Archiv des Autors: Peter Sutter

Ukraine: Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet…

 

Russland hätte im Ukrainekrieg gemäss Aussagen von Präsident Selenksi bisher 99’000 Soldaten verloren, berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 21. Dezember 2022. Über die eigenen Verluste würden keine Zahlen genannt, doch der amerikanische Generalstabchef Mark Milley schätze, dass die Opferzahlen auf ukrainischer Seite etwa gleich hoch seien wie diejenigen auf russischer Seite. „Die Kämpfe von Bachmut, wo täglich schätzungsweise 50 bis 100 Russen und etwa ebenso viele Ukrainer ums Leben kommen, sowie weiter südlich in Orten wie Marinka oder nördlich Kreminina“, so der „Tagesanzeiger“, „verlaufen ohne deutliche Gewinne für Ukrainer und Russen – mit Sicherheit aber mit Tausenden von Toten. Das zähe, blutige Ringen könnte auch angesichts der verstärkten Befestigungen symptomatisch sein für den weiteren Kriegsverlauf.“ Kein Wunder, leide darunter auch zunehmend die Moral innerhalb der kämpfenden Truppen. Soeben habe deshalb das ukrainische Parlament eine Verschärfung der Strafen für Deserteure und Befehlsverweigerer beschlossen, da es an der Front wiederholt zu selbständigem Verlassen des Kampffeldes oder zur Weigerung komme, die Waffe zu benutzen. Besonders betroffen sei auch die Zivilbevölkerung, der Gouverneur von Luhansk spreche von einer „humanitären Katastrophe“ und berichte von Frauen und Kindern, die ohne Strom und Heizung im Keller leben müssten und im Kampf gegen die Kälte gezwungen seien, ihre eigenen Möbel zu verbrennen.

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Wer kann am Ende auch nur den entferntesten „Nutzen“ daraus ziehen, dass hier Tag für Tag Hunderte von Menschen für ein paar Meter Geländegewinn geopfert werden, ein paar Meter Geländegewinn, die letztlich nichts anderes bedeuten, als das ganze Dörfer und Städte auf lange Zeit hinaus zerstört und unbewohnbar gemacht werden? Wer noch auch nur im Entferntesten dachte, Krieg könne, je nach Umständen, auch etwas „Richtiges“ oder „Sinnvolles“ sein, und wer noch immer darauf pochte, man müsste eben unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Kriegen, der müsste angesichts dieses Wahnsinns, der sich gegenwärtig vor unseren Augen in der Ukraine abspielt, wohl definitiv eines Besseren belehrt werden. „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel zieht, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur das Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Doch ausgerechnet jetzt, wo dieser Krieg ein alles Bisherige überschattende Brutalität angenommen hat, sind die Stimmen all jener, die zu Friedensverhandlungen und einem Ende des Kriegs aufgerufen hatten und die schon von Anfang an schwach und zaghaft waren, nun noch gänzlich verstummt. Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet. Als hätten wir uns in diesen 300 Tagen seit dem 23. Februar 2022 so nach und nach an den Krieg gewöhnt, als wäre er zu einer Art „Normalität“ geworden, die nun ganz einfach, ohne dass man dagegen etwas tun könnte, weitergehe bis zu ihrem bitteren Ende.

Doch Kriege sind nicht Naturereignisse, denen wir hilflos ausgeliefert wären. Kriege sind von Menschen gemacht und können ebenso auch wieder von Menschen beendet werden. Wenn die ganze Welt entschieden und geeint auftreten und das Ende dieses Kriegs fordern würde, dann wäre es durchaus denkbar. „Jene, die den Frieden lieben“, sagte Martin Luther King, „müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“ Hierzu aber bedarf es einer gänzlich neuen Sichtweise. Alle möglichen bisherigen Ansätze zu einer friedlichen Lösung sind dadurch vereitelt worden, dass stets die Schuldfrage im Vordergrund stand. Sah Russland die ganze Schuld bei der Machtpolitik des Westens und einem möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO, lag anderseits aus der Sicht des Westens die alleinige Schuld bei den völkerrechtswidrigen Expansionsgelüsten Russlands. Eine Friedenslösung wird erst möglich, wenn die Schuldfrage überwunden wird und nicht mehr in die Vergangenheit geschaut wird, sondern einzig und allein in die Zukunft: In eine Zukunft, in der ein gutes Leben für alle auf diesem Flecken Erde möglich sein soll, unabhängig davon, zu welcher Nation sich die einen oder die anderen zugehörig fühlen, und unabhängig davon, wo die einzelnen territorialen Grenzen hindurchlaufen.

Schweizerische Bundespolitik: Und über allem schweben unsichtbar die ungeschriebenen Gesetz der „Freien Marktwirtschaft“

 

„Nur 140 Stimmen hat Alain Berset bei der Wahl zum Bundespräsidenten für das Jahr 2023 bekommen“, schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 17. Dezember 2022. Zurückzuführen sei dies vor allem darauf, dass er im Innendepartement „nach zehn Jahren bei weitem nicht erreicht hat, was er erreichen wollte – zumindest nicht in den beiden wichtigsten Dossiers, dem Gesundheitswesen und den Sozialversicherungen.“

Dass ein Bundesrat in seinem Departement viel weniger erreicht, als er ursprünglich hätte erreichen wollen, gilt allerdings nicht nur für Alain Berset. Und es ist auch nicht bloss das Unvermögen oder das Versagen dieses Bundesrates oder jener Bundesrätin, wenn wichtige politische Geschäfte über Jahre nicht so richtig vom Fleck kommen. Denn die ungeschriebenen, allesbeherrschenden Kräfte, Mechanismen und Prinzipien der „Freien Marktwirtschaft“ – ungebremstes Wirtschaftswachstum, Gewinn- und Profitmaximierung auf Kosten sozial Schwächerer und der Wettbewerb als Massstab aller Dinge – sind so umfassend, wirkungsvoll und mächtig, dass ein einzelner Bundesrat, eine einzelne Bundesrätin im Kampf dagegen noch kleiner und mächtiger ist als der vielbewunderte David im Vergleich zum übermächtigen Goliath.

Nicht nur was Bundesrätinnen und Bundesräte betrifft, sondern ganz generell im politischen Tagesgeschäft ist es üblich, bei sämtlichen ungelösten Problemen dem politischen Gegner die Schuld in die Schuhe zu schieben. Am augenfälligsten zeigt sich dies jeden Freitagabend in der Diskussionsrunde „Arena“ am Schweizer Fernsehen, wenn die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Parteien gegeneinander die Klingen kreuzen: kein Argument der einen Seite, das nicht sogleich zum Gegenargument der anderen Seite wird oder umgekehrt. Doch dies alles lenkt bloss vom eigentlichen „Hauptschuldigen“ ab, dem Machtsystem der kapitalistischen „Freien Marktwirtschaft“, das sozusagen wie eine unsichtbare Gottheit über allem schwebt und auch im heftigsten Geplänkel der irdischen Kontrahentinnen und Kontrahenten nie ernsthaft in Frage gestellt wird.

So gesehen gaukeln die verschiedenen politischen Parteien bloss eine demokratische Vielfalt vor, während sie doch tatsächlich nur einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei sind. Betrachten wir die kleineren und grösseren Probleme, die uns heutige beschäftigen, von den steigenden Krankenkassenprämien, Lebenskosten und Wohnungsmieten über die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zu der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel, dann scheint es doch auf der Hand zu liegen, dass wir ganz offensichtlich in einem Zug sitzen, der immer schneller in eine falsche Richtung fährt. Solange wir nur an den Symptomen herumbasteln und uns nicht an die eigentlichen Ursachen der Probleme heranwagen, ist das, wie wenn wir in diesem immer schneller fahrenden Zug ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung machen würden und der Eindruck entstünde, grosse Fortschritte erzielt zu haben – während der Zug dennoch weiterhin unvermindert in die falsche Richtung weiterfährt.

Um beim Bild des fahrenden Zuges zu bleiben: Das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre, die Notbremse zu ziehen, alle bisherigen ungeschriebenen Gesetze der „Freien Marktwirtschaft“ und alle damit verbundenen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse radikal zu hinterfragen, um sodann den Zug in eine neue Richtung lenken zu können, an deren Ende nicht ein Abgrund droht, sondern ein gutes Leben für alle verwirklicht sein wird. Heute noch erscheint uns dies als Illusion jenseits aller politischen Machbarkeit, als naive Träumerei einiger weniger realitätsfremder Weltverbesserer. Doch viel naiver als solche Träumerei ist der Glaube, es soll nur alles weiterhin so bleiben, wie es ist. Denn, wie Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ 

„Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne“ – doch vielleicht haben sie schon zu früh gefeiert…

 

„Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne“, titelt der „Tagesanzeiger“ am 16. Dezember 2022. Gemeint ist, dass National- und Ständerat beschlossen haben, in einzelnen Kantone erlassene und durch Volksabstimmungen legitimierte Mindestlöhne zwischen 20 und 23 Franken pro Stunde durch allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge auszuhebeln. So müssen sich beispielsweise Angestellte im Coiffeurgewerbe, in der Gastronomie, in Tankstellenshops oder in der Uhren- und Mikrotechnikindustrie in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Basel-Stadt und Tessin darauf einstellen, Ende des Monats wieder weniger Geld im Portemonnaie zu haben. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.

Das ist nicht nur, sozusagen durch die Hintertür, ein Totalangriff auf die Demokratie, hat doch das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten, dass Kantone das Recht darauf hätten, Mindestlöhne zu erlassen. Es ist vor allem auch ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die mit harter Arbeit zu geringem Lohn täglich eine unverzichtbare Leistung zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstands erbringen. Auf rund 40 Franken beläuft sich zurzeit der durchschnittliche Stundenlohn in der Schweiz, da sind die 20 oder 22 Franken, die gegenwärtig von einzelnen kantonalen Mindestlohnbestimmungen vorgegeben sind, nicht viel mehr als ein Almosen – von noch tieferen Löhnen in jenen Kantonen, die keine Mindestlohnbestimmung kennen, ganz zu schweigen. Wenn man bedenkt, wie sehr in einer funktionierenden Wirtschaft sämtliche berufliche Tätigkeiten voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind und kein Unternehmen einen Gewinn abwerfen könnte ohne die unermüdliche Arbeit aller seiner Angestellten, dann müsste die Diskussion über Mindestlöhne eigentlich genau in die entgegengesetzte Richtung gehen. Und man müsste sich fragen, ob all das Geld, das aus den Unternehmen in die Taschen von Firmenbesitzern, Managern, Aktionärinnen und Aktionären fliesst, nicht fairerweise in die Taschen der Arbeiterinnen und Arbeiter fliessen müsste, welche alle diese Gewinne überhaupt erst dadurch möglich machen, dass sie für ihre Arbeit so viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre.

Am gleichen Tag, an dem über den Beschluss von National- und Ständerat betreffend Aushebelung kantonaler Mindestlohnvorschriften berichtet wird, ist zu erfahren, dass die schweizerische Uhrenindustrie von einem akuten Arbeitskräftemangel betroffen ist und bis 2026 rund 4000 Fachkräfte fehlen werden. Auch in der Gastronomie, im Gesundheitswesen und in vielen handwerklichen Berufen wie etwa den Spezialistinnen und Spezialisten der Solartechnologie zeichnet sich ein immer akuterer Fachkräftemangel ab. Kann man etwas anderes erwarten in einem Land, wo Menschen durch Erbschaften, Kapitalgewinne und Börsenspekulation weitaus reicher werden als durch ehrliche, harte Arbeit und wo das Gefälle zwischen den höchsten und den tiefsten Einkommen, welches heute schon bei 300:1 liegt, laufend noch weiter zunimmt? 

Heute noch feiern die Bürgerlichen ihren „Etappensieg gegen Mindestlöhne“. Gut möglich, dass sie schon in naher Zukunft bitterlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie zu früh gefeiert haben – spätestens dann, wenn sie in einem Restaurant sitzen und nicht mehr bedient werden, wenn sie auf ihrem Hausdach eine Solaranlage installieren möchten, aber keine Firma finden, die das in nützlicher Frist bewerkstelligen könnte, wenn sie vergeblich auf ein bestelltes Paket warten, weil es längst nicht mehr genug Postbotinnen und Postboten gibt, wenn ihre kaputte Uhr, ihr kaputtes Auto und ihre Heizung von niemandem mehr repariert wird oder wenn sie sich ihre Haare schneiden lassen möchten, aber vor der verschlossenen Tür ihres Coiffeursalons stehen bleiben, wo jetzt ein Schild hängt, dass man wegen Personalmangels niemanden mehr bedienen könne…

Ukrainekonflikt: Nur wenn wir aus der Geschichte lernen, können wir es vermeiden, immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen…

 

Die Forderung des französischen Präsidenten Emanuel Macron nach Friedensgesprächen im Ukrainekonflikt, die nicht zu einer Demütigung Russlands führen dürften, sondern die Sicherheiten Russlands gebührend berücksichtigen müssten, sei aus historischer Sicht nachvollziehbar – so Jean-Pierre Maulny, Vizedirektor des Pariser Thinktanks Institut des Relations Internationales et Stratégiques, zitiert in einem Artikel des „Tagesanzeigers“ vom 13. Dezember 2022. Denn wozu eine Politik der Demütigung führen könne, so Maulny, hätte man am Beispiel des Versailler Vertrags sehen können, mit dem Deutschland die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschoben, das Land zu immensen Reparationszahlungen verpflichtet und Deutschland wirtschaftlich erdrosselt worden sei, was schliesslich den Aufstieg Hitlers und damit den Zweiten Weltkrieg zur Folge gehabt hätte. Dennoch lehnt Maulny Macrons Forderungen nach Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt ab; „Das ist ein Fehler, der sich zwar erklären lässt, aber nicht gemacht werden darf. Denn Macron ist nicht Historiker, sondern Präsident. Er darf seine Rolle nicht verwechseln.“

Politiker und Politikerinnen sollen nicht zugleich auch Historikerinnen und Historiker sein dürfen? Was für eine gefährliche und verhängnisvolle Forderung. Ist doch gerade nichts so wichtig, als aus der Geschichte zu lernen, um nicht immer und immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen und immer und immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wir brauchen nicht weniger Politikerinnen und Politiker, die zugleich auch Historikerinnen und Historiker sind, sondern viel, viel mehr von ihnen. Geschichtliches Bewusstsein und die Kenntnis über geschichtliche Zusammenhänge sollten sogar die Grundvoraussetzung sein für die Ausübung jeglichen politischen Amtes, vor allem aber für die allerhöchsten und verantwortungsvollsten Ämter in einer demokratischen Gesellschaft.

Was herauskommt, wenn geschichtliches Verständnis und Bewusstsein abhanden gekommen sind, können wir mittlerweile tagtäglich miterleben. Ohne geschichtlichen Hintergrund wird die Realität zur Lüge und die Lüge zur Realität. Die Lüge nämlich, der Ukrainekrieg hätte unvermittelt und ganz überraschend am 24. Februar mit dem Überfall eines brutalen Aggressors auf ein unschuldiges, demokratisches Land begonnen, aus reiner Menschenverachtung, blindwütiger Eroberungslust und ohne jegliche Vorgeschichte. Und gleichzeitig mit dieser Lüge das Schweigen darüber, dass der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 das Versprechen abgegeben hatte, die NATO auf keinen Fall in Richtung Osten auszudehnen – ein Versprechen, das in der Folge mit jedem Land, das in die NATO aufgenommen wurde, stets wieder aufs Neue gebrochen wurde. Das Schweigen darüber, dass Wladimir Putin im Jahre 2001 dem Westen einen Beitritt Russlands zur NATO und noch 2008 eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zwischen Russland und Europa vorgeschlagen hatte. Das Schweigen darüber, dass der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahre 2009 gesagt hatte, Ziel müsse die Errichtung einer neuen „Weltordnung“ sein, die „auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands“ zu errichten sei. Das Schweigen darüber, dass 2014 auf dem Kiewer Maidan unter höchstwahrscheinlicher Beteiligung der CIA eine russlandfreundliche Regierung weggeputscht und durch eine NATO- und EU-freundliche Regierung ersetzt wurde. Das Schweigen darüber, dass die Ukraine ab 2014 von den USA systematisch aufgerüstet und regelmässige gemeinsame Trainings und Manöver durchgeführt wurden. Das Schweigen darüber, dass noch Ende 2021 Putin der US-Regierung vorgeschlagen hatte, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, was von der westlichen Seite in Bausch und Bogen verworfen wurde. 

Wahrscheinlich sähe die Welt ganz anders und viel friedlicher aus, wenn alle Politikerinnen und Politiker zugleich auch Historikerinnen und Historiker wären. Erstaunlicherweise sagte sogar der ukrainische Präsidentenberater Oleksiy Arystowitsch: „Die nationale Idee der Ukraine ist, sich selbst  und andere zu belügen. Denn wenn man die Wahrheit sagt, bricht alles zusammen.“ Wenn man etwas aus der Geschichte lernen kann, dann dies: Dass Kriege noch nie etwas anderes gebracht haben als Tod, Elend, Verderben und Zerstörungen. Noch nie ist jemals ein Krieg gewonnen worden. Kriege kann man nicht gewinnen, man kann sie nur verlieren. Die alleinige Schuld am Ukrainekrieg Russland in die Schuhe zu schieben, ist ebenso töricht und fern jeder Realität, als die alleinige Schuld dem Westen in die Schuhe zu schieben. Lösen lässt sich der Konflikt nie und nimmer auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein am Verhandlungstisch, wo beide Seiten sich nicht bloss gegenseitig alle Schuld in die Schuhe schieben, sondern bereit sind, ebenso die eigenen Fehler und Versäumnisse einzugestehen. „Jede Friedenslösung“, sagte Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau, „muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein.“ Dafür ist es allerhöchste Zeit. Denn, wie schon der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“    

Künstliche Intelligenz bei der Schreibproduktion: Ohne Kreativität gäbe es keinen Fortschritt und wir würden ewig die gleichen Muster wiederholen…

 

Künstliche Intelligenz schreitet auch in der Schreibproduktion unverzüglich voran. „Wenn ich ChatGPT bitte, mir einen Vorschlag zu machen, wie sich ein Buch über Produktivität im digitalen Zeitalter gliedern lässt“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 12. Dezember 2022, „dann dauert es keine 20 Sekunden, bis diese Gliederung vor mir steht. Grosse Sprachmodelle wie GPT-3, LaMDA, Stable Diffusion, Bild- und Videogeneratoren wie Dall-e oder Codegeneratoren wie GitHub Copilot beginnen uns Menschen auch auf dem Feld der Kreativität zu schlagen – in Ausmass, Präzision und vor allem Schnelligkeit. Generative KI wird uns auch in unserem Menschenbild herausfordern. Die bisherigen Göttinnen und Götter, die Menschen, werden vom Thron gestossen. Das tut weh. Es ist eine schwere narzisstische Kränkung für die Menschheit, dass Technologie nun können soll, was bislang uns allein vorbehalten war.“

Es ist nicht bloss eine narzisstische Kränkung – eine solche wäre ja sogar noch heilsam, wenn das bisherige Verhalten des Menschen bloss sein Narzissmus gewesen wäre. Nein, es ist viel mehr und noch viel schlimmer. KI in der Schreibproduktion bedeutet nämlich früher oder später nichts weniger als das Ende jeglicher Kreativität, dieses grössten aller Schätze, die der Mensch der Maschine voraus hat. Verfechterinnen und Verfechter der digitalen Schreibproduktion behaupten zwar bis heute, auch der Computer sei zu Kreativität imstande. Sie tippen als Beweis zehn Wörter in ein Schreibprogramm und geben diesem den Auftrag, aus diesen zehn Wörtern ein Gedicht zu kreieren – und siehe da, es ist möglich. Und doch hat dies mit echter Kreativität nichts zu tun. Denn alle Vorgaben für das Schreiben des Gedichts wurden von Menschen erdacht, das neue Produkt ist so gesehen nicht etwas grundsätzlich Neues, das alles Bisherige überspringt und eine neue Wirklichkeit schafft. 

Nicht nur kann eine Maschine niemals im ursprünglichen Sinne des Begriffs kreativ sein. Zusätzlich bedroht sie auch die eigentliche Grundbegabung der Kreativität, die in jedem Menschen als mehr oder weniger verborgenes Talent vorhanden ist. Die Entfaltung von Kreativität setzt Zeit, Musse, ja geradezu Langeweile voraus, Zeiten, die es dem Menschen erlauben, aus dem Alltagstrott auszubrechen und in andere Wirklichkeiten einzutauchen. Gerade dies wird in einer Zeit, da sich laufend alles beschleunigt und die digitale Welt es erlaubt, hundert Dinge gleichzeitig zu erledigen, immer schwieriger. Echte Kreativität aber muss geübt werden – wenn hierfür nicht mehr genügend Musse und genügend Langeweile vorhanden sind, dann droht sie zu verkümmern.

Doch es geht nicht nur um die Kreativität. Es geht auch um die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Die von Menschen gemachten Programm künstlicher Intelligenz widerspiegeln bloss die bestehende Gesellschaftsordnung, als gäbe es hierzu keine Alternative. Echter gesellschaftlicher Fortschritt aufgrund von unkonventionellen Ideen und Visionen ist aber nur möglich, wenn das Bestehende radikal in Frage gestellt wird. Und genau dies, das radikale Hinterfragen des Bestehenden, scheint immer seltener zu werden, was sich auch zunehmend bei akademischen Semester- oder Doktorarbeiten zeigt, die häufig bloss Zusammenfassungen – oder sogar Kopien – bereits bestehender Arbeiten sind und nur selten von Grund auf neue Ideen in die Welt setzen, eben genau deshalb, weil die zur Verfügung stehende Zeit meistens so dicht ausgefüllt ist, dass noch nicht entdeckte verborgene Schätze, die nur auf langen und schwierigen Wegen zu finden wären, gar nicht ans Tageslicht gelangen.

Ob die bisherigen „Göttinnen“ und „Götter“ der Kreativität, die Menschen, tatsächlich von ihrem Thron gestossen werden oder nicht, liegt einzig und allein an uns selber. Ob wir uns ganz und gar der Maschine ausliefern lassen wollen oder ob wir das Zepter in der Hand behalten und die Maschine nur nach Bedarf und von Fall zu Fall und stets mit der nötigen Distanz gebrauchen wollen. „Das wahre Zeichen der Intelligenz“, sagte Albert Einstein, „ist nicht Wissen, sondern Phantasie.“ Und der maltesische Naturwissenschaftler und Schriftsteller Edward de Bono sagte: „Es besteht kein Zweifel, dass Kreativität die wichtigste menschliche Ressource ist. Ohne Kreativität gäbe es keinen Fortschritt und wir würden ewig die gleichen Muster wiederholen.“ 

Ukraine: Krieg als eine Sache, „für die es sich zu sterben lohnt“?

 

„Im Krieg“, schreibt Chefredaktor Eric Guyer in seinem Leitartikel der „NZZ“ vom 3. Dezember 2022, „verlieren die harten Fakten – Truppenstärke und Bewaffnung – an Wert, wenn es an den weichen Faktoren fehlt: am unbedingten Siegeswillen und einer Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Die Ukrainer haben diese weichen Faktoren, die demoralisierten russischen Soldaten nicht.“

So etwas kann nur einer schreiben, der in seinem behaglichen, gut geheizten Büro sitzt und sich bloss aufgrund von Durchhalteparolen der beiden Kriegsparteien oder von Landkarten, auf denen die Geländegewinne der einen oder der anderen Seite verzeichnet sind, jenes Bild des Geschehens zurechtzimmert, welches in sein Weltbild passt. Dass dieses Weltbild und die Realität nur wenig miteinander zu tun haben, hätte Guyer nur schon hinterfragen müssen, wenn er sich beispielsweise die „Frankfurter Rundschau“ vom 1. Dezember 2022 angeschaut hätte. Dort nämlich war Folgendes zu lesen: „Nicht nur auf russischer, sondern auch auf ukrainischer Seite leiden die Kämpfenden. Viele von ihnen werden nie mehr in ihre früheren Berufe zurückkehren können, weil sie ausgebrannt sind. Zahlreiche Einheiten leiden unter Fussbrand, einer Erkrankung, die durch das Tragen von nassen, kalten Socken oder Schuhen über mehrere Tage hinweg entsteht. Neben Schmerzen, Blasen und Taubheitsgefühlen können auch Infektionen zu den Folgen zählen. Die Soldaten kommen im unablässigen Gefechtssturm kaum zum Schlafen, alles durchdringender Regen und Morast, in dem sie immer wieder steckenbleiben, machen ihnen zu schaffen. Auch gibt es immer wieder Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung. Es mehren sich die Berichte von Offizieren, die zu bedenken geben, dass es schwierig werden dürfte, die Moral der Soldaten auf längere Sicht aufrechtzuerhalten, vor allem angesichts des nahenden Winters. Einzelne Bataillone haben bereits die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die anderen leben in ständiger Todesangst. Einige benötigen psychologische Hilfe. Viele Soldaten bekunden einen Mangel an Kraft und Ressourcen. Ein Offizier berichtet, er schaffe es kaum mehr, mit den schrecklichen Erfahrungen auf dem Schlachtfeld und dem Anblick der gefallenen Kampfgefährten fertig zu werden, es raube ihm die Seele.“

Wie bei so viel sinnlosem Leiden ein vernünftig denkender Mensch auf die Idee kommen kann, Krieg könnte eine Sache sein, „für die es sich zu sterben lohnt“, ist mir schleierhaft. Für wen soll sich das Sterben lohnen? Für den Soldaten, der im Kampf gefallen ist? Für seine Freundin oder seine Frau? Für seine Eltern? Für seine Kinder? Für all die Schwerverletzten, die zeitlebens in einem Rollstuhl sitzen oder unter Kopf- und Bauchschüssen, zerfetzten Armen, verbrannten Körperteilen und unheilbaren Traumata leiden werden? Für all die Häuser, die kaputtgehen, für die Erde, die mit tödlichen Minen durchsetzt ist, für die Tiere und für die Pflanzen? Die Behauptung, Sterben im Krieg könnte sich auch nur im Entferntesten für irgendetwas lohnen, ist ein Rückfall in finsterste vergangene Zeiten, in der nur die Siege oder Niederlagen von Königen oder Kaisern eine Rolle spielten und die Menschen nichts anderes waren als „Kanonenfutter“ auf dem Schachbrett der Mächtigen. Diese Zeit, meinte ich immer, sei längst vorüber. Da habe ich mich offensichtlich ganz gewaltig getäuscht. 

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ Wer behauptet, im Krieg zu sterben könnte sich für irgendetwas lohnen, macht sich, indem er den Krieg geradezu zur moralischen Pflicht emporstilisiert, für jeden einzelnen Tag, an dem das sinnlose Töten weitergeht, mitverantwortlich. Es gibt nur eine einzige vernünftige Alternative zum Krieg und diese lautet: kein Krieg. Wer, wie Erich Guyer, eine so grosse und wichtige Plattform öffentlicher Meinungsbildung wie die „NZZ“ zur Verfügung hat, sollte dies doch nicht dafür missbrauchen, einseitig für die eine oder andere Seite der Kriegsparteien Stellung zu beziehen, sondern alles daran setzen, sich zwischen die Fronten zu stellen und mit aller Entschiedenheit für einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges einzutreten. Wenn sich etwas „lohnt“, dann gewiss nicht das Sterben auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein die Forderung, diesem so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, auch wenn diese Forderung augenblicklich noch so utopisch und unrealistisch erscheinen mag. „Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln“, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, „als eine Minute schiessen.“ 

Schweizerische Bundesratswahlen: Ein mehrheitlich bürgerliches Parlament wählt die deutlich linkere von zwei sozialdemokratischen Kandidatinnen – ein kleines Wunder ist geschehen…

 

In ihren jungen Jahren engagierte sie sich in der „Revolutionären Marxistischen Liga“. In einem Interview mit der NZZ Ende November 2022 zeigte sie Verständnis für die jungen Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf Strassen kleben, sprach sich für die Aufnahme von Klimaflüchtlingen aus, wollte keinen Zusammenhang sehen zwischen Zuwanderung und Energieknappheit, schloss einen EU-Beitritt der Schweiz nicht aus und versicherte, gegen eine weitere Erhöhung des Frauenrentenalters „mit aller Kraft“ anzukämpfen. Elisabeth Baume-Schneider. Um von einem bürgerlich dominierten Schweizer Parlament zur Bundesrätin gewählt zu werden, machte sie buchstäblich alles falsch, was sie nur falsch mache konnte, zumal sie nicht einmal aus dem „richtigen“ Landesteil stammt, hätte doch sogar gemäss Bundesverfassung die deutschsprachige Schweiz den Anspruch auf den nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga freigewordenen Sitz gehabt. „Mit dieser vollen Ladung linker Positionen“, so schrieb die Internetzeitung „Watson“ am 1. Dezember 2022, „hat sich Elisabeth Baume-Schneider selbst ein Bein gestellt. Es fehlt ihr eben am rhetorischen Gespür, ihr Gedankengut den bürgerlichen Bevölkerungsschichten ausserhalb der Romandie zu vermitteln. Baume-Schneider scheint auch nach drei Jahren im Ständerat den Berner Politikbetrieb nicht verstanden zu haben. Wer in den Bundesrat gewählt werden will, muss mit einer cleveren Taktik und Flexibilität auftreten, Frohnatur und die Vorliebe für Schwarznasenschafe allein genügen nicht.“

Und nun das: Am 7. Dezember wird Elisabeth Baume-Schneider mit 123 Stimmen gegen 116 Stimmen für ihre favorisierte Gegenkandidatin Eva Herzog zur Bundesrätin gewählt. Für einmal haben sich Meinungsforscher, Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter, Exponentinnen und Exponenten der politischen Parteien und die allermeisten Medien ganz gründlich geirrt. Ein kleines Wunder ist geschehen. Nicht die „kompromissfähige“, „abgeklärte“, mit allen politischen Wassern gewaschene Eva Herzog hat die Gunst der Mehrheit aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier gefunden, sondern die deutlich linkere Elisabeth Baume-Schneider, die eben noch scheinbar alles unternommen hatte, um sich mit ihren Aussagen in der Öffentlichkeit unglaubwürdig zu machen und sich „ein Bein zu stellen“.

Ein schönes Lehrstück in Sachen Demokratie. Ohne an dieser Stelle die Verdienste von Eva Herzog als langjährige Basler Regierungsrätin und Ständerätin klein zu reden, hatte Elisabeth Baume-Schneider ihr doch offensichtlich etwas Entscheidendes voraus: ihre spürbare Leidenschaft für die soziale Gerechtigkeit, ihren Humor, ihre Kraft der Vision, um immer wieder über die Nasenspitze des politischen Alltagsgeschäfts hinauszuschauen, und ihre Authentizität, mit der sie ihre persönlichen Ziele erklärt und bei der man stets spürt: Das ist alles andere als vorgespielt oder aufgesetzt, sondern kommt stets aus der tiefsten Seele. 

Ein kleines Wunder ist die Wahl von Elisabeth Baume-Schneider aber insbesondere auch deshalb, weil es alles andere als selbstverständlich ist, dass ein Parlament mit einer klaren bürgerlichen Mehrheit ausgerechnet der „linkeren“ der beiden Kandidatinnen den Vorzug gegeben hat. Als in den Medien berichtet wurde, Baume-Schneider sei in jungen Jahren bei der „Revolutionären Marxistischen Liga“ aktiv gewesen, hätte man erwarten können, dass sie nur schon allein aufgrund dieser Tatsache niemals von einem bürgerlichen Parlamentarier oder einer bürgerlichen Parlamentarierin gewählt würde. Doch vielleicht hat ja gerade diese Geradlinigkeit, diese Echtheit, dieses Feuer, das schon früh in ihrem Leben brannte, zu ihrer Glaubwürdigkeit und letztlich zu ihrer Wählbarkeit ganz wesentlich beigetragen – ein Zeichen und ein Vorbild für all jene jungen Menschen, die sich aller „Vernunft“, allen „Realitätssinns“, aller falsch verstandener „Kompromissbereitschaft“ zum Trotz nicht von ihren Träumen und Visionen einer gerechteren und friedlicheren Welt abhalten lassen. „Im Jugendidealismus“, sagte der Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen soll.“ Vielleicht ist genau dieses Junge, Lebendige, Idealistische, Leidenschaftliche, was Elisabeth Baume-Schneider ausstrahlt, der Schlüssel zu diesem Wahlerfolg, den kaum jemand erwartet hätte.

Die überraschend gewählte Bundesrätin und das Parlament mit seiner überraschenden Wahl – beides hat an diesem 7. Dezember zusammengespielt. Und so wurden für einmal nicht Mauern gebaut, sondern Brücken – nicht Elisabeth Baume-Schneider hat sich ein Bein gestellt, sondern all jene, die davon ausgegangen sind, alles müsse auch die nächsten 100 Jahre so weitergehen, wie es schon die letzten 100 Jahre gegangen ist.  

Von krankmachenden Arbeitsbedingungen über die Biodiversität und den Klimawandel bis zum Krieg: Therapieren müssen wir nicht die einzelnen Opfer des Systems, sondern das System als Ganzes…

 

„Die Fälle von Arbeitsunfähigkeit“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 4. Dezember 2022, „haben in der Schweiz dieses Jahr um 20 Prozent zugenommen und damit einen neuen Höchststand erreicht. Besonders gross ist die Zunahme bei den psychischen Erkrankungen und hier wieder speziell bei den 18- bis 24Jährigen, wo die Zahl der Neurentnerinnen und Neurentner viermal so hoch ist wie vor 25 Jahren.“

30 Seiten weiter hinten lese ich in der gleichen Zeitung, dass voraussichtlich weltweit bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten innerhalb der nächsten Jahrzehnte durch den Einfluss des Menschen aussterben werden. Auch in der Schweiz stehe es mit der Biodiversität nicht gut: Fast die Hälfte aller Lebensräume für Tiere und Pflanzen seien bedroht, was längerfristig zu einem Zusammenbruch des gesamten Ökosystems führen könnte.

30 Seiten zwischen den beiden Meldungen, die uns glauben machen wollen, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Tatsächlich aber hat beides letztlich die gleiche Ursache. Diese Ursache ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf permanenter Gewinn- und Profitmaximierung, dem blinden Glauben an ein nie endendes Wirtschaftswachstum und dem sich selber auferlegten Zwang beruht, aus den Menschen und aus der Natur in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Auch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems, das darauf ausgerichtet ist, ausgerechnet jene mit zusätzlichem Reichtum zu belohnen, die sowieso schon viel zu viel haben, Geld, das den Armen dafür umso schmerzlicher fehlt. Auch die Tatsache, dass weltweit über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden und jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Wirtschaftssystem, wo die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten bräuchten, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich auch kaufen zu können – es wäre ein Leichtes, alle Menschen weltweit genügend zu ernähren, mit den heute insgesamt vorhandenen Lebensmitteln könnte sogar, wären sie gerecht verteilt, mehr als die gesamte Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Auch der Klimawandel ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn endloses Wachstum von Gütern, Profiten und Gewinnsteigerung ist früher oder später nicht möglich in einer Welt begrenzter natürlicher Ressourcen. Und selbst der Krieg ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn territoriale Expansion, die unablässige Jagd nach Rohstoffen und Absatzmärkten, der übersteigerte Nationalismus und der Wettlauf um Macht und möglichst grosse Einflusssphären sind wesensmässig aufs Engste miteinander verknüpft, was der französische Sozialist Jean Jaurès mit diesen Worten so treffend auf den Punkt brachte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“

Therapieren müssen wir daher nicht die einzelnen Opfer des Systems. Therapieren müssen wir das System als Ganzes. Denn alles hängt mit allem zusammen. Wenn es jungen Menschen in einer immer hektischeren Arbeitswelt nicht gut geht, dann kann es auch den Tieren und Pflanzen, den Menschen im Krieg, den Menschen, die in Armut leben und unter Hunger leiden, und all jenen Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir jetzt schon hier und heute zerstören, nicht wirklich gut gehen. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Und auch der französische Philosoph Lucien Sève sagte es so deutlich, dass man sich allen Ernstes fragen muss, wie viel Leid, wie viel Ungerechtigkeit und wie viel Zerstörung es noch braucht, bis wir es endlich begriffen haben: „Der Kapitalismus wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“  

Bomben und Artillerie gegen kurdische Dörfer und Städte – und wo bleibt der Aufschrei des Westens?

 

„Seit knapp zwei Wochen“, so berichtet die schweizerische „Wochenzeitung“ in ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2022, „greift die Türkei mit Artillerie und Luftschlägen Rojava – die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens – sowie weitere Gebiete in Syrien, etwa um Aleppo, und Teile des Nordiraks an. Überall dort werden Stellungen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vermutet, die angeblich, obwohl hierfür nach wie vor die Beweise fehlen, am 13. November einen Bombenanschlag in Istanbul verübt haben soll. Beim völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei sollen bisher mindestens 67 Menschen getötet worden sein. Diese Angriffe richten sich nicht nur gegen militärische Ziele, sondern verursachen auch schwere Schäden an der Infrastruktur der Region, an Schulen, Krankenhäusern, Öl- und Gasfeldern sowie Elektrizitätswerken und zielen darauf ab, die Lebensgrundlage der Bevölkerung langfristig zu zerstören, weshalb auch vor allem Kleinstädte und Dörfer bombardiert werden. In einem Fernsehinterview sprach der türkische Präsident Erdogan gar davon, Nordsyrien ethnisch säubern zu wollen, da diese Region für den Lebensstil der Kurden nicht geeignet sei.

Eigentlich müsste jetzt ein gewaltiger Aufschrei all jener westlichen Regierungen ertönen, die eben noch so vehement den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt haben. Eigentlich müssten jetzt gegen türkische Oligarchen und Unternehmer ebenso harte Sanktionen ergriffen werden wie gegen russische Unternehmer und Oligarchen. Eigentlich müssten gegen die Türkei ebenso einschneidende Wirtschaftssanktionen verhängt werden wie gegen Russland. Eigentlich müssten jetzt Türkinnen und Türken ebenso mit Einreiseverboten, mit der Verweigerung von künstlerischen Auftritten und dem Verbot staatlicher Fernsehsender belegt werden, wie das alles gegen Russland praktiziert worden ist. Eigentlich müsste die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock mit der gleichen Vehemenz, mit der sie die Zerstörung der russischen Wirtschaft forderte, auch die Zerstörung der türkischen Wirtschaft fordern. Und eigentlich müsste der ukrainische Präsident Selenski, dem angeblich nichts so sehr am Herzen liegt wie die Wahrung der Menschenrechte und der unlängst die Forderung nach einer Überführung des russischen Präsidenten Putin an ein internationales Kriegsverbrechertribunal in den Raum gestellt hat, dasselbe auch für den türkischen Präsidenten verlangen.  

Doch nichts davon geschieht. Der Westen hüllt sich in Schweigen. Keine offizielle Verurteilung, keine Wirtschaftssanktionen, keine Boykotte, keine Einreiseverbote, kein Einfrieren von Oligarchengeldern, nichts von alledem. Scheinheiliger, doppelzüngiger, widersprüchlicher, verlogener geht es nicht. Damit zeigen die westlichen Regierungen und ihr militärisches Bündnis ihr wahres Gesicht. Es geht und ging auch nie um das, was sie „Menschenrechte“, „Freiheit“ und „Demokratie“ nennen. Es geht und ging stets nur um nackte Machtpolitik. Wer auf unserer Seite ist, das sind die „Guten“, egal wie viele Verbrechen sie begehen. Und wer auf der anderen Seite ist, das sind die „Bösen“, selbst wenn es sich um Kinder, Frauen und Männer handelt, die in ihrem ganzen Leben noch nie jemandem etwas zuleide getan haben.

44 Militäroperationen vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki über den Vietnamkrieg bis zum Überfall auf den Irak 2003 haben die USA seit 1945 begangen – mit über 50 Millionen Todesopfern und über 500 Millionen Verwundeten. Dennoch wurde kein einziger der kriegführenden US-Präsidenten jemals einem Kriegsverbrechertribunal überwiesen, alle genossen und geniessen nach wie vor höchstes Ansehen oder wurden sogar, wie Barack Obama, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wann endlich erwacht die westliche Welt aus diesem verhängnisvollen Tiefschlaf, der es immer noch, dieses Mal in Rojava, möglich macht, dass unschuldige Menschen vor lauter Angst vor dem nächsten Bombenangriff nicht schlafen können und Kinder am nächsten Morgen erfahren müssen, dass ihre Mütter und Väter nicht mehr leben.

Es gibt keine „guten“ und „schlechten“ Kriege, jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Und wer, zu Recht, den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt, müsste erst recht jede noch so kleine Kriegshandlung, die im Namen des „freien“ und „demokratischen“ Westens geschieht, aufs Schärfste verurteilen. Der uralte Spruch vom „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die uralte Lehre von der stets wiederkehrenden Rache und Vergeltung, sie müsste endlich dort landen, wo sie hingehört: auf den Schrottplatz der Geschichte. Denn wenn man, wie Mahatma Gandhi so treffend sagte, das Prinzip vom „Auge um Auge“ zu Ende denkt, dann führt es zu nichts anderem, als dass am Ende alle blind sind. 

Das Patriarchat als grösster Sündenfall in der Geschichte der Menschheit und die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte…

 

„Die Tänzerinnen des Oben-ohne-Clubs Star Garden in Los Angeles“, so berichtete der „Tagesanzeiger“ am 5. November 2022, „haben genug: Sie haben sich organisiert, um möglichst viele Leute von einem Besuch der Bar abzuhalten. Denn die Zustände im Star Garden sind katastrophal. Frauen werden von Kunden geohrfeigt oder an ihren Knöcheln durch die Bar geschleift. Gewaltsames Begrapschen, Bedrohen und tätliche Angriffe sind an der Tagesordnung. Dennoch ist es den Tänzerinnen verwehrt, das Sicherheitspersonal um Hilfe zu bitten. Dazu kommt ein Arbeitsumfeld, das an jedem anderen Ort als inakzeptabel gelten würde: Scherben am Boden oder gebrochene Tanzstangen, die zu Verletzungen führen, Löcher und herausstehende rostige Nägel auf der Bühne, verschmutzte Umkleidekabinen, fehlende Hygieneartikel.“

Das ist nur einer von zahlreichen Artikeln, die ich mir zum Thema Frauenrechte beiseitegelegt habe. Ein zweiter berichtet von den hauptsächlich aus Äthiopien und den Philippinen stammenden, in reichen Privathaushalten Dubais arbeitenden Dienstmädchen, die rund um die Uhr schikaniert, beschimpft, zu pausenloser harter Arbeit angetrieben werden und die Nacht auf dem Fussboden der Küche oder des Korridors verbringen müssen, weil ihnen nicht einmal ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestellt wird. Ein dritter Artikel beschreibt die Zustände im Spitzensport, wo Mädchen und junge Frauen, insbesondere im Kunstturnen, im Synchronschwimmen und in den Tanz- und Ballettschulen, bis an ihre Schmerzgrenzen und darüber hinaus zu Höchstleistungen gezwungen werden und auf gröbste Art behandelt und ausgegrenzt werden, wenn sie die geforderten Leistungen nicht erbringen. Ein vierter Artikel zitiert eine 17Jährige, die in einem Schweizer Spital die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit absolviert und erzählt, dass sie jeden Abend zuhause weinen müsse, weil sie einfach keine Kraft mehr habe und mehr als einmal am Rande eines psychischen Zusammenbruchs gewesen sei.

Das sind nur ein paar wenige, willkürlich herausgegriffene Meldungen über besonders unwürdige Zustände, von denen zur Hauptsache Frauen betroffen sind. Wollten wir das Thema erschöpfend behandeln, so würden die gesammelten Dokumente wohl so grosse Bibliotheken füllen, dass kein Mensch, auch wenn er zehntausend Jahre oder noch länger leben würde, jemals alles lesen könnte. Und doch werden Meldungen solcher Art von den Medien stets nur in Form von Einzelportionen vermittelt, so dass der Eindruck entsteht, alles sei bloss Zufall und nichts hätte mit dem andern etwas zu tun. Tatsächlich aber sind die Art und Weise, wie mit Prostituierten und Sexarbeiterinnen umgegangen wird, die erniedrigenden Lebensbedingungen von Hausmädchen und Putzfrauen, die grausamen Trainingsmethoden im weiblichen Spitzensport sowie sämtliche Formen von Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen in Politik, Arbeitswelt und Alltagsleben aufs Engste miteinander verknüpft und Ausdruck einer ganz bestimmten, zeit- und länderübergreifenden Macht- und Herrschaftsordnung genannt Patriarchat, das wohl in den an Grausamkeit alle Vorstellungskraft übersteigenden Hexenverfolgungen des 15. bis 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, aber in Abertausenden anderen Formen bis heute sein weiterhin zerstörerisches Unwesen treibt.

Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist nicht der in der Bibel beschriebene Verzehr der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist die Machtergreifung des Mannes über die Frau. Nicht umsonst sprechen indigene Völker von der Mutter Erde und nicht umsonst sind alle ihre wichtigen Götter weiblich. Die ganze Kolonisation und gewaltsame Unterwerfung aussereuropäischer Gebiete seit dem 15. Jahrhundert, der Kapitalismus als solcher und all die sinnlosen Kriege über Jahrhunderte bis in unsere Tage – alles ist das Werk von Männern, die nie gelernt haben, auf die Frauen und die Kinder zu hören.

Doch so, wie das Patriarchat seinen Anfang nahm, kann es auch wieder zu einem Ende kommen. Die gegenwärtige Protestbewegung im Iran, die hauptsächlich von Frauen getragen wird und eines der patriarchalsten Machtsysteme, die man sich nur vorstellen kann, nämlich jenes der Mullahs, radikal in Frage stellt, gibt einen kleinen hoffnungsvollen Blick in eine Zukunft, die schon bald Wirklichkeit werden könnte. Denn wir haben gar keine andere Wahl. Wird das Patriarchat nicht überwunden, dann wird auch das Überleben der Menschheit, das in nie dagewesenem Ausmass von Wirtschaftskrisen, von Armut, Hunger, dem Klimawandel und von Kriegen bedroht ist, nicht mehr lange möglich sein.

Auch die Klimabewegung ist ein Meilenstein auf diesem Weg. Kinder und Jugendliche, an ihrer Spitze weltweit junge Frauen, die keine andere Macht haben als ihre Stimmen, ihr Wissen, ihre Sorge um das Wohl der Menschen und ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt. „Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden“, sagte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer voller Hoffnung, „ja, sie ist es, die Zukunft, von der träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“