Archiv des Autors: Peter Sutter

Skandal: Arbeiterinnen und Arbeiter haben eine bis um fünf Jahre tiefere Lebenserwartung als Akademikerinnen und Akademiker…

 

Aufgrund von Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen (EES) lässt sich, wie das schweizerische „Tagblatt“ am 26. Oktober 2022 berichtet, feststellen, dass Akademikerinnen und Akademiker eine um fünf Jahre (Männer) bzw. zweieinhalb Jahre (Frauen) höhere Lebenserwartung haben als Arbeiterinnen und Arbeiter. Zudem verfügen Arbeiterinnen und Arbeiter über eine schlechtere Gesundheit als Akademikerinnen und Akademiker: Diese leben 8,8 Jahre (Männer) bzw. 5 Jahre (Frauen) länger bei guter Gesundheit als Männer und Frauen, die nur über einen obligatorischen Schulabschluss verfügen. Die Schere zwischen tendenziell gesünderen Akademikerinnen und Akademiker und tendenziell kränkeren Arbeiterinnen und Arbeitern hat sich zudem im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre erheblich vergrössert, „Je nach Bildungsniveau“, so resümiert das „Tagblatt“, „variiert nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Gesundheit.“

Doch die geringere Lebenserwartung und die schlechtere Gesundheit im Alter sind längst nicht die einzigen Benachteiligungen von Menschen, die „nur“ die Volksschule besucht haben, gegenüber jenen, die über einen akademischen Abschluss verfügen. Es beginnt nämlich schon ganz früh, spätestens in der Schule, wo Kinder, die weniger gut und schnell rechnen, lesen und schreiben können, die Erfahrung machen müssen, dass sie weniger „wertvoll“ und „wichtig“ sind als andere – auch wenn sie in anderen Bereichen über noch so viele Begabungen und Fähigkeiten verfügen. Der schon in frühem Alter aufgedrückte Stempel, weniger „wertvoll“ oder gar weniger „intelligent“ zu sein als andere, kann sich oft lebenslang negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein auswirken und demzufolge auch – weil psychische und physische Gesundheit eng zusammengehören – auf das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit.

Es geht weiter mit dem Einstieg in die Berufswelt. Während die zukünftigen Akademikerinnen und Akademiker noch gemütlich im Gymnasium sitzen, sind die Jugendlichen, die „nur“ eine Berufslehre absolvieren, schon auf der Baustelle dem Wind und dem Wetter ausgesetzt, kümmern sich um alte und kranke Menschen oder füllen im Supermarkt Gestelle auf, bis sie vor lauter Rückenschmerzen kaum mehr richtig schlafen können. 

Ist erst einmal der Arbeiter im Strassengraben und der Akademiker auf seinem Lehrstuhl an der Universität, dann kommen diese unsäglichen Lohnunterschiede dazu, die alles noch weiter verschlimmern. Weniger verdienen heisst ja nicht nur, am Ende des Monats weniger Geld in der Lohntüte zu haben. Eine kleinerer Lohn wirkt sich auf das gesamte Leben aus, auf die Lebensweise, auf die Lebensqualität. Weniger Lohn heisst konkret: eine kleinere Wohnung, weniger Platz für die Kinder, kein Garten, dafür in unmittelbarer Nähe eine dichtbefahrene Strasse, Lärm und Abgase. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Freizeitaktivitäten wie Fitnesstraining, feines Essen im Restaurant, Ferien im Wellnesshotel oder am Meer – lauter Dinge, die für andere, besser Verdienende, selbstverständlich sind. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Geschenke, Spiel- und Sportgeräte, Freizeitkurse, Musikunterricht oder Ferienlager für die Kinder, was für die betroffenen Eltern ganz besonders schmerzlich ist und sich häufig mit dem Gefühl verbindet, im Kampf um den sozialen Aufstieg selbstverschuldet auf der Strecke geblieben zu sein. Auch dies eine überaus schlechte Voraussetzung für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Gesundheit. Umso mehr, als die unbefriedigende soziale Situation nicht selten Anlass für Ersatzbefriedigungen aller Art sein kann, von der Spielsucht über den Nikotinkonsum bis hin zum Alkohol. 

Kommt dazu, dass ausgerechnet geringer verdienende Arbeiterinnen und Arbeiter in hohem Masse von besonders schweren und oft auch gefährlichen Tätigkeiten betroffen sind, welche ihre Gesundheit zusätzlich belasten und nicht selten für lebenslange Gebrechen oder frühen Tod verantwortlich sind. Denken wir nur an Strassen- und Bauarbeiter, Maurer, Zimmerleute, Paketboten, Krankenpflegerinnen, Angestellte im Supermarkt, Malerinnen, Gerüstbauer, Fliessbandarbeiter, Friseusen, Köche oder Serviceangestellte – lauter Arbeiten, bei denen man übermässig schwere Lasten heben, Rücken und Arme viel zu stark belasten, überlang stehen muss oder mit Chemikalien und giftigen Substanzen zu tun hat, welche Haut und Atemwege gefährden. Auch von den schweizweit jährlich rund 170’000 Arbeitsunfällen sind fast ausschliesslich Arbeiterinnen und Arbeiter betroffen und höchst selten eine Akademikerin oder ein Akademiker.

Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, leiden Arbeiterinnen und Arbeiter und ganz generell Beschäftigte in untergeordneten Positionen erheblich darunter, dass sie auf ihre Arbeitssituation fast keinen Einfluss haben und den Anordnungen ihrer Vorgesetzten mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Meist arbeiten sie hart, nicht selten sind sie gezwungen, Überstunden zu leisten – und sehen am Ende des Tages dennoch nur wenig von dem, was sie geleistet haben, sondern müssen im Gegenteil mit ansehen, wie ihre Chefs oder die Aktionäre der Firma ein viel luxuriöseres Leben führen als sie selber, während sie selber sich nebst dem geringen Lohn auch noch mit viel geringerer Wertschätzung abfinden müssen. Keine Frage, dass Demütigungen dieser Art in der Seele tiefe Spuren hinterlassen und sich letztlich auch wieder auf die Gesundheit negativ auswirken.

„Klügere Menschen“, so die englische Philosophin Rosalind Arden in einem am 26. Oktober 2022 auf 3sat ausgestrahlten Dokumentarfilm über das Phänomen der Intelligenz, „leben länger und gesünder, werden besser bezahlt und haben sogar stabilere Partnerschaften.“ Dies würde ja dann heissen, dass alle Menschen, welche schlechter bezahlt sind, daran selber Schuld wären, weil sie eben nicht so „klug“ seien. Offensichtlich fühlen sich akademisch gebildete Menschen wie Rosalind Arden gescheiter als all die Menschen, welche für sie Häuser bauen oder Strassen, über die sie täglich fahren, und gescheiter als all die Menschen, die ihre Autos und ihre Heizungen reparieren, ihre Haare frisieren oder das Brot backen, das sie essen. Was für eine grenzenlose Überheblichkeit! Und was für eine masslose Beleidigung all jener Menschen, die mit grösstem Geschick, präzisester Fleissarbeit, unendlicher Hingabe und bewundernswertem Sachverstand Tag für Tag all jene Arbeiten verrichten, die so schlecht bezahlt sind und dennoch das Fundament bilden, ohne welches die ganze Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde.

Wundern wir uns bei so vielen seelischen Wunden, bei so viel Demütigung, bei so viel Missachtung existenzieller Lebensbedürfnisse immer noch darüber, dass Arbeiterinnen und Arbeiter weniger lange leben und schneller krank werden als Akademikerinnen und Akademiker? Kann eine Gesellschaft als Ganzes gesund sein, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nur deshalb länger gesund sein darf, weil ein anderer so viel früher von Krankheit und Tod betroffen ist? Lässt sich das mit der Grundidee der Demokratie und der gleichen Rechte für alle tatsächlich vereinbaren? Müsste nicht alles unternommen werden, um die Früchte der Arbeit, die gesamthaft geleistet wird, auch wieder auf alle möglichst gerecht zu verteilen?

„Es gibt viele Arten zu töten“, lesen wir beim deutschen Schriftsteller Bertolt Brecht, „man kann den Menschen das Brot entziehen, man kann sie in den Krieg führen oder man kann sie durch Arbeit zu Tode schinden.“ Wie recht er hatte! Hier und heute, selbst im reichsten Land der Welt: Jahr für Jahr Tausende von Menschen, die frühzeitig krank werden und frühzeitig sterben. Nicht weil sie „dümmer“ sind als andere. Sondern weil der gnadenlose Kampf um den sozialen Aufstieg, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit von Einkommen und Lebensbedingungen und die rücksichtslose Anhäufung von Reichtum auf Kosten anderer in unseren Köpfen immer noch so tief verwurzelt sind und als „normal“ empfunden werden, dass zwar über jeden Verkehrsunfall, jeden Mord und jeden tödlichen Absturz eines Bergsteigers ausführlich berichtet wird, nicht aber über das lautlose Sterben all jener, die nichts anderes getan haben, als sich ein Leben lang unter grössten Entbehrungen für den Reichtum und die Interessen anderer abzurackern…

Serhij Zhadan: Friedenspreis für Kriegstreiber?

 

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Serhij Zhadan. In seiner im schweizerischen „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022 veröffentlichten Dankesrede plädiert Zhadan für den Krieg als bestes Mittel, um Frieden zu schaffen. Zudem äussert er sich ausführlich über die Funktion der Sprache in kriegerischen Zeiten. „Wir alle“, sagt er, „sind über unsere Sprache miteinander verbunden. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.“

Das muss hellhörig machen. Denn was Zhadan „Sprache“ nennt, hat ganz offensichtlich zwei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten. Nicht umsonst erliess das ukrainische Parlament am 25. April 2019 ein neues Sprachengesetz. Demzufolge gilt das Ukrainische als alleinige Staatssprache. In den Schulen, der öffentlichen Verwaltung, unter leitenden Angestellten, in der Wissenschaft, in der Kulturszene, in Regierung und Parlament darf nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden 100 Millionen Bücher russischsprachiger Autorinnen und Autoren entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Ebenso dürfen Werke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Und dies, obwohl die Muttersprache von 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung das Russische ist. Das Sprachengesetz hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zutiefst in Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse gespalten. Was der ukrainischsprachigen Bevölkerungsmehrheit an Bedeutung, Einfluss und Macht in Gestalt ihrer Sprache zugesprochen wurde, ist der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in gleichem Masse abgesprochen, weggenommen und geraubt worden. 

Was also meint Zhadan, wenn er von der „verbindenden Kraft der Sprache“ spricht? Obwohl er selber in der Ostukraine geboren wurde, ist die Sprache, die er meint, doch ganz offensichtlich das Ukrainische. In dieser Sprache, die ihm soviel „Kraft spendet“, die ihn mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern „verbindet“ und in der er die „Wahrheit“ verkünden kann, sagt er dann, beispielsweise in seinem jüngsten Werk, dem „Himmel über Charkiw“, so ungeheuerliche Dinge wie „Brennt in der Hölle, ihr Schweine!“ Gemeint sind natürlich die Russen. Diese bezeichnet er, wie die Onlineausgabe der „Zeit“ und das Internetportal „Telepolis“ berichtet haben, nicht nur als „Schweine“, sondern auch als „Hunde“, „Verbrecher“, „Tiere“ und „Unrat“. Auch bezeichnet er die Russen als „Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten.“

Ob die Jury des Deutschen Buchhandels Zhadans Bücher, bevor sie ihm den Friedenspreis verliehen hat, auch tatsächlich gelesen hat? Wenn nicht, wäre es schlimm. Wenn ja und sie ihm dennoch den Preis zugesprochen hätte, wäre es noch viel schlimmer. Denn das Schüren von Feindbildern und von Hass ist das Allerletzte, was dem Frieden dienlich ist, und das Allerletzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen können. Ja, Hass und Feindbilder sind gegenwärtig eine bittere Realität, leider. Aber Literatur, und erst recht eine preisgekrönte Literatur, sollte nicht einfach ein Abbild der Realität sein. Literatur und Kriegstreiberei müssten sich in ihrem tiefsten Wesen widersprechen. Literatur muss über die Realität hinausragen, neue Perspektiven der Menschlichkeit eröffnen, Brücken schlagen statt sie zu zerstören, dem Hass die Liebe entgegensetzen, der Intoleranz die Toleranz, dem Feindbilddenken die Feindesliebe. Dann, ja dann hätte sie einen Friedenspreis verdient.

Zurück zum „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022, der hier stellvertretend für wohl zahllose weitere westliche Medien steht, die über die Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan berichtet haben: Auf einer ganzen Zeitungsseite lang ist Zhadans Dankesrede abgedruckt worden, aber vergebens sucht man einen redaktionellen Kommentar, der auf die dunkle, hässliche, russenfeindliche, rassistische Seite des Preisträgers hätte hinweisen können. Im Gegenteil: Der Text trägt, in grossen Lettern, den Titel „Weil wir unbedingt Frieden wollen“. Und darunter das Bild von Zhadan, wie er mit gefalteten Händen dasteht, so als würde er für den Frieden beten. Wenn es stimmt, dass sich immer mehr Menschen nur noch aufgrund von Schlagzeilen und Bildern informieren, dann hat es wieder einmal funktioniert in diesen düsteren Zeiten, wo uns sogar übelste Kriegspropaganda in Form preisgekrönter Literatur schmackhaft gemacht wird. 

Wenn das, was russische Medien betreiben, Kriegspropaganda ist, was ist dann das, was westliche Medien betreiben, wenn sie uns Menschen, die einem ganzen Volk Hass und abgrundtiefe Verachtung entgegenbringen, als Friedensengel, Freiheitskämpfer und Helden verkaufen – und sich schon bald niemand mehr vorzustellen wagt, es könnte alles auch ganz anders sein?

Der Rücktritt der britischen Premierministerin Liz Truss und weshalb sich Probleme, die durch den Kapitalismus entstanden sind, nicht mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen…

 

„Helen O’Connor“, berichtet die schweizerische „Wochenzeitung“ an 20. Oktober 2022, „kam 1990 aus Irland nach London, um sich zur Krankenpflegerin ausbilden zu lassen. Damals seien die Arbeitsbedingungen und die Löhne noch richtig gut gewesen. Aber in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sie miterlebt, wie der National Health Service (NHS) nach und nach zurechtgestutzt, auf Spardiät gesetzt und teilprivatisiert wurde. Die Stipendien sind um rund zwei Drittel gekürzt worden, sodass sich angehende Pflegerinnen und Pfleger heute verschulden und ihr Studiendarlehen zurückzahlen müssen. Jedes Jahr geben etwa ein Viertel der Studierenden auf, derzeit sind in der Pflege rund 40’000 Stellen nicht besetzt. Für jene, die im Job bleiben, wird es immer schwieriger. Nicht nur müssen sie aufgrund des Personalmangels härter arbeiten, die Sparprogramme der vergangenen Jahre haben auch dafür gesorgt, dass die Reallöhne laufend geschrumpft sind. Zudem sind durch die steigende Inflation unzählige NHS-Angestellte selber hilfsbedürftig geworden. In manchen Spitälern gibt es schon sogenannte Hygienebanken, wo sich die Angestellten mit gespendeten Toilettenartikeln versorgen können.“

Doch nicht nur im Gesundheitswesen, auch in vielen anderen Branchen ächzt und stöhnt das Land an allen Ecken und Enden. „Im Frühsommer“, so die „Wochenzeitung“, „hat die grösste Streikwelle seit Jahrzehnten begonnen. In unzähligen Sektoren haben die Leute die Arbeit niedergelegt, um angesichts der steigenden Inflation für höhere Löhne zu kämpfen, an manchen Tagen wurde das Land praktisch lahmgelegt. Das landesweite Bahnnetz ist seit Juni bereits an acht Tagen stillgestanden. Die Dockarbeiterinnen und Dockarbeiter von Liverpool und Felixstowe – dem grössten Containerhafen des Landes – haben zum ersten Mal seit den Neunzigerjahren gestreikt. Auch über 100’000 Pöstlerinnen und Pöstler der Royal Mail sind zum ersten Mal seit 13 Jahren in den Ausstand getreten. Dazu kommen Arbeitsniederlegungen von Müllarbeitern, Unilektorinnen, Strafverteidigern, Reinigungspersonal und Callcenterangestellten. Bald könnten sich auch Hebammen, Zivilbeamte und Feuerwehrleute der wachsenden Bewegung anschliessen.“ Diese Entwicklung lässt sich nicht erst seit dem Brexit, der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg beobachten, wenngleich dadurch die bereits zuvor herrschenden Missstände zweifellos zusätzlich verschärft worden sind.

Gleichzeitig geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf: 177 Milliardäre gibt es inzwischen in Grossbritannien. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen knapp die Hälfte aller Vermögen, während Millionen von Menschen nur noch dank den Verteilstationen mit Gratisessen überleben können und kürzlich sogar die Meldung Schlagzeilen machte, Schulkinder würden, um den ärgsten Hunger zu stillen, ihre Radiergummis essen. Das Gleiche zeigt sich auch in anderen „wohlhabenden“ Ländern des Westens, wenn auch nicht überall im gleichen Ausmass. Überall vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr. Selbst in einem so „reichen“ Land wie der Schweiz, wo über 700’000 Menschen von Armut betroffen sind, während sich die Vermögen der 300 Reichsten in nur gerade einem einzigen Jahr schon wieder um mehr als 100 Milliarden Franken vergrössert haben. Dies alles kann kaum purer Zufall sein. Nein, letztlich ist der Hauptschuldige an dieser Entwicklung nichts und niemand anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, seine Profit- und Wachstumsideologie, sein Zwang, aus den Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung herauszupressen und die aus alledem resultierende soziale Ungleichheit. 

Das beste Beispiel für die These, dass sich vom Kapitalismus geschaffene Probleme nie und nimmer mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen, ist die soeben zurückgetretene und kläglich gescheiterte britische Premierministerin Liz Truss. Wie in einem schlechten Film vergangener Zeiten wehrte sie sich bis zuletzt erbittert gegen höhere staatliche Zuschüsse an Notleidende und wollte Steuersenkungen ausgerechnet für die Reichen durchboxen, um, so ihre Begründung, Wirtschaftswachstum zu fördern. Im Unterhaus verkündete Truss noch vor wenigen Tagen die drei Ziele ihres Regierungsprogramms, sie lauteten schlicht und einfach „Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum“. Ob ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass Wachstum der Wirtschaft, des Bruttosozialprodukts und des Geldes im Kapitalismus stets auch Wachstum von Armut, Hunger, Elend und Verzweiflung bedeuten? „Probleme“, sagte schon Albert Einstein, „lassen sich niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“ Ist das so schwer zu begreifen?

Vielleicht wird ja in einem Geschichtsbuch des Jahres 2100 zu lesen sein, dass am 20. Oktober 2022 das Ende des kapitalistischen Zeitalters eingeläutet worden sei, an dem Tag, an dem zum wiederholten Male und in immer kürzerer Folge eine britische Regierung, sich an längst hinfällig gewordenen Dogmen festklammernd, gescheitert war. In diesem Land, wo der Kapitalismus nicht nur sein Ende fand, sondern wo er auch, mit dem transatlantischen Sklavenhandel und den aus ihm herausgequetschten Gewinnen als Grundstein für die beginnende kapitalistische Weltordnung, begonnen hatte. Wenn die heutigen Krisen etwas Gutes haben könnten, dann dies: Dass die Einsicht, dass nur eine Überwindung des Kapitalismus den Weg zu einer gerechten, friedlichen und lebenswerten Zukunft freimachen kann, immer stärker und unaufhaltsamer um sich greifen wird. Doch „der Kapitalismus“, so der französische Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selber zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Pilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“  

Luisa Neubauer bei „Markus Lanz“: Eigentlich wäre nicht Luisa Neubauer ein Fall für den Verfassungsschutz, sondern all jene, die sich immer noch keinen Deut darum kümmern, den Klimawandel in den Griff zu bekommen.

 

18. Oktober 2022, ZDF, „Markus Lanz“: Auf den Einwand, klimapolitische Massnahmen bräuchten Zeit und seien nicht von heute auf morgen umzusetzen, sagt die Klimaaktivistin Luisa Neubauer: „Die Wahl zwischen Zeit und Demokratie haben wir nicht. Wenn wir die fundamentalen Krisen dieser Zeit nicht in den Griff bekommen, wie stellen Sie sich dann vor, sollen intakte Demokratien in einer zwei Grad wärmeren Welt aussehen, in der uns die Krisen um die Ohren fliegen, von Notstand zu Notstand.“ Auf diese Aussage hagelt es in den sozialen Medien Kritik bis hin zu Beschimpfungen übelster Art, gipfelnd in der Aussage, die Worte von Luisa Neubauer zeugten von „Demokratieverachtung“ und wären ein Fall für den „Verfassungsschutz“. Auch die schweizerische „Weltwoche“ mischt sich in die Diskussion ein und schreibt: „Wieder einmal schürte die deutsche Klima-Zelotin Panik und legitimierte das Aushebeln der Demokratie.“ 

Dabei wäre die Aussage von Luisa Neubauer doch der beste Anlass, um über das Wesen der Demokratie in unserer so krisenvollen Zeit vertieft nachzudenken. Sie sagt ja mit keinem Wort, dass die Demokratie falsch wäre. Sie sagt nur, dass die herkömmlichen demokratischen Abläufe viel zu schwerfällig seien und wir diese Zeit, bevor wir von den schlimmsten Folgen des Klimawandels eingeholt würden, schlicht und einfach nicht mehr hätten. Demokratie ist gut und wichtig, aber nur, wenn sie dazu dient, das Überleben der Menschheit auch noch in zwanzig oder fünfzig Jahren zu gewährleisten. In einer echten Demokratie müssten auch alle zukünftig Geborenen eine Stimme haben, ja in letzter Konsequenz auch alle Tiere und Pflanzen. Eine Demokratie, welche dies alles nicht berücksichtigt, ist keine echte Demokratie, sondern eine Diktatur der heute Lebenden über die zukünftig lebenden Menschen, eine Diktatur der reichen Menschen des Nordens über die armen Menschen des Südens, die vom Klimawandel weit stärker betroffen sind, obwohl sie weitaus weniger dafür verantwortlich sind, eine Diktatur der Interessen des Kapitals und der Profitmaximierung über die Interessen der Menschen und der Natur. Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes besagt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die zukünftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Wer der Meinung ist, Luisa Neubauer sei ein Fall für den Verfassungsschutz, hat diesen Gesetzesartikel offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen. Eigentlich wäre nicht Luisa Neubauer ein Fall für den Verfassungsschutz, sondern all jene, die sich immer noch keinen Deut darum kümmern, den Klimawandel mit allen nur erdenklichen Mitteln in den Griff zu bekommen.

Zu Recht weisen Luisa Neubauer und andere Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten immer wieder darauf hin, dass nicht Massnahmen gegen den Klimawandel, sondern, im Gegenteil, die Unterlassung solcher Massnahmen das eigentlich Undemokratische sind. Denn sollten die schlimmsten Zukunftsszenarien Wirklichkeit werden, dann werden derart gravierende Verteilkämpfe und soziale Unruhen ausbrechen, dass die Beibehaltung demokratischer Verhältnisse irgendwann wohl nur noch eine schöne Erinnerung an längst vergangene Zeiten sein wird. Möglichst rasche und effiziente Massnahmen gegen den Klimawandel sind daher die einzige und beste Garantie für die Weiterführung der Demokratie. „Die Demokratie“, so Luisa Neubauer bei „Markus Lanz“, „ist eines der wichtigsten Werkzeuge, die wir haben. Die Menschen mit ihren Ideen und ihrem Wissen, das ist das heilige Gut, das wir haben. Sie zu schützen, ist doch das Innerste von dem, wofür wir einstehen.“ Ob jene, die sich wie Aasgeier auf einzelne herausgepickte Sätze von Luisa Neubauer gestürzt haben, diese Sätze ebenso aufmerksam und wissbegierig zur Kenntnis genommen haben? Und ob all jenen, die ständig das Wort Demokratie im Munde führen, wohl bewusst ist, dass sie sich selber, indem sie andere Menschen beleidigend und beschimpfend an den Pranger stellen, höchst undemokratisch verhalten? Vielleicht werden sie ja doch noch eines Tages dafür dankbar sein, dass junge Menschen wie Luisa Neubauer ihre ganze Lebenskraft, ihr ganzes Verantwortungsbewusstsein, ihre ganzen Talente und Begabungen Tag für Tag hingeben, um aus der Erde einen Ort zu machen, wo es auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch eine lebenswerte Zukunft gibt. 

Der Krieg in der Ukraine: Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit…

 

„Der kleine Ort Kupjansk südlich von Charkiw“, so lese ich im „Tagesanzeiger“ vom 19. Oktober 2022, „war ein halbes Jahr von der russischen Armee besetzt, und wenn man der 63jährigen Natalja Alexejewa glauben will, war das keine schlechte Zeit, besser zumindest als heute, nach der Befreiung durch die ukrainische Armee.“ Sie hätte immer alles gehabt, so die 63Jährige, Gas, Telefon, Fernsehen, und die russischen Soldaten hätten sich „vorbildlich benommen.“ Die zuvor praktisch unbeschädigte Stadt hätte erst durch den Einmarsch der Ukrainer gelitten: Der Markt läge jetzt in Trümmern und sei geplündert worden, die Strassen aufgerissen und viele Häuser beschädigt.

Meldungen solcher Art kommen in den westlichen Mainstreammedien, wo die Russen stets als die „Bösen“ und die Ukrainer als die „Guten“ dargestellt werden, nur selten vor. Doch dieses einseitige Bild von den „Bösen“ und den „Guten“ bekommt schnell einmal Risse, wenn man sich die Mühe nimmt, hinter die Fassade der vermeintlichen „Wahrheit“ zu schauen und das gängige Feindbild kritisch zu hinterfragen.

Ein zentraler Punkt ist die Frage nach der Kriegsschuld. Die offizielle, durch die westlichen Mainstreammedien verbreitete Sicht lautet, dass dieser Krieg am 24. Februar 2022 begann und die alleinige Schuld dafür bei Russland liegt. Die für den Westen höchst unangenehme Geschichte, dass dieser Krieg schon viel früher begann und wesentlich vom Westen mitverschuldet wurde, wird tunlichst ausgeblendet: „Im Jahr 2014“, so US-Senator Richard H. Blake, „benötigte die Ukraine finanzielle Hilfe. Russland und die EU unterbreiteten konkurrierende Finanzvorschläge. Die Ukraine entschied sich für das russische Hilfspaket, was eine sofortige Reaktion auslöste. Die CIA und der britische MI6 organisierten einen gewaltsamen Staatsstreich, durch den der rechtmässig gewählte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, gestürzt wurde.“ 

Im Folgenden setzten die USA alles daran, die Ukraine ins westliche Militärbündnis der NATO einzubinden. Dazu der amerikanische Publizist Noam Chomsky: „Ab 2014 begannen die USA und die NATO, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO. Das ist kein Geheimnis. Es war ganz offen. Kürzlich prahlte der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, damit. Er sagte, dies sei genau das, was seit 2014 geschehen sei, eine sehr bewusste, starke Provokation, die zu einer Situation führen würde, die jeder russische Führer als untragbar ansehen müsste.“ Chomsky ist nicht der Einzige, der in der NATO-Osterweiterung eine unnötige und gefährliche Provokation Russlands sah. Schon 1997 hatte der US-Historiker George F. Kennan gewarnt: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Robert Hunter, ehemaliger NATO-Botschafter der USA, teilte diese Auffassung: „Die Hauptschuld an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs trifft die USA, insbesondere wegen der Expansion der NATO.“ Und sogar die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gab bereits im Jahre 2008 zu bedenken: „Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“

Die geplante NATO-Osterweiterung bis an die Grenze Russlands ist nicht, wie es immer wieder beschönigend heisst, ein Bündnis zu reinen Verteidigungszwecken. Dass Russland allen Grund hatte, sich dadurch bedroht zu fühlen, können wir uns leicht vergegenwärtigen, wenn wir uns für einen Moment vorstellen, Kanada und Mexiko würden sich militärisch mit Russland verbünden – kaum auszudenken, dass die USA dies sang- und klanglos akzeptieren würden. Dass die NATO mehr ist als ein reines Verteidigungsbündnis, geht auch aus folgenden Worten des ehemaligen US-Sicherheitsberaters MacGregor hervor: „Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen.“ Noch deutlicher äusserte sich Zbigniew Brzezinski, ebenfalls ehemaliger US-Sicherheitsberater: „Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ Und sagte nicht unlängst auch die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, Ziel müsse es sein, Russland zu „ruinieren“?. Bei alledem soll sich Russland allen Ernstes vom Westen nicht bedroht fühlen? 

Trotz alledem wäre, wie der US-Ökonomie Jeffrey Sachs meint, ein Friedensschluss sogar noch im März 2022 durchaus in Reichweite gelegen: „Es gibt allerdings einen Ausweg, der offen zutage liegt: Dass die NATO sagt, wir nehmen die Ukraine nicht in die NATO auf. Diese Lösung hätte den Krieg verhindert und sie hätte den Krieg bereits im März zu einem Ende gebracht, als Russland und die Ukraine unter der Vermittlung der Türkei bei einer Lösung nahe waren und das auch öffentlich sagten. Ich bin der Auffassung, dass die USA diese Verhandlungslösung verhindert haben.“ Ähnlich äussert sich der SPD-Politiker Klaus Dohnany, der darauf hinweist, dass Putin noch im Dezember 2021 die US-amerikanische Regierung ersucht habe, bezüglich den Status der Ukraine Gespräche aufzunehmen, was Präsident Biden mit der Begründung, zu diesem Thema gäbe es keinen Verhandlungsspielraum, zurückgewiesen hätte. Wäre es zu Verhandlungen gekommen, so Dohnany, hätte der Ukrainekrieg wahrscheinlich verhindert werden können. 

„Schneiden Sie mit einem Rüstmesser, ausgehend oben von der Mitte des Kreises, schräg nach rechts unten an den Rand der runden Standfläche“, so Leserbriefschreiber F.M. im „Tagesanzeiger“ vom 19. Oktober 2022. Und weiter: „Dasselbe wiederholen Sie symmetrisch nach links unten. Was sehen Menschen vom Rest des Korkzapfens? Von vorne und hinten: ein Dreieck. Von rechts und links ein Rechteck und von oben und unten einen Kreis. Alle haben recht und behaupten, im Besitze der Wahrheit zu sein. Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit.“ Dem ist nichts beizufügen.

Grosse Unzufriedenheit vieler Beschäftigter mit ihrer Arbeitssituation und weshalb die Sehnsucht nach sinnerfüllter Tätigkeit nicht bloss ein schöner, unerfüllter Wunschtraum bleiben sollte…

 

Gemäss einer Umfrage des Beratungsunternehmens PwC ist nur die Hälfte aller Berufstätigen in der Schweiz mit ihrem Job zufrieden. Begründet wird dies mit dem Wunsch nach mehr Lohn und einer „erfüllenden Tätigkeit“. Und laut einer vom Institut LINK im Auftrag von JobCloud im August 2022 durchgeführten Umfrage sind es sogar nur 40 Prozent, welche ihren Job lieben. Arbeitnehmende, so das Fazit der Studie, strebten vor allem nach „persönlicher Entfaltung“ und einer „sinnstiftenden Tätigkeit“, sie wünschten sich „mehr Autonomie“ sowie „Sicherheit am Arbeitsplatz“; die „Liebe zum Beruf“ bleibe oft auf der Strecke. „Wir wissen“, so Daniel Villa, CEO von JobCloud, „dass die Sinnhaftigkeit im Job zu grösserer Zufriedenheit in allen Bereichen führen kann. Wer einen Job findet, den er liebt, wird nicht mehr das Gefühl haben, arbeiten zu müssen.“

Es gibt wohl eine ganze Reihe von Gründen, die dazu führen können, dass viele Jobs unattraktiv sind und nicht jene „sinnstiftende und erfüllende Tätigkeit“ erlauben, welche sich die meisten Menschen zu wünschen scheinen. Da bleibt eben die „Liebe zum Beruf“, die in allen Lebensbereichen zu grösserer Zufriedenheit führen könnte, nur allzu oft auf der Strecke. 

So ist es zum Beispiel die Monotonie mancher beruflichen Tätigkeit, die einer Sinnerfüllung im Wege stehen kann. Wenn die Fabrikarbeiterin acht oder neun Stunden täglich nichts anderes tut, als Kartonstücke zu Schachteln zusammenzufalten, oder wenn man von früh bis spät vor dem Bildschirm sitzt und nichts anderes tut, als eingegangene Zahlungen zu kontrollieren, dann handelt es sich hierbei wohl kaum um Tätigkeiten, die etwas mit „Liebe zum Beruf“ zu tun haben könnten. Oder wenn man, wie das Zimmermädchen im Hotel oder der Paketbote, permanent unter einem immensen Zeitdruck arbeiten muss, dann versteht man den Wunsch der betroffenen Beschäftigten nach einem Jobwechsel nur allzu gut. Oder wenn man, wie die Malerin, der Koch oder der Landarbeiter auf dem Gemüsefeld, extremen körperlichen Belastungen ausgesetzt ist, dann liegt es nahe, sich nach einer weniger anstrengenden Arbeit umzusehen. Auch der Bauarbeiter, der bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte schwerste körperliche Arbeit zu verrichten hat, träumt begreiflicherweise nicht selten von einer weniger strengen Arbeit in einem gut geheizten oder gut klimatisierten Raum. Auch der Wettbewerbsdruck am Arbeitsplatz, das permanente Vergleichen und Bewerten der Umsatzzahlen der einzelnen Angestellten, wie es zum Beispiel in der Verkaufsbranche üblich ist, trägt wohl kaum dazu bei, „Liebe zur Arbeit“ möglich zu machen, dies umso weniger, als mit den Ranglisten an jedem Monatsende stets auch die Angst verbunden ist, den Arbeitsplatz möglicherweise zu verlieren. Schliesslich kann auch übergrosse Verantwortung, wie sie leitende Angestellte oder Chefs und Chefinnen von Unternehmen zu tragen haben, dazu führen, dass die tägliche Arbeit nicht so sehr als „sinnstiftende Tätigkeit“, sondern als oft geradezu unerträgliche Belastung wahrgenommen wird. Alle diese Faktoren bedeuten nicht nur individuelle Unzufriedenheit vieler Berufstätiger, sondern wirken sich letztlich auf alle Lebensbereiche aus, haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und tragen möglicherweise auch wesentlich zu den steigenden Gesundheitskosten bei.

Schon der russische Schriftsteller Leo Tolstoi beschäftigte sich vor über 120 Jahren mit diesem Thema. Er schrieb: „Das einzige Mittel, um zu leben, ist Arbeit. Um arbeiten zu können, muss man die Arbeit lieben. Um die Arbeit lieben zu können, muss sie interessant sein.“ Die Arbeit sollte man lieben können. Mit ihr verbringen wir die meiste Zeit unseres Lebens. Sie muss interessant sein, muss unserem Leben einen Sinn geben. Künstlerinnen und Künstler kommen diesem Idealbild wohl am nächsten, auch wenn sie nicht frei sind von ökonomischem Druck, aber wenigstens können sie während ihrer Arbeitszeit einer Tätigkeit nachgehen, bei der Selbstverwirklichung im besten Sinne möglich ist.

In einer idealen Welt würden aber nicht nur Künstlerinnen und Künstler, sondern alle Menschen ihre Arbeit lieben. Diese ideale Welt lässt sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen, aber wir können uns ihr wenigstens schrittweise nähern. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, all jene Jobs, die am wenigsten Freude machen, umzulagern in eine Art von „Gemeinschaftsdienst“. Konkret: Gearbeitet wird in sämtlichen Jobs nur noch vier Tage pro Woche, am fünften Tag leisten alle einen Arbeitseinsatz in einem jener „Knochenjobs“, die niemand erledigen würde, wenn er freiwillig wählen könnte, von der Kehrichtabfuhr über die Strassenreinigung bis zur Landarbeit, von Hilfsarbeiten in der Fabrik über das Saubermachen öffentlicher Toiletten bis zu Aufräumarbeiten im Wald. So könnten die am wenigsten begehrten Jobs eliminiert bzw. auf möglichst viele Schultern gleichmässig verteilt werden. Und vielleicht würde das sogar diese Jobs ein wenig erträglicher machen, wenn man sie nur während eines einzigen Tages pro Woche verrichten würde und niemand mehr gezwungen wäre, sie Tag für Tag bis zur Pensionierung auszuüben.

Der zweite Schritt würde in der Einführung eines generellen Mindestlohns bestehen, zum Beispiel im Umfang von 5000 Franken monatlich. Einen wesentlichen Faktor von beruflicher Unzufriedenheit bilden nämlich die gigantischen Lohnunterschiede, von denen ausgerechnet all jene betroffen sind, welche die unattraktivsten Tätigkeiten verrichten. Wie soll jemand mit seiner Berufssituation zufrieden sein, wenn er, obwohl er schwerste Arbeit verrichtet, mit ansehen muss, dass andere, die viel weniger strenge Arbeit verrichten, dennoch fünf oder zehn Mal mehr verdienen. Ein solcher Mindestlohn wäre nichts mehr als eine reine Selbstverständlichkeit und würde auf der simplen Idee beruhen, dass es für den Erfolg von Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes sämtliche berufliche Tätigkeiten braucht und dass deshalb auch alle an diesem Erfolg angemessen beteiligt werden müssen. 

Der dritte Schritt würde darin bestehen, dass die wöchentlichen Arbeitszeiten – ohne Abzug vom Lohn – in der Weise abgestuft würden, dass Jobs mit übermässiger psychischer oder körperlicher Belastung während einer geringeren Arbeitszeit ausgeübt werden müssten. Dies würde bedeuten, dass zum Beispiel ein Koch pro Woche einen Tag weniger arbeiten müsste und dennoch den vollen Lohn hätte. Dies würde freilich die Attraktivität der jeweiligen beruflichen Tätigkeiten nicht erhöhen, aber sie würde eine enorme Erleichterung mit sich bringen und den Betroffenen mehr Freizeit und Erholungsmöglichkeiten verschaffen.

Zu Recht stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie man das denn alles finanzieren könnte und woher das nötige Geld kommen sollte. Erstaunlicherweise stellt aber niemand die Frage, woher denn das viele Geld kommt, welches all jene Menschen verdienen, für die Monatslöhne von über 10’000 Franken ganz selbstverständlich sind, bis hin zu den Millionensalären der Spitzenverdiener. So lange in einem Land wie der Schweiz schon mehr Geld durch den Besitz von Aktien verdient wird als durch Arbeit, müsste eigentlich genügend Geld vorhanden sein, um anständige Mindestlöhne und innovative, menschenfreundliche Arbeitsmodelle zu verwirklichen. „Geld“, sagte der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist in Hülle und Fülle vorhanden wie Dreck, es ist nur am falschen Ort.“ Was Geissler auf Deutschland bezog, gilt für die Schweiz erst recht.

Zurück zu den drei skizzierten Schritt auf dem Weg zu jener idealen Welt, in der nicht nur ein paar wenige, sondern alle Menschen in ihrer „sinnstiftende Erfüllung“ fänden. Freilich würden diese drei Schritte noch längst nicht genügen. Denn das Grundproblem ist das kapitalistische Leistungsprinzip, wonach jeder und jede Einzelne, jedes Unternehmen und jede Branche permanent in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen, der jedes Unternehmen dazu zwingt, das Optimum aus den arbeitenden Menschen herauszuquetschen, auf Kosten ihrer Zufriedenheit, ihres Anspruchs auf lebenswerte Arbeitsbedingungen und ihrer Gesundheit. Nur eine Transformation vom Konkurrenzprinzip hin zum Prinzip der Gemeinschaft und der Kooperation kann Verhältnisse schaffen, in der „sinnstiftende“ Arbeit vollumfänglich möglich wird. Eine solche Forderung mag hier und heute utopisch oder geradezu naiv klingen. Doch letztlich ist sie weit weniger naiv als die Idee, eine Arbeitswelt, in der immer mehr Menschen in ihrer täglichen Arbeit keinen Sinn und keine Erfüllung ihres Lebens mehr finden, sei eine erfolgversprechende Voraussetzung für eine gesunde und lebenswerte Zukunft für uns alle.   

Hätte man die Anliegen und Visionen der Klimabewegung früher ernstgenommen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Autobahnen setzen und an Brückengeländern festkleben…

 

14. Oktober 2022. Eine Frau sitzt auf der Strasse. Vor ihr baut sich ein Lastwagen auf. Es ist keine junge Klimaaktivistin, sondern die 48jährige Mutter und Universitätsprofessorin Julia Steinberger, die da den Verkehr blockiert. Es ist die sechste Aktion der Kampagne Renovate Switzerland innert zehn Tagen in der Schweiz. Die Sympathisantinnen und Sympathisanten agieren stets nach dem gleichen Muster. Sie tragen orange Signalwesten, setzen sich hin, halten Plakate noch, verursachen einen Stau. Sie warten, bis Polizisten sie von der Strasse tragen und verhaften…

„Blockaden“, sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli in der „NZZ am Sonntag“ vom 16. Oktober 2022, „stellen Nötigungen und Störungen des öffentlichen Verkehrs dar. Wenn man deliktisches Handeln als Aktivismus oder zivilen Ungehorsam bezeichnet, verlässt man die Ebene des Rechts und begibt sich auf diejenige der Politik.“ Und die ETH empfiehlt ihren Angestellten, „mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen zurückhaltend zu sein, denn eine klare politische Positionierung kann Ihrer Glaubwürdigkeit als unabhängige Forscher beeinträchtigen.“

Als begänne Politik erst in dem Augenblick, wo sich jemand in einer orangen Weste auf die Strasse setzt und den Verkehr behindert. Tatsache ist doch, dass alles Politik ist. Nicht nur die Sympathisantinnen und Sympathisanten von Renovated Switzerland und ähnlichen Gruppierungen sind Aktivistinnen und Aktivisten, wir alle sind Aktivistinnen und Aktivisten, ob wir wollen oder nicht, die Frage ist nur, auf welcher Seite wir stehen – auf der Seite des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums festhält und auf dem besten Wege ist, unseren Planeten an die Wand zu fahren, oder auf der Seite jener, die immer verzweifelter dagegen ankämpfen und immer häufiger zu Methoden greifen, die an die Grenze der „Legalität“ gehen, nicht weil ihnen das so viel Spass macht, sondern weil alles, was sie vorher versucht haben, bis jetzt nichts genützt hat. Und auch all jene, die sich angesichts dieser Polarisierung in vornehmes Schweigen und Passivität hüllen, auch sie sind Aktivisten und Aktivistinnen, ob sie wollen oder nicht. Denn auch Schweigen ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für die Beibehaltung des bestehenden Macht- und Denksystems und dass sich daran nur ja nichts grundlegend ändern soll. Denn, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sagt: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Und auch der deutsche Schriftsteller Erich Kästner kam zum gleichen Schluss: „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur jene Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.“

Das führt uns zur Frage, was denn „legal“ und was „illegal“ sei. Ist es „legal“, so viele Rohstoffe zu verschleudern und so viel CO2 in die Luft zu blasen, dass schon in wenigen Jahrzehnten halbe Erdteile unbewohnbar sein werden? Ist es „illegal“, sich in einer orangen Weste auf eine Strasse zu setzen und friedlich gegen die unaufhörlich wachsenden Verkehrslawinen zu protestieren? Oder ist es möglicherweise genau umgekehrt? „Falsch“, sagte Leo Tolstoi, „hört nicht auf, falsch zu sein, weil die Mehrheit daran beteiligt ist.“ „Normales“ – im Sinne dessen, was die überwiegende Mehrheit der Menschen tun und denken – und „Legales“ – im Sinne übergeordneter Menschenrechte – brauchen ganz und gar nicht identisch zu sein. So heisst es zum Beispiel im Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung: „Die schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.“ Und im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht sogar: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Versagt der Staat in dieser existenziellen Verpflichtung, dann müsste man doch wenigstens sämtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Klima- und Umweltbewegungen das Recht zugestehen, genau das zu praktizieren, was in der Verfassung des Staates steht, aber von eben diesem Staat missachtet und versäumt wird.

„Wo Unrecht zu Recht wird“, sagte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „wird Widerstand zur Pflicht.“ Es ist schon interessant. Täglich verfolgen wir gegenwärtig die Geschehnisse im Iran, wo Mädchen und Frauen unter Lebensgefahr auf die Strassen gehen und gegen das frauenfeindliche Regime der Mullahs protestieren. Und unsere Sympathien sind ungeteilt auf der Seite dieser mutigen und so starken Bewegung. Auch all jene russischen Männer, die sich der von Putin angeordneten Mobilmachung verweigern, geniessen unsere Sympathie. Wenn aber junge Frauen und Männer hierzulande auf die Strasse gehen, um gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen anzukämpfen, begegnen wir ihnen mit Ablehnung und mit der moralischen Belehrung, sie hätten sich gefälligst an unsere demokratischen Spielregeln zu halten. Fällt es uns so viel schwerer, Demokratie im eigenen Land zu praktizieren, als demokratischen Bewegungen in anderen Ländern zuzujubeln?

Unkonventionelles, Störendes, „Illegales“, Widerspenstiges sollte doch nicht in allererster Linie dazu da sein, im Namen falsch verstandener „Legalität“ bekämpft und an den Pranger gestellt zu werden, sondern müsste im Gegenteil dazu dienen, die Gesellschaft permanent von innen her zu erneuern. So viele Eltern berichten davon, wie viel sie von ihren Kindern gelernt hätten, durch ihre offenen, kritischen, unbequemen und ehrlichen Fragen, ihrem Widerstand, dem Durchbrechen von Normen. Genau das wäre doch die Aufgabe einer Gesellschaft als Ganzes, denn nicht der blinde Gehorsam bringt die Menschen voran, sondern der Ungehorsam, der alles immer wieder von Neuem in Frage stellt. Hätte man den Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung schon vor drei oder vier Jahren aufmerksamer zugehört, hätte man sie ernstgenommen, wäre man auf ihre wunderbaren Visionen einer friedlichen und lebenswerten Zukunft eingegangen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Strassen setzen und an Brückengeländern festkleben und warten, bis sie von der Polizei weggetragen werden und alle mit den Fingern auf sie zeigen…

Keine US-Mikrochips nach China: „Eine Strangulierung mit der Absicht zu töten“…

 

„Der Handel mit China wird zur Waffe“, titelt das schweizerische „Tagblatt“ am 15. Oktober 2022. Es geht um die massive Beschränkung der Exporte von Superchips aus den USA nach China. Dies, so der Ökonomienobelpreisträger Paul Krugman, sei die „derzeit grösste geopolitische Story: das harte Vorgehen gegen die chinesische Halbleiterindustrie.“ Und das „Center for Strategic and International Studies“ meint, Biden bezwecke die „Strangulierung grosser Teile der chinesischen Technologieindustrie, eine Strangulierung mit der Absicht zu töten.“ Das sieht auch der EU-Chefdiplomat Josep Borrell nicht anders: Die Welt, die gerade entstehe, so Borrell, werde geprägt durch die strategische Rivalität zwischen den USA und China, es sei „eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird, alles: Energie, Investitionen, Informationen oder Migrationsströme.“

Handel als Waffe. Den Konkurrenten strangulieren. Ihn töten. Eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird. Unwillkürlich erinnert man sich bei diesen Worten an eine Aussage der deutschen Aussenministerin Analena Baerbock, die unlängst erklärte, Ziel müsste es sein, die russische Wirtschaft zu „ruinieren“. Doch was bleibt am Ende übrig, wenn sich alle gegenseitig stranguliert und ruiniert haben, sei es mit Bomben, Raketen und Panzern, sei es mit den „friedlichen“ Mitteln von Handel, Wirtschaft und Wettbewerb?

Eine Wirtschaft, die dazu dient, andere zu strangulieren und zu ruinieren, ist so ziemlich die äusserste und letzte Perversion, die dem „Homo sapiens“ in den Sinn kommen kann. Jedes Eichhörnchen, das im Sommer Nüsse sammelt, um im Winter einen genug grossen Vorrat zu haben, versteht mehr von Wirtschaft als Politikerinnen und Wirtschaftsführer, die ökonomisches Handeln dafür missbrauchen, anderen Schaden zuzufügen und die Existenzgrundlage anderer Menschen, Völker oder Staaten zu zerstören. Wirtschaft hätte keine andere Aufgabe, als jedem Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Sicherheit und Wohlergehen zu gewährleisten, ohne übertriebenen Reichtum und ohne übertriebene Armut und im Einklang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, so dass dieses Wohlergehen auch für alle kommenden Generationen gewährleistet ist. Was jedes Land aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften kann, soll es aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften, nicht zuletzt, um die Transportwege für die Güter möglichst kurz zu halten. Was ein Land aus eigener Kraft nicht zu produzieren und zu erwirtschaften vermag, soll zwischen den Ländern in gegenseitigem Einvernehmen und zu fairen Preisen ausgetauscht werden. Fairer Handel bei gleichzeitig grösstmöglicher Sparsamkeit zwecks Schonung der natürlichen Ressourcen müsste die Devise sein. Dies wäre das Gegenteil des heute weltweit herrschenden Wachstumszwangs, der alle Länder in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt und ausgerechnet jene Länder mit einem hohen Bruttosozialprodukt und einem überdurchschnittlichen Lebensstandard belohnt, denen es am besten und am skrupellosesten gelingt, andere für sich auszubeuten und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Unbegreiflich. Was an Liebe, Solidarität, Teilen und gegenseitiger Anteilnahme in jeder Familie und jeder Freundschaft, ob in Brasilien, im Kongo, in Portugal oder in Vietnam, selbstverständlich ist, wird von denen, die in Politik und Wirtschaft weltweit das grosse Sagen haben, Tag für Tag mit Füssen getreten und ins Gegenteil verkehrt. Die ganz „gewöhnlichen“ Menschen beherrschen das Handwerk der Liebe. Weshalb soll das, was sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen so sehr bewährt hat, nicht auch Massstab sein für die ganz grossen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten und Völkern? „Es wird“, sagte Papst Franziskus, „in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.“

Eigentlich wäre es schon mehr als höchste Zeit. Denn die grossen Bedrohungen unserer Zeit von der sozialen Ungerechtigkeit über den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte bis hin zum Klimawandel lassen sich schon längst nicht mehr in der Weise lösen, dass jedes Land auf eigene Weise vorgeht. „Was alle angeht“, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“ Wenn wir nicht endlich die Grenzen zwischen den Ländern und Völkern und die Grenzen in unseren Köpfen überwinden, dann wird das für die Zukunft der Menschheit wenig Gutes verheissen. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder als Narren miteinander untergehen.“

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Hautfarbe – aber von der Diskriminierung der Werktätigen spricht niemand…

 

90 Organisationen und Vereine beteiligten sich am 18. Juni 2022 an der Zurich Pride, rund 40’000 Menschen waren gekommen um mitzumachen und weit über Zürich hinaus ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, das dieses Jahr den Fokus auf die rechtliche Situation und die Herausforderungen von Trans-Menschen legte. Es sei an der Zeit, so die Organisatorinnen und Organisatoren, dass lesbische, schwule, bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen auch Trans-Menschen unterstützten, denn gerade sie erlebten häufig dann, wenn sie ihre Identität offenbarten, Ablehnung aus der Familie, dem Arbeitsumfeld und der Gesellschaft.

LGTBQ-Aktivistinnen und -Aktivisten kämpfen für die gesellschaftliche Gleichstellung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten. Frauen setzen sich für Lohngleichheit und gegen Benachteiligungen bei der Altersvorsorge ein. Menschenrechtsorganisationen engagieren sich für die Rechte von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Andere prangern die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Alters oder ihres Gesundheitszustandes an. Sie alle kämpfen gegen Diskriminierungen aller Art, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Und das weltweit, denken wir nur an die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA oder, ganz aktuell, an die Protestbewegung iranischer Mädchen und Frauen gegen jegliche Bevormundung und Unterdrückung durch das Mullah-Regime. Eigentlich müssten alle diese Kämpfe längst überflüssig sein, denn schon 1948 wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten: „Alle Menschen haben die gleichen Rechte ohne Unterschied, unabhängig von der ethischen Zugehörigkeit, der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion, des Alters und des Gesundheitszustands.“ Fast 75 Jahre also haben nicht genügt, um dieses so selbstverständliche Ziel zu verwirklichen – umso dringender nötig alle heutigen Bestrebungen, um diesem grundlegenden Recht aller Menschen auf Gleichberechtigung ohne jegliche Diskriminierung doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.

Und doch wären wir auch dann noch immer nicht ganz am Ziel. Denn interessanterweise wird neben der Diskriminierung der Frauen, der Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft oder anderer sexueller Orientierung eine mindestens so weit verbreitete Form von Diskriminierung ganz besonderer Art kaum je thematisiert. Ich meine die Diskriminierung der Werktätigen. Offensichtlich haben wir uns an diese Form der Diskriminierung so sehr gewöhnt, dass sie uns gar nicht mehr besonders stört. Gewiss, es gibt die Gewerkschaften, die sich für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen stark machen. Aber die sprechen kaum je von Diskriminierung, so wie man etwa im Zusammenhang mit Frauen von Diskriminierung spricht.

Und doch ist es Diskriminierung. Und was für eine. Wenn Menschen, die bei Wind und Wetter schwerste körperliche Arbeit verrichten, nur einen Bruchteil jenes Lohnes bekommen, dessen sich andere erfreuen, die behaglich in einem gut geheizten oder klimatisierten Büro sitzen, und wenn im gleichen Land, so wie das beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, die höchsten Einkommen 300 Mal höher sind als die niedrigsten, dann soll das nicht Diskriminierung sein? Was denn sonst? Dass in diesem Zusammenhang kaum je von Diskriminierung gesprochen wird, hat mit mindestens drei Glaubenssätzen zu tun, die sich tief in unser Denken und die öffentliche Wahrnehmung eingefressen haben. Der erste Glaubenssatz lautet: Lohnunterschiede, auch wenn sie noch so hoch sind, lassen sich stets logisch erklären und rechtfertigen. Dieser Glaubenssatz lässt sich durch nahezu jedes Lohnbeispiel auf einen Schlag widerlegen, sind es doch gerade die am schwersten Arbeitenden, die sich mit den niedrigsten Löhnen zufrieden geben müssen. Der zweite Glaubenssatz lautet, dass die schulische Selektion, welche dazu führt, dass das eine Kind später einmal als Bauarbeiter tätig sein wird, das zweite als Floristin und das dritte als Bankdirektor, etwas „Gerechtes“ sei, weil ja bloss die Kinder aufgrund ihrer Begabungen, Stärken und Fähigkeiten ihren zukünftigen Berufswegen zugeteilt würden. Tatsache ist, dass gewisse Begabungen wie Rechnen, Lesen und Schreiben die Türen für eine goldene Zukunft weit öffnen, während diese Türen für jene Kinder, die beispielsweise über viel Phantasie, viel Mitgefühl für Mitmenschen oder überdurchschnittlich grosse Kraft verfügen, auf Nimmerwiedersehen zugeschlagen werden. Ist das nicht eine der schlimmsten Formen von Diskriminierung? Dass angeborene Fähigkeiten und Begabungen dafür missbraucht werden, den zukünftigen Platz auf der Gesellschaftspyramide zu begründen? Der dritte Glaubenssatz lautet: Wer sich genug anstrenge, werde auch Erfolg haben, wer daher keinen Erfolg habe, hätte sich halt zu wenig anstrengt. Tatsache ist, dass das schulische Selektionssystem so angelegt ist, dass stets nur ein Teil der Kinder auf die „obersten“ Plätze gelangen können, ganz unabhängig davon, wie sehr sich die Kinder anstrengen. Eine besonders schlimme Form von Diskriminierung, drückt sie dem Kind, das schon mit dem schulischen Misserfolg fertig werden muss, zusätzlich noch den Stempel auf, es sei selber daran Schuld.

Eine gravierende Form von Diskriminierung erleben auch all jene Menschen, die als „Ausländerinnen“ und „Ausländer“ in unser Land kommen und infolge mangelnder Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen mit Jobs auf den untersten Rängen der Arbeitswelt Vorlieb nehmen müssen. Die Diskriminierung liegt nicht nur darin, dass ihnen Jobs auf den höheren Rängen der Gesellschaftspyramide verwehrt sind, sondern darin, dass sie weit geringer entlohnt sind und weit weniger gesellschaftliche Wertschätzung erfahren als andere, obwohl sie eine so wichtige Arbeitsleistung erbringen, dass ohne sie die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt nicht einen Tag lang funktionieren würde.

Höchste Zeit, eine Brücke zu schlagen von der bisherigen Diskriminierungsdiskussion hin zur Diskussion über alle jene gravierenden Ungleichheiten und Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Arbeitswelt, die weit von jeglichen Menschenrechten und von jeglicher Gleichberechtigung entfernt ist, die uns in Zusammenhang mit Frauenrechten, Rechten von Menschen unterschiedlicher Sexualidentitäten oder anderer Hautfarbe als selbstverständlich erscheinen. Anders gesagt: Erst eine Auflösung der kapitalistischen Klassengesellschaft auf allen Ebenen und damit ein Ende des Kapitalismus vermag der Diskriminierung auf sämtlichen Ebenen der Gesellschaft und der Arbeitswelt ein Ende bereiten. 

Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen.

 

Gemäss einer in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 30. August 2022 veröffentlichten Umfrage halten es 87 Prozent der Deutschen für richtig, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen. 77 Prozent sind der Meinung, dass der Westen Verhandlungen über eine Beendigung des Ukrainekriegs anstossen sollte. Und 62 Prozent finden es falsch, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Ich bin mir fast ganz sicher, dass eine entsprechende Umfrage, würde man sie in anderen Ländern durchführen, ganz ähnliche Resultate erbringen würde. Doch eigentlich bräuchte es nicht einmal gross angelegte Umfragen: Schon der gesunde Menschenverstand würde genügen, um zu wissen, dass du Menschen an jedem beliebigen Ort in jedem beliebigen Land fragen kannst, mit aller grösster Gewissheit würde die überwiegende Mehrheit zur Antwort geben, dass sie lieber im Frieden als im Krieg leben würden. Doch dessen ungeachtet wüten derzeit weltweit über vierzig Kriege und einer davon droht sich im aller schlimmsten Fall zu einem dritten Weltkrieg auszuweiten. Wie ist das möglich, dass die Sehnsucht der überwiegenden Mehrheit aller Menschen und die Realität so weit auseinanderklaffen?

Wenn wir unser Augenmerk auf den Ukrainekrieg richten, dann könnten wir obige Frage vielleicht damit beantworten, dass in einem so autokratisch regierten Land wie Russland die Meinung der Bevölkerung sowieso keine Rolle spiele und eine kleine Machtelite über die Köpfe der Menschen hinweg eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik betreibe. Doch damit würden wir es uns wohl zu einfach machen. Denn auch westliche Länder, allen voran die USA, betreiben seit Jahrzehnten eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik, vom Vietnamkrieg über den Irakkrieg bis zur Osterweiterung der NATO, welche massgeblich zum Ausbruch des Ukrainekriegs beigetragen hat. 

Nein, die Ursachen für das Auseinanderklaffen zwischen der Friedenssehnsucht der allermeisten Menschen und der Tatsache, dass es im Verlauf der neueren Geschichte der Menschheit wohl noch nie eine Zeit ohne Kriege gegeben hat, liegt tiefer. Ich vermute, es hat etwas zu tun mit den Mechanismen der Selektion, die darüber entscheidet, welche Menschen in einer Gesellschaft, auch in einer grundsätzlich demokratischen, in die höheren Positionen und damit an die Schalthebel von Wirtschaft und Politik gelangen. Es sind eben nicht die besonders sanftmütigen, sensiblen, feinfühligen, rücksichtsvollen, hilfsbereiten Menschen, die sich im Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg erfolgreich behaupten, sondern die selbstbewussten, ehrgeizigen, vor allem auf den eigenen Erfolg und das eigene Vorwärtskommen bedachten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sämtliche Politikerinnen und Politiker gefühllos, machtgierig und auf den eigenen Erfolg bedacht sind, aber der Anteil „machtgieriger“ Menschen ist unter Politikern und Politikerinnen zweifellos weitaus grösser als in der Gesamtbevölkerung.

Wenn erst einmal die Machtgierigsten in die höchsten Positionen gelangen, dann wird es brandgefährlich. Denn von der Macht um jeden Preis bis zum Krieg um jeden Preis ist nur noch ein kleiner Schritt. Putin und alle seine Atombomben schwingenden Hintermänner, Selenski und sein mehrheitlich nationalistisches und russenfeindliches Parlament, Biden mit der US-Rüstungsindustrie und massiven wirtschaftlichen Grossmachtinteressen im Hintergrund – man könnte schon sagen: Wehe, wenn sie losgelassen. Dass am Ende in der Hand einer kleinen Minderheit Wildgewordener das Schicksal der gesamten Menschheit liegt, welche sich nichts sehnlicher wünscht als ein gutes Leben in Frieden für alle, ist eine grenzenlose, unsägliche Verachtung all dessen, was Humanität bedeuten könnte und müsste.

Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen. Die Kriegsführer hüben und drüben sind sich viel ähnlicher, als ihnen lieb sein mag. Gegenseitige Drohgebärden, Aufrüstung, Mobilisierung, Eskalation, Vergeltung, Rache, Abschreckung durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen – beide Seiten bedienen sich des exakt gleichen Vokabulars, der exakt gleichen Logik, hantieren mit dem gleichen Arsenal, als wären sie gegenseitige Spiegelbilder. Da kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, ob man nicht am besten Putin, Selenski, Biden und alle anderen Kriegstreiber und Scharfmacher in einen Boxring schicken sollte, wo sie dann ihren finalen Kampf austragen könnten – und der Rest der Menschheit endlich in Frieden weiterleben könnte.

Wenn es tatsächlich so wäre, dass durch eine „falsche“ Selektion die „falschen“ Leute an die Schalthebel der Macht gelangen bis hin zur Schaltzentrale über Krieg und Frieden bis hin zur Schaltzentrale über die Vernichtung oder das Weiterleben der Menschheit, dann gäbe es darauf eigentlich nur eine einzige Antwort: Es braucht einen Aufstand der Sanftmütigen, der Sensiblen, der Hilfsbereiten, der Feinfühligen, der Fürsorglichen. „Jene, die den Frieden wollen“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg wollen.“ Und auch der amerikanische Schriftsteller William Faulkner appellierte an die Friedfertigen und Sanftmütigen: „Scheut auch nicht, eure Stimme für Ehrlichkeit und Wahrheit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben. Wenn die Menschen auf der ganzen Welt dies täten, würde das die Erde tiefgreifend verändern.“ Eine tiefgreifende Veränderung, die nicht nur dem Krieg ein Ende bereiten würde, sondern auch der Anfang wäre eines neuen Zeitalters sozialer Gerechtigkeit, respektvollen Umgangs mit der Natur und eines guten Lebens für alle…