Archiv des Autors: Peter Sutter

Die Ukraine und die NATO: die andere Seite der Geschichte

 

Im Zusammenhang mit dem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine wird von
westlicher Seite gerne behauptet, es sei schliesslich das Recht eines jeden
einzelnen freien, demokratischen Landes, welchem militärischen Bündnis es
angehören möchte und welchem nicht. Deshalb sei der Vorwurf Russlands an die
Adresse der USA, die NATO-Osterweiterung planmässig vorangetrieben zu haben,
ganz und gar aus der Luft gegriffen. Dass es, zumindest im Fall der Ukraine,
mit dieser „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ aber nicht allzu weit her ist,
zeigt ein kurzer Blick in die jüngste Vergangenheit. Ich beziehe mich im
Folgenden auf das Buch „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz, ehemaliger
Russland-Korrespondentin der ARD. Zurückzublenden ist ins Jahr 2004: Bei den ukrainischen
Präsidentschaftswahlen im November wurde Viktor Janukowitsch, ein Verfechter
guter Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland, zum Sieger erkürt,
wogegen das Lager seines unterlegenen, US-freundlichen Kontrahenten Viktor
Juschtschenko wegen angeblicher Wahlfälschungen protestierte. Es kam zu
Massendemonstrationen, die Wahlen wurden wiederholt und nun erlangte
Juschtschenko die Mehrheit. Erst später wurde bekannt, dass Juschtschenko für
seinen Wahlkampf von der US-Regierung finanzielle Unterstützung von schätzungsweise
über 50 Millionen Dollar erhalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollten gerade
einmal 16 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer der NATO beitreten und nur ein
Drittel der EU. Trotzdem verfolgte Juschtschenko eine aktive Aussenpolitik in
Richtung Westen und bemühte sich intensiv um eine Mitgliedschaft in EU und
NATO. Tatkräftige Unterstützung erhielt Juschtschenko unter anderem von der
US-amerikanischen Organisation USAID, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, „in
der Ukraine die gesellschaftliche Basis der EU-Befürworter zu erweitern.“ Nicht
weniger aktiv auch das „NATO Information and Documentation Centre NIDC“, dessen
Aufgabe auf der Website der NATO wie folgt beschrieben wird: „Das NIDC in Kiew
spielt eine aktive Rolle dabei, in der Ukraine ein besseres Verständnis zu
fördern für die Prioritäten und Kernaufgaben der NATO.“ In einem Bericht vom
15. Februar 2006 beklagte der US-Botschafter in Kiew die „ungewöhnliche
Spaltung zwischen den Befürwortern einer NATO-Mitgliedschaft und der
Bevölkerung.“ Die traditionellen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland,
so der US-Botschafter, „erschweren leider den Prozess der öffentlichen
Erziehung.“ Zu diesem Zeitpunkt sprachen sich 25 bis 30 Prozent der
Ukrainerinnen und Ukrainer für einen NATO-Beitritt aus. Zum Leidwesen der
NATO-Befürworter hatte man Ende 2005 in Ukraine damit begonnen, Unterschriften
für ein Referendum gegen einen NATO-Beitritt zu sammeln. Das notwendige Quorum
beträgt drei Millionen Unterschriften. Im Frühjahr 2006 hatte man bereits viereinhalb
Millionen zusammen. Der US-Botschafter in Kiew beeilte sich, das unerwünschte
Referendum abzuwürgen und schlug folgende Massnahmen vor: Unterschriften für
gefälscht erklären, behaupten, diese seien gekauft oder erpresst worden,
Anzweiflung der Rechtsmässigkeit der Verfassungsvorschriften, usw. Als dies
alles nichts half, nahm Präsident Juschtschenko von seinem Recht Gebrauch, den
Volksentscheid schlicht und einfach nicht durchzuführen. Die Regierung
versicherte dem US-Botschafter, keine Abstimmung zuzulassen, denn „würde das
Referendum jetzt abgehalten, würde eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
sich gegen einen NATO-Beitritt aussprechen, und das gilt es zu verhindern.“
2008 erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive,
und dies, obwohl die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel davor
warnte, dies würde einer Kriegserklärung an Russland gleichkommen. Dennoch
wurde auf jedem weiteren NATO-Gipfel die mittlerweile auch in der ukrainischen
Verfassung verankerte NATO-Beitrittsperspektive erneut bestätigt, so dass der
endgültige Beitritt zur NATO wohl nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre,
wenn es nicht im Februar 2022 zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine
gekommen wäre. Nachzutragen ist an dieser Stelle, dass bereits 1997 zwischen
der NATO und der Ukraine ein Kooperationsvertrag abgeschlossen worden war, der
die Übernahme von US-Standards durch die ukrainische Armee sowie gemeinsame
Trainings und Waffenlieferungen ermöglichte. Soviel zur „Selbstbestimmung“ demokratischer Staaten im vielgelobten
„freien“ Westen. Oder, wie es Krone-Schmalz formuliert: „Das Zerrbild, wonach
nur Russland eine zynische Machtpolitik betreibt, die noch in Einflusszonen und
geostrategischen Interessen denkt, entspricht ganz und gar nicht der Realität.
Nur wenn auch die fehlenden Teile der Geschichte erzählt werden, entsteht ein
vollständiges Bild.“

Alina Lipp und die Göttinger Staatsanwaltschaft: Völlig überrissene und masslose Kriminalisierung einer unliebsamen Internetaktivistin

 

Zuerst dachte ich, ich hätte nicht richtig gelesen. Aber dann sah ich, dass es tatsächlich wahr ist. Gemäss Internetportal „Watson“ ermitteln deutsche Behörden gegen Putins deutsche „Infokriegerin“ Alina Lipp wegen ihrer Postings zum Ukrainekrieg. Die Staatsanwalt Göttingen, die den „Fall“ inzwischen übernommen hat, wirft Alina Lipp vor, sich mit Russlands Krieg gegen die Ukraine zu solidarisieren. Es gehe um eine Vielzahl von Beiträgen, die sie regelmässig in sozialen Netzwerken absetze. So etwa hätte sie am 24. Februar 2022 geschrieben: „Die Denazifikation hat begonnen.“ Und am 12. März hätte sie in einem Video davon gesprochen, dass die russischen Truppen Regionen, die von „Genozid“ betroffen gewesen seien, befreit hätten. Die Göttinger Staatsanwaltschaft hält Lipps Aussagen offenbar für geeignet, das Klima in Deutschland aufzuheizen und „aufgrund verzerrender, zum Teil wahrheitswidriger Darstellungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzulösen“. Da Lipp auf dem Messengerdienst Telegram bereits 150’000 Abonnentinnen und Abonnenten habe, sei ihre Wirkung nicht zu unterschätzen. Wegen ihrer Unterstützung eines „verbotenen Angriffskriegs“ müsste Lipp, so die Göttinger Staatsanwaltschaft, gemäss Artikel 13 des Völkerstrafgesetzbuchs, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Bereits seien Spendengelder beschlagnahmt worden, die Lipp gesammelt hätte und mit denen „rechtswidrige Taten“ hätten finanziert werden sollen. Mir fehlen die Worte. Jede Seite in diesem Krieg weiss doch, dass die Gegenseite nicht davor zurückschreckt, alle ihr zur Verfügung stehenden Propagandamittel in die Schlacht zu werfen. Es wäre völlig naiv, anzunehmen, die eine Seite verbreite nur die pure Wahrheit und die andere bloss Lügen. Die Postings von Alina Lipp sind ein paar wenige von Abertausenden Schlagwörtern, Behauptungen, Unterstellungen, Inszenierungen und vermeintlichen „Wahrheiten“, welche sich die Kriegsparteien tagtäglich gegenseitig um die Ohren schlagen. Und die Beiträge sind ja inmitten dieses Informationskriegs nicht einmal nur falsch. Zum Beispiel ist der Begriff der „Denazifikation“ nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Stepan Bandera, der unter anderem auch von der „NZZ“ als „Terrorist“ bezeichnet wird und der mitschuldig war an der Ermordung Zehntausender Polen und Juden im Zweiten Weltkrieg, geniesst auch heute noch in weiten Kreisen der Ukraine grosses Ansehen. Auch die berüchtigte Asowbrigade, welche zwischen 2014 und 2021 in der Ostukraine entsetzliche Gräueltaten beging, hat einen nationalsozialistischen Hintergrund. „Rechtsradikale Strömungen und rassistische Übergriffe gibt es auch in der Ukraine“, so die „Gesellschaft für bedrohte Völker“, „vor allem Ressentiments gegen Roma sind in der Mitte der Gesellschaft zu finden und der ukrainische Staat tut wenig, um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken. Zudem duldet die Regierung ultranationalistische und rechtsextreme ukrainische Kämpfer in den östlichen Konfliktgebieten des Landes, die gegen russische Separatisten kämpfen.“ In diesem Zusammenhang von einem „Genozid“ zu sprechen, wie dies Alina Lipp tut, „mag übertrieben sein – doch auch dieser Aussage ist ein Kern Wahrheit nicht abzusprechen. Was Alina Lipp tut, ist nicht propagandistischer als das, was die westlichen Medien ebenso tun. Während Lipp Ereignisse „verzerrend“, „übertrieben“ und „einseitig“ darstellt, hüllen sich die westlichen Medien darüber in Schweigen und lassen nur zu, was in ihre Sicht der Dinge hineinpasst – beides ist ein Zerrbild und wird der objektiven „Wahrheit“ bei Weitem nicht gerecht. Dass allerdings gegen eine junge Internetaktivistin mit so grobem Geschütz aufgefahren wird, muss schon sehr zu denken geben. Im Gegensatz zu den Kriegstreibern auf beiden Seiten der Front hat sie nämlich kein einziges Menschenleben auf dem Gewissen. Zudem muss man ihr zugute halten, dass sie stets aus der Mitte des Kriegsgeschehens berichtet und in engem Kontakt mit der betroffenen Bevölkerung steht. Die völlig überrissene Dämonisierung der Internetaktivistin, die sich, mag ja sein, in ihre „Mission“ gar ein wenig stark hineingebissen hat, zeigt auf erschreckende Weise auf, wie wenig Widerspruch unsere westlich-demokratische Staatengemeinschaft offensichtlich noch zu dulden bereit ist. Unwillkürlich kommen mir bei dieser Gelegenheit die Talkshows am deutschen Fernsehen in den Sinn, vor allem jene von Markus Lanz, der jedes Mal, wenn eine kritische Person in der Runde sitzt, gleich einen Wutanfall bekommt. Ins gleiche Kapitel geht die Abschaltung des russischen Nachrichtensenders „Russia Today“ in sämtlichen EU-Ländern, um bloss nicht die Bevölkerung auf „dumme“ Gedanken zu bringen. Ob der Kampf gegen das „Andere“, das „Böse“ nicht letztlich bloss die Angst davor ist, es könnten andere, unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen? Haben die westlichen Regierungen so wenig Vertrauen in ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger, dass sie diesen nicht mehr zutrauen, sich in den Widersprüchen von Propaganda und Gegenpropaganda ihre eigene Meinung zu bilden? Wie brüchig muss das Selbstverständnis des herrschenden Machtsystems sein, wenn eine unliebsame Internetaktivistin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen muss, während ein US-amerikanischer Präsident, nämlich George W. Bush, aufgrund von Lügen und übelsten Machenschaften einen Krieg mit Hunderttausenden von Todesopfern anzetteln konnte und trotzdem immer noch frei herumläuft? „Alle, die sich ausserhalb des markierten Meinungskorridors bewegen“, schreibt die „Junge Welt“, „werden nun also nicht mehr nur verunglimpft und ausgegrenzt – sie werden kriminalisiert.“ Ob wohl auch Papst Franziskus, der unlängst behauptet hat, die Hauptschuld am Ukrainekrieg trage nicht Russland, sondern die NATO, ebenfalls schon bald im Gefängnis sitzen wird? 

NATO-Gipfel: „Ohne Frieden ist alles nichts“…

 

„Putin ist nun offizieller Feind des Westens“ („20minuten), „Die Nato definiert Russland offen als Feind“ („Tagesanzeiger“) und „Der Westen geht auf Gefechtsstation“ („Tagblatt“) – die Schlagzeilen vom 30. Juni 2022 in drei Schweizer Tageszeitungen, stellvertretend wohl für beliebige viele weitere, könnten deutlicher nicht sein: Der NATO-Gipfel in Madrid hat Stellung bezogen, unmissverständlicher, kompromissloser und einmütiger denn je. Das „Tagblatt“ schreibt sogar, die NATO hätte damit ihre „Wiedergeburt“ erlebt. Und so sieht diese „Wiedergeburt“ aus: In Polen soll ein neues US-Hauptquartier aufgeschlagen werden, eine neue zusätzliche US-Brigade wird nach Rumänien verlegt, nach Grossbritannien werden zwei neue US-Geschwader an F-35-Kampfjets geschickt, der Luftabwehrschirm in Deutschland und Italien wird ausgebaut, sechs Zerstörer werden in spanischen Häfen stationiert, die Zahl der kurzfristig mobilisierbaren Truppen soll von heute rund 40’000 auf über 300’000 ausgebaut werden und Schweden und Finnland sollen in die NATO aufgenommen werden, wodurch die Grenzlinie zwischen der NATO und Russland um 1340 Kilometer verlängert wird. Nicht zufällig spricht der „Tagesanzeiger“ im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel von einem „Kriegsrat“ und nicht mehr von einem Verteidigungsbündnis, was doch der offizielle Zweck der NATO sein müsste.

Wenn nun aus allen Rohren gegen Russland geschossen wird und längst kaum noch irgendwer das Feindbild Putin als menschenverachtender und blutrünstiger Aggressor zu hinterfragen wagt, müsste man dennoch und umso mehr auch immer wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen: Trotz gegenteiliger Versprechungen wurde nämlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die Osterweiterung der NATO schrittweise und planmässig vorgenommen, trotz grosser Bedenken, welche nicht zuletzt auch von namhaften Persönlichkeiten innerhalb der USA geäussert wurden. So etwa sagte der Historiker George F. Kennan im Jahre 1997: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den
Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die
russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden
missfallen wird.“ Mit der zunehmenden Einbindung schliesslich auch der Ukraine in die NATO-Strukturen war schliesslich aus der Sicht Putins definitiv eine rote Linie überschritten. Dazu der US-Publizist Noam Chomsky: „Ab 2014 begannen die USA und die NATO, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernstem Gerät, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO. Es war eine sehr bewusste, starke Provokation. Sie wussten, dass sie sich in einen Bereich einmischten, den jeder russische Führer als untragbar ansehen musste.“ 

Man kann sich nun freilich streiten, ob dies alles einen Einmarsch Russlands in die Ukraine gerechtfertigt haben könnte – ich würde diese Frage verneinen. Aber es muss doch in aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass der Westen nicht von einer unbestrittenen Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs freigesprochen werden kann, vor allem auch, wenn man bedenkt, dass Putin noch Ende 2021 der US-Administration vorgeschlagen hatte, über den Status der Ukraine zu verhandeln, was von den USA rundweg abgelehnt worden war. Dass die Bedenken Russlands bezüglich NATO-Osterweiterung nicht aus der Luft gegriffen sind, bestätigt auch Roland Popp von der Militärakademie der ETH Zürich: „Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ Dies wird noch klarer, wenn wir uns für einmal vorzustellen versuchen, wie wohl die USA reagieren würden, wenn Russland sich mit Mexiko oder Kanada verbünden und diese Länder massiv aufrüsten würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die USA dies einfach so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Mit dem NATO-„Kriegsrat“ in Madrid hat die NATO fatalerweise nun genau diesen Kurs der NATO-Osterweiterung, die mit ein wesentlicher Grund  des russischen Angriffs auf die Ukraine gewesen ist, noch einmal auf die Spitze getrieben und weiteres Öl ins Feuer gegossen, nicht nur durch Aufrüstung und massive Erhöhung der Truppenstärken, sondern insbesondere auch durch die Aufnahme der bisher neutralen Staaten Finnland und Schweden in die NATO. Und dies alles, obwohl bereits heute die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland. 

Madrid glich zur Zeit des NATO-Gipfels einer Festung. Polizeihelikopter kreisten über der Stadt, alle U-Bahnstationen und alle Verkehrsachsen waren gesperrt, über 10’000 Sicherheitskräfte waren aufgeboten worden und über tausend Journalistinnen und Journalisten berichteten laufend über das Geschehen. Es sei, wie das „Tagblatt“ schreibt, ein „martialischer Auftritt“ gewesen. Ich wünschte mir, die westlichen Regierungen würden nur einen Bruchteil der Energie, der Zeit und des Geldes, die sie nun in die Vorbereitungen für einen möglichen grösseren Krieg investieren, stattdessen in die Vorbereitungen für einen möglichen Frieden investieren. Noch beschränken sich die Kriegshandlungen auf ein relativ kleines Gebiet in der Ostukraine. Noch haben ein Waffenstillstand und nachfolgende Friedensverhandlungen eine reelle Chance. Wenn diese Chance vertan wird, ist die Gefahr eines Flächenbrands bis hin zu einem dritten Weltkrieg nicht mehr gänzlich auszuschliessen. Alles, alles – auch Zugeständnisse, Kompromisse, Abrücken von Machtansprüchen und Prestigedenken – muss unternommen werden, um diesen sinnlosen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. 

Alles spricht heute von einer „Zeitenwende“. Doch militärische Aufrüstung, die Produktion und Stationierung von immer mehr Waffen oder gar das Drohen mit der Atombombe haben nichts zu tun mit einer echten Zeitenwende. Im Gegenteil, es ist ein Rückfall in längst vergangene Zeiten, als, wie das noch im Alten Testament zu lesen ist, die Regel galt, Unrecht mit gleichem oder noch schlimmerem Unrecht zu vergelten, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Vor über 2000 Jahren kam tatsächlich eine Zeitenwende und Jesus propagierte im Widerstand zur Logik der Rache die Logik der Nächstenliebe, ja sogar der Feindesliebe. 

Heute verfügen wir über modernste Waffen, die laufend noch ausgeklügelter und noch gefährlicher und bedrohlicher werden. Doch während auf der militärisch-industriellen Ebene ungeahnte „Fortschritte“ erzielt worden sind, hinken wir auf der geistig-moralischen Ebene hoffnungslos hinterher und scheinen uns immer noch nicht von der uralten Denkweise der Rachelogik befreit zu haben. Von einer echten Zeitenwende könnten wir sprechen, wenn wir die Logik der Rache und des Kriegs endgültig überwunden hätten, denn, wie der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sagte: Konflikte nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lösen zu wollen, führt bloss dazu, dass am Ende alle blind sind. „Wenn wir den dritten Weltkrieg nicht wollen“, sagt der ehemalige deutsche Brigadegeneral Erich Vad, „müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik heraus und Verhandlungen aufnehmen.“ Noch kürzer brachte es der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auf den Punkt: „Ohne Frieden ist alles nichts.“

„Alle Länder der Welt werden sich zwischen der Demokratie und der Autokratie entscheiden müssen“ – wenn es so einfach wäre…

 

„Es gibt das autokratische Lager, angeführt von China“, sagt Anders Fogh Rasmussen, von 2009 bis 2014 Generalsekretär der NATO, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 26. Juni 2022, „und es gibt das demokratische Lager unter Führung der USA. Alle Länder der Welt werden sich entscheiden müssen, ob sie sich auf die Autokratie einlassen oder die Demokratie wählen.“ Ja, wenn es so einfach wäre. Demokratie oder Autokratie. Gut oder Böse. Weiss oder Schwarz. Und nichts dazwischen. Doch wenn wir einen kurzen Blick auf das werfen, was wir so stolz und selbstherrlich als „Demokratie“ bezeichnen, werden wir sogleich unschwer feststellen, dass diese „Demokratie“ letztlich nichts anderes ist als ein schönes Trugbild, das einer kritischen Betrachtung in keinster Weise standhält. Denn wie alles im Kapitalismus, ist auch die Demokratie letztlich nichts anderes als ein Privileg der Reichen und Mächtigen, ein System, welches es denen, die es sich leisten können, das Recht verleiht, an „demokratischen“ Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, während es unzählige andere in Not und Elend stürzt. Kapitalismus und Demokratie ergänzen sich nicht gegenseitig, nein, sie widersprechen sich und schliessen sich gegenseitig aus. „Demokratie“ im Kapitalismus ist nichts anderes als eine Scheindemokratie, die angebliche Vielfalt unterschiedlicher politischer Parteien, die doch letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer allesumfassenden kapitalistischen Einheitspartei. Im Namen der kapitalistischen „Demokratie“ haben die USA seit 1945 nicht weniger als 44 Angriffskriege und verdeckte Militäroperationen geführt, rund 30 Millionen Menschen getötet und rund 300 Millionen Verletzte zurückgelassen. Im Namen der „Demokratie“ haben die „freien“ Länder des Westens seit 500 Jahren systematisch die Länder des Südens ausgeplündert und sich auf Kosten der Arbeit und des Reichtums anderer masslos bereichert. Im Namen der „Demokratie“ schwelgt eine Minderheit Reicher und Superreicher in nie dagewesenem Luxus, während jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Im Namen der „Demokratie“ haben die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ein Vermögen von über 800 Milliarden Franken zusammengescheffelt, während eine knappe Million Schweizerinnen und Schweizer am Ende des Monats kaum mehr das nötige Geld für das tägliche Essen zusammenbringen. Im Namen der „Demokratie“ wird blindlings an der fixen Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums festgehalten, welches die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen immer stärker zu gefährden droht. Die von Rasmussen dargestellte Polarisierung der Welt in Demokratie und Autokratie ist nicht nur durch und durch falsch, sondern auch durch und durch gefährlich. Denn sie entbindet uns, den „freien“ und „demokratischen“ Westen, davon, unser eigenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem kritisch zu hinterfragen. Bevor wir anderen ihre Missetaten vorhalten und unsere eigene vermeintliche Überlegenheit in den Vordergrund stellen, müssten wir zuerst selber in unseren eigenen Spiegel schauen. Wenn autokratische Systeme des „Ostens“ keine Zukunft haben, dann hat es der Kapitalismus erst recht nicht. Bevor wir keine soziale Gerechtigkeit schaffen, bevor wir den Reichtum nicht gerecht verteilen, bevor wir nicht alle Formen von Ausbeutung von Mensch und Natur beseitigen, bevor wir nicht dem Wachstumswahn eine endgültige Absage erteilen und den Klimawandel stoppen, haben wir auch nicht den geringsten Anlass, andere zu belehren und unsere Überlegenheit zu propagieren. Was wir brauchen, ist nicht eine in Gut und Böse, Weiss und Schwarz geteilte Welt, sondern eine Welt, in der für alle Menschen über alle Grenzen hinweg ein gutes Leben in Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung Wirklichkeit geworden ist.

Vom Radrennfahren bis zum Synchronschwimmen: die zerstörerischen Folgen des Konkurrenzprinzips

 

Normalerweise geht die Schweizerin Nicole Reist zwischen 19 und 20 Uhr zu Bett. Um halb zwei steht sie auf, um dann bis halb fünf zu trainieren. Um fünf Uhr sitzt sie in ihrem Büro, wo sie bis 16 Uhr als Hochbauzeichnerin arbeitet. Danach folgt die nächste Trainingseinheit. Und nun, am 15. Juni 2022, ist es soweit: Nicole Reist steht am Start des „Race Across America“, des härtesten Radrennens der Welt. 4963 Kilometer, 22’575 Höhenmeter, von Oceanside in Kalifornien bis Annapolis in Maryland, durch Gebiete, von denen viele wegen ihrer Gluthitze, andere wegen häufiger Tornados berüchtigt sind. Etappen gibt es keine. Jede Fahrerin und jeder Fahrer entscheidet selber, wann sie oder er eine Schlafpause einlegen möchte. Die meisten Fahrerinnen und Fahrer schlafen während zehn Tagen höchstens zwölf Stunden, jeweils 30 bis 40 Minuten am Stück. Häufige Folge sind Übermüdung, Halluzinationen und Stürze. Und genau dies wird Nicole Reist auch in diesem Jahr zum Verhängnis: 450 Kilometer vor dem Ziel stürzt sie. Nachdem einer ihrer schärfsten Konkurrenten an ihr vorbeigezogen ist, nimmt sie sich vor, die restliche Strecke bis zum Ziel ohne Pause durchzufahren. Bei jedem Tritt schmerzt der beim Sturz lädierte Oberschenkel, die Hände werden taub, der Nacken ist steif. Kein Wunder, stürzt sie nur wenige Stunden später ein zweites Mal und bricht sich dabei eine Rippe. Gedanken ans Aufgeben verscheucht sie dennoch augenblicklich. Sie kann nicht mehr selber auf ihr Fahrrad steigen und muss sich von ihrer Crew hochheben lassen. Als sie endlich als schnellste Frau und als Gesamtdritte im Ziel anlangt, muss sie sich von einem Helfer aus dem Sattel heben lassen. Gehen kann sie nicht mehr, die Crew trägt sie zum Interview. Sie sagt: „Das war das härteste Rennen meines Lebens, ich habe noch nie so gelitten.“ Szenenwechsel: Am 22. Juni 2022 finden in Budapest die Weltmeisterschaften im Synchronschwimmen statt. Bei ihrer Einzelkür kollabiert die US-Amerikanerin Anita Alvarez und muss bewusstlos aus dem Becken gerettet werden. Kein Einzelfall: An den Olympischen Spielen 2008 in Peking verlor die Japanerin Hironi Kobayaski ebenfalls das Bewusstsein. Der Grund: Die Schwimmerinnen müssen bis zu 45 Sekunden lang unter Wasser bleiben, so kann es leicht zu einer Hypoxie, einem akuten Sauerstoffmangel, kommen, der im leichteren Fall Müdigkeit und Schwindel, im schlimmeren Fall permanente Hirnschäden zur Folge haben kann. Synchronschwimmen ist eine der härtesten Sportarten. Sieben Wassertrainings pro Woche sind bei den Eliteschwimmerinnen üblich, stundenlang. Dazu kommen neben kräftezehrenden Schwimm- und Koordinationsübungen stundenlanges Trainieren im Kraftraum. Viele Schwimmerinnen klagen über Hüftprobleme, Zerrungen und Muskelrisse durch übermässiges Dehnen, schon siebenjährige Mädchen werden mit Gewalt in den Spagat gezwungen, bis sie nicht mehr atmen können, weil der Rücken so stark nach hinten gezogen wurde. „Wir sehen immer so fröhlich aus“, sagte die deutsche Star-Synchronschwimmerin Marlene Boyer, „aber innerlich sterben wir.“ Doch es sind nicht nur Radrennfahrerinnen und Synchronschwimmerinnen. Auch Abertausende weiterer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler anderer Disziplinen sind gezwungen, im Kampf um die Medaillen ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, Kunstturnerinnen und Eiskunstläuferinnen, Balletttänzerinnen und Skirennfahrer, Boxer und Langstreckenläufer, Tennisspielerinnen und Gewichtheber. Erklären lassen sich alle diese Leiden, diese Schmerzen, diese Qualen und diese Opfer wohl nur durch die Gesetzmässigkeiten des Konkurrenzprinzips. Es ist diese Lüge, auf der alles aufbaut: Die Lüge nämlich, jeder und jede könne eines Tages zuoberst auf dem Podest stehen, wenn er oder sie sich bloss genug anstrenge. Dabei liegt es doch in der Natur der Sache, dass sich alle noch so sehr bis zur Selbstaufgabe anstrengen könnten und am Ende doch immer nur ein Einziger, eine Einzige zuoberst auf dem Podest stehen wird. Weil aber alle daran glauben, liefern sie sich einen gegenseitigen Konkurrenzkampf, der naturgemäss immer härter und immer zerstörerischer wird in dem Masse, wie der Level der erforderlichen Spitzenleistungen immer weiter in die Höhe geschraubt wird. Doch nicht nur im Spitzensport herrscht die Lüge des Konkurrenzprinzips. Diese durchzieht die ganze kapitalistische Gesellschaft, die Arbeitswelt, die Wirtschaft. Jeder soll besser sein als alle anderen, jeder könne die anderen übertrumpfen – er müsse sich bloss genug anstrengen. Was im Umkehrschluss nichts anderes heisst, als dass alle, welche es nicht zur Spitze schaffen, selber daran Schuld seien – sie hätten sich eben nur ein bisschen mehr anstrengen sollen. Schon den Kindern in der Schule wird diese Lüge eingeimpft: Jedes Kind könne zu guten Noten, zu einem guten Zeugnis und zu einer erfolgreichen Lebens- und Berufskarriere gelangen, es müsste sich bloss genug anstrengen. Doch auch hier gilt, wie überall: Die Kinder könnten sich noch so sehr anstrengen, Tag und Nacht nur noch Wissensstoff pauken – selbst dann wären am Ende immer nur ein paar wenige auf dem „Siegerpodest“ und alle anderen können früher oder später ihre Träume und Hoffnungen begraben. Doch glücklicherweise gibt es eine Alternative zum zerstörerischen und lebensfeindlichen Konkurrenzprinzip: das Prinzip der Kooperation. Kooperation bedeutet: Die Menschen werden bei ihrer Arbeit, ihren Leistungen und Begabungen nicht mehr miteinander verglichen und in einen gegenseitigen Wettstreit gezwungen, sondern jeder Mensch trägt zum Gelingen des Ganzen sein Bestes bei, ökonomisch, gesellschaftlich, politisch. Jeder Mensch erfährt dabei die volle Wertschätzung durch seine Umgebung dank dem, was er ist, und nicht dank dem, was er sein könnte.

„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und
der Anfang der Unzufriedenheit“, sagte der dänische Philosoph 
Søren Kierkegaard. Wahrscheinlich würden dann, wenn das Konkurrenzprinzip erst einmal überwunden wäre, solche Absurditäten wie der „Race Across America“ und Sportarten wie das Synchronschwimmen früher oder später von der Bildfläche verschwunden sein. Aber wäre das so schlimm? Ich bin fast ganz sicher, dass eine Neuorientierung weg von einem zerstörerischen Konkurrenzprinzip hin zu einem menschenfreundlichen Prinzip der Kooperation eine heute noch ungeahnte Riesenfülle an neuen, kreativen Ideen, Arbeitsformen, Projekten, Aktivitäten und Begegnungen aller Art zutage bringen würde, die alle davon leben würden, dass niemand mehr andere fertigmachen muss, um selber erfolgreich zu sein, sondern der Erfolg jedes Einzelnen stets auch der Erfolg aller anderen ist…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“ – und was sonst noch alles?

 

In seiner Rede vor dem deutschen Gewerkschaftsbund sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sei, der sei „aus der Zeit gefallen“. Seither wird der Ausdruck nachgerade inflationär verwendet. Doch was heisst eigentlich „aus der Zeit gefallen“? Heisst es zum Beispiel auch, der Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“? Und was ist mit den Gewerkschaften, wenn sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne fordern, sind die dann auch „aus der Zeit gefallen“? Und die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf der Strasse festkleben, um gegen den stetig wachsenden Autoverkehr zu protestieren, müssten sie sich ebenso diesen Vorwurf gefallen lassen? In der Tat. Mit einer solchen Worthülse kann man alles und gleichzeitig auch nichts rechtfertigen. Es ist nichts anderes als eine Waffe in der Hand der Mächtigen, um Widerspenstige und Andersdenkende gefügig zu machen, indem man ihnen vorwirft, „ewiggestrig“ zu sein und den Schritt in eine neue, andere Zeit verpasst zu haben. Nichts an dieser Worthülse ist moralisch oder ethisch begründet – sie könnte ebenso gut auch von einem skrupellosen Diktator verwendet werden, der damit seine Widersacherinnen und Widersacher in die Schranken zu weisen versucht, indem er ihnen vorwirft, aus der Zeit – nämlich aus der Zeit der von ihm etablierten Schreckensherrschaft – gefallen zu sein. Die Beliebigkeit, die der Worthülse innewohnt, zeigt, dass uns allgemein gütige ethische Normen, auf die sich alle berufen können, offensichtlich abhanden gekommen sind. Krieg ist ebenso möglich wie Frieden, Gerechtigkeit ebenso wie Ungerechtigkeit, Reichtum ebenso wie Armut – nur eben alles zur richtigen Zeit. Wer die Zeit auf seiner Seite hat, muss das, was er tut, nicht mehr rechtfertigen, denn er tut ja bloss das, was die Zeit von ihm verlangt. So wie die Grünen, welche sich in ihrem Wahlkampf noch vehement gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatten und jetzt, ein halbes Jahr später, an vorderster Front sogar für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine einstehen. Doch diese Wechselbäder, diese Beliebigkeiten, diese Austauschbarkeiten werden uns nichts Gutes bringen. So „konservativ“ es auch klingen mag: Wir brauchen wieder verbindliche Werte, auf denen sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheide und Abläufe abstützen lassen. Der Begriff „Religion“ mag vielen suspekt sein, weil es im Namen der Religionen im Laufe der Geschichte viel zu viel Missbrauch, Gewalt und Zerstörungen gegeben hat. Aber alles hat auch eine gute Seite. Nennen sich die meisten von uns nicht immer noch „Christinnen“ und „Christen“, ist nicht immer noch von „christlicher Kultur“ die Rede? Wäre nicht das zentrale Gebot der christlichen Glaubenslehre, nämlich die Nächstenliebe, genau das, was wir heute dringender denn je bräuchten? Die Bibel unterscheidet zwei Formen der Liebe: Das eine ist der „Eros“, das andere ist die „Agape“. Versteht man unter „Eros“ die leidenschaftliche, stürmische und brennende Liebe zwischen zwei Menschen, so handelt es sich bei „Agape“ um bedingungslose Liebe auf universeller Ebene, welche auch die Feindesliebe mit einschliesst. Dass dies nicht bloss eine „Idee“ der christlichen Tradition ist, sondern auch in den meisten anderen Religionen und Kulturen eine zentrale Rolle spielt, zeigt beispielsweise folgendes Wort des griechischen Philosophen Epiktet aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung: „Die Liebe zu den Menschen ist Pflicht, sind wir doch alle Kinder desselben Gottes.“ Dass Agape, die universelle Nächstenliebe, nicht bloss etwas für die eigenen vier Wände sein, sondern weit darüber hinaus Wirkung zeigen sollte, war auch für den norwegischen Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen klar: „Nächstenliebe ist die einzige mögliche Realpolitik.“ Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sah das genau gleich: „Die Liebe auch zu unseren Feinden ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen.“ Ja. Wer nicht „aus der Zeit fallen“ will, macht es sich allzu einfach. Alles wird beliebig, alles ist möglich, es gibt keinen moralisch-ethischen Boden mehr unter den Füssen, nichts, was uns verbindet und uns hilft, vom Gleichen zu sprechen auch dann, wenn wir verschiedener Meinung sind. Die Suche nach Agape, der Nächstenliebe, wäre ein hoffnungsvoller Anfang. Sie würde die Dinge wieder in einen Zusammenhang bringen, der sinnvolles politisches Handeln möglich machen würde. Die Agape, ernst genommen, lässt nicht zu, dass eine Minderheit in Reichtum schwelgt, während Abermillionen von Menschen hungern. Agape lässt nicht zu, dass sich Menschen und Völker gegenseitig umbringen und ihre Dörfer und Städte zerstören, nur weil sie territoriale oder andere Konflikte haben, die sich auch mit friedlichen Mitteln lösen liessen. Und Agape lässt ebenfalls nicht zu, dass Natur, Klima und Umwelt dermassen ausgeplündert, belastet und zerstört werden, dass für nachkommende Generationen nichts mehr übrigbleibt. „Wenn die Menschen einander verstünden und Liebe hätten zueinander“, schrieb der Schweizer Erzähler Jeremias Gotthelf vor rund 200 Jahren, „dann hätte man den ganzen Irrgarten von Gesetzen nicht mehr nötig, worin man je länger je weniger weiss, wo man ist und wo der Ausweg ist und alles je länger je mehr durcheinander ist.“ Ja, vielleicht ist ja Agape genau das, was übrig bleibt, wenn alles andere „aus der Zeit gefallen“ ist…

Der Parteitag der deutschen Linkspartei und die Suche nach den „grossen Fragen“…

 

„Grund zum Feiern hat sie nicht“, so die deutsche „Tagesschau“ vom 24. Juni 2022 über die Linkspartei, die zurzeit in Erfurt ihren Bundesparteitag abhält. Und weiter: „Die Partei steckt in einer tiefen Krise und ist zerstritten wie lange nicht mehr. Es gibt nicht mehr viele Chancen für die Partei, wieder auf die Beine zu kommen.“ Im Zentrum der Streitigkeiten stehen interne Macht- und Richtungskämpfe, innerparteiliche Sexismusvorwürfe, die Haltung gegenüber Russland im Ukrainekonflikt sowie die insbesondere von Sahra Wagenknecht angestossene Kritik an den von ihr so bezeichneten „Lifestyle-Linken“ aus Grossstadtmilieus, die sich von den tatsächlichen Sorgen und Nöten der breiten Bevölkerung verabschiedet hätten. Die Krise der deutschen Linkspartei ist umso bedauerlicher, als angesichts der aktuellen Weltlage und der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland eine konsequent linke, antikapitalistische Kraft dringender nötig wäre denn je. Gemäss dem „Trust Barometer“ der amerikanischen Kommunikationsagentur Edelman, die regelmässig internationale Befragungen durchführt, glaubt nur noch jeder achte Deutsche, dass er von einer wachsenden Wirtschaft profitiert. Mehr als die Hälfte der Befragten, nämlich 55 Prozent, sind der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schade als nütze. „Weil die Wirtschaft auf die Sorgen und Nöte der Menschen keine ausreichende Antwort gibt“, so Christiane Schulz von „Edelman Deutschland“, „stellen immer mehr Menschen das kapitalistische System selbst in Frage.“ Und: „Die Menschen sind auf der Suche nach den grossen Fragen.“ Die Suche nach den grossen Fragen. Müsste nicht genau dies das Motto der Linkspartei sein? Unglaublich, aber wahr: 55 Prozent der Deutschen sehen im kapitalistischen Wirtschaftssystem keine Zukunft. Gleichzeitig aber mangelt es an einer echten Alternative, viele sind ratlos, verzweifelt, richten ihre Wut gegen Andersdenkende und vermeintlich politische „Feinde“ oder ziehen sich ins Private zurück und wollen von allem, was mit Politik zu tun hat, nichts mehr wissen. Es wäre die Geburtsstunde einer neu erwachten Linkspartei. Sie könnte mit einem Wählerpotenzial von 55 Prozent rechnen und alle anderen Parteien weit überflügeln! Freilich nur, wenn es ihr gelänge, glaubwürdige Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzuzeigen, all die Zusammenhänge zwischen Reichtum und Armut und den ganz alltäglichen Ausbeutungsverhältnissen aufzudecken, nicht mehr länger um den heissen Brei herumzureden, sich nicht mehr länger in Scheindiskussionen und internem Machtgerangel zu verlieren. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht in Deutschland allein überwunden werden, zu sehr ist er ein globales Machtsystem geworden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine linke politische Kraft, der es mit der Überwindung des Kapitalismus ernst ist, müsste sich daher mit gleichgesinnten politischen Kräften anderer Länder verbinden. Der Globalisierung des Kapitalismus müsste die Globalisierung all jener politischer Kräfte entgegengestellt werden, welche seine Überwindung zum Ziel haben. Wenn, wie der „Edelman Trust Barometer“ feststellt, die Menschen je länger je mehr auf der „Suche nach den grossen Fragen“ sind, dann müsste es einer echt antikapitalistischen Linkspartei das wichtigste Anliegen sein, auf diese grossen Fragen eine Antwort zu geben, im Klartext: ein glaubwürdiges antikapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept zu erarbeiten. Das heisst: Die Partei braucht so etwas wie einen Wissenschaftsrat, der die theoretischen Grundlagen einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufbauen würde, in der die soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung und das gute Leben für alle an oberster Stelle stehen müssten. Freilich dürfte das niemals eine abgehobene, rein akademische Angelegenheit sein. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse des „Wissenschaftsrats“ müssten in eine Sprache heruntergebrochen werden, die auch vom Bauarbeiter, vom LKW-Fahrer, von der Krankenpflegerin und von der Putzfrau verstanden würde und sie alle begeistern könnte. Mit anderen Worten: Die Linke müsste im besten Sinne des Wortes eine echte Volkspartei werden und diese heute so verhängnisvolle Spaltung zwischen Politik und „gewöhnlicher“ Bevölkerung überwinden. Auch dürfte eine linke Partei, um wirklich glaubwürdig zu sein, sich nicht nur auf theoretische Diskussionen beschränken, sondern sich gleichzeitig auch um das tägliche Wohl der Menschen hier und heute kümmern, ohne freilich dabei das grosse Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn bei allen Nöten und Sorgen, bei aller Wut und Verzweiflung steckt doch in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Welt, die soviel gerechter und friedlicher wäre als die unsere. Könnte es für eine politische Partei eine schönere und wichtigere Aufgabe geben als die, Wegbereiterin zu sein für eine Zukunft, von der wird doch alle insgeheim träumen?

Tanja Stadler gewinnt einen Preis für „aussergewöhnliche Leistungen“ – doch was ist mit den aussergewöhnlichen Leistungen, welche von Bauarbeitern, Krankenpflegerinnen und alleinerziehenden Müttern Tag für Tag erbracht werden?

 

Wie der „Tagesanzeiger“ vom 24. Juni 2022 berichtet, erhält Tanja Stadler, Mathematikerin und ehemalige Leiterin der Covid-19-Taskforce, den diesjährigen Rösslerpreis der ETH Zürich im Wert von 200’000 Franken. Der Preis geht jährlich an Forschende, die „Ausserordentliches leisten“. Stadler erhält den Preis aufgrund ihrer wissenschaftlichen Forschungen im Zusammenhang mit dem sogenannten R-Wert, der angibt, wie viele Menschen jeweils von einer einzelnen Person angesteckt werden. Nicht, dass ich Tanja Stadler diesen Preis nicht gönnen würde. Aber wenn ich lese, dass dieser Rössler-Preis für „ausserordentliche Leistungen“ verliehen wird, dann muss ich kurz mal leer schlucken. Was sind denn „ausserordentliche Leistungen“? Leistet nicht auch der Bauarbeiter, der bei Hitze und Kälte, im Sommer wie im Winter, unter unerbittlichem Zeitdruck glitschige Baugerüste hochklettert, schwere Eisenstangen schultert, Ziegelmauern aufschichtet, hochgefüllte Schubkarren in die Höhe stemmt, bis ihm fast der Rücken zerbricht, leistet nicht auch dieser Bauarbeiter Ausserordentliches? Und was ist mit den Krankenpflegerinnen, den Müllarbeitern, den Kanalreinigern, den Angestellten im Supermarkt, den Landarbeitern, den Putzfrauen, den Köchen, den Serviceangestellten und den alleinerziehenden Müttern, die sich von früh bis spät abrackern, für wenig Lohn viel arbeiten und sich unermüdlich um das Wohl ihrer Kinder kümmern? Es wird doch wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, sie alle würden nicht ebenfalls „ausserordentliche“ Leistungen vollbringen. Der Unterschied ist nur: Weder der Bauarbeiter, noch die Putzfrau, noch die alleinerziehende Mutter werden für ihre Leistungen jemals einen Preis gewinnen, und schon gar nicht einen im Wert von 200’000 Franken. Preise in der kapitalistischen Gesellschaft sind denen vorbehalten, die sowieso schon zu den Privilegierten gehören. Preise schenken sich die Reichen gegenseitig – mit dem Geld, das sie den Armen gestohlen haben. Ja, gestohlen. Denn wenn man einfach so 200’000 Franken aus dem Hut zaubern kann, dann muss ja irgendwer dieses Geld überhaupt erst einmal erarbeitet haben. Und damit sind wir mitten im Kern der kapitalistischen Gesellschaftspyramide, die darauf beruht, dass am unteren Ende der Pyramide eine genügende Vielzahl von Menschen für ihre Arbeitsleistung weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre – damit sich am oberen Ende der Pyramide genug Geld ansammeln kann, um Luxusvergnügungen aller Arbeit möglich zu machen. Man könnte es auch noch anders formulieren: Wenn Tanja Stadler diesen Preis von 200’000 Franken erhält, dann ist das beispielsweise nur möglich, weil sie über Arbeitsgeräte aller Art verfügt, die alle von Menschen bis hin zum afrikanischen Minenarbeiter und der chinesischen Fabrikarbeiterin hergestellt wurden. Auch die Räumlichkeiten, in denen sie arbeitet, mussten irgendwann von irgendwem erbaut worden sein. Auch das Essen, mit dem sie sich täglich verpflegt, musste von irgendwem irgendwann angebaut, geerntet, verarbeitet, verpackt und transportiert worden sein. Und so weiter. Eigentlich, wenn es gerecht zu- und herginge, müsste Tanja Stadler ihren Preis mit allen, die dazu einen unentbehrlichen Beitrag geleistet haben, teilen. Sonst ist es eben, wie gesagt, nichts anderes als gestohlenes Geld. Doch noch scheint die Gerechtigkeit in ferner Weite zu liegen. Noch gibt es Preise ausschliesslich für jene, die sowieso schon im Rampenlicht stehen: Kunst-, Kultur-, Film- und Literaturpreise, die Music Awards, die Schweizerin und der Schweizer des Jahres, die Sportlerin und der Sportler des Jahres, der Nobelpreis, der Oscar, Preise für Forschung und wissenschaftliche Arbeit. Wir lange müssen wir wohl noch darauf warten, bis zum ersten Mal auch ein Preis verliehen wird an den Bauarbeiter des Jahres, an die Krankenpflegerin des Jahres, an die alleinerziehende Mutter des Jahres?

Ukraine und Russland: Wer hat Angst vor wem?

 

Wie das Internetportal „Watson“ am 20. Juni 2022 berichtet, hat das ukrainische Parlament unlängst mit einer Zweidrittelmehrheit einem Gesetzesentwurf zugestimmt, wonach die öffentliche Aufführung von Musik russischer Künstlerinnen und Künstler verboten wird. Begründet wird der Entscheid damit, dass das „musikalische Produkt des Aggressionsstaates auf separatistische Strömungen in der Bevölkerung einwirken“ könnte. Russische Musik würde die Annahme einer russischen Identität attraktiver machen und ziele auf eine Schwächung des ukrainischen Staates ab. Parallel dazu wurden der Import und die Verbreitung von Büchern und anderen Printprodukten aus Russland, Belarus und den russisch besetzten Gebieten komplett verboten. Schon seit 2016 unterlagen Bücher aus Russland einer Zensur. Der neueste Beschluss bedeutet, dass mehr als 100 Millionen Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt werden müssen, unter anderem Klassiker der Weltliteratur wie Leo Tolstois mehrfach verfilmtes Meisterwerk „Krieg und Frieden“, aber auch Kinderbücher, Liebes- und Kriminalromane.

Bereits vor dem Beginn des Krieges hatte die ukrainische Regierung elf regierungskritische Parteien sowie mehrere TV-Sender und Zeitungen verboten. Auch wurden bereits mehrere Gesetze erlassen, um die Vormachtstellung der ukrainischen gegenüber der russischen Sprache zu sichern. So sind beispielsweise Staatsangestellte, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärztinnen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken und Banken verpflichtet, ihre Kundschaft auf Ukrainisch anzusprechen, Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafen geahndet.

Seltsam. Eben noch erklärte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Hauptgrund für den Angriff auf die Ukraine sei die Angst der russischen Regierung vor einer „Sogwirkung“ gewesen, welche das westlich-demokratische Gesellschaftsmodell auf die russische Bevölkerung auszuüben drohte. Doch offensichtlich scheint nicht nur die russische Staatsmacht vor demokratischen Ideen Angst zu haben. Mindestens so viel Angst hat offensichtlich auch die ukrainische Staatsmacht selber vor demokratischen Tendenzen, selbst „feindliche“ Musik, Sprache und Literatur erachtet sie als gefährlich für die eigene Identität. Umso erstaunlicher ist das alles, wenn man bedenkt, dass auch die ukrainische Seite immer wieder betont, Russland und die Ukraine seien „Brüdervölker“. Behandelt man Brüder so, dass man ihre Musik, ihre Literatur, ihre Sprache und ihre politischen Ideen bekämpft und verbietet?

Und: Wer hat da eigentlich Angst vor wem? Bei alledem mutet es wie ein schlechter Witz an, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen von einer „europäischen Wertegemeinschaft“ spricht, die Ukraine als Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie in alle Himmel lobt und dem Land einen baldmöglichsten Beitritt zur EU in Aussicht stellt. Zwar könnte man einwenden, ein EU-Beitritt würde möglicherweise die demokratischen Strukturen des Landes unterstützen und fördern. Wenn dies aber so wäre, dann hätte man die sechs Länder des Westbalkans, welche zum Teil schon seit 20 Jahren auf eine Mitgliedschaft warten, schon längst in die EU aufnehmen müssen. Offensichtlich geht es da nicht um Gerechtigkeit, sondern um nichts anderes als reine Machtpolitik. Eine Machtpolitik, bei der jede Seite offensichtlich nur das sieht, was sie sehen will. Eine Machtpolitik, der es schon längst nicht mehr um die Wahrheit geht, sondern nur noch um das, was jede Seite als ihre Wahrheit definiert. Eine Machtpolitik, die bereits so reibungslos funktioniert, dass kein Aufschrei mehr durch die Welt geht, wenn aus Bibliotheken mitten im Herzen Europas 100 Millionen Bücher zu Grabe getragen werden und selbst jene, die trotz allem immer noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, all die wunderbaren Worte, die Leo Tolstoi vor über 150 Jahren schrieb, nicht einmal mehr lösen können. „Je weiter ich im Alter voranschreite“, so der begnadete Schriftsteller, den man heute wohl als Pazifisten bezeichnen würde, „und je mehr ich die Frage des Krieges durchdenke, desto überzeugte bin ich, dass die einzige Lösung der Frage die Weigerung der Bürger ist, Soldat zu werden.“ Sind es wohl solche Gedanken, die bei der ukrainischen Führung dermassen panische Angst auslösen?

 

2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll – und jeden Tag sterben 15’000 Kinder an Hunger…

 

Gemäss einem Bericht des schweizerischen TV-Magazins „Kassensturz“ vom 21. Juni 2022 landen schweizweit jährlich 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Verladen auf Lastwägen gäbe dies eine Kolonne von Zürich bis Madrid. Insgesamt wird in der Schweiz ein Drittel sämtlicher Lebensmittel fortgeworfen. Und dies in einer Welt, in der rund 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Es soll niemand behaupten, das eine hätte mit dem andern nichts zu tun. Wir alle leben gemeinsam auf der einen und gleichen Erde, die sämtliche acht Milliarden Menschen ernähren könnte, wenn wir nur das, was vorhanden ist, auf alle gerecht verteilen würden. „Die Erde“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Doch offenbar haben sich die auf der Sonnenseite schon so sehr an ihren Überfluss gewöhnt wie die auf der Schattenseite an die unsäglichen Schmerzen und das unsägliche Leiden, welche der endlose tägliche Hunger ihnen antut. Was absolut verrückt ist, erscheint uns als „Normalfall“: Dass Gemüse nicht im Lebensmittelladen, sondern auf dem Müll landet, weil es fix vorgegebenen Normen von Grösse und Form nicht entspricht. Dass wir kurz vor Ladenschluss zur Bäckerei gehen können und immer noch alle Brotorten, alle belegten Brötchen und alles Süssgebäck zum Verkauf bereitliegen, ohne dass jemand fragt, was denn mit all dem Unverkauften später geschehen wird. Dass auch im Supermarkt beim Ladenschluss immer noch alle Gestelle voll sind mit Abertausenden von Produkten, herbeigeschafft aus aller Welt, selbst aus Ländern, wo es an allem fehlt. Dass wir im Restaurant aus 30 oder 40 verschiedenen Menus auswählen können, ohne uns überlegen zu müssen, wo die viele überflüssige Ware all jener Gerichte, die von niemandem bestellt wurden, landen wird. Dass selbst ein so wertvolles Gut wie Fleischprodukte ganz selbstverständlich auf unserem täglichen Einkaufszettel stehen, obwohl wir doch wissen müssten, dass weltweit nicht weniger als 40 Prozent aller Agrarflächen dem Anbau von Futtermitteln für die Fleischproduktion dienen und damit dem Anbau von Grundnahrungsmitteln für die breite Bevölkerung entzogen werden. Ja, der kapitalistische Markt ist gnadenlos. Die Ungleichverteilung ist himmelschreiend. Die vollen Gestelle in unseren Supermärkten und die leeren Regale in afrikanischen und südamerikanischen Lebensmittelläden sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Denn in dieser Welt fliessen die Güter nicht dorthin, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können. Und selbst in den „reichen“ Ländern des Nordens wird die Ungleichheit immer grösser, zwischen denen, die sich im Luxusrestaurant ein Fünfgangmenu vorsetzen lassen und dazu einen hundert- oder zweihundertfränkigen Wein bestellen, und denen, die auf irgendeine Weise nach Ladenschluss an etwas Gemüse, ein Stück Brot und an ein paar Teigwaren gelangen, deren Verbrauchsdatum eigentlich schon abgelaufen ist und die sonst fortgeworfen worden wären. Die vom Bundesrat soeben in Auftrag gegebene Empfehlung, wonach die meisten Nahrungsmittel auch über das aufgedruckte Ablaufdatum hinaus problemlos konsumiert werden können, ist ja gut gemeint, letztlich aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Um das Problem der ungleichen weltweiten Nahrungsmittelverteilung zu lösen, braucht es weit mehr als das. „Jeder Mensch“, so steht es in Artikel 11 des von 162 Staaten verabschiedeten Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, „hat das Recht auf angemessene, ausreichende und gesunde Nahrung.“ Ob es uns lieb ist oder nicht, aber dieses Ziel muss ein schöner Wunschtraum bleiben, ein schönes Lippenbekenntnis, ein blutleerer Gesetzestext, solange ddas kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem alle Lebensbedürfnisse dem Geld, der Gewinnmaximierung und den Profitinteressen multinationaler Konzerne unterworfen werden, nicht von Grund auf überwunden und durch eine Wirtschaftsordnung ersetzt wird, deren oberstes Ziel die soziale Gerechtigkeit ist und das gute Leben für alle Menschen auf diesem Planeten. „Es gäbe genug Geld“, sagte Albert Einstein, „genug Arbeit, genug zu
essen, wenn wir die Reichtümer der Welt richtig verteilen würden, statt uns zu
Sklaven eines starren Wirtschaftssystems zu machen.“