dritte Position aus: Sie klammert sich nicht so sehr an die Vergangenheit und an die Fixierung auf Fehler, die gemacht worden sind, sondern auf die Zukunft: Sie fragt nicht, ob der Konflikt erst 2014 begonnen hat oder vielleicht schon 1991 oder möglicherweise noch früher – was dann stets wieder andere Begründungen und Erklärungsmuster zur Folge hat. Nein, sie fragt vielmehr, wie die Koexistenz Russlands und der Ukraine, das Verhältnis zwischen Osten und Westen, das Leben und die politischen Verhältnisse in den ostukrainischen Dörfern und Städten im Jahre 2024 aussehen könnte, um für alle Menschen, unabhängig von Sprache und nationaler Zugehörigkeit, ein gutes Leben in Sicherheit, Wohlstand und Frieden möglich zu machen. „Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Dieses Einstehen für die Zukunft mmüsste in der politischen Diskussion im Vordergrund stehen. Visionen, wie die Welt in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen müsste, um gut zu sein für alle Menschen und nicht bloss für diejenigen, die auf der „falschen“ oder „richtigen“ Seite stehen. Eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören. Dazu ist eine radikale Revolution unumgänglich, nicht im bewaffneten Kampf zwischen vermeintlich „Guten“ und vermeintlich „Schlechten“, sondern auch in unserem Denken, in unseren Köpfen. Denn, wie Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Eigentlich ist das doch etwas so Einfaches und Logisches, dass man sich nur wundern kann, dass es nicht schon längst geschehen ist.

Kindsmisshandlungen als Folge der kapitalistischen Leistungsgesellschaft

 

Wie das „Tagblatt“ am 26. Januar 2023 berichtet, sind im letzten Jahr am Universitätskinderspital Zürich 647 Verdachtsfälle von Kindsmisshandlungen gemeldet worden. Das sind 22 mehr als 2021. Gemäss Kinderspital steigt das Risiko für eine Misshandlung, je mehr Stress in einer Familie vorhanden ist.

Meistens enden solche Zeitungsmeldungen genau dort, wo sie eigentlich erst so richtig anfangen müssten. Einfach zu sagen, Stress führe zu Gewalt, genügt nicht. Viel entscheidender ist die Frage, woher denn dieser Stress kommen könnte. Nun, Stress kann unterschiedliche Ursachen haben. Er kann zum Beispiel entstehen, wenn die sozialen Verhältnisse sehr angespannt sind, wenige materielle Mittel zur Verfügung stehen, Familien von Armut betroffen sind und vom täglichen Überlebenskampf in Daueranspruch genommen werden. Auch enge Wohnverhältnisse, zu wenig Platz für natürliche Bewegungsbedürfnisse können Stress bewirken. Ein überaus starker Stressfaktor kann auch in der Situation einer über längere Zeit anhaltenden Arbeitslosigkeit begründet sein. Stress auslösend ist auch die Kehrseite davon: der Zwang, gleich mehrere Jobs parallel zueinander bewältigen zu müssen, da einer allein nicht ausreicht, um die minimalen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Ein weiterer wichtiger Faktor sind der Zeitdruck und die Konkurrenzsituation, der die Menschen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, unabhängig davon, ob es um gut oder schlecht bezahlte Jobs geht.

Wie und auf welche Weise auch immer: Stress ist ein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Arbeitswelt und ihrer mannigfachen Auswirkungen. In der Hierarchie derer, die davon profitieren, und derer, die darunter leiden, sind ganz unten die Kinder das schwächste Glied in der Kette, jener Gewalt, die an vielen anderen Orten in das System eindringt und von ihm weiter verstärkt wird, schutzlos ausgeliefert. Misshandelte Kinder zu behandeln, betroffene Eltern aufzuklären, Informationskampagnen zu lancieren, alles gut und recht, doch dies alles ist reine Symptombekämpfung, so lange nicht an das Grundübel, die kapitalistische Leistungsgesellschaft mit ihrem immer höheren Tempo, den laufend zunehmenden Erwartungen an die Menschen und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich radikal herangegangen wird. 

Der FDP Schweiz scheint auch noch das absurdeste Argument gut genug zu sein, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu befürworten…

 

„Brisante Kehrtwende bei Waffenexporten“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 26. Januar 2023. Nachdem die Schweiz als neutrales Land bisher an der Doktrin festgehalten hat, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, wird nun wegen des Ukrainekriegs der Druck auf die Schweiz, das Kriegsmaterialgesetz zu lockern, immer grösser. Insbesondere Vertreter Deutschlands, Dänemarks und Spanien äusserten bereits mehrmals lautstark ihr Unverständnis für die Schweizer Position. Entgegen dem Bundesrat, der keine Anstalten macht, das Gesetz zu lockern, liegen nun aus dem Parlament mehrere Vorstösse vor, die es ermöglichen sollen, dass Länder, die schweizerisches Kriegsmaterial gekauft haben, dieses weitergeben können. Am weitesten geht der Vorschlag der Freisinnig Demokratischen Partei FDP, welche die Nichtwiederausfuhrerklärungen für gewisse Länder abschaffen will, welche „vergleichbare Werte vertreten wie die Schweiz“. Es liegt auf der Hand, dass damit im Speziellen die Ukraine gemeint ist.

Wie man behaupten kann, die Ukraine würde „vergleichbare Werte wie die Schweiz“ vertreten, ist mir schleierhaft. Die Ukraine gilt als eines der korruptesten Länder der Welt. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe hat schon mehrfach die Haftbedingungen in den ukrainischen Gefängnissen kritisiert, zu denen auch die Anwendung von Foltermethoden gehört. Amnesty International wirft ukrainischen Regierungssoldaten und insbesondere dem berüchtigten Asowregiment schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine ab 2014 vor. Seit dem 2019 erlassenen Sprachengesetz ist das Ukrainische die einzige offizielle Landessprache und die russische Sprache darf im öffentlichen Raum, in der Politik oder an den Universitäten nicht mehr verwendet werden. Sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren wurden aus den Bibliotheken entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Musikstücke russischer Komponistinnen und Komponisten dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Mehrere politische Parteien und Zeitungen wurden verboten, oppositionelle Fernsehstationen geschlossen,  Gewerkschaftsrechte eingeschränkt. Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenüber der Regierung kritisch äussern, werden auf öffentlichen Plätzen an Laternenpfähle gebunden und vor den Augen der Passatinnen und Passanten durchgeprügelt. Auch Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, die unliebsame Aussagen machen, geraten ins Visier der ukrainischen Staatsbehörden: So zum Beispiel wurde der deutsche SPD-Politiker Rolf Mützenich, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine aussprach, auf eine staatliche Terrorliste gesetzt. 

Das sollen sie also sein, die mit der Schweiz vergleichbaren Werte? Es braucht schon ein recht hohes Mass an Unverfrorenheit oder Naivität, Waffenlieferungen an die Ukraine mit diesem Argument zu begründen. Indessen muss nicht verwundern, dass es so weit kommen konnte. Seit elf Monaten wird der Öffentlichkeit durch unsere Medien in Bezug auf die Ukraine beinahe ausschliesslich das Bild eines tapferen, heldenhaften, demokratischen, freiheitlichen Landes vermittelt, welches an vorderster Front nicht nur sich selber, sondern gleich auch noch die gesamte westliche „Wertegemeinschaft“ verteidigt und deshalb unserer uneingeschränkten Unterstützung bedarf. Gewiss, auch wenn die Ukraine noch so korrupt ist, gegenüber der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit eine noch so unentschuldbare Apartheidpolitik betreibt und sich noch so zahlreicher Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine schuldig gemacht hat, ist das alles noch lange keine Rechtfertigung für den russischen Angriffskrieg. Doch die Schweiz als neutrales Land hätte in diesem Konflikt eine viel wesentlichere und wichtigere Aufgabe, als Waffenlieferungen an die eine der beiden Konfliktparteien zu erleichtern. Diese Aufgabe würde darin bestehen, alles nur Erdenkliche zu tun, um auf diplomatischem Weg eine Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine in die Wege zu leiten. Je mehr sich die Schweiz auf die eine der beiden Seiten schlägt, umso mehr gibt sie das Heft einer friedlichen Lösung dieses Konflikts leichtfertig aus der Hand. 

(Quellen: „Tagblatt“ 26.1.23; Wikipedia; www.zdf.de; www.voltairenet.org)

Serbien: Auf der falschen Seite der Geschichte?

  

Zähneknirschend, so berichtet das schweizerische „Tagblatt“ vom 25. Januar 2023, gibt der serbische Präsident Aleksandar Vucic bekannt, dem von der EU diktierten „Kosovoplan“ zuzustimmen, wonach Serbien und der Kosovo zwar einander nicht formell anerkennen, jedoch ihre staatliche Existenz in den gegenwärtigen Grenzen akzeptieren, was unter anderem zur Folge hat, dass Serbien die Mitgliedschaft des Kosovos in internationalen Organisationen nicht mehr verhindern kann.

Der „Kosovoplan“ mag zwar ein taugliches Instrument sein, um die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo abzubauen. Fragwürdig ist und bleibt aber die Art und Weise, wie dieser Plan Serbien gegenüber vom Westen aufgezwungen wird, ein Vorgehen, bei dem man schon fast von Erpressung sprechen müsste, haben die westlichen Staaten doch gedroht, sämtliche Handelsbeziehungen mit Serbien abzubrechen, wenn es dem Plan nicht zustimme. „Dabei“, so Vucic, „kann es für uns keine schlimmeren Sanktionen als den Rückzug der ausländischen Investitionen geben.“ Und weiter: „Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen, das haben wir verstanden. Aber das Problem ist, dass die andere Seite alles tun kann, was sie will, und dafür noch vom Westen belohnt wird.“

Serbien bezahlt jetzt bitter dafür, dass Präsident Vucic bisher einen Mittelkurs gefahren hat und sowohl freundschaftliche Beziehungen zu Russland gepflegt hat wie auch zum Westen. Dies lässt sich in der aktuell aufgeheizten und polarisierten Stimmung im Zuge des Ukrainekriegs offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Entweder gehört man zu den „Guten“ oder zu den „Bösen“, nichts dazwischen. Egal, ob Vucic sich mehr nach Osten oder mehr nach Westen ausrichten möchte, stets ist er auf der falschen Seite der Geschichte. Dabei wären doch Staaten, die anstelle gegenseitiger Konfrontation Brücken zwischen den verfeindeten Lagern bauen möchten, gerade angesichts der heutigen globalen Spannungen dringender nötig denn je.

Doch Serbien steht nicht zum ersten Mal auf der falschen Seite der Geschichte. Schon am 24. März 1999 wurde es zum Opfer westlicher Machtpolitik, als die Nato das Land zu bombardieren begann mit der Begründung, Serbien hätte dem Vertrag von Rambouillet, der den Konflikt zwischen serbischen Sicherheitsbehörden und der kosovarischen Befreiungsarmee UCK hätte beenden sollen, nicht zugestimmt. Tatsächlich war der Vertrag von Rambouillet aber sowohl am Widerstand der Serben wie auch an jenem der UCK gescheitert. „Der Rambouillettext“, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, „war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.“ Weil nämlich, so Kissinger, dieses Dokument den Durchmarsch von Nato-Truppen durch Serbien genehmigt hätte und eigentlich bloss dem Westen als Vorwand dafür gedient hätte, Serbien bombardieren zu können. Die am 24. März 1999 von der Nato begonnene Militäroperation war der erste Krieg, den die Nato sowohl ausserhalb des Bündnisfalls, als auch ohne ausdrückliches UN-Mandat führte und  der daher bis heute unter dem Aspekt des internationalen Völkerrechts höchst umstritten ist.

An diesem 24. März 1999 also schlug die Nato mit 200 Flugzeugen und 50 Lenkwaffen zu. Nachdem zuerst nur militärische Ziele ausgewählt worden waren, erfolgte in einer zweiten Phase die Ausweitung auf die zivile Infrastruktur, zahlreiche Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser, Fernsehstationen und Brücken wurden zerstört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass die Militäroperation der Nato den Tod von rund 500 Zivilpersonen verursacht hat. Von der US Air Force und der Royal Air Force wurden auch die später international geächteten Streubomben eingesetzt, zahllose Blindgänger stellen bis heute eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Ebenfalls beschossen wurden zahlreiche Chemieanlagen, Mediziner machen die dabei freigesetzten, enormen Mengen an Schadstoffen sowie die verwendete Uranmunition dafür verantwortlich, dass Serbien heute die höchste Rate von Lungenkrebs in Europa aufweist.

Das Beispiel Serbien zeigt, wie weit wir immer noch von einer Welt entfernt sind, in der Demokratie und Selbstbestimmung nicht nur für jene Gültigkeit haben, die auf der „richtigen“ Seite der Geschichte stehen. Das Recht scheint nach wie vor stets nur das Recht der Starken und Mächtigen zu sein. Je nachdem, auf welcher Seite der Geschichte man steht, erlebt man demzufolge dann auch die Welt sehr unterschiedlich. Man braucht die Augen vor der komplexen Geschichte ethnischer Spannungen auf dem Gebiet des früheren Staates Jugoslawien keineswegs zu verschliessen. Aber wenn man sich auch nur ein klein wenig in die Gefühlslage der Serbinnen und Serben hineinzuversetzen versucht, dann werden wohl die Nato-Militäroperation vom 24. März bis 10. Juni 1999 und die aktuelle Erpressungspolitik durch den Westen tiefe Wunden hinterlassen, die nicht so schnell verheilen werden…

(Quellen: „Tagblatt“ 25.1.23; Wikipedia)  

„Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA- (UÇK-)Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 % der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

 Henry Kissinger[21] 

Die Panzer, die schon bald gegen die russischen Truppen hinwegrollen werden, scheinen auch über die Demokratie hinwegzurollen…

 

Nachrichtensendung „10 vor 10“ am Schweizer Fernsehen am 24. Januar 2023: Deutschland habe sich, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz lange Zeit „zögerlich“ gezeigt hätte, nun doch dazu durchgerungen, Kampfpanzer vom Typ Leopard an die Ukraine zu liefern. Reaktionen gäbe es von verschiedenen „Playerinnen“ und „Playern“, so zum Beispiel von der FDP-Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die den Entscheid sehr „begrüsse“. Auch CDU-Chef Friedrich Merz zeige sich „zufrieden“. Und der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, danke der deutschen Regierung für ihren Mut, fordere aber im gleichen Atemzug die baldige Entsendung von Kampfjets.

Gleichentags die „Tagesthemen“ auf ARD: Auch auf diesem Sender wird, wen wunderts, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die so etwas wie die Siegerin des Tages zu sein scheint, interviewt. Sie spricht von einem „wichtigen Tag“ für die Ukraine. Eingeblendet wird auch der polnische Ministerpräsident Mateus Morawiecki, der das bisher „zu zögerliche“ Verhalten Deutschlands kritisiert. Zu sehen ist auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der von der Notwendigkeit spricht, schneller und schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern. Für Amira Muhammed Ali von der „Linken“ bleiben gerade noch vier Sekunden, in denen sie die Frage aufwirft, ob nun wohl bald schon deutsche Soldaten in der Ukraine kämpfen würden. Umso länger dann das Interview mit Oleksii Makeiev, dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, der sich über die wachsende Koalition von Ländern, die Panzer liefern wollen, sichtlich freut.

Und dann noch ZDF mit der Nachrichtensendung „heute“. Im Trailer zur Sendung ist von einer nun in Gang gekommenen „Dynamik in der Kampfpanzerdebatte“ die Rede. Wieder treten der polnische Ministerpräsident Mateus Morawiecki und der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf, die beide bezüglich Waffenlieferungen an die Ukraine auf entschlossenes Handeln der Westmächte drängen. Auch Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, begrüsst den Entscheid, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Amira Muhammed Ali von den „Linken“ bekommt jetzt immerhin acht Sekunden und sagt, dass dieser Krieg gegen eine Atommacht auch nicht mit zusätzlichen Kampfpanzern zu gewinnen sei. Schliesslich wird aus Washington ZDF-Korrespondent Elmar Theressen zugeschaltet, der den republikanischen Abgeordneten Lindsay Graham zitiert, wonach der Moment für Deutschland gekommen sei, „zu glänzen und sich als Kraft für das Gute zu beweisen.“ Ein Wunder, dass nicht auch hier noch Marie-Agnes Strack-Zimmermann auftritt…

Zaghaft erwähnte die Sprecherin der ARD-„Tagesthemen“, immerhin stünden 45 Prozent der deutschen Bevölkerung der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine ablehnend gegenüber. Eigentlich hätte sie noch erwähnen müssen, dass der Anteil der Befürworterinnen und Befürworter bei 44 Prozent liegt. Doch wenn immerhin die Hälfte der deutschen Bevölkerung eine ablehnende Haltung einnimmt, weshalb bekommen sie dann in den Fernsehnachrichten nicht auch die Hälfte der Sendezeit? Weshalb dürfen Stoltenberg, Strack-Zimmermann, Melnyk und Morawiecki und Makeiev minutenlang reden, die Vertreterin der „Linken“ aber nur gerade mal ein paar Sekunden und Sahra Wagenknecht, Rolf Mützenich, Jürg Tödenhofer, Erich Vad oder Alice Weidel nicht einmal eine einzige Sekunde? Und weshalb erwähnt niemand den Aufruf an Olaf Scholz zum Verzicht auf eine Lieferung von Panzern, der unter anderem von Reinhard Mey, Alexander Kluge, Dieter Nurh, Gerhard Polt, Alice Schwarzer und Martin Walder initiiert worden ist und für den innerhalb kürzester schon eine halbe Million Unterschriften gesammelt worden sind? 

Lange habe ich geglaubt, die Medien in demokratischen Ländern würden unterschiedlich Meinungen innerhalb der Bevölkerung angemessen vertreten und einen gesellschaftspolitisch unentbehrliches Gegengewicht und Korrektiv zu Machtballungen in Politik und Wirtschaft bilden. Der gestrige Abend hat mich endgültig eines Besseren belehrt. Die Panzer, die schon bald gegen die russischen Truppen hinwegrollen werden, scheinen auch über die Demokratie hinwegzurollen…

Der Krieg in der Ukraine: Blindwütige gegenseitige Zerstörung oder Kipppunkt in eine neue Zeit?

 

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Je mehr Waffen die eine Seite in die Schlacht wirft, umso mehr Waffen muss die andere Seite in die Schlacht werfen. Jeder Panzer und jede Rakete auf der einen Seite der Front schreit nach einem zusätzlichen Panzer und einer zusätzlichen Rakete auf der anderen Seite der Front. Je mehr Zerstörungen die eine Seite anrichtet, umso mehr Zerstörungen muss die andere Seite anrichten. Je mehr Menschen auf der einen Seite verletzt werden oder sterben, umso mehr Menschen werden auf der anderen Seite verletzt oder müssen sterben. Etwas Dümmeres und Selbstzerstörerisches kann man sich nicht vorstellen. „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Lauthals ging es bei der Ramstein-Konferenz vom 20. Januar 2023, an der rund 50 westliche Verteidigungsminister teilnahmen, um die Lieferung zusätzlicher Panzer an die Ukraine. Eine völlig abstrakte Diskussion fernab jeder Realität auf dem Schlachtfeld. Denn so berauschend die Bilder von Panzern, die in hohem Tempo auch schwierigstes Gelände durchjagen, auch sein mögen: Das ist nur die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite, das sind zerschossene Wohnhäuser, vor denen in klirrender Kälte jene Menschen kauern, die zuvor in diesen Häusern gelebt haben. Der Soldat, der sich mit zerfetztem Bein im knietiefen Schlamm wälzt, keine Kraft mehr hat, seine Kollegen um Hilfe zu rufen, und in Todesangst feindliche Soldaten auf sich zurasen sieht. Die Kinder, deren Schulen und Spielplätze dem Erdboden gleichgemacht wurden und die am gleichen Tag die Nachricht erhalten haben, ihre Väter seien an der Front ums Leben gekommen.

Kein einziger der feinen Herren im Anzug und mit Krawatte, die an der Ramstein-Konferenz teilnahmen, weder der US-Verteidigungsminister Austin noch der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow, und schon gar nicht Joe Biden oder Wolodomyr Selenski werden jemals selber in einen jener Panzer steigen, deren Lieferung sie so lautstark fordern, und sich ins Schlachtgetümmel stürzen. „Ich dachte immer“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Meine Vision: Die Ukraine und Russland hören auf, das umstrittene Land in der Ostukraine zu zerstören, das sie angeblich so lieben. Stattdessen bauen sie es gemeinsam wieder auf. als Brüder. Und sie lassen die dort lebenden Menschen frei darüber entscheiden, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören oder eine eigene, unabhängige Republik bilden möchten. Sowohl die Ukraine wie auch Russland könnten dabei nur gewinnen, höchstes weltweites Ansehen, das Leben ihrer Landsleute und ihrer Nachbarn, ein Leben in Frieden und Wohlstand für alle. Nicht eine wachsende Zahl von Waffen sollte der Westen liefern, sondern das Knowhow und das Prestige seiner besten und fähigsten Diplomatinnen und Diplomaten, um den Kriegsparteien eine Plattform zu bieten, auf der sie zu einer Einigung finden könnten, ohne dass die eine oder die andere Seite dabei ihr Gesicht verlieren müsste.

In der Parabel des Kaukasischen Kreidekreises von Bertolt Brecht streiten sich eine Gouverneurin und ihre Magd . Beide behaupten, die wahre Mutter des Kindes zu sein. Mit Kreide zieht der Richter einen Kreis und stellt das Kind in die Mitte. Wem es gelingen würde, das Kind auf seine Seite zu ziehen, so der Richter, soll als wahre Mutter des Kindes anerkannt sein. So ziehen die beiden Frauen am Kind, jede an einem Arm. Als das Kind vor Schmerzen zu weinen beginnt, lässt die Magd es los. Die Gouverneurin frohlockt und wähnt sich schon als wahre Mutter. Doch der Richter spricht das Kind dennoch der Mutter zu, die bewiesen hätte, dass ihre Liebe zum Kind stärker ist als der Wunsch, es um alles in der Welt zu besitzen. Eine Geschichte, die uns hoffnungsvoll in eine Zukunft blicken lässt, in der die Liebe und die Sorge um das Wohl anderer die weit höheren und bestimmenderen Werte sein werden als Habgier, Gewalt und Eroberungslust. Der Krieg in der Ukraine hat uns in eine finstere Vergangenheit zurückgeworfen und lässt uns noch einmal alle Fehler begehen, die wir schon tausendmal begangen haben. Er könnte aber auch zu einem Kipppunkt werden, in der die alte Zeit in eine neue Zeit umschlägt, in der so etwas wie Kriege und blindwütige gegenseitige Zerstörung für immer der Vergangenheit angehören. Das liegt nicht nur an Putin, Selenski, Scholz und Biden. Es liegt an uns allen. 

Lüzerath: Nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird…

 

„Wie ist es im Jahre 2023 möglich, dass wir uns noch immer auf dem Weg befinden, der ins Nichts führt?“, rief Greta Thunberg den Demonstrantinnen und Demonstranten zu, die tagelang massiver Polizeigewalt getrotzt haben, um gegen den geplanten Abbau von Braunkohle in der Gegend von Lüzerath anzukämpfen. Doch könnte das mediale Scheinwerferlicht, das in diesen Tagen auf den Ereignissen von Lüzerath gelegen hat, leicht davon ablenken, dass der „Weg, der ins Nichts führt“, ganz und gar nicht bloss gerade an diesem einzigen Ort der Welt geschieht.

Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind erneut rund 150 Tier- und Pflanzenarten für immer ausgestorben. Nicht weil es sich dabei um ein unausweichliches Naturgesetz handelt, sondern weil multinationale Konzerne, getrieben von Profitmaximierung und Wachstumssucht, auch noch die letzten Tropenwälder vernichten, halbe Weltmeere leerfischen und mit immer aggressiveren Methoden das Äusserste aus der Erde herauspressen. Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind wieder unzählige Frachtflugzeuge und Containerschiffe weltweit unterwegs, um endlos wachsende Mengen von Gütern aller Art zwischen den Kontinenten hin- und herzuschieben, in so grosser Zahl, dass immer mehr davon, kaum in den reichen Ländern angekommen, auch schon wieder im Müll landet. Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind wieder Hunderte von russischen und ukrainischen Soldaten ums Leben gekommen in einem Krieg, in dem es, wovon man selten spricht, auch ganz stark um wirtschaftliche Interessen geht, befindet sich doch in der Ostukraine eines der grössten Lithiumvorkommen Europas und stehen für mehrere US-Grosskonzerne, die sich bereits 17 Millionen Hektar ukrainisches Agrarland unter den Nagel gerissen haben, äusserst handfeste Interessen auf dem Spiel. Heute, an diesem 15. Januar 2023, werden nahezu 15’000 Kinder unter fünf Jahren weltweit gestorben sein, weil sie nicht genug zu essen haben, nicht weil insgesamt auf der Erde zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern weil sie dermassen ungerecht verteilt sind und die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen lässt. Und das ist nur eine ganz kleine Auswahl dessen, was kapitalistische Wirtschaftsinteressen an jedem einzelnen Tag an Leiden und Zerstörungen weltweit anrichten.

Es sei denn, die Bewegung von Lüzerath, deren Zeuginnen und Zeugen wir in diesen Tagen geworden sind, weite sich aus zu einer weltweiten Bewegung für den Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der nicht mehr die Interessen des Kapitals und seiner Selbstvermehrung an oberster Stelle stehen, sondern die Interessen der Menschen, der Natur und aller zukünftiger Generationen. Dass die traditionellen politischen Parteien, selbst die einst so idealistisch angetretenen Grünen, nichts anderes sind als Gefangene des kapitalistischen Machtsystems, haben wir nun zur Genüge erfahren. Da ist nichts mehr zu erwarten. Antikapitalistische politische Arbeit muss sich, wenn sie tatsächlich etwas bewirken will, über nationale Grenzen hinaus organisieren. So wie der Kapitalismus international organisiert und vernetzt ist, so muss auch eine politische Bewegung, die ihn überwinden will, international vernetzt sein, alles andere ist reine Symptombekämpfung. Es geht nicht nur um Braunkohle. Es geht auch nicht nur um den Klimawandel. Es geht um die Zukunft als Ganzes und das gute Leben für alle, heute, morgen und übermorgen. Damit diese Tage bei Lüzerath nicht das Ende gewesen sind, sondern erst der Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird…

Europäischer Strommarkt: Wie die Fahrt auf einer Achterbahn…

 

„Wer derzeit die Tagespreise an den europäischen Strommärkten verfolgt“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 5. Januar 2022, „muss sich vorkommen wie auf einer Achterbahn. Ende August kostete eine Megawattstunde für den nächsten Tag 725 Euro, Ende Jahr war es nach einigen Berg-und-Tal-Fahrten noch ein Bruchteil davon: sieben Euro. Inzwischen sind die Preise schon wieder auf deutlich über 100 Euro geklettert.“ Nutzniesser, so das „Tagblatt“, seien die grossen Energiekonzerne. So erwarte die BKW für 2022 ein „ausserordentliches Resultat“, wie der Energiekonzern mitteile. Man gehe von einem Betriebsgewinn von rund einer Milliarde Franken aus, nach 395 Millionen im Vorjahr. Der wesentliche Grund für die Gewinne seien die „extremen Verwerfungen an den Energiemärkten“. Allerdings sei auch das Gegenteil möglich, so stünden die Axpo und die Alpiq derzeit vor gravierenden Liquiditätsproblemen…

Wie heisst es immer so schön? Die „Freie Marktwirtschaft“ beruhe auf einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und sei deshalb das beste und einzige Wirtschaftsmodell um eine optimale Verteilung von Ressourcen und Gütern innerhalb einer Volkswirtschaft herzustellen. Tatsache ist jedoch, dass sich dieses Versprechen je länger je deutlicher als gigantischer Trugschluss erweist. Hätten alle an einem „freien Markt“ Beteiligten die gleich langen Spiesse, würde das Ganze vielleicht tatsächlich funktionieren. In der Realität aber sind diese Spiesse höchst unterschiedlich lang und die Folge ist, dass sich die Güter eben nicht gleichmässig verteilen und stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich kaufen zu können.

Würde die „freie Marktwirtschaft“ tatsächlich zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht über 800 Millionen Menschen weltweit hungern, während multinationale Nahrungsmittelkonzerne Milliardengewinne scheffeln, 40 Prozent der gekauften Lebensmittel in den reichen Ländern des Nordens im Müll landen und durch Spekulation an den globalen Nahrungsmittelbörsen die Lebensmittelpreise dermassen in die Höhe getrieben werden, dass sich immer mehr Menschen in den armen Ländern selbst die einfachsten Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. Würde die „freie Marktwirtschaft“ zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, wie das zum Beispiel in Grossstädten wie Zürich, Paris, London oder Berlin der Fall ist, viel zu viele Luxuswohnungen gebaut, während günstiger Wohnraum für Minderbemittelte immer mehr zur Seltenheit wird. Würde die „freie Marktwirtschaft“ zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, infolge der unterschiedlichen Bodenpreise, Wohnorte und Arbeitsorte immer weiter auseinandergerissen, was früher oder später zu einem Totalkollaps des gesamten Verkehrssystems führen muss. 

Dies sind nur wenige Beispiele, unzählige weitere könnten hinzugefügt werden. Sie alle zeigen, dass es eine Illusion wäre anzunehmen, die „freie Marktwirtschaft“ diene in erster Linie den Bedürfnissen der Menschen.. Sie dient in erster Linie dem Kapital und seiner Selbstvermehrung. Früher oder später werden wohl radikale Gegenmassnahmen unausweichlich sein, werden doch die Berg-und-Tal-Fahrten des „freien Marktes“ immer verrücktere Ausmasse annehmen. Eine mögliche radikale Gegenmassnahme wäre die Verstaatlichung all jener Unternehmen, die für die allgemeine Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit und Energie zuständig sind. Gewiss ein Vorhaben, das zurzeit noch auf erbitterten Widerstand von verschiedenster Seite stossen würde. Doch sollte es beim Blick in die Zukunft nicht schon zum Vornherein Denkverbote geben. Vielleicht gibt es ja noch andere, bessere Ideen. Fest steht nur, dass der Schaden, den die „freie Marktwirtschaft“ heute schon weltweit anrichtet, so immens ist, dass jede Alternative dazu, so verrückt sie im Moment erscheinen mag, dennoch um ein Vielfaches besser wäre. 

Selenski vor dem US-Kongress: Auch die absurdesten und widersprüchlichsten Aussagen von Standing Ovations weggespült…

22. Dezember 2022: Der ukrainische Präsident Selenski vor dem US-Kongress. Noch bevor er richtig zu reden angefangen hat: Standing Ovations. „Entgegen aller Widrigkeiten und Schwarzmalereien ist die Ukraine nicht gefallen. Die Ukraine lebt und ist quicklebendig.“ Dann spricht er davon, Europa sei heute stärker und unabhängiger als je zuvor. „Wir haben keine Angst und niemand in der Welt sollte Angst haben.“ Weiter geht es mit der Forderung, der Kreml müsse „nicht nur in den Köpfen“, sondern auch „auf dem Schlachtfeld“ besiegt werden, und dass „dieser Kampf“ nicht „eingefroren“ oder „verschoben“ werden könne, denn „von den Vereinigten Staaten bis China, von Europa bis Lateinamerika und von Afrika bis Australien“ seien die Teile der Welt „zu sehr miteinander verbunden und voneinander abhängig“, so dass niemand abseits stehen und sich sicher fühlen könnte. Und dann das: „Bevor ich nach Washington D.C. gekommen bin, war ich an der Front bei Bachmut. Letztes Jahr lebten dort noch 70’000 Menschen. Heute sind nur noch wenige Zivilpersonen übrig. Jeder Zentimeter dieses Landes ist von Blut getränkt. Stündlich ertönen Geschützdonner. Die Schützengräben wechseln mehrmals am Tag den Besitzer – in heftigen Kämpfen manchmal sogar im Handgemenge.“

Nebst allen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in der immer wieder von Stand Ovations unterbrochenen Rede sind es zwei Aussagen, die besonders ins Auge stechen: Die erste ist, dass weder die Ukraine noch irgendwer in der Welt Angst haben sollte. Was denkt sich wohl das Kind, das mit seiner Mutter in einem schon halb zerbombten, eiskalten Keller Schutz gesucht hat und keine Sekunde lang sicher sein kann vor einer nächsten Bombe, bei einer solchen Aussage? Kann es allen Ernstes Krieg geben ohne Angst? Wenn das Selenski für sich allein gemeint hat, dann ist es seine Sache. Wenn er es aber für das ganze ukrainische Volk gemeint hat, ist es eine reine Farce, eine unbeschreibliche Beleidigung all jener Menschen, die seit Monaten täglich um ihr Leben zittern müssen, nicht nur in halb zerbombten Kellern, sondern auch in Schützengräben und in Panzern. Die furchtlosen Helden der Armee waren stets schon und sind es, solange es Kriege gibt, eine reine Fiktion, von der Zivilbevölkerung gar nicht zu reden.

Die zweite Aussage, die ins Auge sticht: Dass die Ukraine „lebe“ und „quicklebendig“ sei. Selenski scheint sich der Unerhörtheit dieser Aussage offensichtlich nicht bewusst zu sein und berichtet sogar von seinem Besuch in Bachmut, wo von den ehemals 70’000 Bewohnerinnen und Bewohnern nicht mehr viel übrig geblieben und der Boden „von Blut durchtränkt“ sei. Das also ist sein „lebendiges“, „quicklebendiges“ Volk? Was wohl all jene, die in diesem Krieg schon Angehörige verloren haben oder selber schon verletzt wurden, bei einer solchen Aussage Selenskis denken mögen?

Schaut man sich Selenskis Rede genauer an, dann strotzt diese von Floskeln, unbegründeten Behauptungen und reinen Durchhalteparolen ohne jeglichen realen Hintergrund. Aber etwas anderes ist ja auch gar nicht zu erwarten. Krieg ist etwas so Widersinniges, Absurdes, Widersprüchliches, dass auch die Sprache all jener, welche den Krieg zu rechtfertigen versuchen, nicht anders sein kann als ebenso absurd, widersinnig und gewalttätig.

Hört man Selenski zu, dann scheint es zwei Sorten von Ukrainerinnen und Ukrainern zu geben. Das eine, das sind die, die „keine Angst“ haben und die „quicklebendig“ sind. Das andere sind die, welche jede Nacht um ihr Leben zittern, im eiskalten Schützengraben stehen oder mit amputierten Beinen in einem notdürftig aufgestellten Feldlazarett liegen. Doch die Angehörigen des US-Kongresses, welche Selenskis Rede hörten und ihr frenetisch zujubelten, sehen nur die angstfreie, quicklebendige Seite der Realität. Würde nicht der ukrainische Präsident vor ihnen stehen, sondern ein jämmerlich weinendes ukrainisches Kind, das soeben seine Eltern durch einen Bombenangriff verloren hat, dann würden vielleicht auch die Mitglieder des US-Kongresses das Ganze mit ein wenig anderen Augen anschauen. 

Was Selenski verkörpert, ist die brutalste Form der Klassengesellschaft: Ein Teil der eigenen Bevölkerung wird geopfert, damit der andere Teil „angstfrei“ und „quicklebendig“ leben kann. Die einen haben den Job zu leiden und zu sterben, die anderen haben den Job, siegreich einer goldenen Zukunft in „Freiheit“ und „Demokratie“ entgegenzugehen. Wie weit sind wir da von echter Gleichberechtigung entfernt, wie lange noch lassen es sich so viele Menschen gefallen, für andere verheizt und von den Interessen anderer vereinnahmt zu werden? Was muss noch geschehen, bis endlich alle Soldaten der Welt aufstehen und sich für immer ihrer Waffen entledigen? „Ich dachte immer, alle Menschen seien gegen den Krieg“, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque“, bis ich herausfand, dass es auch solche gibt, die für den Krieg sind, diejenigen, die selber nicht hingehen müssen.“

Zum Krieg gehört die Rhetorik des Kriegs. Selenski beherrscht sie zweifellos meisterhaft. Er kann die grössten Absurditäten von sich geben, Dinge miteinander verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben, Parolen ohne jeden realen Hintergrund hinausposaunen – trotzdem ist ihm der Jubel, ja geradezu die frenetische Begeisterung seiner Zuhörerinnen und Zuhörer sicher. Wohl nicht zuletzt, weil er in seinem Rollkragenpullover so sympathisch und „volkstümlich“ daherkommt. Ganz am Rande war zu hören, ein paar wenige Kongressabgeordnete hätten demonstrativ auf ihr Handy gestarrt und sich bewusst dem Applaus der Masse versagt. Das braucht in so kriegerischen Zeiten schon eine ganz schöne Portion Mut. Wie sehr wäre zu wünschen, dass noch viel, viel mehr Menschen aufstehen und sich dem allgemeinen Kriegsgeheul und einer so verhängnisvollen Kriegslogik verweigern, die weder mit „Freiheit“ noch mit „Demokratie“ etwas zu tun hat, sondern nur mit blinder Zerstörung, unendlichem Leiden und dem Schüren von Hass auf Generationen hinaus.