Archiv des Autors: Peter Sutter

Beizensterben – nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag

 

Jetzt hat auch noch die letzte Beiz in unserem Dorf dichtgemacht. Es sei einfach nicht mehr gegangen, klagte der Wirt: zu wenig Personal während der Stosszeiten, zu viel Personal während der übrigen Zeiten, zu hohe Miete, zu hohe Betriebskosten, und als er notgedrungen die Preise hätte erhöhen müssen, seien ihm die Gäste immer öfters ferngeblieben. Jetzt hat unser Dorf von immerhin über 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern kein einziges Restaurant mehr, keine einzige Beiz. Nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag, anders kann man es nicht sagen. Denn Restaurants und Beizen sind mehr als Orte, wo man etwas essen und trinken kann. Sie sind Begegnungsorte, Wohlfühloasen, ja so etwas wie Kulturzentren – fast die einzigen Schauplätze öffentlichen Lebens in einer kleinen Kommune, wo sonst nicht allzu viel los ist. Doch, und das ist das Übel, Restaurants und Beizen können fast nicht rentieren, zu gross ist die Diskrepanz zwischen den Betriebs- und Personalkosten auf der einen Seite, den Einnahmen auf der anderen. Rentieren können höchstens Restaurants, die sich voll und ganz auf ein Luxusangebot konzentrieren und wo genug gut betuchte Gäste bereit sind, für fingerhutgrosse Miniportionen, klitzekleine Salate und edle Weine noch so hohe Summen hinzublättern – und das ist dann genau das Gegenteil jenes Lokals, das angemessene Preise und gutes Essen auch für weniger gut Verdienende anzubieten vermag, Orte, wo sich Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten treffen und wo niemand ausgegrenzt wird, nur weil er weniger Geld in der Tasche hat als ein anderer. Die Lösung? Nun, ich sehe keinen anderen Ausweg als eine Subventionierung von Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand. Wir subventionieren ja auch die Schulen, die Museen, die Kirchen, die Bibliotheken, die Konzert- und Theaterhäuser, die Galerien. Restaurants und Beizen haben mindestens eine so wichtige soziale und kulturelle Funktion wie eine Bibliothek oder eine Kirche. Wer das nicht glaubt, soll sich mal in meinem Dorf umsehen. Seitdem auch noch die letzte Beiz dichtgemacht hat, scheint das Dorf wie ausgestorben zu sein, fast könnte man sagen, es fehle ihm die Seele. Denn Beizen und Restaurants sind auch Orte, wo man nach einem strengen Arbeitstag seine Kräfte wieder auftanken und sich etwas Feines gönnen kann, wo Freundschaften geschlossen oder vertieft werden, wo gelacht, gescherzt und geplaudert wird oder wo Geschäftsleute beim Arbeitslunch wichtige Angelegenheiten besprechen, Verträge abschliessen, sich von anderen inspirieren lassen – kurz: Das Restaurant und die Beiz haben eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und wirken sich auch positiv auf viele andere Arbeits- und Lebensbereiche aus. Doch von diesem Mehrwert, den sie schaffen, sehen sie selber keinen einzigen Rappen – höchstens das Trinkgeld, das der Kellnerin am Ende der Mahlzeit „grosszügigerweise“ gegeben wird. Und es sind ja nicht nur die Restaurants und Beizen in den Dörfern und Städten. Es sind auch die Gaststätten hoch oben in den Bergen, wo die Diskrepanz zwischen den betriebswirtschaftlichen Aufwendungen und den zu erzielenden Einnahmen noch viel krasser ist: An einem schönen Wochenende wollen hundert Touristinnen und Touristen ihr Mittagessen möglichst gleichzeitig auf dem Tisch haben, das Personal in der Küche und im Service arbeitet bis zur Erschöpfung. Bei schlechtem Wetter bleiben die Gäste aus, das Personal muss trotzdem weiter entschädigt werden und eine Unmenge bereits eingekaufter, wertvollster Lebensmittel, die nun nicht gebraucht werden, landen im Müll. Und auch hier hat das Restaurant, obwohl es für die touristische Attraktivität einer Region unerlässlich ist, nicht den geringsten Anteil an jenen Profiten, mit denen sich andere eine goldene Nase verdienen. Zu alledem kommt der Konkurrenzkampf, dem die einzelnen Betriebe im Kampf um die Gunst der Gäste unterworfen sind. Öffnet ein neues Restaurant seine Pforten, stürzen sich die Menschen wie Fliegen darauf. Aber wehe, der Gast muss ein bisschen länger auf sein Essen warten, hat irgendetwas noch so Belangloses auszusetzen oder erscheint ihm die Rechnung überrissen – gleich wird er der neu eröffneten Gaststätte den Rücken kehren und sich im Internet auf die Suche nach einem „besseren“ Angebot machen. Überhaupt, das Internet. Es befeuert die gegenseitige Konkurrenzierung zwischen den Gastronomiebetrieben um ein Vielfaches und leiht der gnadenlosen Jagd nach jenem Angebot, das sogleich das beste und billigste sein soll, unerbittlich Vorschub. Wer nicht rund um die Uhr 30 verschiedene Menus anbietet, kann gleich schon von Anfang an einpacken – und niemand fragt sich, was mit all den Lebensmitteln für jene Menus, die niemand bestellt, geschieht. Der Rentabilitätsdruck führt nicht zuletzt dazu, dass das Personal bis zum Gehtnichtmehr mit überlangen Arbeitszeiten und geringen Löhnen ausgepresst werden – ist es doch kein Zufall, dass die Löhne in der Gastronomie mit zu den tiefsten im Vergleich aller Branchen gehören. Logisch, wie sonst soll sich der Betrieb auch nur einigermassen über Wasser halten können. Was wiederum zur Folge hat, dass immer mehr in der Gastronomie Beschäftigte den Bettel hinschmeissen, sich einen leichteren und besser bezahlten Job suchen und die noch verbleibenden einem noch grösseren Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Aber auch die Wirte selber, ob sie nun Besitzer oder Pächter sind, stehen permanent unter Druck, müssen sich häufig verschulden und Existenzen, für die sie ein halbes Leben lang geschuftet haben, nicht selten von einem Tag auf den andern aufgeben. Eine Subventionierung der Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand gäbe allen einen festen Boden unter den Füssen, wäre eine faire Anerkennung des geleisteten gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Beitrags, würde den zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf beenden und liesse an vielen Orten weder jene Inseln purer Lebensfreude und Lebensqualität aus dem Boden spriessen, wo nicht nur die Gäste, sondern auch das Personal mit all seinen wunderbaren Begabungen des Kochens und der Gastfreundschaft voll und ganz auf ihre Rechnung kämen…

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu…

 

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu. Während gut verdienende Verwaltungsangestellte, Firmenchefs und IT-Spezialistinnen ihre Arbeit in vollklimatisierten Büros verrichten, sind Bauarbeiter, Landarbeiterinnen, Fassadenreiniger, Gärtnerinnen, Solarmonteure, Strassenarbeiter, Dachdeckerinnen und Geleisearbeiter, von denen die meisten mit eher kärglichen Löhnen Vorlieb nehmen müssen, schutzlos der knallenden Sonne ausgesetzt und dies, wie wenn das nicht schon genug wäre, bis zu neun oder gar zehn Stunden pro Tag, weil, wie die Arbeitgeberseite es begründet, der Termindruck geringere Arbeitszeiten nicht zulasse. Während auch der Koch im Speiserestaurant bei 50 Grad mit täglichen Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden rechnen muss, sitzen seine Gäste im schattigen Garten des Restaurants und geniessen das kühle Bier und die edlen Speisen. Und während gutverdienende Teilzeitangestellte es sich leisten können, schon um 17 Uhr das Büro zu verlassen, um sich ein erfrischendes Bad im städtischen Freibad zu genehmigen, haben die Arbeiter auf dem Bau zur gleichen Zeit immer noch zwei Stunden Schufterei vor sich, obwohl nicht nur die Hitze, sondern auch die Anstrengung der schweren körperlichen Arbeit tief in ihren Knochen steckt. Kapitalismus pur. Klassengesellschaft in Reinkultur. Was vorher schon krass war, erscheint jetzt, infolge der unbarmherzigen Hitze, in einem noch viel grelleren Licht. Da mag es wie ein schlechter Scherz klingen, wenn die Landesregierung, wie soeben in der Tagesschau berichtet wurde, im Hinblick auf den morgigen Rekordhitzetag mit zu erwartenden 37 Grad die Empfehlung herausgegeben hat, „sich vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen und Aktivitäten im Freien auf die Morgen- und Abendstunden zu verlegen.“ Doch es ist nicht nur die Arbeit. Der Kapitalismus kennt keine Grenze. Er zieht sich durch alles hindurch, durch Arbeit und Freizeit, durch das öffentliche und das private Leben, durch alles, bis in den Schlaf. Der Hitze im Tal entfliehen durch eine Bergfahrt mit der Sesselbahn in die Höhe, wo es weniger heiss ist? Ins städtische Freibad gehen, die Kinder im Wasser planschen lassen? Einen Ausflug unternehmen zum idyllischen Caumasee in der Nähe des bündnerischen Flims? Oder gar Sommerferien in Norwegen oder Island, um der gröbsten Hitze zu entfliehen? Alles Fehlanzeige für mindestens eine Million von Menschen hierzulande, für die weder die Bergfahrt mit der Sesselbahn, noch der Eintritt ins städtische Freibad, noch das Baden im Caumasee und erst nicht die Ferienreise in den Norden bezahlbar sind. Alles, alles nur denen vorbehalten, die es bezahlen können. Und während sich Einfamilienhausbesitzer in ihrem Garten schattige Plätzchen einrichten und vielleicht sogar eine Dusche oder gar einen Swimmingpool aufstellen, müssen sich Abertausende Wenigverdienende in enge Mietwohnungen zwängen, wo sie vielleicht nicht einmal über einen Balkon verfügen, um in lauem Lüftchen ihr Abendessen zu geniessen. Noch krasser wird es, wenn wir über die Landesgrenze hinausschauen: In welcher Hitze wurden wohl die Trauben geerntet, aus denen der kühle Weisswein, denn wir so gerne als Aperitif geniessen, gemacht worden ist? Wie heiss war es wohl auf den Plantagen, wo all die tropischen Früchte geerntet worden sind, die uns in unserem angenehm klimatisierten Supermarkt angeboten werden? Und welche höllischen Temperaturen mussten wohl all die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Kongo über Brasilien bis nach Bangladesch ertragen, welche all die Rohstoffe und Bestandteile zu Tage gefördert haben, ohne die wir keine Kleider und keine Schuhe hätten und ohne die weder unsere Computer, noch unsere Autos und unsere Klimaanlagen auch nur einen einzigen Tag lang funktionieren würden? Und auch damit noch lange nicht genug. Denn der Klimawandel, welcher die weltweit zunehmenden Hitzewellen zur Folge hat, wird gerade nicht hauptsächlich von denen verursacht, welche am meisten unter ihnen leiden, sondern ausgerechnet von denen, die gegenüber anderen unzählige Privilegien geniessen: die reichen Länder des Nordens als Ganzes und innerhalb der reichen Länder wiederum vor allem die besonders Wohlhabenden, die mit ihrem überbordenden Lebensstil am meisten zur Klimaerwärmung beitragen und gleichzeitig alle möglichen Wege finden, um sich selber vor jeglichem Ungemach zu schützen. Eine Lösung innerhalb des kapitalistischen Systems ist daher kaum in Sicht und daher die Forderung der Klimabewegung nach einem „System Change“, nach einem von Grund auf anderen Wirtschaftssystem, aktueller denn je…

Nicht gegen die Politikerinnen und Politiker müssen wir ankämpfen, sondern gegen das kapitalistische Machtsystem

 

Vor drei Jahren, so berichtet die deutsche „Tagesschau“ am 15. Juli 2022, sind während laufender Plenarsitzungen im deutschen Bundestag zwei Abgeordnete zusammengebrochen. Seither werde vermehrt über die ausserordentliche Belastung, der Politiker und Politikerinnen ausgesetzt sind, diskutiert: überlange Sitzungen, nicht selten bis zwei Uhr nachts, öffentliche Präsenz rund um die Uhr und selbst am Wochenende, Angriffe und Kritik von allen Seiten, insbesondere auch durch die Medien, bei denen ein zunehmend rauerer Ton festzustellen sei, Krisen, die in immer schnellerem Tempo und gehäufter aufeinander folgen. Vor allem belastend sei, dass man als Politikerin und Politiker ständig unter Beobachtung stehe, nicht nur durch Zeitungen und Fernsehen, sondern vor allem auch durch die sozialen Medien, wo gegen einzelne Politiker und Politikerinnen immer wieder verheerende „Shitstorms“ ausgelöst werden, meist verbunden mit der Forderung, diesen Politiker oder jene Politikerin ihres Amtes zu entheben. „Wenn man den Zustand unserer Gesellschaft ansieht“, so war kürzlich in einem Twitter-Kommentar zu lesen, „dann zeugt es schon von grossem Mut, dass sich CDU-Politiker überhaupt noch an die Öffentlichkeit trauen.“ Bei alledem geht vergessen, dass Politikerinnen und Politiker ja nicht kleine Königinnen und Könige sind, welche ihre Macht missbrauchen und deshalb mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Tatsächlich ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, das an allen Ecken und Enden seine Herrschaft auf uns ausübt. Und auch die fähigsten Politikerinnen und Politiker sind nichts anderes als Marionetten in den Händen des kapitalistischen Machtsystems – so lange sie nicht aus dem Hamsterrad aussteigen, in dem wir, ob Politiker oder Nichtpolitikerinnen, gemeinsam gefangen sind. Während wir das Ganze immer noch als „Demokratie“ bezeichnen, leben wir in Tat und Wahrheit doch in einer Scheindemokratie, in der sich die einzelnen Politikerinnen und Politiker nur geringfügig voneinander unterscheiden, alle fest im Boden des kapitalistischen Wertesystems verankert sind und die verschiedenen Parteien somit letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Dies in einem System, wo die „neuen“ Politikerinnen und Politiker stets in die Fussstapfen der alten treten und sich daher auch im Grossen garantiert nichts verändert. So sind die Politiker und Politikerinnen sozusagen permanent eingeklemmt zwischen den Forderungen des Kapitals und den Forderungen der Menschen. Gegen Politikerinnen und Politiker zu schiessen, sie öffentlich blosszustellen, ja zu ihrer Abwahl aufzurufen, greift daher um ein Vielfaches zu kurz. Statt gegen Politikerinnen und Politiker anzukämpfen, müssten wir, gemeinsam mit ihnen, gegen das kapitalistische Machtsystem ankämpfen, welches einzig und allein dafür verantwortlich ist, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden, so viele Menschen ausgebeutet und mit Hungerslöhnen abgespeist werden, soziale Sicherheiten immer mehr unter Druck geraten, Natur, Umwelt und Klima fahrlässig bedroht und überlastet werden in einer Weise, welche die Chance auf ein gutes Leben für zukünftige Generationen immer weiter schmälert, und Kriege im Dienste kapitalistisch-imperialistischer Grossmachtpolitik auch heute noch möglich sind. „Divide et impera!“ – so lautet die Devise, mit der sich das Römische Reich vor zweitausend Jahren an der Macht hielt: Teile und herrsche! Je zerstrittener die einzelnen von Rom beherrschten Gebiete waren, umso unangefochtener die Herrschaft des Imperiums. Genau so ist es mit dem Kapitalismus, der seine Herrschaft über uns alle umso uneingeschränkter ausüben kann, je mehr sich die Menschen, Interessensgruppierungen, Parteien, Politiker und Politikerinnen, die im Kapitalismus leben, gegenseitig das Leben schwer machen. Um dies zu ändern, bräuchte es eine radikale Gegenstrategie: Nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander sollten die Menschen Partei ergreifen gegen ein System, das uns letztlich alle krank macht, die bis an die Grenze körperlicher Belastbarkeit ausgebeuteten Bauarbeiter und Krankenpflegerinnen ebenso wie die Lehrerinnen und Lehrer, die ständig wachsendem Erwartungsdruck seitens der Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind, die Landarbeiter, deren Rücken vor lauter schwerer Arbeit fast zerbrechen, ebenso wie die Studierenden, die mit unnötigem Wissensballast vollgestopft werden, die Bus- und LKW-Fahrer, die ständig am Limit arbeiten und trotzdem nicht einmal einen anständigen Lohn bekommen, ebenso wie die überforderten Politikerinnen und Politiker. Sie alle müssten gemeinsam gegen dieses System, das in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung fordert und gleichzeitig immer mehr Menschen an den Rand drängt, aufstehen und sich für den Aufbau eines neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einsetzen, in dem soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung, der Frieden mit der Natur, das Ende aller Kriege und das gute Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg Wirklichkeit geworden wären. Denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Die USA, die Ukraine und die zerstörerische Blutspur der Neokonservativen

 

Gerne wird den Befürworterinnen und Befürwortern einer Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine vorgeworfen, sie seien naiv. Wirklich naiv aber sind all jene, welche immer noch glauben, die USA hätten mit dem Ukrainekonflikt nichts zu tun und die Ukraine sei einzig und allein das unschuldige Opfer eines barbarischen Aggressors in der Gestalt Wladimir Putins. 

„Der Krieg in der Ukraine“, so der US-amerikanische Ökonom Jeffrey D. Sachs in der „Berliner Zeitung“ vom 30. Juni 2022, „ist der Höhepunkt eines 30jährigen Projekts der amerikanischen Bewegung der Neokonservativen. In der Regierung Biden sitzen dieselben Politiker, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011) starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert haben.“ Die Hauptbotschaft der Neokonservativen laute, so Sachs, dass die USA in jeder Region der Welt die militärische Vormachtstellung anzustreben hätten und den aufstrebenden regionalen Mächten entgegentreten müssten, die eines Tages die globale oder regionale Vorherrschaft der USA herausfordern könnten. Die USA sollten darauf vorbereitet sein, jederzeit bei Bedarf Kriege nach ihrer Wahl zu führen. Die Vereinten Nationen sollten von den USA nur dann genutzt werden, wenn dies für ihre Zwecke nützlich sei. 

„Dieser Ansatz“, so Sachs, „wurde erstmals von Paul Wolfowitz im Jahre 2002 dargelegt. In einem Bericht an das Verteidigungsministerium forderte er die Ausweitung des von den USA geführten Sicherheitsnetzes auf Mittel- und Osteuropa, obwohl der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher 1990 eine Ausweitung der NATO in Richtung Osten ausdrücklich ablehnte. Wolfowitz plädierte auch für amerikanische Kriege nach eigenem Gutdünken und verteidigte das Recht Amerikas, bei Krisen, die für die USA von Belang seien, unabhängig oder sogar alleine zu handeln. Wolfowitz machte bereits im Mai 1991 klar, dass die USA Operationen zum Regimewechsel im Irak, in Syrien und bei anderen ehemaligen sowjetischen Verbündeten anführen sollten.“ Die Neokonservativen, so berichtet Sachs, hätten sich schon für einen NATO-Beitritt der Ukraine eingesetzt, bevor dies 2008 zur offiziellen US-Politik geworden sei. Sie hätten von Anfang an die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als „Schlüssel zur regionalen und globalen Vorherrschaft der USA“ betrachtet. „Die Ansichten der Neokonservativen“, so Sachs, „beruhen auf der Annahme, dass die USA aufgrund ihrer militärischen, finanziellen, technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit in der Lage sind, die Bedingungen in allen Regionen der Welt zu diktieren.

 Tatsächlich aber wurden seit den 1950er-Jahren die USA in fast jedem regionalen Konflikt, an dem sie beteiligt waren, in die Schranken gewiesen oder besiegt. Doch in der Schlacht um die Ukraine waren die Neokonservativen bereit, eine militärische Konfrontation mit Russland zu provozieren, indem sie die NATO gegen die vehementen Einwände Russlands erweiterten, weil sie der festen Überzeugung sind, dass Russland durch die finanziellen  Sanktionen der USA und die Waffen der NATO besiegt werden kann. Die Fakten vor Ort deuten indessen auf etwas anderes hin. Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben sich auf Russland kaum negativ ausgewirkt, während ihr Bumerangeffekt auf den Rest der Welt gross war. Darüber hinaus ist die Fähigkeit der USA, die Ukraine mit Waffen und Munition zu versorgen, durch die begrenzten Produktionskapazitäten der USA und die unterbrochenen Lieferketten stark eingeschränkt.“ Und so kommt Sachs zum Schluss, dass es endgültig an der Zeit wäre, die neokonservativen Fantasien der letzten 30 Jahre zu beenden und die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zurückzuholen, den NATO-Beitritt der Ukraine abzublasen und einen tragfähigen Frieden zu finden, der die territoriale Integrität der Ukraine respektiere und schütze. Bleibt zu hoffen, dass möglichst viele politische Entscheidungsträger diesen Artikel in der „Berliner Zeitung“ gelesen haben und daraus die folgerichtigen Schlüsse ziehen, denn jeder Tag, an dem der sinnlos zerstörerische Krieg weiterwütet, ist ein Tag zu viel.

Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine Zukunft ohne Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Kriege zu glauben…

 

Ja, es braucht viel Kraft, um in dieser schweren Zeit zunehmender sozialer Ungerechtigkeit, kriegerischer Auseinandersetzungen bis hin zur Angst vor einem möglichen Atomkrieg und der Bedrohung zukünftiger Lebensgrundlagen durch den Klimawandel nicht zu verzweifeln. Viele Menschen, die sich eben noch für gesellschaftliche Veränderungen eingesetzt hatten, scheinen inzwischen aufgegeben zu haben. Auch die Klimabewegung hat ihren Schwung und ihre enorme Ausstrahlungskraft, die sie unlängst noch hatte, verloren. Und nichts anderes gilt für die Friedensbewegung, die ausgerechnet jetzt, wo ihre Botschaft aktueller wäre denn je, seltsam stumm geworden ist. Wie ist das zu erklären? Ich sehe fünf Lügen oder Scheinwahrheiten, welche diese Resignation, zumindest teilweise, erklären könnten. Die erste dieser Lügen: Der Mensch sei von Grund auf schlecht, Gier, Hass, Zerstörung und Kriege lägen in seiner Natur und die Selbstvernichtung sei nur die logische Folge davon. Doch wir brauchen nur in die Augen eines Kindes zu schauen, um zu wissen, dass diese Behauptung eine immense Lüge ist. Wie jede Blume und jeder Baum ist auch jeder Mensch ein Wunder der Natur, ausgestattet mit den wunderbarsten Anlagen und Begabungen, voller Kreativität, Neugierde, Lebenslust und Liebe – wer auch immer den Menschen erschaffen hat, er wäre der grösste Narr gewesen, hätte er ihn bloss dazu geschaffen, sich selber zu vernichten. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch Rutger Bregman schreibt in seinem kürzlich erschienen Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“: „Tief in uns drinnen sind wir kooperativ, freundlich, liebevoll, altruistisch, kurz: gut.“ Und auch Mahatma Gandhi teilte diese Sichtweise: „Und wenn ich verzweifle, dann erinnere ich mich, dass durch alle Zeiten in der Geschichte der Menschheit die Wahrheit und die Liebe immer gewonnen haben. Es gab Tyrannen und Mörder und eine Zeitlang schienen sie unbesiegbar, doch am Ende scheiterten sie immer.“ Die zweite Lüge: Habgier, Zerstörung und Krieg wären schon immer Wesenszüge der menschlichen Geschichte gewesen und würden es daher auch immer bleiben. Was für ein kurzsichtiger Gedanke. Ebenso gut könnte man sagen: Der Mensch habe immer schon in Höhlen gelebt und sei immer schon in einem Bärenfell herumgelaufen und werde daher auch bis in alle Ewigkeit weiterhin in Höhlen leben und in einem Bärenfell herumlaufen. Wie verrückt! Der technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklung des Menschen, angefangen von der Steinzeitkeule bis zur Weltraumrakete, traut man unglaubliche Fortschritte zu, bei der geistig-moralischen Weiterentwicklung gibt man sich damit zufrieden, dass halt eben alles so sei, wie es immer schon gewesen sei. Was für eine unglaubliche Diskrepanz. Dabei läge es doch in der Hand des Menschen, mit ebenso viel Neugierde, Kreativität und Geschicklichkeit, wie er weltumspannende Kommunikationssysteme, selbstfahrende Autos oder Weltraumteleskope baut, auch eine Welt ohne Waffen und Kriege, soziale Gerechtigkeit und eine Wirtschaft im Gleichgewicht mit der Natur aufzubauen. Die dritte Lüge: Es gäbe keine Alternative zum Kapitalismus, alle Versuche einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung seien gescheitert. Nun, dass Alternativen zum Kapitalismus, aus was für Gründen auch immer, gescheitert sind, heisst noch lange nicht, dass der Kapitalismus die einzige mögliche, beste und unersetzliche Art und Weise sei, wie Menschen auf diesem Planeten ihre Wirtschaftsweise und ihr Zusammenleben organisieren könnten. Wenn dem so wäre, dann wäre die Menschheit tatsächlich dem Untergang geweiht, denn die inneren Widersprüche des Kapitalismus von der Ungleichverteilung der Güter und Reichtümer über die kriegerische Expansion im Kampf um Rohstoffe und Einflusssphären bis zur fixen Idee eines immerwährenden Wirtschaftswachstums mit der daraus folgenden Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen sind dermassen zerstörerisch, dass der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom „Ende der Geschichte“ sprach und damit den endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus meinte, im Nachhinein noch Recht bekommen könnte, nur nicht so, wie er es gemeint hatte, sondern so, dass der Kapitalismus am Ende der Geschichte auch das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Nein, der Kapitalismus hat und braucht Alternativen, aber diese müssen wir nicht in der Vergangenheit suchen, sondern in der Zukunft, im Aufbau einer neuen, menschen- und naturgerechten Wirtschaftsordnung, die ein gutes Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg möglich machen kann. Die vierte Lüge: Der Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sei etwas zu Grosses, zu Schwieriges und daher undenkbar, die Kräfte der Menschen schlicht überfordernd. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Kompliziert ist nicht das, was wir unter einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstehen könnten. Kompliziert ist das heutige System gegenseitiger Ausbeutung, die Globalisierung mit allen ihren Tücken, die alles durchziehenden unsichtbaren Geldflüsse, die hilflosen Versuche der Politik, all die systembedingten Auswüchse wie eine total überforderte Feuerwehr immer nur dort zu löschen, wo es gerade am heftigsten brennt. Eine auf das Wohl von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wäre im Vergleich dazu etwas sehr Logisches, Einfaches. Auch hier hilft uns der Blick in die Augen des Kindes weiter: Wir sehen eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit. Vielleicht müssten wir die Kinder fragen, wie die Welt von morgen aussehen sollte, um gut zu sein für uns alle. Schliesslich die fünfte Lüge: Ein Einzelner könne sowieso nichts bewirken, deshalb lasse man es doch lieber gleich sein. Auch diese Lüge ist leicht zu entkräften. Denken wir nur an Mahatma Gandhi, der 1930 den berühmten Salzmarsch antrat, ganz alleine, bis ihm, nach insgesamt 388 Kilometern, Abertausende Inderinnen und Inder folgten – ein Unternehmen, das schliesslich massgeblich zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Oder denken wir an Greta Thunberg, die schwedische Schülerin, die 2018 ganz alleine mit einem Protestschild aus Pappe vor dem Stockholmer Rathaus sass und die in den folgenden Monaten weltweit Millionen von Jugendlichen auf die Strassen brachte, um gegen den drohenden Klimawandel zu protestieren. „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum“, sagte der brasilianische Erzbischof Dom Hélder Câmara, „wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ Nun, es kann nicht jede und jeder Greta oder Gandhi sein, aber die Wirkung, die jeder und jede Einzelne auf das Ganze ausübt, ist niemals zu unterschätzen, so wie ein einzelner winziger Tropfen das Fass, welches bis oben gefüllt ist, zum Überlaufen bringen kann. Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine bessere, friedlichere und gerechtere Zukunft zu glauben. Aber alle diese fünf Lügen sind durchschaubar, überwindbar. Ihnen entgegenzustellen ist die Kraft der Visionen, etwas, was wir heute dringender nötig haben denn je. „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte“, so der Psychoanalytiker und Autor Erich Fromm, „dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ Auch der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry befasste sich in seinen Büchern immer wieder mit der Kraft der Vision. „Wenn du ein Schiff bauen willst“, schrieb er, „so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeug vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Schliesslich die mutmachende Stimme des amerikanischen Linguistikprofessors und Publizisten Noam Chomsky: „Du hast die Wahl. Du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden. Eigentlich hast du gar keine Wahl.“ 

Der Kunde ist König: Als wäre es ein Menschenrecht, andere zu schikanieren und zu demütigen…

 

„Kampfzone Check-in“ titelt der „Tagesanzeiger“ am 14. Juli 2022 und beschreibt die zunehmend aggressive Atmosphäre in den Abflughallen der Flugplätze: Aufgebrachte Fluggäste brüllen herum, bedrohen und beleidigen Schalterangestellte, spucken das Personal an, klettern über die Abschrankungen zu den Schaltern, verfolgen Mitarbeitende am Schichtende auf dem Weg durch die Abflughallen. Die deutsche Gewerkschaft Verdi beklagt eine „drastische Zunahme der Gewalt gegen Beschäftigte“. Und eine Swissportangestellte meint, die Leute hätten immer höhere Ansprüche und hielten das Fliegen für eine Art Menschenrecht. Gleichzeitig würden die Kundinnen und Kunden immer unselbständiger. Früher hätten sie selber eine Lösung gesucht, wenn das Gepäck zu schwer war, heute müsse man ihnen fast noch beim Umpacken behilflich sein. Dass die Kundschaft immer höhere Ansprüche stellt, davon kann allerdings nicht nur das Bodenpersonal von Flugplätzen ein Lied singen. Ähnliche Geschichten könnten uns auch Hotelangestellte, Köche, Kellnerinnen, Coiffeusen, Paketboten, Ärztinnen, Floristinnen, Verkäuferinnen, Prostituierte und, nicht zuletzt, das Kabinenpersonal der Flugzeuge erzählen. Alles unter dem Motto „Der Kunde ist König“, wobei ich hier die weibliche Form bewusst weglasse, da eine Mehrzahl derer, die sich bedienen lassen, Männer sind, während eine Mehrheit derer, die andere bedienen, Frauen sind. Eine verkehrte Welt. Eigentlich müssten all jene, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen, dafür dankbar sein, dass es Menschen gibt, welche diese Dienstleistungen erbringen. Doch so oft ist das Gegenteil der Fall: Die Dienstleistung wird als etwas Selbstverständliches angeschaut und man ist sich nicht zu schade, auf denen, welche die Dienstleistung erbringen, herumzuhacken, sie zu schikanieren oder an den Pranger zu stellen, zum Beispiel mittels von schon weit verbreiteten Bewertungsformularen im Internet. Kein Wunder, nimmt die Zahl der Menschen, die eine Dienstleistung erbringen, in gleichem Masse ab, wie die Zahl jener, die von Dienstleistungen anderer profitieren, im gleichen Zeitraum zunimmt. Wodurch auf den verbliebenen, weniger zahlreichen Dienstleistenden noch mehr Druck lastet und sich ihre Situation zusätzlich verschlimmert – ein Teufelskreis. Doch nicht nur der Slogan, dass der Kunde König sei, ist tief in unsere Köpfe eingebrannt. Sondern auch die Vorstellung, dass Menschen, welche eine Dienstleistung erbringen, nicht nur weniger Wertschätzung, sondern auch weniger Lohn bekommen sollen als jene, die Dienstleistungen anderer in Anspruch nehmen. Daran hat sich seit dem Zeitalter des Sklavenhandels nicht grundsätzlich etwas geändert: So selbstverständlich es war, dass afrikanische Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen, in den Bergwerken und in den Haushalten amerikanischer Kolonisten Schwerstarbeit zu verrichten hatten, ohne dafür auch nur einen Cent Lohn zu bekommen, so selbstverständlich lässt sich der gutbetuchte Börsenmakler im Luxusrestaurant von einer Kellnerin bedienen, welche sich in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal ein Essen in diesem Restaurant leisten könnte. So selbstverständlich bewohnt die Lehrerfamilie ein Einfamilienhaus, das von Arbeitern gebaut wurde, die sich nie in ihrem ganzen Leben ein solches Haus leisten könnten. Und so selbstverständlich lässt sich die vermögende Achtzigjährige in der Privatklinik von einer Krankenpflegerin umsorgen, welche, wenn sie dereinst ebenfalls pflegebedürftig werden sollte, einen Platz in dieser Privatklinik niemals bezahlen könnte. So pflanzen sich Denkmuster und Abhängigkeiten über Jahrhunderte fort, die stets von Neuem das Absurde zum „Normalen“ werden lassen und selbst dem gröbsten Flugpassagier, dem pingeligsten Restaurantbesucher, dem kleinlichsten Hotelgast und der anspruchsvollsten Kundin im Blumenladen immer noch das Gefühl geben, im Recht zu sein, wenn sie an allen Ecken und Enden etwas auszusetzen haben. Wie heilsam wäre es doch, wenn jene, die sich gewohnt sind, sich bedienen zu lassen, von Zeit zu Zeit in die Rolle der Dienenden schlüpfen würden und umgekehrt. Wetten, dass sich in sehr kurzer Zeit sehr vieles ändern würde… 

Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen…

 

„Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“ Dieses Zitat des britischen Philosophen Bertrand Russell geht mir in diesen Tagen immer wieder durch den Kopf, wenn ich sehe, wie die Menschen wieder massenweise in alle Himmelsrichtungen fliegen, der Fleischkonsum und der Strassenverkehr von Jahr zu Jahr zunehmen und so viele Menschen ins Kriegsgeheul rund um den Ukrainekonflikt einstimmen. Eigentlich wissen wir es ja: Der von Menschen gemachte Klimawandel bedroht nichts weniger als die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen, für die Fleischproduktion werden immer grössere, für die Produktion von Grundnahrungsmitteln dann nicht mehr nutzbare Agrarflächen verschwendet und eine Ausweitung des Ukrainekriegs bis hin zu einem möglichen Atomkrieg würde sowieso aller Voraussicht nach das Ende der Menschheit bedeuten. Wie können sich die Menschen nur so dumm verhalten? Sind wir allen Ernstes zu nichts Besserem fähig, als uns das eigene Grab zu schaufeln? Nun wird zwar oft gesagt, es seien ja nicht die „gewöhnlichen“ Menschen wie du und ich, die an allem Schuld seien. Es seien vielmehr die „bösen“ Konzerne, die unfähigen Regierungen, die Reichen und Mächtigen, der Kapitalismus. Einverstanden, aber alle diese „bösen“ Mächte brauchen auch ganz „gewöhnliche“ Menschen, die ihr übles Spiel mitmachen und damit das bestehende Machtsystem am Leben erhalten. Weder sind die „bösen“ Mächte alleine an allem Schuld, noch alleine die „gewöhnlichen“ Menschen, sondern alle zusammen in gegenseitiger Wechselwirkung. Deshalb ist die Frage von Bertrand Russell durchaus berechtigt: Wie könnte man die Menschheit überreden, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns damit beschäftigen, was es denn ist, was die Menschen davon abhält, vernünftiger und zukunftsgerichteter zu denken und zu handeln. Ich sehe drei mögliche Erklärungen. Erstens: Das Diktat der Mehrheit. Ich erinnere mich noch daran, wie vor vielen Jahren im Sommer unzählige reisehungrige Schweizerinnen und Schweizer nach Italien fuhren. Dann, wie wenn ein Schalter umgelegt worden wäre, ging es nach Griechenland. Und wieder ein paar Jahre später war es die Türkei, bis schliesslich Kroatien folgte. Menschen, oder zumindest ein grosser Teil von ihnen, scheinen so etwas wie einem „Herdentrieb“ zu unterliegen: Was die Mehrheit tut, kann nicht falsch sein, also tue ich es auch, egal ob es sich dabei um eine Ferienreise mit dem Auto handelt, das Fliegen nach Mallorca oder zu den Malediven, den Fleischkonsum, das neue E-Bike, die Schnäppchenjagd nach möglichst billigen Kleidern und Schuhen oder um eine neue, noch verrücktere Sportart inklusive zugehöriges Equipment. Als kürzlich Herr K. sein Haus innen und aussen mit Überwachungskameras ausstattete, fragte ich ihn nach dem Grund. Seine Antwort: Auch sein Nachbar hätte sein Haus mit Kameras ausgestattet, sonst wäre er wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen. So wird fragwürdiges, schädliches oder nicht selten auch gefährliches Handeln damit legitimiert, dass es ja schliesslich alle anderen auch tun und dass es deshalb ja auch nicht so schlimm sein könne. Das eigene, kritische Hinterfragen über den Sinn und Zweck des Ganzen bleibt dabei oft auf der Strecke: „Wir sollten uns“, sagte Albert Einstein, „viel öfter die Frage stellen, ob es richtig ist, nur weil wir es alle tun.“ Und ähnlich formulierte es Leo Tolstoi: „Falsch hört nicht auf, falsch zu sein, nur weil die Mehrheit daran beteiligt ist.“ Zweitens: Die Macht der Gewohnheit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, als ich etwa 16 Jahre alt war. Ich vertrat die Ansicht, dass es in Zukunft keine Kriege mehr geben sollte, da diese immer bloss Leid über die Menschheit brächten. Mein Vater versuchte mich mit dem Argument zu belehren, dass es auch in Zukunft immer wieder Kriege geben werde, weil es schon seit dem Beginn der Menschheit immer wieder Kriege gegeben hätte. Mit diesem Argument kann man noch die grössten Absurditäten rechtfertigen und als „Normalität“ betrachten. So zum Beispiel die Tatsache, dass weltweit über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden, obwohl weltweit genug Nahrung für alle Menschen vorhanden wäre – Hunger habe es schliesslich schon immer gegeben und werde es deshalb auch weiterhin geben. Oder die Tatsache, dass, so wie dies beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, die höchsten Löhne das Dreihundertfache der niedrigsten ausmachen, als ob jemand 300 Mal länger oder härter arbeiten könnte als ein anderer – Lohnunterschiede habe es schliesslich immer schon gegeben und werde es auch in Zukunft geben. Oder die Tatsache, dass viele Menschen ein eigenes Haus besitzen, mit Garten und oft sogar einem eigenen Swimmingpool, während sich andere in enge Mietwohnungen zwängen müssen, obgleich sie doch durch ihre tägliche Arbeit ebenso einen unschätzbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen leisten wie andere – das sei schon bei den alten Römern so gewesen und werde deshalb auch ewig so bleiben. Oder die Tatsache, dass die Schule weiterhin an der Benotung der Kinder festhält, obwohl längstens erwiesen ist, wie schädlich und zermürbend sich das Notensystem auf das Lernen auswirkt – Noten gäbe es schon seit über zweihundert Jahren und werde es deshalb auch in den nächsten zweihundert Jahren noch geben. Oder die Tatsache, dass es im Grunde absolut verrückt ist, zwei Tonnen Blech und Stahl in Form eines privaten Automobils in Gang zu setzen, nur um eine Person von 70 Kilogramm Körpergewicht von A nach B zu bringen, die hierfür ebenso gut ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen könnte – Autos gäbe es schon seit über hundert Jahren und werde es deshalb auch weiterhin geben, selbst wenn die Strassen noch so verstopft sind und die Fahrzeiten jene des öffentlichen Verkehrs immer häufiger übersteigen. Oder die Tatsache, dass der Besitz von Geld in immer grösserem Ausmass dazu missbraucht wird, um Macht über andere auszuüben, statt einfach als eine Art Tauschmittel zwischen gleichberechtigten Partnern zu dienen – Zinsen, Aktien, Obligationen und Banken gäbe es schon seit Urzeiten und ein anderes Geldsystem hätte bisher noch nirgendwo funktioniert. Die Macht der Gewohnheit ist der Feind jeglichen gesellschaftlichen Fortschritts. Sie macht uns buchstäblich blind für das Allereinfachste und das Allervernünftigste. Käme der kleine Prinz aus der berühmten Geschichte von Antoine de Saintexupéry heute wieder auf die Erde, er würde sie wohl angesichts einer so grossen Fülle von Absurditäten so schnell wie möglich wieder verlassen. Drittens: Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Irgendwo spüren wohl die meisten Menschen trotz allem, dass nicht nur Einzelnes, sondern fast alles in eine falsche Richtung läuft, vorausgesetzt, wir stellen uns die alles entscheidende Kernfrage, ob wir auf diesem Planeten überleben wollen oder nicht. Diese Diskrepanz lässt sich nur aushalten, wenn wir das eigene schlechte Gewissen auf alle mögliche oder unmögliche Art zu beruhigen versuchen. So sagen beispielsweise viele Menschen, sie würden nur sehr wenig Fleisch essen und wenn, dann solches vom Biobauern. Oder sie sagen, sie würden heute nur noch einmal pro Jahr fliegen statt wie früher drei oder vier Mal. Oder sie sagen, die Zahl hungernder Menschen sei weltweit in den letzten zahn Jahren zurückgegangen – als wäre es nicht der grösste Skandal, dass heute immer noch jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Das Diktat der Mehrheit. Die Macht der Gewohnheit. Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Ohne diese Denkmuster aufzubrechen, wird es schwierig oder nahezu unmöglich, der von Russell aufgeworfenen Forderung nach dem Überleben der Menschheit nachzukommen. „Der moderne Mensch“, so Albert Schweitzer, „wird in einem Tätigkeitstaumel gehalten, damit er nicht zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens und der Welt kommt.“ Was wir brauchen, ist das, worauf wir doch eigentlich so stolz sind: Freiheit! Eine Freiheit aber, die sich nicht darauf beschränkt, möglichst viele Autokilometer abzuspulen, möglichst weit zu fliegen und möglichst viel Fleisch zu essen. Sondern eine Freiheit, die sich freimacht vom Diktat der Mehrheit, von der Macht der Gewohnheit und von der Beruhigung des schlechten Gewissens. Gänzlich frei sind wir erst, wenn wir all die Denkmuster, die unser tägliches Handeln bestimmen, kritisch hinterfragen im Blick auf eine neue Lebensperspektive, die ein gutes Leben nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Kinder und Kindeskinder über alle Grenzen hinweg möglich machen kann. Denn wir können, wie Albert Einstein sagte, „unsere Probleme niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“ Denn „Freiheit“, so die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren, „bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie alle anderen Menschen.“

Damit auch unsere Kinder und Kindeskinder noch ihre Sommerferien geniessen können…

 

Sommerferienbilder:
16 Kilometer Stau am Gotthardtunnel, 80‘000 dicht aneinandergedrängte
Passagierinnen und Passagiere um Flughafen Kloten, nicht enden wollende
Kolonnen von Motorrädern, die über die Alpenpässe donnern, die einen vom Süden
in den Norden, die anderen vom Norden in den Süden. Und gleichzeitig, ohne
Unterlass, Schreckensmeldungen am Radio, am Fernsehen, im Internet: Der
Ukrainekrieg geht mit unverminderter Härte weiter, eine Friedenslösung liegt in
fernerer Zukunft denn je, die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs auf ganz
Europa ist längst nicht gebannt, selbst ein allesvernichtender Atomkrieg lässt
sich nicht gänzlich ausschliessen, als Folge davon eine gesamteuropäische
Energie- und Stromknappheit mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und für
das Alltagsleben von uns allen, gleichzeitig die Angst vor einer neuen
Coronawelle im Herbst und im Winter, das mögliche Auftreten neuer,
gefährlicherer Virenvarianten und, wie wenn das alles nicht schon genug wäre:
der Klimawandel, schmelzende Gletscher, Wasserknappheit, Hitzeperioden,
Waldbrände, steigende Meeresspiegel, existenzielle Bedrohungen für Milliarden
von Menschen schon in naher Zukunft, Hungersnöte in vielen südlichen Ländern,
von denen Hunderte von Millionen Menschen betroffen sind. Was haben boomende
Reiselust, ausschweifende Partys und Luxusvergnügungen aller Art mit diesen
Schreckensmeldungen zu tun? Ich sehe da einen engen Zusammenhang, ein sehr
verständliches und nachvollziehbares Verhalten: Je düsterer die Zukunft
aussieht, umso mehr will ich den jetzigen Zeitpunkt noch geniessen, so ganz
nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Doch so verständlich diese Einstellung
auch ist, so gefährlich wäre es, uns einzig und allein auf den jetzigen
Zeitpunkt zu beschränken, diesen zu geniessen und sich gleichzeitig damit
abzufinden, dass eine „Sintflut“ früher oder später ohnehin über uns
hereinbrechen wird und wir sowieso nichts dagegen unternehmen können.
Tatsächlich nämlich ist das Gegenteil der Fall: So wie letztlich alle
Zerstörungen und Fehlentwicklungen, vor deren Folgen wir heute stehen, von
Menschen verursacht worden sind, so haben es wiederum auch die Menschen in der
Hand, die bestehenden Verhältnisse in einer Art und Weise umzugestalten, dass
eben nicht die „Sintflut“ über uns hereinbrechen wird, sondern, im Gegenteil,
ein neues Zeitalter von Frieden und Gerechtigkeit anbrechen kann. Dass auf
diesem Wege bisher noch kein „Dammbruch“ stattgefunden hat, sondern erst
einzelne zaghafte Schritte, hat wohl damit zu tun, dass die bestehenden
Verhältnisse in einer Art und Weise hingenommen werden, als gäbe es keine
Alternative dazu. „Es ist einfacher geworden, sich das Ende der Welt
vorzustellen“, sagte der US-amerikanische Literaturkritiker Frederic Jameson,
„als das Ende des Kapitalismus.“ Es fehlt offensichtlich ganz wesentlich an
einer kritischen Analyse des bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.
Dieses kann nämlich nur dann überwunden werden, wenn seine Mechanismen und
Wirkungsweisen aufgedeckt werden, um sich sodann andere, bessere Mechanismen
und Wirkungsweisen vorstellen zu können. Es geht, einfach gesagt, um die
Überwindung des Kapitalismus. „Der Kapitalismus“, sagte der Philosoph Lucien
Sève, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle
mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere.
Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“
Unglaublich, aber wahr: Jeder Mensch verfügt über einen riesigen Schatz an
Wissen, Erfahrungen und Fertigkeiten. Fragt man die Menschen aber, was der
Kapitalismus sei und wie er funktioniere, dann zucken sie bloss mit den
Schultern und dies, obwohl es sich beim Kapitalismus doch um das Wirtschafts-
und Gesellschaftssystem handelt, in dem sie alle leben und das unser tägliches
Handeln und unseren Alltag tiefgreifender prägt und beeinflusst als alles
andere. Es ist, als lebten wir in einem Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht
mehr sehen. Deshalb sehen wir auch nicht, dass all das, was uns an so
zahlreichen Schreckensmeldungen entgegenschlägt, einen logischen Zusammenhang
hat, eben den Kapitalismus. Zum Ukrainekrieg: Es handelt sich letztlich um eine
Auseinandersetzung zwischen den USA auf der einen, Russland auf der anderen
Seite. Beide sind kapitalistische Mächte und beide sind getrieben von
imperialistischem Grossmachtdenken. Kapitalismus, Imperialismus,
Grossmachtdenken, Kampf um Rohstoff und Einflusssphären sind immer wieder
Ursachen kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Mächten –
deshalb würde eine Überwindung des Kapitalismus zwangsläufig auch zu einer
Überwindung des Kriegs als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte
führen. Zur Coronapandemie: Auch sie ist eine Folge kapitalistischen
Expansionsdrangs, indem der Mensch immer weiter in bisher unberührte
Lebensgebiete von Wildtieren eindringt und somit die Gefahr von Ansteckungen
durch Viren stetig zunimmt. Zum Hunger in der Welt: Auch dies eine Folge des
kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es wäre nämlich weltweit genug Nahrung für
alle Menschen vorhanden, aber im Kapitalismus fliessen die Güter nicht dorthin,
wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen
zu können. Schliesslich zum Klimawandel: Auch dieser ist eine ganz direkte und
logische Folge der kapitalistischen Wachstumsideologie, wonach die Wirtschaft,
will sie eine Zukunft haben, unaufhörlich wachsen müsse, was in einer Welt
begrenzter Ressourcen schlicht und einfach gar nicht möglich ist. Es geht heute
nicht mehr nur noch darum, gegen den einen oder anderen Missstand, unabhängig
voneinander, anzukämpfen. Es geht um das Ganze. Wir brauchen eine von Grund auf
neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Expansion,
Ausbeutung, Profitmaximierung, endlosem Wachstum und Krieg beruht, sondern auf
Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit, Frieden und einem guten Leben für
alle. Lebensgenuss, Feiern, Reisen, Partys, Vergnügungen und Lebensfreude – das
alles ist gut und schön, aber nur, wenn wir gleichzeitig alle unsere Kraft und
Energie darauf setzen, eine Welt aufzubauen, in der nicht früher oder später eine
Sintflut über uns hereinbrechen wird, sondern eine Welt, in der auch unsere
Kinder und Kindeskinder noch ein gutes Leben haben, viele, viele Feste und
Partys feiern und viele, viele schöne Ferienreisen unternehmen können…

Von den schweizerischen Busfahrern bis zu den Textilarbeiterinnen in Bangladesch: Die Maxime, dass die Interessen des Kapitals wichtiger sind als die Bedürfnisse der Menschen…

 

Gemäss einer Umfrage des universitären Zentrums für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit Université in Lausanne bei fast 1000 Busfahrerinnen und Busfahrern beklagen sich 57 Prozent der Befragten über Schmerzen in den Schultern oder im Nacken. Die Hälfte gibt an, an abnormaler Müdigkeit zu leiden. Ebenfalls jeder zweite Befragte leidet unter Rückenschmerzen. 43 Prozent leiden unter Schlafstörungen, 42 Prozent unter Stress und jeder Dritte unter Kopfschmerzen. Viele beklagen sich über den Druck, der von Vorgesetzten ausgeübt werde: Will man sich aus gesundheitlichen Gründen abmelden, bekomme man meistens zur Antwort, man müsste trotzdem zur Arbeit kommen. Viele Busfahrerinnen und Busfahrer nehmen Medikamente und beissen sich durch, auch deshalb, weil sie wissen, dass sonst jemand einspringen müsste, der eigentlich frei hat. Wegen der aus finanziellen Gründen eng getakteten Fahrpläne genügt schon eine kleine Verspätung, um am Ende der Tour keine Zeit zu haben, um aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Eine Mehrheit von 58 Prozent der Befragten gibt denn auch an, Arbeitseinsätze von mehr als zehn Stunden seien sehr belastend. Auch Anzeigen auf Bildschirmen oder akustische Warnsignale bei Verspätung üben auf die Fahrerinnen und Fahrer grossen Druck aus. 

Dies alles ist allerdings alles andere als ein Zufall. Dahinter steckt ein System und dieses System heisst Kapitalismus: Die Maxime, dass der Profit wichtiger ist als die Bedürfnisse der Menschen und dass es deshalb das Ziel sein muss, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Es sind ja bei Weitem nicht nur die Busfahrerinnen und Busfahrer. Es sind auch die Velokuriere, die auf ihre Touren oft Flaschen zum Pinkeln mitnehmen, weil sie zwischen ihren Auftragsfahrten nicht genug Zeit haben, eine Toilette aufzusuchen. Es sind auch die Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen, die laufend wachsendem Zeitdruck und laufend schwereren körperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Es sind auch die Zimmermädchen in den Hotels, die in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Anzahl von Zimmern herzurichten haben. Es ist auch das Pflegepersonal in den Spitälern, es sind die Verkäuferinnen im Supermarkt, die Paketboten der Post und der übrigen Transportunternehmen, die Lastwagenfahrer und Lastwagenfahrerinnen, das Kabinenpersonal in den Flugzeugen, Köche und Kellnerinnen in Hotels und Restaurants – sie alle sind gezwungen, in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung zu erbringen. 

Gerne wird dies alles der Coronapandemie in die Schuhe geschoben. Tatsache ist aber, dass die Entwicklung einer zunehmenden Auspressung der Arbeiterschaft schon längstens vor Corona ihren Lauf genommen hat und durch die Folgen der Coronapandemie nur noch zusätzlich verschärft worden ist. Das Römische Reich baute seine Macht über Dutzende von Ländern rund um das Mittelmeer auf der Devise „Divide et impera!“ auf: Teile und herrsche! Länder und Völker, die sich gegenseitig bekämpften, konnten dem Imperium nicht gefährlich werden, weil ein gemeinsamer Widerstand gegen die Vorherrschaft Roms dadurch verunmöglicht war. Genau so regiert der Kapitalismus. Busfahrer und Velokurierinnen, Krankenpflegerinnen und Bauarbeiter setzen sich je individuell für ihre Rechte ein, so, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsache ist, dass die weltumspannende Macht des Kapitalismus nur gebrochen werden kann, wenn sich auch seine Opfer über alle Berufe, Arbeitsbereiche und alle Grenzen hinweg weltweit miteinander verbünden und solidarisieren. Die kapitalistische Ausbeutung hört ja nicht an irgendwelchen Grenzen auf. Im Gegenteil: Textilarbeiterinnen in Bangladesch, Minenarbeiter im Kongo oder Bananenpflückerinnen in Honduras sind einem noch viel grösseren Ausbeutungsdruck ausgesetzt als schweizerische Busfahrer oder Krankenpflegerinnen. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Wie weise! Wie viele Schmerzen, wie grosses Leiden, wie viele zu Tode erschöpfte Arbeiterinnen und Arbeiter wird es noch brauchen, bis der grosse Widerstand seinen Anfang nimmt und eine Wirtschaftsordnung Wirklichkeit werden kann, in der nicht mehr die Interessen des Profits und des Kapitals an erster Stelle stehen, sondern die Bedürfnisse der Menschen?

Zunehmender Fachkräftemangel: Eine Pyramide, die schon bald umkippen könnte…

 

Gastronomie,
Handwerk, Baugewerbe, Krankenpflege – an allen Ecken und Enden fehlt es
zunehmend an Fachkräften. Gleichzeitig nimmt die Zahl Jugendlicher, welche sich
für das Gymnasium anstelle einer Berufslehre entscheiden, kontinuierlich zu.
Stellen wir uns die Arbeitswelt als Pyramide vor: „Unten“, an der Basis, der
Landarbeiter und die Verkäuferin, die Fabrikarbeiterin und der Bauarbeiter, der
Krankenpfleger und die Kitaangestellte, der Lastwagenfahrer und die Coiffeuse,
der Koch und die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Putzfrau, der
Müllarbeiter und die Floristin, der Elektroinstallateur und die Floristin, die
Gärtnerin und der Gebäudereiniger. „Oben“, in der Spitze der Pyramide, der
Rechtsanwalt und der Ingenieur, die Kinderärztin und der Geschäftsführer, die
Universitätsdozentin und der Architekt, die IT-Spezialistin und der
Unternehmensberater, der Immobilienmakler und die Pfarrerin. Die in der Spitze
der Pyramide Tätigen können ihren Beruf nur solange ausüben, als es genügend
andere Berufstätige an der Basis der Pyramide gibt, welche die elementaren
Grundleistungen erbringen, die für das Funktionieren der gesamten Wirtschaft
unerlässlich sind. Was wir heute erleben, ist, dass die Basis der Pyramide
immer schmaler wird und die Spitze immer breiter. Das kann auf die Länge nicht
gut gehen, eines Tages wird die Basis so schmal sein und die Spitze so breit,
dass die ganze Pyramide kippen wird. Um dies rechtzeitig zu verhindern, braucht
es drastische Massnahmen. Eine mögliche Massnahme könnte, so utopisch dies
heute noch klingen mag, darin liegen, über alle Berufe hinweg einen
Einheitslohn einzuführen. Es ist nämlich nicht einzusehen, weshalb eine
Krankenpflegerin oder ein Bauarbeiter, die täglich Schwerarbeit leisten und
dabei sogar ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, so viel weniger Lohn
haben sollen als etwa ein Vermögensverwalter oder der Chef eines
Kleinunternehmens, die körperlich weit weniger belastet sind. Gewiss, man kann
viele Argumente für Lohnunterschiede ins Feld führen, von der körperlichen
Belastung über den Grad der zu tragenden Verantwortung oder psychischen
Belastung bis hin zur Ausbildungsdauer. Gleichwohl sind alle diese Argumente
willkürlich. Tatsache ist, dass letztlich alle beruflichen Tätigkeiten von
allen anderen gegenseitig abhängig sind und auch der erfolgreichste CEO seinen
Beruf nicht ausüben könnte, wenn es keine Bauarbeiter gegeben hätte, welche die
Gebäude, in denen der CEO arbeitet, gebaut hätten, keinen Landarbeiter und
keine Arbeiterin in der Lebensmittelfabrik, die dafür sorgen, dass er stets
genug zu essen hat, niemand, der sein Auto, seine Kleider und seine Schuhe
hergestellt hätte. Das einzig wirklich Logische ist ein Einheitslohn, ein
gerechtes Verteilen des Gesamtgewinns, zu dem alle einen unentbehrlichen Teil
beitragen und deshalb alle auch wieder einen gerechten Anteil zurückbekommen
sollten. Da der Lohn und die gesellschaftliche Wertschätzung eng miteinander
verknüpft sind, würde der Einheitslohn bedeuten, dass alle in den
„Basisberufen“ Tätigen genau jene Wertschätzung erfahren würden, die ihnen
heute so fehlt und so oft der Grund sind, aus solchen beruflichen Tätigkeiten
auszusteigen oder sie schon gar nicht ausüben zu wollen. Wenn die Einführung
eines Einheitslohns das Problem der kippenden Pyramide noch nicht hinreichend
lösen könnte, dann liesse sich noch ein zweites Szenario vorstellen: ein Verzicht
auf rein akademische Bildungswege, also eine Abschaffung des Gymnasiums und der
Grundsatz einer „Berufslehre für alle“ – im Gegensatz zur oft gehörten
Forderung nach einer „Matura für alle“. Eine Berufslehre für alle hätte den
grossen Vorteil, dass eine viel grössere Zahl praktisch ausgebildeter junger
Erwachsener zur Verfügung stünden. Gewiss, man dürfte dabei nicht die Spitze
der Pyramide vernachlässigen. Doch eine Abschaffung des Gymnasiums würde ja
nicht dazu führen, dass es zukünftig keine Ärztinnen, Ingenieure und
Naturwissenschaftlerinnen mehr gäbe. Nur wäre der Ausbildungsweg ein anderer:
Die zukünftige Ärztin würde neu nicht mehr ein Gymnasium besuchen, eine Matura
machen und dann in eine Universität eintreten, sondern zunächst eine Lehre als
Gesundheitsfachperson absolvieren, dann eine Zeitlang diesen Beruf ausüben und
praktische Erfahrungen sammeln, mögliche Weiterbildungen besuchen und am Ende
ein universitäres Studium aufnehmen. Das Beispiel ist stellvertretend für alle
anderen, heute noch ausschliesslich auf dem akademischen Bildungsweg verfolgten
Berufsziele: Niemand würde auf direktem Weg an die Spitze der Pyramide
gelangen, alle würden an der Basis der Pyramide beginnen und zunächst viele
praktische Erfahrungen sammeln, um dann, allenfalls, in einer späteren Phase
ihres Bildungswegs, in die Spitze der Pyramide „aufzusteigen“. Es wäre eine
klassische Win-Win-Situation, wären damit doch gleichzeitig das Problem des
Fachkräftemangels wie auch der zunehmenden Akademisierung, die uns vor immer
grössere Probleme stellen werden, wirksam gelöst. Und vielleicht sieht ja dann
unsere zukünftige Arbeitswelt auch gar nicht mehr wie eine Pyramide aus, weder
eine am Boden noch eine auf dem Kopf stehende, sondern ein gleichberechtigtes
und gleichwertiges Nebeneinander und Miteinander arbeitender Menschen, von
denen sich niemand mehr als „wichtiger“, „angesehener“ oder „privilegierterer“
fühlen würde als alle anderen…