Archiv des Autors: Peter Sutter

Zurich Pride: Das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung

 

40’000 Teilnehmende und 34 Grad – das war die Zurich Pride am 18. Juni 2022. Eine überwältigende Demonstration der LGBTQ-Community für Vielfalt, Toleranz und das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung, farbenfroh, stimmungsvoll und lautstark. „Die vorwiegend jungen Teilnehmenden“, so der „Tagesanzeiger“, „feierten sich selbst.“ Und auch das Plakat eines in ein Regenbogentuch gekleideten Demonstrationsteilnehmers sagte auf seine Weise, was im Zentrum des Anlasses stand, nämlich das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung: „The Only Choice I Made was to Be Myself.“ So einfach, so klar, so unmissverständlich. Sich selber feiern, das Leben wählen, das der eigenen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung entspringt. Wären das nicht Botschaften, die weit über die LGBTQ-Community für uns alle wichtig sein müssten? Ist das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht etwas, was für jeden Menschen, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, von essenzieller Bedeutung sein müsste? Müsste nicht die ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt so vielfältig, bunt und farbenfroh sein wie die Feste und die Demonstrationen der LGBTQ-Bewegung? Doch noch sind wir nicht so weit: Schon die kleinen Kinder werden in unzählige, von Erwachsenen vorbestimmte Normen und Zwänge hineingepresst, in der Familie, in der Schule, später in der Ausbildung. Was ist mit all den „störrischen“, „widerspenstigen“, „faulen“, „träumerischen“, „hyperaktiven“ Kindern und Jugendlichen, die bei jeder Gelegenheit anecken und nur davon träumen können, ihre Persönlichkeit frei und selbstbestimmt ausleben zu können? Ja. die Frage eines selbstbestimmten Lebens stellt sich nicht erst an dem Tag, an dem ein junger Mensch sich seiner von der „Norm“ abweichenden sexuellen Orientierung bewusst wird. Sie stellt sich schon viel früher und für uns alle. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“ Vielleicht müsste man noch ergänzen, dass er auch noch die Wahl hat, ein ganz „normal“ funktionierender Erwachsener zu werden, um den Preis aber, die innersten Sehnsüchte seiner Kindheit preisgegeben und geopfert zu haben. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind die Schlüsselbegriffe für eine gesunde Entwicklung. Jeder Mensch sollte jeden Tag „sich selber feiern“ und jeden Tag die Wahl treffen, „myself“ zu sein – und nichts und niemand anders. Man mag an dieser Stelle einwenden, dies sei bloss ein frommer Wunsch – die meisten Menschen wären in der kapitalistischen Arbeitswelt dermassen eingespannt und könnten so hohe Ziele wie Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung glatt vergessen, und wenn, dann seien dies höchstens Privilegien bevorzugter Gesellschaftsschichten. Der Einwand ist berechtigt, nur: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für so viele Menschen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht zulassen, dann heisst das doch, dass es höchste Zeit ist, diese Verhältnisse zu verändern, und wer, wenn nicht selbstbestimmte, möglichst „unangepasste“, eigenständige Persönlichkeiten sollten diese Aufgabe übernehmen. Mit anderen Worten: Wenn die Zeit noch nicht reif ist, um allen Menschen die Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu geben, ist es umso wichtiger, sich für dieses Ziel einzusetzen. Und zwar nicht in erster Linie in der Form von Selbstfindungs-, Yoga-, Meditationskursen und zahllosen weiteren Angeboten auf dem kapitalistischen Markt, die sich ausschliesslich an Privilegierte wenden und zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht das Geringste beitragen, sondern diese im Gegenteil noch stabilisieren. Wie der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi richtig erkannte, beginnt der Prozess der persönlichen Selbstverwirklichung bereits in der Kindheit, wo jedes Kind noch ganz „myself“ ist und in seiner Einmaligkeit und Verschiedenheit von allen anderen Kindern seine Individualität noch unvergleichlich viel stärker zum Ausdruck bringt, als wenn man Erwachsene miteinander vergleicht, die schon viel stärker von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen geprägt sind. „Der Mensch“, sagte Pestalozzi, „wenn er werden soll, was er sein muss, muss als Kind sein und als Kind tun, was ihn als Kind glücklich macht.“ Und noch etwas Wichtiges sagte Pestalozzi: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“ Ja, das Vergleichen, nicht nur zwischen Kindern, sondern auch zwischen den Erwachsenen, ist der Hauptfeind der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung. Das Vergleichen, ob in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik, im Freundeskreis, versetzt einzelne Menschen stets in eine schwächere Position, in das Gefühl des Nichtgenügens, des Andersseins, der Selbstzweifel. Nicht die Suche nach dem Gleichen und das Messen an einer allgemeinen Norm sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Suche nach den Unterschieden, das Entdecken der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, verbunden mit dem Wissen um den guten Kern, der in jedem Menschen steckt. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, auch das ein Wort Pestalozzis, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Könnte jeder Mensch weltweit sich so verwirklichen, wie er als Kind einmal „gedacht“ war, so hätten ausbeuterische Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeit wohl nicht mehr allzu lange Bestand und wohl selbst Kriege würden in naher Zukunft der Vergangenheit angehören. Denn nicht das Hässliche, nicht das Zerstörerische, nicht das Gewalttätige zeichnen den Menschen aus, das sind alles Entgleisungen, Abartigkeiten, Irrwege. Nein, es sind die Schönheit, die Lebensfreude, die Kinder, der Tanz, das Spiel, die Kunst, die Musik, die Feste, die Farben, die Liebe, kurz: das Paradies, welches das tiefste Wesen des Menschen ausmacht. Dieses Paradies, das uns, wie uns zweitausend Jahre lang vorgegaukelt wurde, angeblich erst in irgendeinem „Jenseits“ Wirklichkeit werden kann, obwohl wir es doch in der Hand hätten, es hier und heute auf dieser Erde zu verwirklichen… 

Boris Johnson: „Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen“

 

„Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen“, sagt der britische Premierminister Boris Johnson in der „Sunday Times“ vom 18. Juni 2022. Das scheinen eine wachsende Zahl ukrainischer Soldatinnen und Soldaten nicht ganz genau gleich zu sehen: Gemäss Berichten des Washingtoner Instituts für Kriegsstudien und des britischen Militärgeheimdienstes hätte das ukrainische Militär angesichts der materiellen Unterlegenheit und daraus resultierenden explosionsartigen Verlustzahlen zunehmend Probleme, die Fälle von Desertionen nähmen von Woche zu Woche zu. Aber auch bei den russischen Truppen sei eine sinkende Moral festzustellen, es komme ebenfalls gehäuft zu Desertionen. So ist es mehr als zynisch, wenn Johnson von einem „langen Krieg“ spricht, für den „wir uns stählen müssen.“ Wer ist mit „wir“ gemeint? Ist es Boris Johnson und all die gut geschützten und in Sicherheit lebenden Politiker und Politikerinnen jener westlichen Staaten, deren Ziel es ist, den russischen Truppen eine vernichtende Niederlage zuzufügen und sie zur Gänze aus dem ehemals ukrainischen Staatsgebiet hinauszudrängen – was nur, wenn überhaupt, möglich ist mit dem Einsatz schwerster militärischer Mittel und dem Tod Zehntausender Soldatinnen, Soldaten und Zivilpersonen? Oder ist mit „wir“ die ukrainische Zivilbevölkerung gemeint, von denen wohl die meisten nichts anderes wollen, als schlicht und einfach in Frieden zu leben? Oder sind mit „wir“ die Soldatinnen und Soldaten gemeint, die gezwungen sind, andere Menschen zu töten, bloss um nicht selber umgebracht zu werden in einem Krieg, der auf beiden Seiten eine immer grössere Zahl von Opfern fordert und dem „Sieger“, wer immer auch das sei, nichts anderes hinterlässt als verbrannte Erde, menschenleere Siedlungen und eine alles Leben verschlingende Spur der Verwüstung? Ein „wir“ gibt es schon lange nicht mehr. Das „wir“ gaukelt bloss ein gemeinsames Interesse aller Menschen vor, tatsächlich aber ist die Menschheit gespaltener denn je. Noch immer, wie im 17. und 18. Jahrhundert, gibt es die „Kriegstreiber“ und das „Kanonenfutter“, diejenigen, die befehlen, und diejenigen, die zu gehorchen haben, diejenigen, die profitieren, und diejenigen, die dafür mit ihrem Leben bezahlen. Egal ob die politischen Führer des Westens oder Wladimir Putin: Sie alle scheinen ein elementares Interesse daran zu haben, einen fürchterlichen Krieg zu „gewinnen“ – der Macht zuliebe, dem Prestige zuliebe, wirtschaftlichen Interesse zuliebe. Aber nicht den Menschen zuliebe, die in diesem Krieg ihre Heimat, ihre Existenz, ihre Eltern, ihre Kinder oder gar ihr eigenes Leben verlieren. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass die Demokratie – würde man sie wirklich ernst nehmen – eine der grössten Errungenschaften der Menschheit ist. Nicht eine Scheindemokratie, in der man zu allen möglichen Nebensächlichkeiten seine Stimme abgeben darf. Sondern eine echte Demokratie, in der die Bevölkerung auch befragt wird, ob sie Krieg oder Frieden will. Ich bin fast ganz sicher, dass weder die russische Bevölkerung noch die ukrainische noch die deutsche noch die italienische sich mehrheitlich für den Krieg aussprechen würde. Jedes Volk ist im Grunde friedliebend, wie auch jeder Mensch im Grunde gut ist – das vergisst man in diesen dunklen Zeiten leider nur allzu oft. Der von den USA 2003 gegen den Irak angezettelte Krieg ist das beste Beispiel: Meinungsumfragen in den USA zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Krieg wollte. Erst als von der US-Regierung die Lüge verbreitet wurde, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, kippte die öffentliche Meinung. Das zutiefst Ungerechte ist, dass ausgerechnet die, welche den Krieg wollen, am Ende ungeschoren davon kommen oder sogar einen persönlichen Nutzen daraus ziehen, während all jene, die den Krieg nicht wollen, mit der Zerstörung ihrer Heimat oder mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen.

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den
Krieg“, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die,
die nicht hingehen müssen.“

 

Die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen und das „System“

 

Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen am 19. Juni 2022 stehen sich, wie die Schweizer „Tagesschau“ am 18. Juni berichtet, der linke Gustavo Petro und der Bauunternehmer Rodolfo Hernández gegenüber. Beide versprechen dem Volk ein Ende der Armut und der Korruption. Am Beispiel der Familie Siagana zeigt die „Tagesschau“, wie prekär für weite Teile der Bevölkerung die Lebensbedingungen in Kolumbien gegenwärtig sind: Die Familie lebt in zwei Zimmern eines billigen Hotels. Noch bis vor einem Jahr lebten sie in einem Haus, dann wurde das Leben immer teurer und für die Miete reichte das Geld nicht mehr. Heute versucht der Familienvater alles, um die Familie zu ernähren. Er selbst muss oft hungern, so wie auch Millionen anderer Kolumbianerinnen und Kolumbianer. „Ich weiss“, sagt Niober Siagana, „dass ich es irgendwie schaffen kann, ich habe Vertrauen in mich selbst durch meine Arbeit, aber das System ist einfach gegen mich.“ Gerne hätte ich über dieses „System“ noch ein wenig mehr erfahren. Doch wie immer bricht die Fernsehberichterstattung an dieser Stelle ab. Man zeigt das Elend, den Hunger, die Armut, drastische Bilder, die unter die Haut gehen – aber vom „System“ erfährt man nichts. So gebe ich denn bei „Google“ den Suchbegriff  „Reichtum in Kolumbien“ ein – und siehe da: Sogleich erfahre ich, dass der reichste Kolumbianer, Luis Carlos Sarmiento, über ein Vermögen von nicht weniger als 9,9 Milliarden Dollar verfügt, ihm folgen zahlreiche weitere, ein bisschen weniger reiche Milliardäre. Interessant, ist, weshalb Sarmiento so reich ist. Er ist Bauunternehmer, Bankier und Präsident der grössten Unternehmensgruppe Kolumbiens. Dieses Konglomerat umfasst Unternehmen in den Bereichen Energie und Gas, Printmedien, Hotellerie, Agroindustrie, Bergbau, Bauwesen und Finanzen. Aha, das System! 9,9 Milliarden Dollar fallen nämlich nicht einfach vom Himmel, sie wachsen auch nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Tiefseemuscheln auf dem Meeresgrund. Nein, jeder einzelne Dollar musste von irgendwem irgendwo hart erarbeitet worden sein, bevor er auf dem Konto von Sarmiento und den anderen reichen und superreichen Kolumbianern landen konnte. Mit jedem Dollar, den eine Zimmerfrau in einem der zu Sarmientos Unternehmensgruppe gehörenden Hotels weniger verdiente, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre, wird Sarmiento wiederum ein klein wenig reicher, auch mit jedem Minenarbeiter, der tief unter der Erde seine Gesundheit opfert, auch mit jedem Kind, das zu wenig zu essen hat. Armut auf der einen Seite, Reichtum auf der anderen – alles ist unauflöslich miteinander verbunden, mit unzähligen unsichtbaren Fäden, sodass niemand zu erkennen vermag, wie alles funktioniert. Das System. Doch das ist längst noch nicht alles. All die kolumbianischen Konzerne, welche immer härtere und immer schlechter bezahlte Arbeit der einen in das Gold der anderen verwandeln, sind ja ihrerseits wieder Teil noch grösserer Gebilde, multinationaler Konzerne, welche die Umverteilung von der Armut zum Reichtum nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern weltweit vorantreiben. Das System. Dieses System, im dem auch Niober Siagana gefangen ist und von dem er sagt: „Es ist einfach gegen mich!“ Und so wird es leider nicht eine so gewaltige Rolle spielen, ob Gustavo Petro oder Rodolfo Hernández die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Das System, das die Armen Tag für Tag in dem Masse ärmer macht, wie es die Reichen reicher macht, wird damit nicht überwunden sein. Das System, der Kapitalismus, kann nur überwunden werden, wenn er weltweit überwunden wird. Hierzu aber bedarf es einer neuen politischen Bewegung, die sich über alle Grenzen hinweg verbindet und solidarisiert für eine von Grund auf neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die nicht an irgendwelchen Landesgrenzen aufhört oder beginnt. Eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der soziale Gerechtigkeit an oberster Stelle steht, in der die Güter nicht mehr dorthin fliessen, wo es genug Geld hat, um sie kaufen zu können, sondern dorthin, wo die Menschen sie brauchen, in der kein Kind mehr des Abends hungrig zu Bett gehen muss, während die Reichen und Reichsten ihre Feste schmeissen und in der endlich ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist.

Kultur: Domäne der Reichen…

 

In dieser Stadt, meinte F., sei kulturell viel los, man merke eben, dass es hier viele Reiche gäbe. In der Tat: Schaut man sich die Eintrittspreise von Kabarett- und Theateraufführungen, Freilichtkonzerten, Ausstellungen oder gar Opernhäusern an, dann wird schnell klar, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung Vergnügungen solcher Art schlicht und einfach nicht leisten kann. Selbst der Eintritt in ein Kleintheater, ein Kinobesuch oder ein Zirkusticket sind für sehr viele Menschen nur ein seltener oder gar gänzlich unerreichbarer Luxus. Nie vergesse ich jenen etwa achtjährigen Knaben, der voll freudiger Erwartung von der Schule nach Hause gerannt war, nachdem seine Lehrerin bekannt gegeben hatte, dass im städtischen Kleintheater nachmittags das Stück vom Räuber Hotzenplotz gespielt würde, und die Kinder ermuntert hatte, diese Vorstellung zu besuchen. Gross war die Begeisterung in der Klasse gewesen und die meisten Kinder hatten schon abgemacht, sich eine Viertelstunde vor der Vorstellung beim Eintritt zu treffen. Als nun aber die Mutter ihrem Kind beibringen musste, dass sie für das Ticket zu dieser Vorstellung nicht genug Geld hätte, brach für den kleinen Jungen eine ganze Welt zusammen und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen… 

Nichts weniger als eine eklatante Menschenrechtsverletzung ist das, bilden kulturelle Angebote und Aktivitäten doch so etwas wie die geistige Nahrung, die, wie auch die Bildung, ein Grundrecht aller Menschen sein müsste, von dem niemand ausgeschlossen werden dürfte. Auch die UNO-Menschenrechte besagen gemäss Artikel 27, dass „jede und jeder das Recht hat, sich an den Künsten zu erfreuen.“ Das Unrecht geht aber noch viel weiter. Betrachtet man die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes, dann kann sich Geld am einen Ort nur deshalb ansammeln, weil es an anderen Orten fehlt. Die alleinerziehende Mutter des achtjährigen Knaben, der auf den geliebten Theaterbesuch verzichten muss, verdient als Verkäuferin bloss deshalb so wenig, damit das Geschäft, für welches sie arbeitet, einen möglichst hohen Profit erzielen kann – vermutlich wird sich das Kind des Geschäftsinhabers den Theaterbesuch problemlos leisten können. 

Das ist nur eines von abertausenden Beispielen dafür, auf welchen Wegen sich das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft bewegt. Der Profit, der am Ende herausschaut und dann solche Dinge wie Theater- oder Konzertveranstaltungen und unzählige weitere kulturelle Angebote finanzierbar macht, ist, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, früher oder später von allen Menschen erarbeitet worden und in ganz besonderem Masse von all denen, die für wenig Lohn schwere Arbeit verrichten und so sogar einen überdurchschnittlichen Beitrag an die wirtschaftliche Gesamtbilanz leisten. Mit anderen Worten: Auch die Mutter unseres achtjährigen Knaben subventioniert durch ihre Arbeit indirekt das Theaterstück, von dem ihr Kind aber ausgeschlossen bleibt, weil das Ticket für sie zu teuer ist.

Eigentlich ist es eine Farce, in diesem Zusammenhang überhaupt von „Kultur“ zu sprechen. Viel eher müsste man von den Luxusvergnügungen der Reichen sprechen, welche von den Armen finanziert werden, welche aber selber von diesen „Luxusvergnügungen“ ausgeschlossen bleiben – ebenso wie sie auch vom Essen im Luxusrestaurant, von der Übernachtung im Wellnesshotel oder von den Ferien auf Mallorca oder den Malediven ausgeschlossen bleiben, obwohl sie, und das kann man nicht genug betonen, alle diese Luxusvergnügungen durch ihre tägliche Schufterei und ihre unverschuldete Armut mitfinanzieren und überhaupt erst möglich machen. 

Das Wort „Kultur“ entstammt dem lateinischen „colere“ für pflegen, hegen, umsorgen. Im ursprünglichen Sinne des Begriffs besteht Kultur nicht bloss im Veranstalten von Theater-, Musik- oder Kunstanlässen im Tausch mit Geld von Besucherinnen und Besuchern. Kultur ist etwas viel Umfassenderes. Kultur im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie das Zusammenleben der Menschen gestaltet ist. Dazu können Vorstellungen im Theater oder auf einer Freilichtbühne, im Zirkus oder im Opernhaus durchaus gehören, aber das alles ist bloss Teil eines grösseren Ganzen, in dem zuletzt das ganze Zusammenleben, aber auch die Wirtschaft, die Arbeitswelt zur „Bühne“ wird, auf der Kultur als Pflege des Gemeinschaftslebens gelebt und praktiziert wird. Damit wird aber auch klar, dass echte Kultur stets etwas sein muss, was alle Menschen miteinander verbindet. In unserer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen ist „Kultur“ zum reinen „Konsumobjekt“ verkommen, welches sich die einen leisten können und die anderen nicht – statt die Menschen miteinander zu verbinden, bewirkt diese Art von „Kultur“ genau das Gegenteil: Sie trennt die Menschen in solche, die sich die Angebote leisten können, und die anderen, denen dies verunmöglicht wird. 

Das effizienteste Mittel, um dies zu verhindern, wäre die Einführung eines Nulltarifs für sämtliche kulturelle Anlässe und Aktivitäten und deren Subventionierung durch Steuergelder. Dann wären die Bewohnerinnen und Bewohner der Goldküste im Opernhaus nicht mehr unter sich, um sich ein sozialkritisches Stück zu Gemüte zu führen, sondern vor und neben ihnen sässen Arbeiterinnen und Studierende, um mit ihnen vielleicht sogar in der Pause oder nach der Vorstellung über das Stück zu diskutieren. Und auch das Publikum im Kleintheater wäre bunt gemischt und niemand wäre ausgeschlossen. Und unser achtjähriger Bub müsste nicht mehr weinen, sondern könnte endlich, wie die anderen Kinder seiner Klasse, das Stück vom Räuber Hotzenplotz erleben. Eine verrückte Idee? Wohl weit weniger verrückt als das, was und heute als „normal“ erscheint: Dass Kultur zu einer kapitalistischen Ware verkommen ist, mit der man Geschäfte treibt, die man kauft und verkauft und welche die Gesellschaft mitten auseinanderschneidet in jene, die daran teilhaben dürfen, und jene, die so bitter und unverschuldet von alledem ausgeschlossen sind…

Ein Plädoyer für den Kommunismus

 

Wer heute noch das Wort Kommunismus in den Mund nimmt oder sich gar als Sympathisant oder als Anhängerin des Kommunismus bekennt, wird im besten Fall belächelt, im schlechtesten mit allen Mitteln verbaler Gewalt verunglimpft oder bekämpft. Tatsächlich aber ist der Kommunismus die vielleicht letzte Hoffnung der Menschheit. Um es vorwegzunehmen: Ich meine nicht jenen Kommunismus, wie er beispielsweise von der Sowjetunion oder von China praktiziert wurde, autoritären Machtsystemen, in denen sich bloss neue Eliten mit zahlreichen Privilegien herausbildeten und Andersdenkende unterdrückt und verfolgt wurden. Ich meine den Kommunismus als Uridee von der sozialen Gleichheit und dem Grundprinzip, dass alles allen gehören solle, jeder und jede zum Ganzen sein Bestmögliches beitrage und umgekehrt vom Ganzen das bekomme, was für ein gutes Leben nötig sei. Führen wir uns die gegenwärtigen globalen Zerstörungen vor Augen, die alle eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems sind – von der unaufhörlich sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über den Klimawandel bis zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs -, dann kann man sich eigentlich nur wundern, dass nicht schon längst dem Kapitalismus in Form einer weltweiten Gegenbewegung ein Ende gesetzt worden ist, sondern dass er sich, im Gegenteil, mittlerweile als alleinherrschendes Gesellschaftsmodell über die gesamte Erdoberfläche hinweg ausgebreitet hat. Dass der Kapitalismus nicht schon längst untergegangen ist, kann man sich wohl nur damit erklären, dass die Reichen weltweit sämtliche Instrumente zu ihrer Machterhaltung – von der Politik, dem Geld und der Wirtschaft über die Medien bis hin zur Justiz – in ihren Händen haben und die Armen immer mehr und mehr denn je eingebläut bekommen, sie könnten, wenn sie sich nur genug anstrengten oder ein bisschen Glück hätten, selber auch einmal zu den Reichen gehören. Im Kommunismus gäbe es diese Unterschiede zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Arm und Reich, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht mehr. Alles würde allen gehören. Alles wäre auf alle gerecht verteilt. Auch Lohnunterschiede würden der Vergangenheit angehören, alle gelangten in den Genuss eines Einheitslohns. Alles mit allen zu teilen, bedeutet auch: von der Natur nur soviel nehmen, wie wieder nachzuwachsen vermag, denn es muss ja für alle reichen, nicht nur heute und morgen, sondern auch übermorgen und noch in 50 oder 100 Jahren. Niemand würde hungern, aber auch niemand würde drei Mal so viel essen, wie sein Körper eigentlich bräuchte, oder würde vom Essen, das er gekauft hat, die Hälfte wieder fortwerfen. „Die Erde“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Das gilt auch heute noch ebenso wie zur Zeit Gandhis. Und weil das Prinzip der nachhaltigen Grundversorgung für alle an oberster Stelle stehen würde, so würde dies zwangsläufig auch bedeuten, dass die Lebensweise der Menschen und die Produktion von Gütern jenen Rahmen, der das Klima, die Natur und die Tier- und Pflanzenwelt zu gefährden droht, nicht überschreiten dürften. Gegnerinnen und Gegner des Kommunismus werfen diesem vor, er führe zur Missachtung und zur Unterdrückung der persönlichen Freiheit des Individuums. Das Gegenteil ist der Fall. Was im Kapitalismus unter „Freiheit“ verstanden wird, sind in aller Regel nur Privilegien, die sich eine Minderheit auf Kosten einer Mehrheit leisten kann. Diese „Freiheit“ verschafft einer Minderheit das Recht, andere für ihre Zwecke auszubeuten und zu missbrauchen. In einem egalitären Gesellschaftssystem dagegen wäre auch die Freiheit, genauso wie alle materiellen Güter, auf alle Menschen gleichmässig verteilt. Freiheit kann erst dann als echte Freiheit bezeichnet werden, wenn sie sämtlichen Angehörigen einer Gemeinschaft gleichermassen ermöglicht wird. Deshalb ist soziale Gerechtigkeit nicht ein Gegensatz zur Freiheit, sondern, im Gegenteil, die Voraussetzung dafür. Das hat auch nichts mit Gleichmacherei zu tun. Erst wenn die materiellen Bedürfnisse gesichert sind, kann ich es mir leisten, mich persönlich und individuell zu entfalten – wer täglich um seine Existenz kämpfen muss oder von Armut betroffen ist, hat diese Möglichkeit nicht. Wenn es etwas gibt, was die Gleichmacherei befördert, dann ist es der Kapitalismus, der die Menschen in einem unaufhörlichen Kreislauf von Arbeit und Konsum gefangen hält und jeden, der aus diesem Hamsterrad auszubrechen versucht, mit gesellschaftlicher oder materieller Stigmatisierung bestraft. Ähnliches lässt sich von den Arbeitsverhältnissen sagen. Gibt es im Kapitalismus die Klasse der Besitzenden und die Klasse der Besitzlosen, so wäre diese Grenze im Kommunismus, wo alles allen gehört, aufgehoben. Es gäbe keine „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ mehr, jeder „Arbeitnehmer“, jede „Arbeitnehmerin“ wäre ihr eigener „Arbeitgeber“, ihre eigene „Arbeitgeberin“ und umgekehrt. Alle Produktionsmittel, alle Banken, sämtliche Dienstleistungsunternehmen, auch das Wohneigentum, wären verstaatlicht – wobei freilich zu beachten wäre, dass nicht eine neue Klasse von staatlichen Funktionären an die Stelle der früheren kapitalistischen Besitzerkaste treten dürfte. Basisdemokratie, klassenlose Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit sind unabdingbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. An die Stelle der „freien“ Marktwirtschaft des Kapitalismus würde eine Art Planwirtschaft treten, welche regeln würde, was, wo und wie produziert werden müsste, um die Grundversorgung aller Menschen zu sichern und stets die Grenzen der Belastbarkeit natürlicher Ressourcen zu gewährleisten. Zu Ende gedacht, würde der Kommunismus schliesslich auch zu einem Ende von Krieg und militärischer Konfliktlösung führen. Denn wenn alles unter alle gerecht verteilt wäre, dann gäbe es für niemanden mehr einen Grund, gegen ein anderes Land einen Krieg anzuzetteln, denn was könnte er dabei schon gewinnen. Das Grundprinzip des Kommunismus, wonach die Angehörigen jeder kleineren oder grösseren Gemeinschaft nicht primär in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen, sondern in einem solidarischen Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens, würde nicht nur für jeden einzelnen Staat, sondern auch für die Beziehungen der Staaten untereinander gelten. So würde der Kommunismus nicht nur den Krieg zum Verschwinden bringen, sondern auch die Fluchtbewegungen aus den heute noch armen Länder des Südens in die heute noch reichen Länder des Nordens. Insgesamt lässt sich sagen, dass sich der Kommunismus auf allen Ebenen, im Grossen wie im Kleinen, am Wohlergehen der Menschen orientieren würde, während im Kapitalismus an oberster Stelle das Wohl des materiellen Profits steht. Bleibt die Frage, auf welchem Wege sich eine globale kommunistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verwirklichen bzw. auf welchem Wege der heute global herrschende Kapitalismus überwunden werden könnte. Karl Marx und andere Theoretiker des Kommunismus sprachen von „Klassenkampf“: Die Arbeiterklasse müsste die bürgerlich-kapitalistischen Gegenkräfte von der Macht verdrängen, um eine kommunistische Ordnung durchzusetzen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Weg wäre. Der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte einmal: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Das sehe ich genau gleich. Es darf nicht darum gehen, eine „Klasse“ durch eine andere „Klasse“ zu ersetzen. Zu gross ist die Gefahr, dass die bestehenden Machtverhältnisse bestehen bleiben, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. Nein, die Klassengesellschaft muss als Ganzes überwunden werden, und dazu braucht es alle, auch die, welche heute noch zu den Privilegierten gehören. Nicht mit Gewalt soll eine neue Gesellschaftsordnung aufgebaut werden, sondern sanft, geduldig, durch Einsicht und durch Vernunft. Vielleicht bin ich da zu optimistisch, aber ich sehe keinen anderen Weg. Das immense Potenzial vor allem an jungen Menschen und an Frauen, die sich quer über den Globus immer stärker in die Politik einmischen, gibt mir eine Hoffnung, die täglich stärker wird. Gewiss, es ist nicht einfach, ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns seit 500 Jahren unaufhörlich in die Köpfe eingehämmert worden ist, radikal zu hinterfragen, geschweige denn, uns ein von Grund auf anderes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das weit und breit noch nicht existiert, vorstellen zu können. Doch nur Phantasten können noch daran glauben, dass der Kapitalismus eine Zukunft hat. Seine Zeit ist abgelaufen. Und in dieser Situation gibt es tatsächlich nur noch zwei Möglichkeiten – wie auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King schon vor über 50 Jahren prophezeite: „Entweder werden wir gemeinsam als Brüder und Schwestern überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“

„Arena“ über steigende Gesundheitskosten: Doch weshalb eigentlich werden die Menschen krank?

 

In  der Diskussionssendung „Arena“ vom 10. Juni 2022 am Schweizer Fernsehen geht es um die Problematik der von Jahr zu Jahr steigenden Gesundheitskosten sowie der Belastung durch die ebenfalls jährlich steigenden Krankenkassenprämien, insbesondere für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen. Obwohl sich alle einig sind, dass diese Missstände möglichst bald wirksam bekämpft werden müssen, zeigen sich bei den Lösungsvorschlägen der verschiedenen Akteure und Akteurinnen von der Ärzteschaft bis zu den Krankenkassen, von der SVP bis zur SP so grosse Unterschiede, dass es wohl noch gewaltiger politischer Anstrengungen bedarf, um das Problem in den Griff zu kriegen. Erstaunlicherweise spricht aber niemand von den eigentlichen Ursachen des Problems. Nämlich davon, weshalb die Gesundheitskosten dermassen in die Höhe schnellen. Das hat ja nicht nur mit Ärztehonoraren, Tarifordnungen und Behandlungsmethoden zu tun, sondern vor allem mit den Gründen, die dazu führen, dass Menschen überhaupt krank werden und einer ärztlichen Behandlung bedürfen. Schaut man sich die Palette möglicher Erkrankungen etwas genauer an, so fällt auf, dass ein grosser Teil davon dem Bereich sogenannter „Zivilisationskrankheiten“ zuzurechnen ist, so zum Beispiel Herz- und Gefässkrankheiten, Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, Lungen- und Darmkrebs, verschiedene Hauterkrankungen, Rückenleiden, Depression und Burnout. Alle diese Erkrankungen treten in den industrialisierten Ländern des globalen Nordens um ein Vielfaches häufiger auf als in den Ländern des globalen Südens und müssen folglich einen starken Zusammenhang haben mit der Art und Weise, wie wir leben und arbeiten. Im Klartext: Es ist die kapitalistische Wirtschaft und Arbeitswelt mit dem Konkurrenzprinzip und dem sich selber beschleunigenden Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu leisten und zu produzieren, welche einen grossen Teil jener physischen und psychischen Leiden verursacht, welche die Gesundheitskosten immer weiter in die Höhe treiben. So etwa kann Leistungsduck zu Stress sowie zu Herz- und Gefässerkrankungen führen, während einseitige körperliche Belastungen wie zu langes Sitzen die Ursache für Rückenleiden oder aber, etwa bei Bauarbeitern, für Arthrose und andere körperliche Abnützungserscheinungen sein können. Auch Arbeitsunfälle sind oft eine ganz direkte Folge von körperlicher Überlastung, Stress und fehlenden Ruhe- und Erholungsphasen. Übermässige Arbeitsbelastung, permanente Überzeiten oder die Belastung durch zu grosse Verantwortung können früher oder später ein Burnout zur Folge haben. Doch nicht nur zu grosse Arbeitsbelastung und zu viel Stress wirken gesundheitsgefährdend. Das Gleiche gilt auch für das Gegenteil, für Arbeitslosigkeit und den Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe. Viele Erwerbslose leiden häufig unter Depressionen und Existenzängsten und versuchen nicht selten, ihre fehlende Lebensperspektive durch massloses Essen, hohen Zuckerkonsum oder andere Suchtmittel wie Nikotin oder Alkohol zu kompensieren. Doch nicht nur zu viel Arbeit auf der einen Seite, Arbeitslosigkeit auf der anderen sind krankmachende Faktoren, sondern, mindestens so sehr, die soziale Ungleichheit, ebenfalls eine Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, welches eine permanent sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich verursacht: Zahlreiche Studien über viele Jahre sind stets übereinstimmend zum Schluss gekommen, dass zwischen dem Gesundheitszustand und dem Einkommen der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht: Je geringer das Einkommen, umso schlechter der Gesundheitszustand. Das ist leicht zu erklären: In diese Kategorie fällt zunächst ein grosser Teil der Erwerbslosen mit den bereits erwähnten Auswirkungen auf die Gesundheit. Dann aber auch Einkommensschwache, die meist Jobs mit besonders belastenden Arbeitsbedingungen verrichten, trotzdem wenig verdienen, sich aus finanziellen Gründen schlecht ernähren, kein Geld für gesundheitsfördernde Freizeitaktivitäten haben, unter grösserem Stress und auch ausgeprägterem Suchtverhalten leiden und in lärmgeplagten Wohnungen an dichtbefahrenen Strassen mit schlechter Luftqualität leben müssen, weil sie sich eine teurere Wohnung schlicht und einfach nicht leisten können. Eigentlich müsste jede ernsthafte Diskussion über steigende Gesundheitskosten eine Diskussion über den Kapitalismus sein – über den Kapitalismus, der dazu führt, dass die einen Menschen viel zu viel arbeiten müssen und deshalb krank werden, und die anderen überhaupt nicht arbeiten dürfen und ihrerseits ebenfalls krank werden. Über den Kapitalismus, der dazu führt, dass die einen Menschen so reich sind, dass sie sich ein langes Leben in Glück und Wohlstand leisten können, während die anderen dazu verdammt sind, mit schwerer Arbeit ihre Gesundheit zu opfern und am Ende sogar noch damit bestraft werden, weniger lange leben zu dürfen. Dass eine ganze „Arena“ lang über Vor- und Nachteile von Finanzierungsmodellen, Tarifordnungen, Ärztehonoraren und Prämienverbilligungen diskutiert wird, ohne je auch nur ein einziges Mal auf die systembedingten Ursachen von Krankheiten und Gesundheitskosten zu sprechen zu kommen, ist wohl nur damit zu erklären, dass wir alle den Kapitalismus so sehr verinnerlicht haben, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorstellen können – wie der Wald, den man vor lauter Bäumen schon gar nicht mehr sieht. Höchste Zeit, den Blick zu öffnen, das System zu hinterfragen. Denn es sind ja nicht nur die Menschen, die krank werden. Es ist auch die Natur. Es sind auch Abermillionen von Menschen in den Ländern des globalen Südens, die unter Hunger leiden. Und es ist, wenn wir an den Klimawandel denken, in letzter Konsequenz, auch die Menschheit als Ganzes. Entweder ist alles gesund oder es ist alles krank. Vorläufig versuchen wir noch verzweifelt, die durch den Kapitalismus entstandenen Probleme mit kapitalistischen Massnahmen zu lösen, doch dies hat früher oder später keine Zukunft. Denn, wie schon Albert Einstein wusste: „Man kann Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

 

Kipppunkte gesellschaftlicher Veränderungen: Vom Konkurrenzprinzip zum Prinzip der Kooperation

 

„An der Tanzakademie Zürich (TaZ)“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 10. Juni 2022, „sollen Kinder und Jugendliche während Jahren unter psychischem Missbrauch, Erniedrigung und vereinzelt auch Gewalt gelitten haben.“ Sima Bürgin, von 2013 bis 2015 an der TaZ als Dozentin für Ballett tätig, hätte schon im Jahre 2015 versucht, auf die Missstände aufmerksam zu machen, allerdings ohne Erfolg. „Die Schülerinnen und Schüler“, so Bürgin, „waren da nichts als Material, um sich als Unterrichtende selbst zu schmücken. Humanismus war ein Fremdwort. Ausserdem wurden die Dozentinnen unter Druck gesetzt und gegeneinander ausgespielt. Wer parierte, bekam die begabtesten Schülerinnen und mehr Stellenprozente. Man musste Spitzenresultate einfahren und so manche gab diesen Druck an die Schülerinnen und Schüler weiter. Zahlreiche Mädchen wurden in die Magersucht getrieben. Viele Tänzerinnen waren chronisch erschöpft und wiesen Stressfrakturen auf. Die Schulleitung lehnte es aber ab, sprungfreie Tage oder wenigstens ein freies Wochenende pro Monat einzuführen. An der Tanzakademie zittern die Lehrpersonen, leiden Kinder. Bis heute.“ Angesprochen auf die Missstände, gibt einer der an der TaZ tätigen Tanzlehrer zu bedenken, dass man ohne ein gewisses Mass an Drill an internationalen Wettkämpfen gegenüber den Oststaaten, wo noch viel härtere Ausbildungsmethoden vorherrschen, absolut keine Chance hätte. Was für ein Wahnsinn! Ob im Ballett, im Kunstturnen, im Eiskunstlaufen oder im Skirennsport: Stets werden Trainingsmethoden, die immer näher an die äusserste Belastbarkeit des Körpers gehen, damit gerechtfertigt, dass die Konkurrentinnen und Konkurrenten eben noch härter trainieren und man deshalb selber gezwungen sei, noch dichter an die Grenze des eben noch Aushaltbaren zu gehen, um im gegenseitigen Konkurrenzkampf nicht den Kürzeren zu ziehen. Das ist fast so etwas wie Krieg: Je mehr Schmerzen die Balletttänzerin in Moskau oder in Tokio erleiden muss, umso mehr Schmerzen muss ich der Balletttänzerin in Zürich zufügen, um auch noch das Allerletzte aus ihrem Körper herauszuschinden, damit sie auf dem internationalen Parkett zumindest den Hauch einer Chance hat, nicht sang- und klanglos unterzugehen. Je schwierigere, waghalsigere und gefährlichere Sprünge eine Kunstturnerin zeigt, umso schwierigere, waghalsigere und gefährlichere Sprünge müssen ihre Konkurrentinnen zeigen, sich gegenseitig immer mehr in die Höhe schaukelnd. Je schneller der Skirennfahrer die Piste hinunterrast und gezwungen ist, sich dem Risiko eines Sturzes mit schweren Verletzungen auszusetzen, umso grösser der Druck auf alle seine Konkurrenten, noch schneller zu sein und noch grössere Risiken auf sich zu nehmen. Es sind nicht die „bösen“ Tanzlehrerinnen, Trainerinnen und Trainer von Eiskunstläuferinnen und Skifahrern. Nein, es ist das „böse“ Konkurrenzprinzip, in dem sie alle, Schülerinnen und Schüler wie auch Ausbildnerinnen und Ausbildner, gleichermassen gefangen sind. Nicht nur die Mädchen an der Tanzschule sind diesem Konkurrenzkampf ausgeliefert, sondern auch ihre Lehrerinnen, die ihrerseits an ihrem Erfolg im Vergleich mit den Lehrerinnen anderer Schulen gemessen werden und dementsprechend ebenso wie ihre Schülerinnen im täglichen Überlebenskampf zittern müssen und gezwungen sind, das Alleräusserste zu leisten, um diesen Überlebenskampf erfolgreich zu bestehen. Doch es ist ja nicht nur der Spitzensport. Es ist die ganze Wirtschaft, die ebenfalls auf dem Konkurrenzprinzip beruht. Jede Firma steht in einem permanenten Konkurrenz- und Überlebenskampf mit allen anderen Firmen, und dies weltweit. Jede Firma muss schneller und kostengünstiger produzieren als alle anderen und zwingt damit alle anderen dazu, noch schneller und noch kostengünstiger zu produzieren – mit zerstörerischen Folgen nicht nur für die Arbeiterinnen und Arbeiter, aus denen das Alleräusserste herausgepresst wird, sondern auch mit tödlichen Folgen für die natürlichen Ressourcen, die in einem Masse ausgeplündert werden, als gäbe es keinen Tag danach. Und weil es eigentlich nicht in der Natur des Menschen liegt, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen und sich bis zur Selbstzerstörung einen gegenseitigen Konkurrenz- und Vernichtungskampf zu liefern, muss das Konkurrenzprinzip den Menschen zunächst erst einmal beigebracht werden. Und damit sind wir beim heimlichen Lehrplan der Schule. In der Schule nämlich erlernen die Kinder nicht vor allem das Schreiben und das Rechnen – das würden sie nämlich auch ohne Schule lernen und wahrscheinlich sogar noch besser. Nein, in der Schule lernen die Kinder vor allem das Konkurrenzprinzip.: dass man stets mit vielen anderen in einem permanenten gegenseitigen Wettstreit steht und dass es stets darum geht, schneller und besser zu sein als die anderen. Die Absurdität des Konkurrenzprinzips zeigt sich im gegenseitigen Wettkampf der Schülerinnen und Schüler um gute Noten, gute Zeugnisse und gute Zukunftschancen ganz besonders deutlich: Während man den Kindern vorgaukelt, jedes könne, wenn es sich nur genug anstrenge, erfolgreich sein, ist es ja das Notensystem, welches gerade dies verhindert, indem es so angelegt ist, dass stets nur ein paar wenige Kinder auf die oberste Sprosse der Erfolgsleiter gelangen können und alle anderen mehr oder weniger scheitern – genauso wie die Balletttänzerinnen, die sich allesamt bis zum Äussersten aufopfern und selbst ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, von denen aber am Ende nur eine Einzige als berühmte und bejubelte Primaballerina international gefeiert werden wird. Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf den Klimawandel. Dort ist oft die Rede von „Kipppunkten“. Es gibt aber nicht nur klimatische und ökologische Kipppunkte. Es gibt auch Kipppunkte gesellschaftlicher Veränderungen. Geht eine Entwicklung immer weiter an ihre Grenze oder überschreitet sie diese sogar, dann kann es sein, dass diese Entwicklung auf einmal in die Gegenrichtung umschlägt – eben ein Kipppunkt. So könnte es auch mit dem Konkurrenzprinzip sein, das in sämtlichen Lebensbereichen immer mehr an eine zerstörerische Grenze gelangt und seine inneren Widersprüche und seine Absurdität immer deutlicher offenbart. An die Stelle des Konkurrenzprinzips würde dann das Prinzip der Kooperation treten – Lebensbedingungen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse, die es jedem Menschen ermöglichen, sein individuelles Potenzial an Begabungen und Fähigkeiten zu entfalten, ohne dabei stets mit anderen verglichen zu werden und einem permanenten gegenseitigen Wettkampf ausgeliefert zu sein. Denn man kann das nicht voneinander trennen: Das Wohlergehen der Menschen, der Wirtschaft und der Natur, alles hängt mit allem zusammen, entweder geht es allen gut oder es geht allen schlecht. Die gute Nachricht ist: Das Prinzip der Kooperation muss den Menschen nicht aufgezwungen werden, denn es liegt bereits in der Natur des Menschen. Jedes neugeborene Kind zeigt uns, wenn wir dafür nur genug empfänglich sind, dass der Mensch von Natur aus ein fürsorgliches, soziales, hilfsbereites Wesen ist – nicht einmal eine ganz und gar auf Konkurrenzkampf ausgerichtete Erziehung kann dies gänzlich auslöschen. Die Hoffnung auf den Kipppunkt, der das Konkurrenzprinzip in das Prinzip der Kooperation umschlagen lässt, ist daher nicht bloss ein schöner Traum, sondern vielleicht schon früher, als wir denken, Realität. „Wir malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden, die Zukunft, von der wir träumen“, sagt die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, „das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“

 

Ukraine: Müssen noch mehr Menschen sterben, nur damit ihr Land „befreit“ werden kann?

 

Gemäss einem Bericht des „Tagesanzeigers“ vom 8. Juni 2022 schliesst der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski eine Waffenruhe derzeit aus. Ziel sei es, wieder die Kontrolle über die von Russland eroberten Gebiete zu erlangen. Ein Ende des von Russland gegen sein Land geführten Kriegs sei nur „auf dem Schlachtfeld“ möglich. „Wir haben“, so Selenski, „schon zu viele Menschen verloren, um jetzt einfach unser Territorium abzutreten.“ Wie zynisch. Da ja bereits so viele Menschen gestorben sind, spielt es also laut Selenski keine Rolle mehr, noch weitere tausende Menschen zu opfern – Hauptsache, das Territorium wird von der russischen Besatzung „befreit“. Doch was ist der fürchterliche Preis, den die Menschen dafür bezahlen müssen! Ist es den Bewohnerinnen und Bewohnern der Ostukraine tatsächlich so wichtig, Staatsangehörige der Ukraine, aber auf keinen Fall Russlands zu sein? Ist es nicht unvergleichlich viel wichtiger, genug zu essen zu haben, sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, gute medizinische Versorgung, einen ausreichend bezahlten Job, Zugang zu Freizeitaktivitäten, Bildung und Kultur? „Die Menschen haben für mich Priorität“, sagt Selenski. Wenn er das wirklich ernst nähme, müsste er sich mit aller Vehemenz für eine Waffenruhe einsetzen und für Friedensverhandlungen mit Russland. Dem Wohl der Menschen ist gewiss nicht gedient, wenn der Krieg unnötig in die Länge gezogen wird. Denn ukrainische Waffen sind genauso tödlich und zerstörerisch wie russische Waffen. Ein Land befreien zu wollen, indem man es zerstört, bloss um in letzter Konsequenz über Gebiete zu herrschen, die fast gänzlich menschenleer geworden sind und in denen jegliche Bauten und jegliche Infrastruktur dem Boden gleichgemacht wären, könnte widersinniger nicht sein. Kriege kann man nicht gewinnen, sie hinterlassen nicht Sieger und Verlierer, sondern am Ende sind alle Verlierer. Die Waffen müssen so schnell wie möglich schweigen. An die Stelle der Kriegslogik muss die Friedenslogik treten. Es müsste das gemeinsame Ziel der Konfliktparteien sein, all den Menschen, die schon viel zu lange unter Krieg, Zerstörung, Sanktionen und Repressalien aller Art leiden mussten, endlich ein gutes Leben in Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und Frieden zu ermöglichen, durch Kooperation, Handelsbeziehungen und kulturellen Austausch im Dienste der Völkerverständigung – ganz unabhängig davon, ob die betroffenen Menschen nun Staatsangehörige der einen oder der anderen Nation sind oder gar Angehörige einer eigenständigen, unabhängigen Republik. Der Ukrainekonflikt zeigt uns, dass Nationalismus und die weit überdimensionierte Bedeutung staatlicher Grenzen wohl dringendst überwunden werden müssen. Stets sind nämlich auch weltweit die Staatszugehörigkeit und die Verabsolutierung staatlicher Grenzen stets die Quelle von Konflikten und Kriegen. Wir sollten endlich erkennen, dass jeder Mensch in erster Linie eine Weltbürgerin, ein Weltbürger ist und erst an zweiter oder dritter Stelle Angehöriger eines bestimmten Staates. Eine logische Weiterführung dieses Gedankens wäre die Idee, die bisherigen Staaten durch eine Vielzahl von Regionen zu ersetzen, deren Verhältnis untereinander nicht von Konkurrenz, Machtkämpfen und territorialen Besitzansprüchen geprägt wäre, sondern von gegenseitiger Kooperation sowie wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. „Die Ukraine“, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, „sollte nicht Teil des einen oder des anderen Machtblocks sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ Eine vielversprechende Vision, in der die Ukraine wie auch Russland, wenn erst endlich einmal die Waffen schweigen, die einmalige Chance hätten, mit dem guten Beispiel voranzugehen hin zu einer Welt, die nicht mehr vom Gegeneinander verfeindeter Machtblöcke bestimmt wäre, sondern in der jedes Land und jede Region eine Brücke wäre zu allen anderen, eine Stätte des Wohlergehens aller Menschen, des guten Lebens und des Friedens für alle. 

„Der Tag wird kommen, an dem das Töten eines Tiers genauso als Verbrechen betrachtet wird wie das Töten eines Menschen.“

 

Genügen die bestehenden Vorschriften oder braucht es strengere Auflagen und Kontrollen, um eine artgerechte Haltung von Nutztieren wirksam durchzusetzen? Dies das Thema der Diskussionssendung „Arena“ vom 3. Juni 2022 am Schweizer Fernsehen zur Volksinitiative gegen die Massentierhaltung, über welche die Schweizer Bevölkerung am 25. September 2022 abstimmen wird. Wie viele Hühner sollen maximal in einem Stall gehalten werden können, wie häufig sollen sie freien Auslauf bekommen, wie viel Fläche soll ein Schwein zur Verfügung haben? Fragen über Fragen im Spannungsfeld zwischen Tierwohl und wirtschaftlicher Profitabilität. Doch genau da, wo die Sendung endet, müsste sie doch eigentlich erst so richtig beginnen…

Bei der Frage nämlich, inwieweit der Konsum von Fleisch und Fleischprodukten in einer Welt immer knapper werdender Ressourcen überhaupt noch eine Zukunft haben kann oder ob es nicht an der Zeit wäre, vollumfänglich auf eine pflanzliche Ernährungsweise umzustellen. Tatsache ist, dass, wie der ETH-Agronom Eric Meili berechnet hat, ein Drittel des weltweiten Ackerlands heute für die Tierhaltung und die Tierfutterproduktion verwendet wird. Würde man flächendeckend auf pflanzliche Nahrungsmittelproduktion umstellen, könnte man, so Meili, selbst mit durchgehend biologischem Anbau locker zehn Milliarden Menschen ernähren. Wenn heute weltweit rund eine Milliarde Menschen zu wenig zu essen haben und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil es ihnen an der nötigen Nahrung fehlt, dann ist dies eine ganze direkte Folge des gigantischen Fleischkonsums, an dem in erster Linie die reichen Länder des Nordens beteiligt sind – in Afrika wird pro Kopf der Bevölkerung rund sechs Mal weniger Fleisch gegessen als beispielsweise in den USA oder Australien. „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen“ – mit diesem Slogan machten schon vor 50 Jahren Entwicklungsorganisationen auf die haarsträubenden Zusammenhänge zwischen dem Überfluss und dem Luxus auf der einen Seite und dem Mangel am Allernotwendigsten auf der anderen Seite aufmerksam. Und seither ist es nur noch schlimmer geworden, hat sich doch in diesen fünf Jahrzehnten die globale Fleischproduktion nahezu vervierfacht! 

Eine weitere höchst problematische Begleiterscheinung der Fleischproduktion ist der damit verbundene massive Wasserverbrauch. So sind, um ein Kilo Rindfleisch zu produzieren, mehr als 15’000 Liter Wasser notwendig – die Folge sind ausgetrocknete Flüsse und Feuchtgebiete, sinkende Grundwasserspiegel und versalzene Böden. Doch obwohl dies eigentlich schon genug Gründe sein müssten, gibt es noch ein weiteres, mindestens so gewichtiges Argument für eine weltweite Umstellung auf eine rein pflanzliche Ernährungsweise. Jahr für Jahr werden weltweit rund 70 Milliarden so genannte „Nutztiere“ getötet, die einzig und allein für den Zweck gezüchtet wurden, um dem Menschen als Nahrung zu dienen. 70 Milliarden Lebewesen, von denen jedes einzelne eine eigene Seele hat, eigenes Empfinden, eigene Ängste, eigene Lebensfreude, eigene Träume. Im Grunde, man kann es nicht anders sagen, ein Verbrechen, das nur deshalb von Generation zu Generation nahtlos weitergeführt werden kann, weil es in unseren Köpfen so etwas gibt wie eine unsichtbare Schranke. Auf der einen Seite dieser Schranke sind die lieben Haustiere wie Hund, Katze und Hamster, die liebevoll gehegt, gepflegt und gehätschelt werden wie kleine Kinder und bei denen sich kein Mensch vorstellen könnte, ihrem Leben eines Tages gewaltsam ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite der Schranke die sogenannten „Nutztiere“, deren einziger Zweck darin besteht, eines Tages als Stück Fleisch auf dem Teller eines Menschen zu landen. Nur der Akt einer totalen Entfremdung, eines totalen Bruchs zwischen dem ursprünglichen Lebewesen und dem hermetisch abgepackten Produkt auf dem Gestell im Supermarkt lässt uns diesen Widerspruch aushalten. „Wenn der Mensch“, sagte der deutsche Dichter Christian Morgenstern, „die Tiere, derer er sich als Nahrung bedient, selber töten müsste, würde die Zahl der Pflanzenesser ins Unermessliche steigen.“ Aber es ist nicht nur diese Spaltung zwischen Lebewesen und Fertigprodukt, sondern auch die Macht der Gewohnheit, die dazu führt, dass sich so viele Menschen ein Leben ohne Fleischkonsum gar nicht wirklich vorstellen können: Was immer schon so war und was so viele andere auch tun, kann ja nicht wirklich etwas Schlechtes sein: „Weil die Mehrheit noch am Fleischgenuss hängt“, so der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, „halten ihn die Menschen für gerechtfertigt.“ 

Noch bilden Vegetarier und Veganerinnen eine Minderheit. Noch wird nicht selten der Mann, der statt einer Wurst oder eines Steaks ein Stück Käse auf den Grill legt, insgeheim belächelt oder bemitleidet. Noch ist mancherorts der Sonntagsbraten fast so heilig wie früher der Kirchenbesuch. Doch jede Veränderung beginnt mit einer Minderheit, mit einer neuen Idee, die, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer dereinst sagte, „zuerst einmal belächelt und dann bekämpft wird – bis sie nach längerer Zeit selbstverständlich geworden ist.“ Dies auf dem Weg in eine Zukunft, die noch vor uns liegt, die aber Leonardo da Vinci, der als eines der grössten Universalgenies in die Geschichte eingegangen ist, schon vor über 500 Jahren prophetisch vorausgesehen hatte, als er sagte: „Der Tag wird kommen, an dem das Töten eines Tiers genauso als Verbrechen betrachtet wird wie das Töten eines Menschen.“ Keine Frage, der Tag wird kommen, auch und gerade wenn die Widerstände heute noch schier unüberwindlich scheinen. Denn die Frage, wie sich die Menschheit in Zukunft ernähren wird, ist weit mehr als die Frage, ob man sich diesen oder jenen Luxus noch leisten kann oder nicht. Es geht um nichts weniger als das gemeinsame Überleben: „Nichts“, sagte Albert Einstein, „wird die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern, wie der Schritt zu einer vegetarischen Ernährung.“    

Medien zeigen fast immer nur Einzelereignisse und Einzelbilder – tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen…

 

Sarla Devi, so berichtet das deutsche Magazin „Spiegel“ am 1. Juni 2022, ist 38 Jahre alt. Sie hat drei Töchter im Alter von zwölf, acht und sechs Jahren. Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie in einer Hütte mit zwei Zimmern in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Devis Mann ist Gemüseverkäufer, sie selbst Bauarbeiterin. Jeden Morgen steht sie früh auf, räumt das Haus auf, macht die Kinder für die Schule bereit. Dann geht sie zur Baustelle. Schon am Morgen ist es extrem heiss, bis am Mittag klettert das Thermometer auf bis zu 50 Grad. „Manchmal“, berichtet Sarla, „fühlt es sich bei der Arbeit auf der Baustelle an, als würde die Strasse in Flammen stehen. Einige meiner Kolleginnen haben bereits Hitzekrämpfe erlitten, sind zusammengebrochen, dehydriert, sie verlieren zu viele Elektrolyte durch das Schwitzen. Ich nehme deshalb jeden Tag ein paar Zitronen mit auf die Baustelle, die presse ich aus und mische den Saft mit Wasser, das erfrischt ein wenig. Ich habe ja gar keine andere Wahl, muss mich durch den Alltag quälen.“ Sarlas Arbeit auf der Baustelle besteht vor allem darin, Metallboxen hin- und herzutragen. Die Arme schmerzen schon nach ein paar Stunden immer stärker: „Jeden Tag, da gewöhnt man sich nicht dran. Ich arbeite, solange mein Körper durchhält. Früher, vielleicht vor zehn Jahren, ging mir die körperliche Arbeit noch leichter von der Hand. Heute, wenn ich abends nach Hause komme, bin ich todmüde wie ein Hund.“ Doch auch in der Nacht dauert die unerträgliche Hitze an. Und nachts fühlt man zugleich die Luftfeuchtigkeit, die sich auf alles legt wie ein Schleier. Irgendwann, während ihre Kinder immer noch weinen, findet Sarla vor lauter Erschöpfung dann doch noch den Schlaf, für vielleicht vier bis fünf Stunden pro Nacht, um am nächsten Morgen schon total erschöpft wieder zur Baustelle zu gehen. „Das Leben in dieser Stadt“, sagt sie, „ist eben eine einzige grosse Anstrengung.“ Doch was für Sarla Devi und ihre Familie bitterster Alltag ist, sieht für einen anderen Teil der indischen Bevölkerung, die in unvorstellbarem Reichtum schwelgt, so ganz und gar anders aus: Anfangs Dezember 2018, so berichtet der „Spiegel“ am 12. Dezember 2018, ging in Udaipur, einer im 16. Jahrhundert erbauten indischen Stadt, eine Hochzeitsfeier über die Bühne, welche zweifellos sämtlichen  noch so romantischen Märchenbüchern aller Zeiten Konkurrenz zu machen vermochte. Eingeladen hatte Mukesh Ambani, mit einem Vermögen von 40 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt. Das Hochzeitsfest für seine Tochter liess er sich rund 100 Millionen Dollar kosten, für insgesamt 5100 Gäste, inklusive Auftritt der Sängerin Beyoncé, die Miete von mehr als tausend Luxuslimousinen und die täglich 40 bis 50 Flugzeuge, mit denen die Gäste aus aller Welt anreisten. Sarla Devi und Mukesh Ambani – zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, im gleichen Land. Doch ist das alles andere als ein Zufall, höchstens ein besonders extremes Beispiel. Die Hölle und das Paradies gibt es nebeneinander in jedem kapitalistischen Land, nur sind die beiden Welten nicht überall gleich weit voneinander entfernt. Wo es Reichtum gibt, gibt es Armut, und umgekehrt, das eine bedingt das andere. Kein Mensch kann bloss aufgrund ehrlicher und harter Arbeit ein Vermögen von 40 Milliarden Dollar anhäufen, das geht nur, indem man sich an möglichst gewinnbringenden Finanzgeschäften und Unternehmen beteiligt, die aus ihren Arbeitern und Arbeiterinnen sowie aus Rohstoffen und dem Verkauf von Fertigprodukten einen möglichst hohen Profit herausschlagen. Umgekehrt könnten Sarla Devi und ihre Arbeitskolleginnen sich selbst fast zu Tode schuften – dennoch würden sie zeitlebens in bitterster Armut verharren. Wer arm ist, bleibt arm. Und wer reich ist, steigt so oft noch viel höher hinauf, vermehrt sich das einmal zusammengeraffte Geld doch in immer noch kürzeren Abständen um ein immer grösseres Vielfaches. Auch die Baufirma, für die sich Sarla Devi kaputtarbeitet, wird zweifellos ihre Schäfchen ins Trockene bringen, und eines Tages werden über die neu erstellte Strasse wohl schon bald die Luxuskarossen der städtischen Oberschicht rollen und niemand, aber garantiert niemand von all denen, die in ihren vollklimatisierten Fahrzeugen am Steuer sitzen, werden nach den Namen jener Frauen fragen, die beinahe gestorben wären, um diese Strasse zu bauen. „Kapitalismus tötet!“, sagte Papst Franziskus. Wie Recht er hat! Es ist ein stiller Tod, ein unheimlicher Tod, ein unsichtbarer Tod, der noch immer von der alles beherrschenden Lüge verschleiert wird, es stünde ja jedem Menschen frei, reich und erfolgreich zu werden, wenn er sich bloss genug anstrenge. Dabei ist es doch mehr als offensichtlich: In unzähligen Kreisen, grösseren und kleineren, sich gegenseitig ineinander verstärkenden, ist alles beherrscht von Mechanismen der Ausbeutung und des Herausquetschens des grösstmöglichen Profits aus der Natur und den arbeitenden Menschen. So wie sich die vermögende Oberschicht Indiens durch das Elend von Millionen von Landarbeitern, Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnern und Bauarbeiterinnen wie Sarla Devi bereichert, so bereichern sich wiederum reiche Industrieländer wie die Schweiz durch die Wirtschaftsbeziehungen mit den ärmeren so genannten „Entwicklungsländern“, die grösstenteils auf den Export billiger Nahrungsmittel und Rohstoffe angewiesen sind: Fast 50 Mal so hoch ist der Profit, den die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ erzielt, als die Summe, welche die Schweiz diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Und wie wenn das alles noch nicht genug wäre, ist jetzt noch die Klimaerwärmung die letzte, gewalttätigste und grausamste Form der kapitalistischen „Tötungsmaschine“: Genau jene Länder der nördlichen Hemisphäre, die den grössten Anteil an CO2-Emissionen verursachen, vom Klimawandel selber aber noch am wenigsten betroffen sind, halten, als wäre nichts gewesen, unverrückbar am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums fest, während rund 3,5 Milliarden Menschen in der südlichen Hemisphäre schon heute von den Folgen des Klimawandels existenziell betroffen sind. Sarla Devi und Mukesh Ambani: Für gewöhnlich – egal ob in der Zeitung, am Fernsehen oder im Internet – wird stets nur das einzelne Ereignis, die einzelne Nachricht, das einzelne Bild gezeigt, ganz so, als hätten diese Ereignisse, Bilder und Nachrichten nichts miteinander zu tun, ganz so, als wäre die Welt bloss eine Welt voller Zufälligkeiten, ein Würfelspiel, in dem Glück und Unglück immer wieder neu verteilt werden. Wir sehen eine indische Strassenarbeiterin bei 43 Grad kurz vor dem Kollaps. Aber wir sehen nicht ihren Chef, der gleichzeitig in seinem vollklimatisierten Büro sitzt, eine Tasse Tee schlürft und am Ende des Tages einen zehn Mal höheren Lohn kassiert als die Strassenarbeiterin. Wir sehen und hören von Börsengewinnen, von wirtschaftlichen Erfolgsbilanzen und von steigenden Bruttosozialprodukten. Aber wir sehen nicht den Schweiss, das Blut und die Tränen der sich zu Tode rackernder Menschen, die sich hinter allen diesen Erfolgsmeldungen verbergen und diese überhaupt erst möglich gemacht haben. Tatschlich aber hat alles mit allem zu tun und nichts ist bloss Zufall. Alle diese Verbindungen aufzudecken, die tieferen Ursachen von Armut, Hunger und Elend aufzuspüren, Zusammenhänge von Abhängigkeiten und Ausbeutung sichtbar zu machen – wäre dies nicht die wichtigste, ja geradezu unverzichtbare Aufgabe von Medienschaffenden im Blick auf eine Überwindung aller Ausbeutung, aller sozialer Ungerechtigkeit und aller Gewalt über alle Grenzen hinweg? Eigentlich wäre es gar nicht so kompliziert. Denn es geht schlicht und einfach nur um eines: um die Wahrheit. Darum, sich nicht zufrieden zu geben mit der erst besten Antwort, darum, nicht lockerzulassen, sondern allem bis zum Äussersten auf den Grund zu geben, darum, weder den Armen bloss zu bemitleiden und den Reichen bloss zu bewundern, sondern keine Ruhe zu geben, bis alles, wirklich alles aufgedeckt ist, was Ungerechtigkeiten, Abhängigkeiten und Bevormundung zu erklären vermag. „Die Wahrheit zu sagen“, so der US-amerikanische Autor Andrew Vachss, „ist so subversiv, wie es nur geht. Der subversivste Akt, den man begehen ist, wenn man den Menschen die Wahrheit sagt. Denn was, wenn nicht die Wahrheit, soll die Macht haben, das Unrecht zu untergraben?“