Archiv des Autors: Peter Sutter

Von der Französischen Revolution bis zu den Schulmädchen im Iran: Die innerste Sehnsucht der Menschen ist die Sehnsucht nach Freiheit…

 

Seit Mitte September 2022 demonstrieren im Iran Tausende Menschen gegen das Regime. Auslöser der Proteste war der Tod der 22jährigen Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei festgenommen worden, weil sie gegen die islamischen Kleidungsgesetze verstossen und ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen haben soll. Sie starb am 16. September in Polizeigewahrsam. An den Protesten beteiligen sich seither auch Schulmädchen, legen demonstrativ das obligatorische Kopftuch ab und singen das Lied „Baraye“, das zur Hymne der Protestbewegung geworden ist, mit dem Refrain „Frauen, Leben, Freiheit“. Dutzende von Videos sind seit dem Beginn der Protestbewegung ins Internet gestellt worden, in denen Schülerinnen zeigen, wie sie in ihren Schulen auf den Strassen protestieren, winken und ihre Kopfbedeckungen verbrennen. Gemäss Angaben von Human Rights Watch sind bisher über 50 Kinder und Jugendliche während der Proteste ums Leben gekommen, bis zu tausend Minderjährige befinden sich in Haft.

Es gibt wohl keine stärkere Kraft als die Sehnsucht nach Freiheit. Blättern wir in der Geschichte zurück, so kommen wir nicht am Jahr 1789 vorbei, als die Französische Revolution unter dem Leitspruch „Liberté, Egalité, Fraternité“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die verhasste Herrschaft der absolutistischen Könige hinwegfegte und mit ihr jahrhundertelange Knechtschaft, Ausbeutung, Fremdbestimmung und ein Regierungssystem, in dem nur die oberen Zehntausend etwas zu sagen hatten und der Rest der Bevölkerung zur Unmündigkeit verdammt war.

Freiheit war auch das Leitmotiv der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung Mahatma Gandhis, welche 1947 zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Immer und immer wieder folgten sich im Laufe der Jahrzehnte weltweit politische Bewegungen und Freiheitskämpfe zur Überwindung von Unterdrückung, sozialer Benachteiligung, Ausbeutung und Bevormundung durch autokratische Staatsführer oder privilegierte, korrupte Oberschichten: die Oktoberrevolution in Russland, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, Nelson Mandelas Kampf gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika, die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR, der weltweite Kampf der Frauen für politische Gleichberechtigung, der arabische Frühling in mehrere nordafrikanischen Ländern, die Befreiungsbewegung der mexikanischen Zapatisten, der Kampf der Palästinenser für Autonomie und staatliche Unabhängigkeit, die Metoo-Bewegung gegen sexuelle Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen, die „Black-Lives-Matter“-Bewegung, die sich gegen Gewalt gegenüber Schwarzen bzw. People of Color einsetzt. Auch die aktuellen Klimastreiks lassen sich in diese Tradition von „Befreiungsbewegungen“ einreihen, geht es dabei doch um eine Überwindung und Befreiung aus einer vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner Wachstumsideologie ausgeübten Fremdbestimmung, um den Weg freizumachen in eine Zukunft, in der Mensch und Natur im Einklang stehen und auch zukünftige Generationen auf diesem Planeten ein gutes Leben haben können. 

Die Liste der politischen Bewegungen für Freiheit und Selbstbestimmung liesse sich noch lange weiterführen, die genannten Beispiele bilden bloss eine kleine Auswahl. Doch kann sie verdeutlichen, wie sehr die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im Laufe der Geschichte eine treibende Kraft gewesen ist und gewiss auch weiterhin bleiben wird. Nicht alle diese Bestrebungen haben freilich zum Erfolg geführt, immer wieder gab es auch Rückschläge, dann aber auch wieder neue Hoffnung und neue Chancen, so wie 1994, als Nelson Mandela, langjähriger Vorkämpfer für eine Gleichberechtigung der Schwarzen in Südafrika, nach 30jähriger Haft zum Staatspräsidenten seines Landes gewählt wurde.

„Der Mensch ist für eine freie Existenz gemacht“, sagte der deutsche Dichter Matthias Claudius um 1800, „und sein innerstes Wesen sehnt sich nach dem Vollkommenen, Ewigen und Unendlichen, als seinem Ursprung und Ziel.“ Und der Dalai Lama formulierte es so: „Der Körper kann eingesperrt und versklavt werden, nie jedoch der menschliche Hunger nach Freiheit.“ Ja, das innerste Wesen des Menschen ist seine Sehnsucht nach Freiheit. Seine innerste Stimme ist die Stimme nach Selbstverwirklichung. Das können wir nicht nur von den iranischen Schulmädchen lernen, die zurzeit ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel setzen. Das können wir auch von unseren eigenen Kindern lernen. Nichts hassen sie so sehr, als wenn man sie dazu zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht lieben. Ihre ganze Widerspenstigkeit gegen Fremdbestimmung und Bevormundung ist nichts anderes als zutiefst ihre Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Denken wir nur an ihre Partys, wenn sie erst einmal 17 oder 18 Jahre alt geworden sind, an ihr ausgelassenes Tanzen, Lachen und Spass haben. In solchen Momenten wünschte man sich, sie würden möglichst nie so richtig „vernünftige“ Erwachsene werden. Und man fühlt sich unweigerlich an diesen berühmt gewordenen Satz des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll erinnert: „Das Einzige, wovor Jugendliche geschützt werden müssen, sind die Erwachsenen.“

Ja, diese innerste Stimme der Menschen ist die Stimme nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch nur, wenn auch die beiden anderen Leitideen der Französischen Revolution, die „Egalité“ und die „Fraternité“, gleichermassen verwirklicht werden, ist echter gesellschaftlicher Fortschritt möglich. „Liberté“ alleine genügt noch nicht. Eine Gesellschaftsform, die alles nur auf „Liberté“ setzt und dabei die „Egalité“ und die „Fraternité“ vernachlässigt, ist ebenso längerfristig zum Scheitern verurteilt wie eine Gesellschaftsform, die alles dem Diktat von „Egalité“ und „Fraternité“ unterstellt, dabei aber die „Liberté“ ausser Acht lässt.

Die Geschichte der Menschen ist eine nicht enden wollende Geschichte der Sehnsucht nach Freiheit, eine Geschichte der Emanzipation. Das Stärkste, Positivste, Hoffnungsvollste, das wir in all den dunklen Zeiten von Krieg, Ausbeutung, Menschenverachtung, sozialer Ungerechtigkeit und Zukunftsängsten nicht vergessen dürfen. Der liebe Gott oder wer immer die Natur und den Menschen erschaffen hat, schickt uns jeden Tag Millionen von Kindern auf die Erde, gibt nicht auf und hofft immer noch, dass wir seine Botschaft endlich verstehen: Werdet wie die Kinder, so voller Leben, so voller Phantasie, so voller Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, dann braucht ihr euch nicht mehr zu hassen, gegenseitig zu unterdrücken, Kriege zu führen, die Natur und unsere eigene Zukunft zu zerstören. „Man muss den Zorn in sich aufnehmen“, sagte Mahatma Gandhi, „und so wie gestaute Wärme in Energie umgesetzt werden kann, so kann unser gestauter Zorn in eine Kraft umgesetzt werden, die die Welt zu bewegen vermag.“ 

„Freiheit“ und „Demokratie“ tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

 

Die Demokratie befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Zu diesem ernüchternden Schluss, so berichtet Radio SRF am 30. November 2011, kommt die globale Demokratieagentur Idea in Stockholm in ihrem jüngsten Jahresbericht. Noch nie seit 1990 hätte es so wenige und so schwache Demokratien gegeben wie heute. Als positives Beispiel wird explizit die Schweiz genannt: Sie gehöre zu den entwickeltsten und stabilsten Demokratien der Welt.

Doch gerade am Beispiel der Schweiz zeigen sich – stellvertretend für alle anderen demokratischen Länder – die Grenzen des Begriffs der „Demokratie“ in einer kapitalistischen Welt. Und zwar unter mindestens drei Aspekten: dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, dem Aspekt individueller Freiheitsrechte und dem Aspekt der Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen.

Demokratie und soziale Gerechtigkeit. In sämtlichen „demokratischen“ Ländern hat die Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten im Verlaufe der vergangenen 30 Jahre kontinuierlich zugenommen. Das hat nichts mit der Demokratie zu tun, dafür umso mehr mit den Gesetzen des kapitalistischen Wirtschaftswachstums- und Finanzsystems, das dafür sorgt, dass jene, die reich sind, immer noch reicher werden, während jene, die ihre Einkommen „nur“ aus Erwerbsarbeit gewinnen, am unteren Rand der Wohlstandspyramide hängen bleiben. Das heisst: Die Instrumente des „demokratischen“ Staates reichen nicht aus, eine grundlegend sozial gerechte Gesellschaft mit möglichst kleinen sozialen Unterschieden zu schaffen, sondern beschränkt sich darauf, nur gerade die allerschlimmsten Auswüchse ein klein wenig abzufedern. Dies widerspiegelt sich auch in der Tatsache, dass ausgerechnet die auf der untersten und am schlechtesten entlohnten Ebene der Arbeitswelt Tätigen in geringster Zahl in Parlamenten und Regierungen vertreten sind oder dort sogar gänzlich fehlen.

Demokratie und individuelle Freiheitsrechte. Auch hier ist die „Demokratie“ weit davon entfernt, die von ihr abgegebenen Versprechungen auch nur annähernd einzulösen. Freiheit ohne Gerechtigkeit ist nämlich nie echte Freiheit, es sind bloss Privilegien, welche sich ein Teil der Bevölkerung leisten kann, während ein anderer Teil darauf verzichten muss. Hat die gutbetuchte Arztfamilie die Freiheit, ob sie ihre nächsten Ferien auf den Malediven, auf Teneriffa, auf einem Kreuzfahrtschiff, auf der eigenen Segelyacht am Zürichsee oder doch lieber im Ferienhaus auf der Lenzerheide verbringen möchte, so bleibt der alleinerziehenden Verkäuferin gerade mal die „Freiheit“, ob sie mit ihrem Kind den Spielplatz am nächsten Waldrand aufsuchen oder mit der Eisenbahn, sofern ihr Geld überhaupt für ein Zugbillett reicht, die kranke Grossmutter besuchen soll. „Freiheit“ und „Demokratie“ tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

Demokratie und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Demokratie wäre eine schlechte Staatsform, wenn sie nur für die Bürgerinnen und Bürger sorgen würde, die hier und heute leben. Deshalb heisst es zum Beispiel auch in Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Doch auch in diesem so wichtigen und existenziellen Punkt versagt die kapitalistische „Demokratie“ kläglich, indem sie nämlich der zerstörerischen kapitalistischen Wachstumsideologie und der Überproduktion von Luxusgütern für die reichen Oberschichten, welche eigentliche „Klimakiller“ sind, freien Lauf lässt oder höchstens so wenig einschränkt, dass die Zerstörung der zukünftigen Lebensgrundlagen zwar ein klein wenig langsamer voranschreitet, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Denn, wie eine junge Klimaaktivistin einmal sagte: „Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kapitalistische „Demokratie“ weit davon entfernt ist, die hauptsächlichen Herausforderungen unserer Zeit von der sozialen Gerechtigkeit bis hin zur Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen in den Griff zu bekommen. Das ist einfach zu erklären. Entgegen dem Begriff „Volksherrschaft“, der eigentlichen Grundbedeutung des Worts „Demokratie“, regieren sich die Völker in der Welt der kapitalistischen „Demokratien“ nicht selber, sondern werden von einer letztlich „autokratischen“ Macht bevormundet und regiert, der Macht des Kapitals, des blinden Wirtschaftswachstums um jeden Preis, des Geldes und aller davon profitierenden reichen Bevölkerungsgruppen. So gesehen sind die einzelnen politischen Parteien in der kapitalistischen „Demokratie“ nicht Ausdruck echter demokratischer Vielfalt, sondern bloss Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei.

Dazu kommt ausserdem der globale Aspekt. Wenn die Schweiz über eine der vorbildlichsten Demokratien verfügt, so verdanken wir dies nicht zuletzt dem Umstand, dass sich unser Land über Jahrhunderte auf Kosten anderer bereichert hat. So etwa erwirtschaftet die Schweiz nach wie vor fast 50 Mal mehr aus dem Handel mit „Entwicklungsländern“, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Demokratie muss man sich auch leisten können. Es ist kein Zufall, dass praktisch alle „demokratischen“ Länder der Welt vergleichsweise reiche und wohlhabende Länder sind. Soll Demokratie wirklich tiefgreifend weltweit verwirklicht werden, so geht das nur in einer Welt gegenseitiger Kooperation und Partnerschaft, ohne gegenseitige Ausbeutung und ohne Privilegien der einen auf Kosten anderer.

Demokratie ist, wie schon Winston Churchill sagte, zwar eine schlechte Regierungsform, aber immer noch besser als alle anderen. Ihre weltweite Verwirklichung wäre zweifellos eine der grössten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Doch nicht nur in den sogenannt „autokratisch“ regierten, sondern auch in den sogenannt „demokratisch“ regierten Ländern des weltweit herrschenden Kapitalismus sind wir von einer echten Demokratie im Sinne einer „Volksherrschaft“ noch meilenweit entfernt. Um echte Demokratie zu verwirklichen, genügt es nicht, Parlamente und Regierungen einzuführen, die vom Volk gewählt werden. Auch überall dort, wo sie scheinbar schon existiert, braucht sie eine permanente, radikale Erneuerung von unten, aus dem Volk, um nicht in einem von Geld- und Wirtschaftsinteressen dominierten Machtsystem sozialer Apartheid, Ausbeutung und der Vernichtung zukünftiger Lebensgrundlagen zu erstarren. Anders gesagt: Es geht darum, die Demokratie zu revolutionieren, um sie zu retten.

Ein Universitätsprofessor und seine seltsame Theorie: Als wären Frauen selber Schuld, wenn sie weniger verdienen als Männer…

 

„Es gibt kaum Lohndiskriminierung“, sagt Rainer Eichenberger, Finanz- und Wirtschaftsprofessor an der Uni Freiburg, in „20Minuten“ vom 28. November 2022, „denn Frauen haben andere Ausbildungen als Männer und arbeiten mehr Teilzeit und seltener in Führungspositionen sowie in Branchen und Firmen mit hohem Lohnniveau.“

Was uns der Wirtschaftsprofessor damit wohl weismachen will: Dass Frauen ja selber Schuld seien, wenn sie weniger verdienten. Sie müssten halt bloss höhere Ausbildungen absolvieren, weniger Teilzeit arbeiten, häufiger in Führungspositionen aufsteigen und in Branchen und Firmen mit höherem Lohnniveau arbeiten. Doch wenn alle Frauen in „höhere“ Positionen aufstiegen, wer würde dann noch all jene Arbeiten erledigen, die heute noch fast ausschliesslich in den Zuständigkeitsbereich von Frauen fallen? Wer würde sich in den Kitas um das Wohl der Kleinkinder kümmern? Wer wäre in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen für das Wohl der kranken und pflegebedürftigen Menschen besorgt? Wer würde in den Restaurants die Gäste bedienen, in den Hotels die Zimmer saubermachen und spät in der Nacht dafür sorgen, dass Korridore, Empfangsräumlichkeiten, Büros und Toiletten sich am nächsten Morgen stets wieder in Hochglanz präsentieren? Wer würde in den Fabriken Hemden nähen, Lebensmittel verpacken und Holzspielzeug bemalen? 

Der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass Frauen für die „gleiche“ Arbeit rund 18 Prozent weniger verdienen als Männer. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass in typisch „weiblichen“ Berufen drei, vier oder fünf Mal weniger verdient wird als in typisch „männlichen“ Berufen. An diese Ungleichheit haben wir uns offensichtlich so sehr gewöhnt, dass wir sie sozusagen als „gottgegeben“ hinnehmen und kaum jemand auf die Idee zu kommen scheint, sie grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dabei gäbe es mehr als genug gute Gründe, dies zu tun. Hierzu bedürfte es aber eines radikalen Perspektivenwechsels und einer neuen Sicht darauf, was denn die tatsächlich „wichtigen“ und „weniger wichtigen“ beruflichen Tätigkeiten sind. Nehmen wir als Beispiel das Erziehungswesen. Es ist längst bekannt, dass die Zuwendung, Unterstützung und Anregung, die ein Kind im Laufe seines Aufwachsens erfährt, im frühesten Alter am allermeisten Bedeutung hat für eine spätere gesunde Entwicklung, für das Lernen, das Selbstvertrauen und die Persönlichkeitsbildung. Hier leisten auch heute noch immer die Mütter den Löwenanteil. Je älter das Kind wird, umso weniger entscheidend wird der Einfluss durch Betreuungs- und Erziehungsperson, von der Betreuerin in der Kindertagesstätte über die Kindergärtnerin, die Primarlehrerin, die Lehrpersonen auf der Oberstufe, der Berufsschule oder des Gymnasiums bis hin zur Hochschuldozentin oder zum Hochschuldozenten. Doch in gleichem Masse, wie die Bedeutung der pädagogischen Begleitung und Erziehung von Jahr zu Jahr abnimmt, nimmt in gleichem Masse der Lohn von Stufe zu Stufe zu, sodass am Ende ein Hochschuldozent fast fünf Mal so viel verdient wie eine Kitaangestellte – von der Mutter, die ihre so unerlässliche und wesentliche Basisarbeit zum reinen Nulltarif leistet, gar nicht erst zu reden…

Eine buchstäblich verkehrte Welt. Denn es ist nicht nur im Erziehungswesen so. Auch der Wirt eines Restaurants könnte augenblicklich zusammenpacken, wenn es keine Serviererinnen gäbe, die seine Gäste bedienen. Das Hotel, das keine Zimmermädchen hätte, müsste schliessen und die Aktionärinnen und Aktionäre kämen augenblicklich nicht mehr in den Genuss ihrer Dividenden. Auch Chefärzte und Chefärztinnen verdanken ihre hohen Gehälter einzig und allein dem Umstand, dass genügend Krankenpflegerinnen und Physiotherapeutinnen all die Basisarbeit leisten, die für die Betreuung vor und nach den Operationen notwendig ist. Und auch die Abteilungsleiter und Manager von Supermärkten sind darauf angewiesen, dass Tausende von Verkäuferinnen bienenfleissig unablässig all die Gestelle immer wieder auffüllen, damit die Kundschaft ihre Bedürfnisse befriedigen kann.

Die heute immer noch bestehenden Lohnunterschiede widerspiegeln nicht die Bedeutung und die Wichtigkeit eines Berufs, sondern einzig und allein seine Stellung auf jener Machtpyramide, die dereinst von Männern geschaffen wurde und  erstaunlicherweise – trotz einer vieljährigen breiten „Gleichstellungsdiskussion“ – bis heute immer noch weitgehend unangetastet geblieben ist. Es genügt nicht, wenn Frauen in „vergleichbaren“ Berufen gleich viel verdienen wie Männer. Echte Gleichstellung ist erst dann erreicht, wenn in den Berufen, die als typisch „weiblich“ gelten, genauso viel verdient wird wie in jenen Berufen, die als typisch „männlich“ gelten. Das ist nicht nur eine Frage der jeweiligen Lohnsumme, sondern vor allem auch eine Frage der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit so tief in unseren Köpfen festsitzenden Wertvorstellungen, dass es einer umso grösseren Anstrengung bedarf, um diese zu überwinden. 

Wenn sich das Geld am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen…

 

Die 40jährige Ivana G., so schreibt das „Tagblatt“ am 23. November 2022, mache sich heftige Vorwürfe, dass sie ihrer Tochter für die kommende Wintersaison keinen neuen Skianzug kaufen könne. Und seit sie vor vier Monaten ihren Job bei Coop Pronto in Chur verloren habe, gäbe es zuhause kein Fleisch mehr, dafür viel Brot. Gemüse kaufe sie nur noch, wenn es Aktion sei. Da sie zeitweise beim RAV arbeiten könne, stünden ihr je nach Monat zwischen 1500 und 3000 Franken zur Verfügung. Mit Miete und Krankenkasse sei sie bereits bei Fixkosten von fast 2000 Franken, dann fehle aber noch das Geld fürs Essen, für den Strom, für Kleidung und Telefonrechnungen. Am schmerzlichsten sei, dass sie ihrer Tochter nicht einmal die dringend notwendige Zahnspange bezahlen könne.

Ivana G., ihre 15jährige Tochter und ihr 18jähriger Sohn gehören zu den etwa 25’000 von Armut Betroffenen Menschen im Kanton St. Gallen. Die Statistik zeigt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen zehn Jahren weiter geöffnet hat: Gehörten 2009 noch 31,2 Prozent des Gesamtvermögens des Kantons St. Gallen dem reichsten Prozent der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter, so waren es 2020 bereits 36,2 Prozent. Die obersten fünf Prozent besitzen heute 58,9 Prozent des Vermögens, das oberste Viertel 89,6 Prozent. Gleichzeitig hält das unterste Viertel der Bevölkerung im Erwerbsalter 0,1 Prozent des Gesamtvermögens. Bei den untersten 10 Prozent ist sogar überhaupt kein Vermögen mehr vorhanden. Diese Zahlen aus dem Kanton St. Gallen decken sich mit gesamtschweizerischen Vergleichszahlen: Zurzeit sind schweizweit zwischen 700’000 und 800’000 Menschen von Armut betroffen und führen ihren täglichen Überlebenskampf, kratzen Monat für Monat ihre letzten paar Franken zusammen, müssen sich verschulden so wie Ivana G. und ihre beiden Kinder – und machen sich am Ende sogar noch Vorwürfe, als seien sie selber an alledem Schuld…

Und dann lese ich, ein paar Seiten weiter, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer über ein Gesamtvermögen von 821 Milliarden Franken verfügen, viermal so viel wie vor 30 Jahren! 821 Milliarden Franken, eine unvorstellbare Summe, deren Ausmass man nur ermessen kann, wenn man entsprechende Vergleiche zieht: 821 Milliarden, das entspricht ungefähr der jährlichen Wirtschaftsleistung der gesamten Schweiz. Oder dem jährlichen Militärhaushalt der USA. Würde man dieses Geld an alle Menschen weltweit verteilen, so gäbe dies für jede Person über 100 Franken!

Und doch gibt es immer noch die ewiggestrigen und unverbesserlichen Verfechter des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die uns weismachen wollen, das eine – der sagenhafte Reichtum – und das andere – die bittere Armut – hätten nichts miteinander zu tun. Dabei ist es doch offensichtlich: Noch nie hat man Geld auf Bäumen wachsen gesehen und noch nie wurde es in Muscheln tief auf dem Meeresgrund gefunden. Wenn es sich am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen.

In der Tat: Es ist das gleiche Geld, das sich in den Taschen der Reichen ansammelt, welches in den Taschen der Armen fehlt. Ob in Form eklatanter Lohnunterschiede, in Form von Erbschaften, in Form von Mieterträgen aus Immobilienbesitz, ob in Form von Gewinnen aus Finanzgeschäften, Kapitalerträgen oder Börsenspekulationen – stets fliesst das Geld von unten nach oben, von denen, die viel arbeiten und wenig besitzen, zu denen, die viel weniger arbeiten und umso mehr besitzen. Die berühmte Schere, die sich immer weiter öffnet, weltweit und in jedem einzelnen kapitalistischen Land. „Wäre ich nicht arm“, sagt der arme Mann in einer Parabel Bertolt Brechts, „dann wärst du nicht reich.“ Noch deutlicher sagte es der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: „Hinter jedem grossen Vermögen steht ein grosses Verbrechen.“ Ja, Kapitalismus ist nichts anderes als ein grenzenloser, institutionalisierter, legalisierter, unsichtbar gemachter Raubzug der Reichen gegen die Armen.

Deshalb führt uns auch das ständige Gerede, man müsse den Armen „helfen“ oder die Armut „bekämpfen“, bloss auf eine falsche Fährte. Die Armen brauchen keine Hilfe, sondern schlicht und einfach nur Gerechtigkeit. Und niemand muss die Armut bekämpfen, denn bekämpfen muss man nur den Reichtum. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber. Und dann, ja dann, wird Ivana G. nicht mehr auf sich selber wütend sein, dass sie ihrer Tochter keinen neuen Skianzug kaufen kann. Sie wird wütend sein auf all jene, die sie so lange belogen haben, bloss um ihre eigenen Privilegien, ihre Macht und all ihr geraubtes Gut nicht zu verlieren.  

Der Fall Brian Keller: Deine Gewalt ist nichts anderes als ein stummer Schrei nach Liebe…

Im „Club“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 22. November 2022 ging es um den mittlerweile 27jährigen Brian Keller, den wohl „berühmtesten Häftling der Schweiz“, der rund ein Drittel seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat. Es diskutierten eine Strafrechtsprofessorin, ein Psychiater, ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, eine Journalistin, ein Lehrbeauftragter für Strafvollzug und der Anwalt von Brian.

Gemäss eines Berichts der Menschenrechtsorganisation „Humanrights“ hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge „zu seinem eigenen Schutz“.

Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 beging der 15Jährige ein schweres Gewaltdelikt: Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen stach er diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer „vorsorglichen Unterbringung“ im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom „Blick“ die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er schlief über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem folgenschweren Zwischenfall kam. Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft.

Am 10. April 2018 wurde Brian ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt, wo er grössere Freiheiten genoss und sogar ein Weiterbildungsprogramm absolvieren konnte. Dennoch wurde Brian – weil das Programm in Burgdorf infolge fehlender Ressourcen abgebrochen wurde – am 18. August 2018 wieder zurück ins JVA Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt.

Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Mai 2021 verurteilte das Obergericht Brian wegen des Vorfalls vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Am 31. Oktober 2022 ordnete das Zürcher Obergericht eine Freilassung von Brian an. Dieser Entscheid wurde am 8. November vom Zürcher Zwangsmassnahmengericht widerrufen.

Zurück zur Sendung „Club“ vom 22. November. Dort wurde nur ansatzweise thematisiert, inwieweit zwischen den äusseren Umständen, unter denen Brian Keller den grössten Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat, und den von ihm verübten Straftaten ein Zusammenhang bestehen könnte. Ist die Gewalt, die Brian in Form von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, erniedrigenden Haftbedingungen, unverhältnismässigen Gerichtsentscheiden und Liebesentzug in Form von Trennung von seinen Eltern erlitten hat, nicht mindestens so gross wie die Formen von Gewalt, die er selber verübt hat? Ist es nicht längst eine Binsenweisheit, dass Gewalt stets nur Gegengewalt erzeugt? Dass hier sehr wohl ein direkter Zusammenhang besteht, zeigt sich auch darin, dass Brian immer dann, wenn er sich in offeneren Formen des Strafvollzugs befand, viel besser „funktionierte“ und seine eigene Gewaltbereitschaft markant zurückging. Die Annahme, man müsse nur, um einen Menschen auf den „richtigen“ Weg zu bringen, seinen „Willen brechen“, ist einer der grössten Irrtümer und geistert nicht nur im Strafvollzug, sondern selbst in Erziehungsbüchern für ganz „normale“ Kinder auch heute noch herum. Tatsache ist, dass man den Willen eines Menschen nicht brechen kann, es sei denn, man töte ihn. Der Wille, den man zu brechen versucht, sucht sich dann einfach andere Bahnen, oft viel gefährlichere und zerstörerischere. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte der südafrikanische Freiheitskämpfer und späterer Staatspräsiden Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“

Tragisch, wenn man sich an den Anfang des Dramas zurückerinnert: Ein zehnjähriges Kind wird fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen ohne seine Eltern von zuhause abgeführt. Damit war eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Kann ein zehnjähriges Kind so etwas verkraften? Schlägt das nicht Wunden, die nie mehr verheilen werden? Ist diese Verletzlichkeit eines Zehnjährigen nicht gerade ein Zeichen für ein besonders hohes Mass an Empfindsamkeit und Liebesbedürfnis? Ist die „Gewalt“, die Brian in den folgenden Jahren an den Tag legte, vielleicht nicht eine besonders heftige Reaktion auf die verschüttete Sehnsucht nach Liebe? „Deine Gewalt“, singen die „Ärzte“ in einem ihrer bekanntesten Lieder, „ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“

„Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Brians Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn diese Hindernisse rechtzeitig beiseitegeschafft worden wären und man ihm den Weg zu seiner Selbstverwirklichung nicht so gewalttätig „verrammelt“ hätte. Längst ist allgemein bekannt, dass in Ländern, wo die Menschen sehr arm sind, auch die Kriminalitätsrate viel höher ist. Das ist so einleuchtend, dass es höchst verwunderlich ist, dass wir nicht schon längst den logisch daraus resultierenden Schluss gezogen haben, dass es eigentlich nur die äusseren Umstände sind, welche darüber entscheiden, wie „gut“ oder wie „schlecht“ Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen können. Ich wage zu behaupten, dass in einer Gesellschaft, in der die Liebe, die Gerechtigkeit und die gegenseitige Fürsorge an alleroberster Stelle stehen, solche Dinge wie Gewalt, Strafen und Gefängnisse überflüssig geworden wären. Vielleicht liegt das „Gute“ an der Geschichte von Brian Keller ja darin, uns hierfür die Augen geöffnet zu haben. „Brian ist kein Mörder“, sagt der Zürcher Oberrichter Christian Prinz, „er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.“

Jede „Reform“ der Arbeitswelt muss so lange bruchstückhaft bleiben, als nicht das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem durch eine neue Gesellschaftsordnung ersetzt wird, in der jegliche Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen ein Ende findet…

 

Gemäss „Tagesanzeiger“ vom 21. November 2022 hätte ein ehemaliger Tesla-Mitarbeiter in Los Angeles berichtet, es sei von ihm erwartet worden, den Zeitaufwand für einen bestimmten Arbeitsschritt zu halbieren. Er habe es versucht, doch es sei physikalisch unmöglich gewesen. Der Mann sei daraufhin gefeuert worden. Auch die Industrie- und Handelskammer der schweizerischen Kantone Appenzell und St. Gallen schlägt, wie das „Tagblatt“ am 22. November berichtet, angesichts des zunehmenden Personalmangels in vielen Betrieben eine „Produktivitäts- und Qualifikationsoffensive“ vor, damit „mit weniger Arbeitskräften mehr geleistet“ werden könne. Und L., eine 34jährige Physiotherapeutin, schlägt sich mit dem Gedanken herum, ihren Job an den Nagel zu hängen. 16 Patientinnen und Patienten pro Tag, jede Behandlung 25 Minuten, keine Pausen dazwischen, keine Erholung, keine Zeit um sich in Krankheitsberichte sorgfältig einzulesen und die Rapporte zu schreiben, am Abend sei sie fix und fertig und es bleibe dennoch das schlechte Gefühl zurück, den eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein. Eigentlich, sagt sie, liebe sie lieben Beruf, aber nicht unter diesen Bedingungen.

L., die Physiotherapeutin, hat nun wenigstens ihr Arbeitspensum auf 80 Prozent gekürzt, um mehr Zeit für Ausgleich und Erholung zur Verfügung zu haben. Sie ist nicht die Einzige. Immer mehr Menschen reduzieren ihr Arbeitspensum und könnten sich kaum noch vorstellen, vollzeitig beschäftigt zu sein. Doch das ist längst nicht allen Beschäftigten möglich. Zahlreiche Arbeitnehmende verdienen so wenig, dass sie sich eine Arbeitszeitreduktion schlicht und einfach gar nicht leisten können. Sie alle sind gleich doppelt bestraft: Indem sie länger arbeiten müssen als andere und meist erst noch weniger verdienen als – obwohl sie täglich dem gleichen übermässigen und krankmachenden Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Ganz abgesehen davon, dass sich selbst viele von denen, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, dass sie noch dennoch nicht zu selten eine hundertprozentige Arbeitsleistung erbringen müssten, nur eben zu einem geringeren Lohn. 

In aller Regel scheint die Meinung vorzuherrschen, bei alledem handle es sich um so etwas wie ein Naturgesetz, dem wir alle machtlos ausgeliefert sind, ohne daran etwas ändern zu können. Ein Naturgesetz, das auf einer höchst perfiden Logik beruht, der Logik nämlich, dass sich alle arbeitenden Menschen gegenseitig ausbeuten und gegenseitig voneinander profitieren. Denn natürlich liegt es im Interesse jedes zukünftigen Teslabesitzers, wenn er sich sein neues Auto möglichst günstig erstehen kann – dass sich die Arbeiter in der Autofabrik halb zu Tode krüppeln, muss ihn ja nicht kümmern. Und natürlich sind die Patientinnen und Patienten der Physiotherapeutin dafür dankbar, wenn sie einem möglichst billigen Preis eine möglichst gute Behandlung bekommen – was die Physiotherapeutin dafür für einen Preis bezahlt, kann ihnen ja egal sein. Und natürlich sind die Konsumentinnen und Konsumenten froh, wenn sie im Supermarkt ihren Kaffee, ihr Gemüse und ihr Fleisch zu möglichst niedrigen Preisen kaufen können – sie sehen, hören und spüren ja nichts von den Arbeitsbedingungen auf den Kaffeeplantagen, auf den Gemüsefeldern, in den Schlachthöfen und an allen anderen Orten, wo das heilige Prinzip herrscht, aus den Menschen, aus der Erde und aus der Natur in möglichst kurzer Zeit eine möglichst hohe Produktivität herauszupressen.

Es ist eben nur die halbe Wahrheit, dass alle von allen profitieren. Tatsächlich sind es immer die Gleichen, die profitieren, und immer die Gleichen, die dafür bezahlen, auf einer Pyramide, auf der zuoberst die Reichen und Mächtigen thronen und auf welcher der Druck und die Ausbeutung gegen unten immer weiter zunehmen bis ganz unten zu denen, welche die schwerste Bürde tragen, am härtesten arbeiten und dennoch am wenigsten verdienen. Jede „Reform“ der Arbeitswelt muss so lange bruchstückhaft bleiben, als nicht das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem durch eine neue Gesellschaftsordnung ersetzt wird, in der jegliche Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen ein Ende findet. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Arbeitsbedingungen von denen bestimmt werden, welche die Arbeitsleistung erbringen – nicht von denen, die sie mit überschüssigem Geld gekauft haben. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Arbeit nicht nur einigen wenigen Privilegierten, sondern allen Menschen Freude macht und persönliche Befriedigung verschafft. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der nicht das Geld, sondern die Talente, die Begabungen und die Gesundheit der Menschen das höchste und kostbarste Gut bilden. Eine neue Gesellschaftsordnung, in welcher der unselige Begriff der „Arbeitnehmerin“ endlich durch den korrekten Begriff der „Arbeitgeberin“ ersetzt, ist es niemand anderes als sie, welche anderen ihre Arbeit zur Verfügung stellt, die andere mit ihrer Arbeit „beschenkt“ – und nicht umgekehrt. Alles hängt mit allem zusammen und kann nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Denn, wie schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Flüchtlingspolitik muss endlich den Schritt machen von der Symptombekämpfung zur Ursachenbekämpfung

 

Seit zwei Monaten, so berichtet die „Sonntagszeitung“ vom 20. November 2022, drängen wieder mehr Asylsuchende aus anderen Ländern als der Ukraine in die Schweiz, am meisten aus Afghanistan, der Türkei und Syrien. Allein im nördlichen Afrika und im östlichen Mittelmeer, so der Migrationsexperte Beat Stauffer, sei der Migrationsdruck in vielen Ländern enorm. Insbesondere die SVP kritisiere, dass die Schweiz viele Flüchtlinge aufnehme, die keinen Schutz bräuchten, sondern bloss „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien. Diese „Willkommenskultur“, so SVP-Nationalrätin Martina Bircher, sei mit dem schweizerischen Sozialstaat je länger je weniger vereinbar. Und selbst der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm gäbe zu bedenken, dass das internationale humanitäre Recht keine Antwort hätte auf die Armutsmigration meist junger Männer, die „nicht persönlich und individuell an Leib und Leben bedroht sind.“

„Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Genau so ist es. Das sogenannte „Flüchtlingsproblem“, das sind nicht einfach junge Männer aus Afrika, Syrien, Afghanistan oder der Türkei, die nach Westeuropa drängen. Es sind nicht einfach zusammengeflickte Boote auf dem Mittelmeer, Schlepperbanden oder frierende Kinder, Frauen und Männer an rumänischen oder polnischen Grenzzäunen. Das „Flüchtlingsproblem“, das hat in erster Linie mit dieser verheerenden Zweiteilung der Welt in Reich und Arm, Wohlstand und Elend, Überfluss und Hunger zu tun. Im einen Teil dieser zweigeteilten Welt hat sich über Jahrhunderte sagenhafter Reichtum angesammelt, im anderen Teil dieser zweigeteilten Welt hat sich gleichzeitig unsägliches Elend ausgebreitet. Und wie wenn diese koloniale Ausbeutung nicht schon genug wäre, sind ausgerechnet zahlreiche der ärmeren Länder immer wieder von verheerendem Krieg betroffen, welcher einst so blühende Länder wie Afghanistan oder Syrien in Schutt und Asche gelegt und den Menschen jegliche Lebensgrundlage entzogen hat – alles im Fadenkreuz geopolitischer Grossmachtinteressen und unter eifriger und äusserst profitabler Beteiligung von internationalen Rüstungskonzernen. Aber auch damit noch nicht genug: Auch von den Folgen des Klimawandels, der zum allergrössten Teil von den reichen Ländern des Nordens verursacht wird, sind vor allem die ärmeren und südlicheren Länder in dieser zweigeteilten Welt am allermeisten betroffen. Schon heute sind weite Landstriche im Süden infolge von Überhitzung und Wassermangel unfruchtbar geworden – die soeben zu Ende gegangene Weltklimakonferenz in Sharm al-Sheik hat gezeigt, wie schwer sich die Länder des Nordens tun, um nur wenigstens einen winzigen Teil des von ihnen angerichteten Schadens wieder gutzumachen. Wenn Menschen aus dem Süden in den Norden fliehen, dann ist es nicht so, dass sie uns widerrechtlich etwas wegzunehmen versuchen, wogegen wir uns wehren müssten. Im Gegenteil: Diese Menschen wollen sich bloss einen winzigen Teil dessen zurückholen, was ihnen von uns, den reicheren Ländern des Nordens, geraubt worden ist, durch koloniale Ausbeutung, durch Kriege, durch den Klimawandel.

„Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Die Grenzen dicht zu machen, ist reine Symptombekämpfung. Sie löst das Problem nicht, macht alles nur noch schlimmer. Bis so viele Millionen an unseren Grenzen stehen werden, dass auch unsere noch so hochgerüsteten Grenzschutzeinheiten nicht mehr in der Lage sein werden, das Problem im Griff zu behalten. Stattdessen geht es darum, die tatsächlichen Ursachen zu bekämpfen, jeglicher Ausbeutung ein Ende zu setzen, alle Güter des täglichen Bedarfs, Einkommen und Vermögen weltweit gerecht zu verteilen, Kriege für immer abzuschaffen und so radikale Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen, dass sich die Erde nach und nach wieder erholen kann.

„Flüchtlingsströme“, die uns zunehmend „bedrohen“, sind ein Alarmzeichen dafür, dass wir in einer krank gewordenen Welt leben. Und so wie man eine Krankheit nicht heilen kann, solange man nur die Symptome bekämpft und nicht auch die Ursachen, solange kann auch das Ganze nicht gesund werden. Das Weinen in der Nacht, als das eigene Dorf bombardiert wurde, das Weinen des hungernden Kindes, das Weinen der Menschen auf der Flucht – es ist alles das gleiche Weinen, der gleiche allesdurchdringende Schrei, die gleiche endlose Sehnsucht nach einem Leben in Glück, Frieden und Gerechtigkeit. Man möchte an dieser Stelle gerne den Begriff der „Willkommenskultur“ aufgreifen. Ja. Jedes Kind sollte, wo und wann es geboren wird, genau an diesem Ort und zu dieser Zeit auf dieser unserer gemeinsamen Erde gleichermassen willkommen sein. Denn kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, wenn er dort das gleiche gute Leben haben kann wie an irgendeinem anderen Ort der Welt.  

Alle zeigen mit dem Finger auf Katar – doch was ist allen anderen weltweit Millionen von Opfern von Ausbeutung, unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfällen und frühem Tod?

 

Zu Recht steht Katar wegen der katastrophalen Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorwiegend nepalesischer Wanderarbeiter auf den Baustellen der Fussballweltmeisterschaften am Pranger. Doch der einseitige Blick auf Katar lenkt bloss davon ab, dass Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle in der gesamten kapitalistischen Welt von Brasilien bis Deutschland, von den USA bis China, von Zentralafrika bis Russland durchaus nicht eine Ausnahme sind, sondern ganz und gar der „Normalfall.“

Gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verunfallen weltweit jedes Jahr rund 313 Millionen Menschen bei der Arbeit, davon 2,3 Millionen tödlich, das sind jeden Tag 6400. Sie verunfallen und sie sterben, weil sie zu viel, zu lange, zu hart oder zu gefährlich arbeiten müssen. Und so wie auch der kapitalistische Profitmaximierungswahn und das Tempo der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft laufend zunimmt, so nimmt eben auch die Zahl der Arbeitsunfälle von Jahr zu Jahr weiter zu. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen in Deutschland zwischen 2020 und 2021 um nicht weniger als 39 Prozent zugenommen! Eine starke Zunahme verzeichnen auch Berufskrankheiten wie zum Beispiel Allergien, Schwerhörigkeit und Rückenleiden. Der wohl grösste Skandal liegt aber wohl darin, dass nach wie vor weltweit rund 160 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren Arbeiten verrichten müssen, für welche normalerweise Erwachsene zuständig wären. 

Weshalb sprechen alle von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen beim Bau der Weltmeisterschaftsstadien in Katar, aber niemand von den weltweit Abermillionen Menschen in allen übrigen Ländern der Welt, die ebenso unter viel zu harten Arbeitsbedingungen leiden, in viel zu engen Unterkünften leben müssen, oft kaum Zugang zu fliessendem Wasser haben, oft ungenügend ernährt sind und viel zu früh sterben müssen?

Die Antwort findet sich leicht: Im Falle von Katar treffen „Opfer“ und „Nutzniesser“ im gleichen Schaufensterlicht aufeinander. Am gleichen Ort, wo die Ausbeutung stattfindet, findet auch das Vergnügen derer statt, die von dieser Ausbeutung profitieren, sei es finanziell, oder indem sie in schönen, schnell und billig gebauten Stadien die Spiele verfolgen können. Alles liegt im gleichen Scheinwerferlicht, niemand kann wegsehen, alles ist sichtbar. So ganz anders ist das mit der Ausbeutung, der eine Textilarbeiterin in Bangladesch, ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Bananenpflückerin in Honduras ausgeliefert sind, mit überlangen Arbeitszeiten, geringem Lohn, gröbster Behandlung durch Vorgesetzte, katastrophalen Wohnverhältnissen. Diejenigen, die von solchen Formen von Ausbeutung profitieren, die multinationalen Konzerne und die Konsumentinnen und Konsumenten in den reichen Ländern, befinden sich eben nicht in unmittelbarer Nähe, im gleichen Scheinwerferlicht. Nutzniesser und Opfer sind fein säuberlich voneinander getrennt, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, am anderen Ende der bis zur Unkenntlichkeit unsichtbar gemachten Lieferketten könnte es so etwas geben wie Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen oder frühen Tod.

Wer im Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft einen „Boykott“ gegenüber Katar gefordert hat, müsste ehrlicherweise auch einen Boykott gegen das gesamte weltweite kapitalistische Ausbeutungssystem fordern, gegen das globale Finanzsystem, gegen die Banken, gegen multinationale Konzerne, gegen Rohstoffhändler und gegen Börsenspekulanten – alles andere ist scheinheilig. 

„Die im Lichte sieht man“, so der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „doch die im Dunklen, die sieht man nicht.“ Höchste Zeit, dass nicht nur einige ausgewählte Plätze, die gerade im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gestellt werden. Denn selbst wenn bei einer weiteren zukünftigen Fussballweltmeisterschaft oder einem anderen Grossereignis auf die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen geachtet würde, so wäre das noch längst nicht das Ende, sondern nur erst ein winziger Anfang von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit.  

Die SP und die Bundesratswahlen in der Schweiz: Als hätte es nie die Vision einer Überwindung des Kapitalismus gegeben…

 

Eifrig wird in diesen Tagen, nicht nur innerhalb der SP, diskutiert, wer sich am besten für die Nachfolge der als Bundesrätin zurückgetretenen Simonetta Sommaruga eignen könnte. Dabei fällt auf, dass kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet, man reduziert die Kandidierenden fast ausschliesslich auf ihr Geschlecht, auf ihr Alter, wie viele jüngere Kinder sie haben und wie lange sie schon über Erfahrung in einer Regierungsbehörde verfügen. Ebenfalls fällt auf, dass, abgesehen von Elisabeth Baume-Schneider, der man sowieso am wenigsten Chancen einräumt, sämtliche Kandidierende dem sogenannten „Reformflügel“ der SP angehören, jener Ausrichtung also, die sich dezidiert von allzu „linken“ und gesellschaftskritischen Positionen der SP abzugrenzen pflegt.

Dabei wäre doch gerade in der heutigen Zeit eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideale der Sozialdemokratie dringender nötig denn je. Was innerhalb der Sozialdemokratie fast gänzlich eingeschlafen ist, das ist die Grundsatzdebatte, inwieweit das kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt noch in der Lage ist, die drängenden Probleme unserer Zeit von der zunehmenden sozialen Ungleichheit, der wachsenden Armut über den durch gegenseitigen Konkurrenzkampf sich laufend verschärfenden Druck am Arbeitsplatz bis hin zur existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel auch nur einigermassen in den Griff zu bekommen. Ebenso fehlt fast gänzlich eine grundlegende Auseinandersetzung mit Fragen der vom kapitalistischen Weltwirtschaftssystem angetriebenen Ausbeutung der armen durch die reichen Länder wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ fast 50 Mal mehr erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Alle diese Fragen werden in der „Realpolitik“, der sich auch die SP weitgehend verschrieben hat, fast gänzlich ausgeklammert und man hängt noch immer der Illusion nach, die politischen Herausforderungen innerhalb der eigenen nationalen Grenzen lösen zu können ohne den Blick auf die globalen Verflechtungen, wo alles mit allem zusammenhängt und, wie Friedrich Dürrenmatt sagte, all das, was alle angehe, „nur von allen gelöst werden kann.“ Tatsächlich wird die Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns, einer eigentlichen „Zeitenwende“, immer unausweichlicher. Denn „man kann Probleme“, so Albert Einstein, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Das im Parteiprogramm der SP festgeschriebene und leider immer wieder totgeschwiegene Ziel einer „Überwindung des Kapitalismus“ ist daher alles andere als ein Fehler und hat nichts mit Nostalgie oder einer naiven, unrealistischen Weltsicht zu tun. Nein, es ist das wichtigste aller in diesem Programm genannten Ziele und müsste eigentlich über allen anderen stehen. Die, welche dafür verantwortlich sind, dass dieser Passus im Parteiprogramm Eingang gefunden hat, nämlich die Jusos, haben nichts falsch gemacht, sondern im Gegenteil das einzig Richtige. Denn „im Jugendidealismus“, so der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen darf.“ 

Am 19. November werden sich über 100 Jusos in Basel zu einer Parteiversammlung treffen, an der es unter anderem um die Bundesratswahlen gehen wird. Der Versammlung liegt ein Antrag der Geschäftsleitung vor, wonach sich die SP aus dem Bundesrat zurückziehen sollte, falls bei den Gesamterneuerungswahlen im Dezember 2023 nicht drei linke Bundesräte oder Bundesrätinnen gewählt würden. Eine Beteiligung an einer bürgerlich dominierten Regierung, so die Begründung des Antrags, schwäche die linken Kräfte, die zwar noch im Bundesrat vertreten wäre, aber von einer bürgerlichen Mehrheit dominiert würde. Nebst diesem Antrag der Geschäftsleitung liegt ein noch weiter gehender Vorschlag vor, welche den sofortigen Rücktritt der SP-Bundesräte bzw. SP-Bundesrätinnen aus der Regierung fordert. Die Einbindung in ein bürgerlich dominiertes Regierungsgremium bedeute nämlich stets eine Zerreissprobe für die Glaubwürdigkeit der SP-Politik, was sich jüngst bei der Abstimmung über die AHV-Revision gezeigt habe, bei der die Partei eine Nein-Parole ausgegeben, SP-Bundesrat Alain Berset aber für ein Ja gekämpft habe. Auch wenn diese beiden Anträge, wenn sie denn an der Juso-Parteiversammlung überhaupt angenommen werden, innerhalb der SP-Gesamtpartei wohl kaum eine Chance haben, so stossen sie doch eine wichtige, notwendige Diskussion an. Die Diskussion nämlich, mit welchen Methoden, Instrumenten und auf welchem Weg linke Politik am glaubwürdigsten und wirkungsvollsten vorangetrieben werden kann.

„Der vernünftige Mensch“, so der britische Schriftsteller George Bernard Shaw, „passt sich der Welt an, der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt von den unvernünftigen Menschen ab.“ Wie viel Unheil muss wohl noch geschehen, bis die Erwachsenen, so „vernünftig“ und „realistisch“ sie auch sein mögen, endlich erkennen, dass sie von den Träumen, Idealen und Visionen junger Menschen so viel mehr lernen können als diese von ihnen? Ist doch der Widerstand gegen den Kapitalismus nichts „Naives“ und „Unrealistisches“, sondern das einzige wirklich Realistische in einer Welt, in der die sozialen Gegensätze, die Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen grösser sind als je zuvor…

Von den afrikanischen Minenarbeitern über die brasilianischen Prostituierten bis zu den Soldaten in der Ukraine: Die Grossen hören erst dann auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen…

 

„Wenn es oft regnet“, so Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik European Council on Foreign Relations, in der „Sonntagszeitung“ vom 13. November 2022, „dann sind dauernde Wechsel um den Gefrierpunkt besonders belastend für die Soldaten, da Gewand und Ausrüstung durchnässt werden, dann einfrieren, dann wieder durchnässt werden, dann wieder einfrieren. Wenn es an der Front kalt wird, werden Soldaten oft krank. Hautkrankheiten wie Läusebefall treten häufig auf, wenn Kleidung nicht mehr regelmässig gewaschen werden kann, weil sie nicht trocknet. Die Parasiten übertragen oft auch andere Krankheiten. Auch der sogenannte Schützengrabenfuss ist eine Krankheit, die Soldaten aus Wintereinsätzen kennen. Wenn Schuhe undicht sind oder Socken über mehrere Tage und Wochen feucht bleiben, können an den Füssen Kälte-Nässe-Schäden auftreten.“ Worte, die drastisch schildern, was auf die im Ukrainekrieg kämpfenden Soldaten beim bevorstehenden Wintereinbruch zukommen wird. Und dies alles gesteuert aus fernen Kommandozentralen und Präsidentenpalästen, wo hinter dicken Mauern und gut geschützt über Leben und Tod auf dem Schlachtfeld entschieden wird. „Ich dachte immer“, schrieb der deutsche Dichter Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Doch nicht nur im Krieg werden das Leben und die Gesundheit der Menschen aufs Spiel gesetzt, bloss damit andere aus sicherer Entfernung ihre Machtpositionen festigen und ihre fetten Profite einstreichen können. Milliarden von Menschen weltweit sind Opfer von Ausbeutung jedwelcher Art. Denken wir an die Textilarbeiterinnen in Bangladesch, die am Ende eines 15stündigen Arbeitstags von ihren Aufsehern verprügelt werden, weil sie ihr Tagessoll an genähten Kleidern nicht erfüllt haben. Denken wir an die philippinischen Hausmädchen in Dubai, die in der Küche oder auf dem Flur ihrer Peinigerinnen und Peiniger schlafen müssen, weil ihnen kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht. Denken wir an die nepalesischen Wanderarbeiter in Katar, die bei Temperaturen von bis zu 50 Grad die Stadien für die Fussballweltmeisterschaft bauen mussten. Denken wir an die Minenarbeiter im Kongo, die trotz unmenschlicher Arbeit tief unter der Erde nur einen winzigen Bruchteil dessen verdienen, was weltweit Rohstoffspekulanten an Gewinnen in astronomischer Höhe einfahren. Denken wir an all die Prostituierten, die brutaler Männergewalt ausgeliefert sind und jeden Tag um ihr Leben bangen müssen. Denken wir an Kunstturnerinnen, die schon in frühestem Mädchenalter dermassen hart trainieren müssen, dass ihre Körper oft lebenslang unter Schmerzen und Beeinträchtigungen zu leiden haben. Denken wir an Köchinnen, Bauarbeiter, Krankenpflegerinnen, Fabrikarbeiter, Zimmermädchen, Kellnerinnen, Angestellten im Supermarkt, auf Kreuzfahrtschiffen, im Brücken- oder Tunnelbau oder in der Schönheitspflege, die alle, selbst in den „reichen“ Ländern des Nordens, schwerste und oft gefährliche Arbeit verrichten, erschöpfendem Zeitdruck unterworfen sind und dennoch nur einen Bruchteil dessen verdienen, was in den Taschen jener verschwindet, welche aus „sicherer Distanz“ und „hinter dicken Mauern“ aus all der Plackerei ihren höchst gewinnbringenden Nutzen ziehen. Man hätte, um Erich Maria Remarques Zitat leicht abzuwandeln, wohl kaum einen vernünftigen Menschen gefunden, der das Prinzip der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zugunsten von Machtgewinn und Profitmaximierung für gut befunden hätte. Bis man auf jene stiess, die dennoch daran Gefallen gefunden hatten. Es waren die, welche nicht selber in die Fabriken, in die Bordelle, auf die Baustellen bei 50 Grad Hitze und auch nicht in die Minen, auf die Zuckerrohrplantagen und als Hausangestellte in die Villen der Reichen und Reichsten hingehen mussten, sondern nur ihr eigenes süsses Leben fern von allen Qualen und allem Leiden anderer leben konnten. 

„Divide et impera“ – teile und herrsche, so lautete die oberste Maxime der Machtpolitik im Römischen Reich vor über 2000 Jahren. Es war das Prinzip, die einzelnen Regionen des Reichs stets in gegenseitiger Feindschaft zu halten, denn hätten sich diese gemeinsam gegen die Regentschaft des zentralistischen Kaisertums aufgelehnt, so wäre es diesem wohl über kurz oder lang an den Kragen gegangen. Getreu diesem Prinzip ist es dem weltweiten Macht- und Ausbeutungssystem der herrschenden Eliten bis heute gelungen, die Lüge aufzubauen, Formen der Ausbeutung am einen Ort hätten nichts zu tun mit Formen der Ausbeutung an einem anderen. Tatsächlich aber sind die Zimmermädchen in einem Schweizer Hotel, die Prostituierten in Rio de Janeiro oder Kinshasa, die Minenarbeiter in Ecuador oder Bolivien, die Perlentaucherinnen in Bahrain und die Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine Opfer des einen und selben weltweiten Systems von Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt, das sich wie ein Netz unendlich vieler unsichtbarer Fäden über die ganze Welt hinwegzieht. All jene, die behaupten, das eine hätte mit dem andern nichts zu tun, wissen sehr wohl, weshalb sie diese vermeintliche Wahrheit verbreiten. Würden sich nämlich alle über die Kontinente hinweg Ausgebeuteten in gegenseitiger Solidarität zusammenschliessen, dann käme der ganze Schwindel ans Licht und es wäre nicht nur das Ende jeglicher Ausbeutung, sondern zugleich auch das Ende aller Kriege. Denn, wie der deutsche Dichter Friedrich Schiller schon vor über 200 Jahren sagte: „Die Grossen hören erst dann auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen.“ Einfacher und zugleich revolutionärer kann man es gar nicht sagen…