Archiv des Autors: Peter Sutter

Ukraine: Am Ende sind wir alle mitverantwortlich

 

„Seit seinem Überraschungsbesuch in Kiew“, schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 12. April 2022, „kann sich der britische Regierungschef Boris Johnson im Glanz seiner Reise sonnen.“ Die ukrainische Führung, so heisst es, wünschte sich, alle Welt wäre „mutig wie Boris“, der keinen Augenblick gezögert hätte, der Ukraine zu helfen. Und ja: Knausrig war Johnson nicht, hat er der Ukraine doch die Lieferung von 120 gepanzerten Fahrzeugen und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen zugesichert. Bestens dazu passen die Bilder von seinem Kiew-Besuch, wo er zusammen mit Selenski und schwer bewaffneten Begleitern eine Inspektionsrunde absolvierte. Auch die „Sunday Times“ ist voll des Lobes und feiert Johnson als „Waffenbruder“ und „Kampfgefährten“ des ukrainischen Präsidenten. „Die Ukrainer“, so Johnson, „haben den Mut eines Löwen. Und Präsident Selenski hat für das Brüllen des Löwen gesorgt.“ Zurück in London, sind alle Zweifel an der politischen Zukunft Johnsons, die eben noch die Medien beherrschten, im Nichts verflogen. „Indem er der Ukraine so tatkräftig zur Seite steht“, so der „Tagesanzeiger“, „hat Johnson auch seine eigene politische Karriere gerettet. Niemand in seiner Partei wird es wagen, unter den jetzigen Umständen die Ablösung Johnsons zu verlangen.“ Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Während sich Boris Johnson auf seinem Ukrainetrip Ruhm und Ehre geholt hat, hagelte es für den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer, der gleichentags nach Moskau reiste, Kritik von allen Seiten. Er habe, so Nehammer, nichts unversucht lassen wollen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen oder zumindest humanitäre Fortschritte für die notleidende Bevölkerung in der Ukraine zu erwirken, um auf diese Weise die „Brückenbauerfunktion“ als neutrales Land wahrzunehmen. Dieser Besuch, so der ORF-Russlandexperte Gerhard Margott, „ist keine gute Entscheidung“, biete er doch Putin bloss eine Bühne für das internationale Ansehen Russlands, sei „sinnlos“, ein „Fehler“ und eine „Selbstdemütigung Österreichs“. So weit also sind wir schon: Der mutige Waffenbruder aus London, der dazu beiträgt, mit massiven Waffenlieferungen einen Krieg, der schon viel zu viele Opfer gefordert hat, sinnlos weiter in die Länge zu ziehen, wird selbst von seinen politischen Gegnern gefeiert und umjubelt. Und der Bundeskanzler aus Wien, der nicht das Scheinwerferlicht sucht, sondern einfach seinem Herzen und seinem politischen Gewissen folgt, wird von allen Seiten dermassen mit Kritik eingedeckt, dass man sich schon wundern muss, dass nicht bereits die ersten Rücktrittsforderungen gegen ihn erhoben werden. Ja, wer zeigt hier eigentlich mehr Mut? Der Kampfgefährte oder der Friedenssucher? Braucht es denn so viel Mut, 120 gepanzerte Fahrzeuge und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen in den Krieg zu schicken? Oder müsste man nicht viel eher den österreichischen Friedenssucher als den tatsächlich Mutigen bezeichnen, der entgegen aller auf ihn eingeprasselter Kritik nichts unversucht lassen wollte, um vielleicht trotz allem doch noch eine friedliche Lösung des Konflikts hinzukriegen? Wenn Kriegstreiber wie Boris Johnson gefeiert werden und Friedenssucher wie Karl Nehammer der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegeben werden, wenn Pazifismus als naiv und realitätsfremd belächelt und wenn behauptet wird, Krieg sei nur mit Krieg zu bezwingen, dann leben wir in einer höchst gefährlichen Zeit. Verantwortung tragen dabei nicht nur die Politikerinnen und Politiker. Verantwortung tragen in ganz besonders hohem Masse auch die Medien mit ihren hochgeschaukelten, zugespitzten, vereinfachenden Bildern und Meldungen, mit denen sämtliche historische Hintergründe ausgeblendet werden und immer nur gerade der aktuelle Moment ins Scheinwerferlicht gestellt wird. Verantwortung aber tragen auch wir alle, wenn wir entweder schweigen oder aber ins Kriegsgeheul auf der einen oder andern Seite einfallen, statt unsere Stimmen zu erheben für das Kostbarste und Schützenswerteste, was man sich nur vorstellen kann: den Frieden, die Aussöhnung, das Ende von Hass, Feindbildern, Gewalt und Krieg im Zusammenleben von Völkern und Staaten. Allen mutigen Löwen, aller Kriegstreiberei, aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.   

Die gemeinsame Wurzel von Armut, Hunger, Ausbeutung, Pandemie, Klimawandel und Krieg

 

Armut und Hunger weltweit. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Der Klimawandel. Die Coronapandemie. Der Krieg in der Ukraine. Auf den ersten Blick lauter Zufälligkeiten, die nichts miteinander zu tun haben. Tatsächlich aber haben alle diese Bedrohungen eine gemeinsame Ursache: ein auf endloses Wachstum, auf Profitgier und Gewinnsteigerung fixiertes Wirtschaftssystem, die schrankenlose Ausbeutung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, die unaufhörliche Umverteilung von Gütern und Reichtümern von den Arbeitenden zu den Besitzenden. Von welcher Seite wir auch das Ganze betrachten, die Wurzel aller Übel ist der Kapitalismus… 

Erstens: Armut und Hunger weltweit. Wenn heute eine Milliarde Menschen weltweit nicht genug zu essen haben, so ist das eine Folge von 500 Jahren kolonialistischer Ausbeutung der armen Agrarländer durch die reichen Industrieländer, eine Ausbeutung, die bis heute unvermindert weitergeht und dazu führt, dass weltweit nicht nur auf der einen Seite die Armut, sondern gleichzeitig auch auf der anderen Seite der Reichtum immer weiter in die Höhe wächst, weil das kapitalistische Weltwirtschaftssystem darauf beruht, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Doch nicht nur zwischen dem nördlichen und den südlichen Ländern wächst die soziale Kluft unaufhörlich, sondern innerhalb jedes einzelnen Landes zwischen den Armen und den Reichen – eine soziale Kluft, die sich wechselseitig bedingt, ist doch der Reichtum der einen eine unmittelbare Folge der Armut der anderen und umgekehrt. 

Zweitens: Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Das kapitalistische Grundprinzip ist die stetige Gewinnsteigerung. Die Arbeitskraft ist dazu da, innerhalb der kürzest möglichen Zeitspanne zu kleinstmöglichem Lohn die grösstmögliche Arbeitsleistung zu erbringen. Weil sich aber im kapitalistischen Wirtschaftssystem die Unternehmen in einem permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf befinden, bedeutet dies, dass der Druck auf die arbeitenden Menschen, immer mehr und immer schneller zu produzieren, laufend zunimmt. So wie die Rohstoffe und die natürlichen Ressourcen, so wird auch der arbeitende Mensch der grösstmöglichen Profitmaximierung zuliebe ausgebeutet. Am härtesten betrifft dies wiederum die Menschen in den armen Ländern, wo keine Arbeitsgesetze und gewerkschaftliche Organisationen vorhanden sind, um dem menschenfeindlichen Treiben ein Ende zu setzen. 

Drittens: Der Klimawandel. Wieder ist das kapitalistische Prinzip des endlosen Wachstums und der endlosen Profitmaximierung die Hauptursache dafür, dass die natürlichen Lebensgrundlagen, die Biodiversität und die Atmosphäre so sehr belastet und zerstört werden, dass bereits heute 3,5 Milliarden Menschen davon existenziell bedroht sind und das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten in 20 oder 50 Jahren mehr und mehr in Frage gestellt ist. 

Viertens: Die Coronapandemie. Wieder ist kapitalistische Profitgier eine der wesentlichen Ursachen: „In den letzten 20 Jahren“, so Gertraud Schüpbach, Epidemiologin an der Universität Bern, „hat der Handel mit Tieren und Wildtieren stark zugenommen und der Mensch ist immer weiter in unberührte Lebensräume der Natur vorgedrungen, so dass es zu immer häufigeren Kontakten zwischen Mensch, exotischen Tieren und Viren kommt.“ Damit nicht genug: Bei der Weiterverbreitung des Virus spielte der die ganze Welt wie ein Spinnennetz umfassende Flugverkehr eine wichtige Rolle, eine Reiseform, die nur deshalb möglich ist, weil es genug Menschen gibt, die es sich aufgrund der kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen leisten können, per Flugzeug zu reisen. 

Fünftens: Der Krieg in der Ukraine. So wie das kapitalistische Wirtschaftssystem auf Wachstum und Profitmaximierung ausgerichtet ist, so eng ist damit auch die machtpolitische und geografische Expansion verbunden. Kommen sich dabei zwei Kontrahenten ins Gehege, wie dies heute zwischen der Ukraine und dem Westblock auf der einen Seite, Russland auf der anderen Seite der Fall ist, kommt es zum Krieg. „Kapitalismus und Krieg“, schreibt die deutsche Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht, „sind zwei Seiten einer Medaille. Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der Profitmaximierung mit militärischen Mitteln.“ Ähnlich formuliert es der französische Sozialist Jean Jaurès: „Der Kapitalismus birgt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Und Rosa Luxemburg schrieb: „Solange das Kapital herrscht, wird der Krieg nicht aufhören.“ Selbst Papst Franziskus sieht es nicht anders: „Der Kapitalismus braucht den Krieg.“ 

Armut und Hunger. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Der Klimawandel. Die Coronapandemie. Der Krieg in der Ukraine. Alles hängt mit allem zusammen und hat seine Wurzeln in der kapitalistischen Ideologie von Profitmaximierung, Wachstum und Expansion. Eine Hydra, bei der, wenn wir nur einen Arm abschlagen, sogleich zwei neue nachwachsen. Es geht um das Ganze. Es geht um das, was die Klimabewegung den „System Change“ nennt, nicht mehr und nicht weniger als eine neue Weltordnung, deren Verwirklichung umso dringlicher erscheint, je grösser die Bedrohungen sind, die wir gegenwärtig erleben und die möglicherweise noch auf uns zukommen werden. „Der Kapitalismus“, sagt der französische Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selbst zusammenbrechen. Er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Abgrund zu reissen, wie der lebensmüde Pilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“

Höchste Zeit, um von der Kriegslogik zur Friedenslogik zurückzukehren

 

Eine von der „New York Times“ verifizierte Videoaufnahme, so berichtet das „Tagblatt“ vom 8. April 2022, zeige, wie eine Gruppe ukrainischen Militärs gefangene russische Soldaten ausserhalb eines Dorfes westlich von Kiew getötet hätte. Zu sehen sei ein vermutlich verwundeter, russischer Soldat mit einer über den Kopf gezogenen Jacke, auf den ein Soldat zweimal geschossen hätte. Als sich der Russe weiterbewegt habe, hätte man weitere Schüsse auf ihn abgefeuert. Zu hören sei auf dem Video auch ein ukrainischer Soldat, der gesagt hätte: „Das sind nicht einmal Menschen.“ Zu sehen seien drei weitere Soldaten in der Nähe des Opfers, in der Nähe ihrer Köpfe befänden sich Blutlachen. 

Gemäss „New York Times“ sollen die Morde das Resultat eines ukrainischen Hinterhalts gewesen sein, als sich die russischen Truppen auf dem Rückzug befunden hätten. Der Vorfall zeigt, dass in diesem Krieg nicht nur, wie oft angenommen wird, die russische, sondern auch die ukrainische Seite Kriegsverbrechen begeht. Vom UN-Kommissariat für Menschenrechte ausführlich dokumentiert sind auch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, welche vom Regiment Asow, das Seite an Seite mit den ukrainischen Truppen kämpft, seit 2014 in der Ostukraine begangen worden sind. Berichtet wird unter anderem von grausamsten Folterungen, Scheinrichtungen und Massenvergewaltigungen. 

Zu glauben, in einem Krieg gäbe es auf der einen Seite nur die „Guten“ und auf der anderen nur die „Bösen“ wäre wohl naiv. Der Krieg selber ist es, der Menschen, die zuvor noch keiner Fliege etwas zu Leide getan hätten, zu Verbrechern und Bestien macht. Und deshalb kann nur ein Ende des Kriegs solchen Verbrechen, solchen Menschenrechtsverletzungen, solchen Zerstörungen und solchem grenzenlosem Leiden ein Ende bereiten. Doch die Wortführer und die Kriegstreiber auf beiden Seiten scheinen diese Lektion noch nicht verstanden zu haben. „Wir sind Russen – wir werden siegen“, schreibt die russische Botschaft in Bern auf ihrer Website. Und genau die gleichen Worte, nur diesmal aus ukrainischer Sicht, verwendet Wolodomir Selenski. Sind sie eigentlich alle von Blindheit geschlagen? Eine solche Haltung verlängert den Krieg doch bloss ins Unermessliche, denn bis die eine oder die andere Seite den „Sieg“ davon getragen hat, kann es noch Monate oder Jahre dauern und werden noch Abertausende von Menschen für dieses „Heldentum“ ihrer Führer mit dem Leben bezahlen. 

Man kann nicht den Sieg und den Frieden gleichzeitig haben wollen – das eine schliesst das andere aus. Die einzige Alternative zum Siegenwollen um jeden Preis ist eine Friedenslösung, aufeinander zuzugehen, einen Kompromiss suchen, mit dem beide Seiten leben können. Alle die europäischen Regierungen, die jetzt so lautstark nach weiteren Sanktionen rufen, russische Diplomaten ausweisen, Russland aus internationalen Konferenzen ausschliessen und eine immer grössere Anzahl von Waffen liefern, würden stattdessen ihre Stimme viel gescheiter für den Frieden erheben, bevor es zu spät ist und sich die tödliche Spirale weiterdreht bis hin zu einem dritten Weltkrieg und dem möglichen Einsatz von Atomwaffen, welche dann nicht nur dem „bösen“ Feind, sondern auch sich selber endgültig den Garaus machen würden.

 Ja, es ist höchste Zeit für die Deeskalation anstelle der Eskalation, Zeit für eine internationale Friedenskonferenz, welche an die Stelle der Kriegslogik eine Friedenslogik setzen würde, welche den Menschen wieder eine Hoffnung auf ein Leben jenseits von Krieg und Zerstörung vermitteln könnte. Die Unterstützung einer ganz überwiegenden Mehrheit der Menschen weltweit wäre einem solchen Engagement für den Frieden wohl zweifellos gewiss. Denn, wie schon der römische Philosoph Cicero sagte: „Selbst der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der Krieg.“  

Ukraine: Eigentlich wäre Frieden so viel einfacher als Krieg…

 

Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, sagt: „Alle Russen sind unsere Feinde.“ Gleichzeitig schlagen sich Gegner und Befürworter von Aufrüstung, von Waffenlieferungen und schärferen Sanktionen in den verschiedenen europäischen Ländern gegenseitig erbittert ihre Argumente an den Kopf. Wer nur ansatzweise zu bedenken gibt, auch der Westen trage am Krieg in der Ukraine eine Mitschuld, wird sogleich als „Putinversteher“ beschimpft und blossgestellt. In den sozialen Medien wird gröbstes verbales Geschütz aufgefahren, um missliebige Kommentare ins Lächerliche zu ziehen und den Verfasser oder die Verfasserin des einen oder anderen Artikels schon mal als „Mörder“ oder „Verbrecher“ zu verunglimpfen. Ja, es ist Krieg und wir sind alle schon mittendrin. Dieser Krieg findet nicht nur in Odessa, Tschernihiw und Mariupol statt. Er hat sich auch in unsere Köpfe hineingefressen, in unsere Zeitungsspalten, in die Bilder am Fernsehen, in die Kommentare der sozialen Medien. Wo sind die Stimmen, die alledem Einhalt gebieten könnten? Die Stimmen, die dem Krieg das Einzige entgegenstellen würden, was ihn zu bezwingen vermag: die Freundschaft, die Gewaltlosigkeit, den Frieden, die Liebe. Im Getöse immer lauter werdender Kriegstreiberei scheint ganz vergessen zu gehen, dass es sie trotz allem immer noch gibt, voller Sehnsucht, aber schon fast ganz an den Rand gedrängt, eine winzige Blume, an der wir achtlos vorbeigehen. Vor rund vier Wochen haben der Dalai Lama und weitere 15 Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger zu einem Friedensappell aufgerufen, der inzwischen schon von über einer Million Menschen unterzeichnet worden ist, von Chile bis Japan, von Nigeria bis Russland, von der Ukraine bis nach Schweden. Weshalb hat noch keine einzige Zeitung darüber berichtet, weshalb wird es in keiner einzigen Nachrichtensendung am Fernsehen erwähnt? Ist uns der Krieg so viel wichtiger als der Frieden? Ein weiterer Friedensappell stammt von Hunderten ukrainischer und russischer Ärztinnen und Ärzte, ihr Logo besteht aus einer ukrainischen und einer russischen Hand, die ineinander greifen, ein wunderbares Bild, das so etwas wie der Schlüssel sein könnte zu dieser Zeit, da der Krieg zu Ende sein wird. Überall, wo es Hass und Gewalt gibt, da gibt es auch die Liebe. Wir müssen sie nur sehen. Ich bin fast ganz sicher, dass es auch in Butscha, wo wochenlang heftigst gekämpft wurde, irgendeinen jungen russischen Soldaten gab, der für ein kleines Mädchen eine Blume pflückte und fürchterliche Angst davor hatte, andere, ihm fremde Menschen töten zu müssen oder von ihnen getötet zu werden, sodass er sich hinter einer Mauer versteckte, um seiner Todesangst und all dem Grauenhaften aus dem Weg zu gehen. Nur wird dieser junge russische Soldat niemals eine Schlagzeile Wert sein, niemand wird von ihm erzählen, niemand wird sich an ihn erinnern und keine Fernsehreportage wird jemals über ihn berichten. „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“, singen die deutschen „Ärzte“ in einem ihrer berühmtesten Lieder. Tatsächlich: Was wir heute brauchen, ist nicht ein Mehr an Waffen und Krieg, sondern ein Mehr an Freundschaft, an Gewaltlosigkeit und Liebe, um diesen innersten, millionenfach verschütteten Kern, diese unendliche Sehnsucht nach Frieden, die in jedem Menschen verborgen liegt, wieder ans Tageslicht zu bringen. „Das 21. Jahrhundert“, schrieb der Dalai Lama in einem 2018 erschienen Buch, wird das Jahrhundert des Friedens sein oder aber das Ende der Menschheit bringen.“ Vor wenigen Wochen sagte ein Schweizer Kulturhaus ein geplantes Konzert mit der russischen Cellistin Anastasia Kobekina kurzfristig ab. Nicht wegen Corona, nicht weil sich zu wenige Besucherinnen und Besucher angemeldet hatten, nicht weil die Künstlerin krank geworden wäre, sondern einzig und allein deshalb, weil sie eine Russin ist, und dies, obwohl sie den Krieg gegen die Ukraine unmissverständlich verurteilt hatte. Aber das Wichtige kommt erst jetzt: Es erhob sich weitherum ein Sturm der Entrüstung. Ein anderer Konzertveranstalter sprang ein und organisierte einen Auftritt Kobekinas gemeinsam mit einem ukrainischen Geiger, gespielt wurden sowohl russische wie auch ukrainische Werke. Es wäre doch so einfach…

Butscha: „Weltweites Entsetzen“ und viele offene Fragen…

 

Schweizer Fernsehen, „Tagesschau“, 4. April 2022. Die Bilder: Zwei Männer, die einen Lieferwagen mit Leichen in Plastiksäcken beladen. Eine Strasse mit Panzersperren. Zerborstene und plattgewalzte Autos. Zerschossene Wohnhäuser. Drei tote Männer am Strassenrand. Verkohlte Bäume. Ein zerstörter Tanklastwagen. Und mittendrin, im Kampfanzug, Wolodomir Selenski, der einer Gruppe von nach Butscha angereisten Reportern ein Interview gibt: „Die Vorgänge von Butscha werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden. Wir wissen, dass Tausende von Menschen getötet und gefoltert wurden, Gliedmassen abgerissen, Frauen vergewaltigt und Kinder getötet wurden.“ Der Sprecher der „Tagesschau“ kommentiert: „Zerstörte Wohngebiete in Butscha und Leichen auf offener Strasse. Diese Bilder sorgen weltweit für Entsetzen. Die grausamen Bilder aus Butscha könnten die weiteren Sanktionen gegen Russland beschleunigen.“ Man muss kein „Putinversteher“ sein, es genügt der gesunde Menschenverstand, um sich angesichts solcher Berichterstattung einige Fragen zu stellen. Zunächst die Aussage, diese Bilder sorgten für „weltweites Entsetzen“ – das sind ja nicht nur die Worte des TV-Sprechers, sondern auch die Reaktionen der meisten westlichen Länder, welches das „Massaker“ von Butscha aufs Schärfste verurteilen, Russland Kriegsverbrechen vorwerfen und eine weitere Verschärfung der Sanktionen ins Auge fassen. Doch was man als Kriegsverbrechen bezeichnet und was nicht, ist überall willkürlich und vom jeweiligen machtpolitischen Standpunkt abhängig. Man könnte sogar soweit gehen, den Krieg als solchen als Verbrechen zu bezeichnen, jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Was die Geschehnisse von Butscha betrifft: Wenn man diese als „Kriegsverbrechen“ bezeichnet, dann müsste man das Vorgehen des ukrainischen Regiments Asow gegen die ostukrainische Zivilbevölkerung seit 2014 als mindestens ebenso grosses Kriegsverbrechen bezeichnen, fielen dieser rechtsgerichteten Terrororganisation doch laut dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte zahllose Menschen durch bestialische Folterungen, Massenvergewaltigungen und Scheinhinrichtungen zum Opfer – ohne dass dies alles auch nur im Entferntesten ein „weltweites Entsetzen“ ausgelöst hätte. Zweitens die Beschuldigungen und Übertreibungen Selenskis, der von Tausenden Toten und Folterungen spricht, obwohl in der von den russischen Truppen verlassenen Region rund um Kiew „nur“ etwa 400 getötete Zivilpersonen gefunden worden sind. Auch für das „Abreissen von Gliedmassen“, „Vergewaltigungen“ und das „Töten von Kindern“ als Ausdruck der Bestialität der russischen Truppen fehlen offensichtlich die entsprechenden Beweise. Wenn Selenski zu den Journalisten sagt: „Sie sind hier und sehen, was geschehen ist“, so ist das eine reine Lüge, denn diese Journalisten sehen nur einen kleinen Teil von all dem, was Selenski an Gräueltaten aufgezählt hat. Drittens: Das Beispiel des „Tagesschau“-Berichts zeigt auf drastische Weise, wie Manipulation durch Bilder und Worte funktioniert. Die himmelschreienden Bilder einer weitgehend zerstörten Stadt werden mit Behauptungen und scheinbaren „Tatsachen“ sowie Begriffen wie „Kriegsverbrechen“ oder „Völkermord“ zusammengemischt, bis uns buchstäblich der Atem stockt und wir schon gar nicht mehr auf die Idee kommen, es könnte alles auch ganz anders sein. Viertens: Wer die Medien in der Hand hat, der hat auch die Macht in der Hand. So sehr wir auf russische „Propagandasender“ mit dem Finger zeigen, so sehr müssen wir uns in Acht nehmen, dass nicht auch unsere eigenen westlichen, angeblich so objektiven Medien immer mehr zu Propagandainstrumenten werden. Begriffe mit so ungeheurer Wirkung wie „Kriegsverbrechen“ dürften nicht einfach fraglos übernommen, Beschuldigungen ohne Beweise, egal von welcher Seite, dürften niemals unhinterfragt weiterverwendet werden. Und weshalb zeigt kein einziges Medium in der westlichen Welt die Version des russischen Aussenministeriums über die Vorgänge in Butscha? Trauen wir es uns unseren eigenen Bürgerinnen und Bürgern nicht zu, sich zu alledem eine eigene Meinung zu bilden? Begraben wir nach und nach die Demokratie, in deren Name die Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpft, mit unseren eigenen Füssen? Weshalb wird jeder, der nur ein ganz klein wenig Kritik an der ukrainischen Seite übt oder an weniger angenehme historische Ursprünge dieses Konflikts erinnert, sofort als „Putinversteher“ abgestempelt und öffentlicher Verurteilung preisgegeben? Sollten wir nicht der Demokratie gerade jetzt, in so schwierigen Zeiten, umso mehr Sorge tragen? Erfreulicherweise hat sich der schweizerische Bundespräsident Ignazio Cassis von der allgemeinen Empörungswelle nicht gänzlich mitreissen lassen: „Ob in Butscha ein Kriegsverbrechen geschehen ist“, so sagte er, „werden die Gerichte klären. Wir sollten übrigens nicht vergessen, dass sich solche Gräueltaten auch anderswo ereignen, vor allem in Afghanistan und in Jemen. Nur sprechen wir darüber bei uns im Westen viel weniger.“

Altersvorsorge: Auf der Suche nach der verlorenen sozialen Gerechtigkeit

 

„Steht die Pensionierung vor der Tür“, schreibt das „Tagblatt“ vom 4. April 2022, „ist das in der Regel ein Grund zur Freude. Doch diese wird gerade bei Frauen allzu oft getrübt: Bei rund einem Drittel fällt die zweite Säule ganz weg, es bleibt nur die erste Säule, die AHV. Betroffen sind vor allem Frauen, die im Tieflohnbereich arbeiten, sowie Frauen, die gleichzeitig mehrere Arbeitgeber haben, wie zum Beispiel Haushaltshilfen, welche nicht obligatorisch versichert sind. Ständerat und Nationalrat tüfteln gegenwärtig an neuen Modellen, um diesen Benachteiligungen der Frauen wenigstens ein Stück weit entgegenzuwirken. Doch bei alledem bleibt die Systemlogik der eigentliche Pferdefuss: Aus einem kleinen Lohn lässt sich keine grosse Rente zaubern, solange jeder für sich alleine sparen muss.“ Was hier als „Systemlogik“ bezeichnet wird, ist in Tat und Wahrheit eine himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit. Die in für Frauen typischen Tieflohnbereichen geleistete Arbeit trägt nämlich zur Gesamtbilanz der gesamten Volkswirtschaft genau so viel bei wie die Arbeit, die zum Beispiel eine Lehrerin, ein Bankangestellter oder ein IT-Spezialist leistet. Demzufolge müssten die betroffenen Frauen entsprechend ihrer gesellschaftlichen Leistung auch am erzielten Gesamtprofit einen fairen Anteil haben. Dass in vielen gesellschaftlich essenziellen, so genannten „systemrelevanten“ Berufen so wenig verdient wird, wäre schon genug ungerecht. Dass aber die davon Betroffenen auch noch im Alter durch viel zu niedrige, kaum existenzsichernde Renten noch einmal „bestraft“ werden, widerspricht erst recht jeglichem Anspruch auf eine minimale gesellschaftliche Teilhabe. Der Blick darauf, wie Reichtum zustande kommt, offenbart diese Ungerechtigkeit in ihrem vollen Ausmass: Wenn die reichsten 300 Schweizerinnen und Schweizer über ein Vermögen von 812 Milliarden Franken verfügen – was weit mehr ist als das gesamte Bruttosozialprodukt der Schweiz innerhalb eines Jahres -, dann ist nur der kleinste Teil dieser unvorstellbar riesigen Summe aus eigener Kraft verdient. Der weitaus grössere Teil entsteht aus mehr oder weniger transparenten Umlagen aller Art und vor allem dadurch, dass Millionen von Menschen weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – dieser „Mehrwert“ wandert unaufhörlich aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen. Einfach gesagt: Den Reichtum der Reichen finanzieren die Armen mit ihrer Arbeit. Die vielgelobte schweizerische „Solidarität“ ist eine Einbahnstrasse: Sie funktioniert nicht von oben nach unten, sondern ausschliesslich von unten nach oben. Es ist daher nicht übertrieben, zu sagen, dass es sich beim Reichtum der Reichen also sozusagen um „gestohlenes “ Geld handelt. Wenn schon – was ein genug grosser Skandal ist – viele Menschen aufgrund ihrer Arbeitssituation benachteiligt sind, dann sollten sie doch wenigstens im „Ruhestand“ nicht noch einmal zusätzlich benachteiligt werden. Die einzige wirklich gerechte Lösung wäre eine Art Volkspension, in welche alle Erwerbstätigen ihrem Einkommen entsprechend einzahlen und aus der alle, ob „Reich“ oder „Arm“, die gleich hohe Rente beziehen würden. Eine zweite und eine dritte Säule wären damit hinfällig und die bittere Bilanz der heutigen Situation, wonach sich, solange jeder für sich alleine sparen muss, aus kleinen Löhnen keine grossen Renten zaubern lassen, würde damit endgültig der Vergangenheit angehören.

Die Ereignisse in Butscha: Darstellung und Gegendarstellung

 

„Massaker in Butscha: Selenski wirft russischen Truppen Völkermord vor“ – dies die Hauptschlagzeile auf der Frontseite des „Tagesanzeigers“ vom 4. April 2022. Und auf Seite 2 dann: „Putins blutige Spur in Butscha.“ Es geht um ein mutmassliches Massaker, welches die russischen Truppen in Butscha, einer Stadt 37 Kilometer nordwestlich von Kiew, an russischen Zivilpersonen Ende März verübt haben sollen. Als Reporter am 31. März nach dem Abzug der russischen Truppen nach Butscha gekommen waren, hätten sie zahlreiche Leichen auf den Strassen liegen sehen, die meisten mit zusammengebundenen Händen und durch Kopfschuss getötet. Aus offenen Gräbern bei einer Kirche seien Hände seien Hände und Füsse mehrerer Leichname herausgeragt. Insgesamt seien im Grossraum Kiew die Leichen von 410 Zivilisten gefunden worden. Entsprechend scharf sind die Reaktionen: Selenski fordert mehr Waffenlieferungen, die deutsche Aussenministerin kündigt eine Verschärfung von Sanktionen gegen Russland an, das schweizerische Aussendepartement EDA schreibt, die Berichte aus Butscha liessen schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht befürchten, und Carla Del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, fordert sogar einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin. Dieser westlichen Darstellung der Ereignisse von Butscha allerdings widerspricht laut „Russia Today“ das russische Aussenministerium: Die Vorwürfe seien eine Inszenierung Kiews und westlicher Medien. Zu dem Zeitpunkt, als die russischen Streitkräfte in Butscha stationiert gewesen seien, sei kein einziger Anwohner Opfer von Gewalttaten geworden. Nach dem Abzug der russischen Truppen hätte Bürgermeister Anatoli Fjodoruk eine Videoansprache gehalten und mit keinem Wort erschossene Einheimische mit gefesselten Händen auf dem Rücken erwähnt. Die sogenannten „Beweise“ für das Massaker seien erst am 4. Tag nach dem Abzug der russischen Truppen aufgetaucht, als Beamte des ukrainischen Sicherheitsdienstes und Vertreter des ukrainischen Fernsehens in der Stadt eingetroffen seien. Das Massaker hätten die Ukrainer selber angerichtet. Und zwar hätten sie nach dem Rückzug der russischen Truppen unter den Ukrainern Kollaborateure gesucht, eine Hexenjagd gestartet und dann diese Leute hingerichtet und anschliessend so getan, als ob das die russischen Streitkräfte gewesen wären. Westliche Darstellung und russische Gegendarstellung. Wer hat Recht? Wer lügt und wer sagt die Wahrheit? Schwer zu sagen, da noch keine unabhängige Untersuchung der Ereignisse stattgefunden hat. Doch wie dem auch sei: Die Ereignisse von Butscha zeigen uns in aller Eindringlichkeit, dass dieser Krieg auf keinen Fall mehr weiter in die Länge gezogen werden darf und schnellstmöglich eine Friedenslösung gefunden werden muss, bei der beide Seiten aufeinander zugehen und einen Kompromiss finden müssen, mit dem beide leben können. Denn, wie schon der römische Philosoph Cicero lehrte: „Selbst der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ 

Die Ukraine im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten und die Notwendigkeit einer neuen Friedensordnung

 

In seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ schreibt Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981: „Ohne die Ukraine ist Russland keine Grossmacht. Um Amerikas Vormachtstellung in Europa zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.“ Brzezinski spricht in seinem Buch im Zusammenhang mit dem europäisch-asiatischen Raum von einem „Schachbrett“, einem Spielfeld sozusagen, auf dem sich der entscheidende Machtkampf zwischen den Grossmächten abspielen werde. Dies erklärt viel vom Bestreben des Westens, die Ukraine der EU und der NATO einzugliedern, aber auch von den Bestrebungen Russlands, dies unter allen Umständen zu verhindern. Einmal mehr wird ein einzelnes Land zwischen den Interessen der Grossmächte zerrieben, wie das im Laufe der Geschichte so oft geschehen ist, denken wir nur an Vietnam, an den Irak, an Afghanistan oder an Syrien. Wie oft haben im Laufe der Vergangenheit einzelne Staaten den Anspruch auf die „Weltherrschaft“ erhoben – und sind zuletzt kläglich daran gescheitert: das Römische Reich, das British Empire, das „Dritte Reich“ des Nationalsozialismus. Heute stehen sich als verbleibende Grossmächte die USA, Russland und China gegenüber. Doch der Anspruch, eine Gross- oder gar Weltmacht sein zu wollen, ist nur schon von der Idee her eine völlige Absurdität. Denn dieses Ziel lässt sich ja nur, wie bei einem Wettlauf oder einem Boxkampf, nur erreichen, wenn alle andere Konkurrenten dieses Ziel nicht erreichen. Weltmachtstreben ist somit per se auf Kampf, Niederlagen und Zerstörung ausgerichtet, egal ob mit „friedlichen“ oder mit kriegerischen Mitteln – genau das, was die Ukraine in diesen Tagen und Wochen so schmerzlich erfährt und was im Vietnamkrieg zwischen 1955 und 1975 zum Tod von rund einer halben Million Menschen, unermesslicher Zerstörung und Verwüstung geführt hat. Und schauen wir in die Zukunft, sieht es nicht weniger bedrohlich aus: Bereits zeichnet sich ein neues Machtspiel zwischen den Grossmächten ab, diesmal im Pazifischen Raum, wo China den territorialen Anspruch auf Taiwan erhebt, welchem seinerseits im Falle eines Konflikts die militärische Unterstützung durch die USA zugesichert worden ist. Sind wir, was technischen Fortschritt betrifft, schon längst im 21. Jahrhundert angelangt, so bewegt sich die internationale Politik auf dem „Schlachtfeld“ gegenseitig konkurrierender Grossmächte noch immer in den Fussstapfen des 19. Jahrhunderts. Als hätte es nicht genug Gelegenheiten gegeben, aus der Geschichte zu lernen. Die Absurdität wurde nie grundsätzlich in Frage gestellt. Die Absurdität nämlich, dass es Staaten wie die USA, Russland und China geben soll, die sozusagen einen von Grund auf anderen Status haben sollen als alle übrigen Länder der Welt, eben den Status einer Gross- bzw. Weltmacht. Was gibt denn einem Staat eine grössere Bedeutung als den anderen? Bloss seine militärische und wirtschaftliche Stärke, die Grösse seines Territoriums, die Anzahl seiner militärischen Stützpunkte, ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Völkern oder Ethnien? Gibt es für all das auch nur im Entferntesten so etwas wie eine demokratische Legitimation? Was haben Amerikaner in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan zu suchen? Was haben Russen in Libyen oder in Syrien verloren? Wer hat die Chinesen nach Kenia, Äthiopien und Mosambik gerufen? Die Forderung nach einer Welt gleichberechtigter Staaten, in der nicht „Grosse“ über „Kleinere“ bestimmen und diese an ihren Rändern im gegenseitigen Machtkampf zerreiben, ist eine zutiefst demokratische. Das Beispiel mag hinken, dennoch könnte es exemplarische Wirkung haben: Die Schweiz bestand noch bis ins 18. Jahrhundert aus „Freien Orten“ einerseits, Untertanengebieten andererseits. Genossen die Menschen in den „Freien Orten“ viele demokratische Rechte, waren die Menschen in den Untertanengebieten hingegen unfrei und mussten an ihre Herren hohe Abgaben entrichten – Kolonialismus pur. Heute ist es selbstverständlich, dass die Bewohnerinnen und Bewohner aller Orte – die man heute „Kantone“ nennt – die gleichen Rechte haben und niemand von anderen bevormundet wird. Deshalb genügt es nicht, zwischen der Ukraine und Russland einen Friedensvertrag auszuhandeln. Das kann nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt wäre eine neue Weltordnung, in der kein Staat mehr das Rechte hätte, mächtiger zu sein als andere und sein Territorium auf Kosten anderer auszudehnen. Wenn wir es nicht schaffen, eine solche neue, egalitäre Weltordnung aufzubauen, stehen wir nämlich schon bald vor dem nächsten höchst gefährlichen Konflikt im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten, der sich schnell zum dritten Weltkrieg ausweiten könnte. Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977, sagte schon im Jahre 2014 ein weises Wort: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein – sie sollte eine Brücke zwischen beiden Seiten sein.“ Und eigentlich müsste dies für alle Länder der Welt Gültigkeit bekommen. Zwischen ihnen allen sollten nicht Mauern, Panzer und Atombomben stehen, sondern Brücken gegenseitiger Verständigung, Brücken des Friedens und der Liebe…

 

Als ob mit mehr Waffen mehr Frieden zu schaffen wäre…

 

„Arena“ am Schweizer Fernsehen vom 1. April 2022. Es geht um den Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf die Schweiz. Es geht um die Frage , ob und zu welchem Preis neue Kampfflugzeuge beschafft werden sollen. Es geht darum, ob das Militärbudget der Schweiz angesichts zukünftiger Bedrohungen von 5 auf 7 Milliarden Franken jährlich aufgestockt werden soll. Diskutiert wird auch die Grundsatzfrage, ob Waffen die Welt sicherer machen können. Es diskutieren auf der einen Seite als eher „militärfreundlich“ Andrea Gmür-Schönenberger von der Mitte-Partei und Josef Dittli von der FDP, auf der Gegenseite als eher „militärkritisch“ Marionna Schlatter von den Grünen und Sarah Wyss von der SP. Während das Hauptpodium durchaus ausgewogen besetzt ist, fällt bei den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Sendung doch eine recht eklatante Einseitigkeit auf: Da ist zunächst der „Experte“, Marcel Breni, Strategieexperte der Militärakademie der ETH Zürich. Auf die Frage, ob Waffen die Welt sicherer machen, fällt ihm nichts anderes ein als die Aussage, dass sich die Fachleute in Bezug auf diese Frage weltweit nicht einig seien. Unwillkürlich frage ich mich, weshalb man nebst dem Vertreter der Militärakademie nicht als zweite Expertin zum Beispiel eine Pazifistin eingeladen hat. Gerade auch um zu zeigen, dass Pazifismus nicht einfach eine Haltung der Faulheit oder Bequemlichkeit ist, sondern eine jahrhundertelange, von zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten wie Bertha von Suttner, Bertrand Russell oder Albert Einstein getragene und stets immer wieder neu erkämpfte Bewegung für eine andere, bessere Welt. Dann die „Stimmen aus dem Volk“: Weshalb nur zwei ältere Herren, weshalb keine Frauen, weshalb keine Jugendlichen, weshalb keine Kinder? Schliesslich das „Publikum“: Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums. Zum Schweigen verurteilt sitzen sie da, werden nicht in die Diskussion einbezogen. Hätten sie nichts zu sagen? Wäre es nicht doppelt und dreifach so wichtig, ihre Stimmen wahrzunehmen, die Stimmen einer Generation, die von all dem, was hier diskutiert wird, stärker betroffen sein wird und auch dann noch leben wird, wenn alle anderen, die hier so eifrig über Krieg und Frieden debattieren, schon längst gestorben sein werden? Zurück zum Hauptpodium: Interessant ist, dass sich nebst allen Unterschieden die drei Kontrahentinnen und der Kontrahent doch in einem zentralen Punkt einig sind. „Ich hätte auch lieber eine Welt ohne Waffen“, sagt Andrea Gmür-Schönenberger und Josef Dittli pflichtet ihr bei. Doch dann kommt das grosse Aber: Dies jedoch, sagen die beiden, sei nicht realistisch und würde, wenn nur die Schweiz ihre Armee abschaffen würde, weltweit rein gar nichts nützen. Was für ein Widerspruch. Wenn man schon eine „Welt ohne Waffen“ als das höchste und beste Ziel betrachtet, dann müssten doch genau diese Menschen, dies sich ja so gerne als „Sicherheitspolitiker“ und „Sicherheitspolitikerinnen“ bezeichnen, auf die Barrikaden steigen und alles daran setzen, um dieser Idee und diesem Ziel weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, gerade um jene Sicherheit zu schaffen, die durch Waffen und Armeen permanent bedroht und in Frage gestellt wird. Denn alle Armeen werden einzig und allein durch das Recht auf „Selbstverteidigung“ legitimiert, durch die gegenseitige Angst. So auch der gegenwärtige Krieg in der Ukraine: Russland hat Angst vor der NATO und die NATO hat Angst vor Russland. Und das Gleiche bei China und den USA: Die USA haben Angst vor China und China hat Angst vor den USA. Alle reden daher auch stets nur von „Verteidigung“, was sich auch darin zeigt, dass weltweit kein einziges Land einen „Kriegsminister“ hat, wie das zu früheren Zeiten der Fall war, sondern alle haben nur „Verteidigungsminister“. Wenn es gelänge, diese gegenseitigen Ängste abzubauen, würden sämtliche Armeen, nutzlos geworden, augenblicklich von der Bildfläche verschwinden. Die Schweiz könnte ein leuchtendes Beispiel, ein einzigartiger Wegbereiter für eine solche „Zeitenwende“ sein. Nicht nur, indem wir die eigene Armee abschaffen würden, sondern indem wir eine Plattform bieten würden für eine globale Sicherheits- und Friedenskonferenz, die weit über konventionelle Konferenzen solcher Art hinausgehen würde und nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern die gesamte Zivilgesellschaft bis hin zu den Jugendlichen und den Kindern.
„Jede
Kanone, die gebaut wird“, sagte US-Präsident Dwight D. Eisenhower,
„jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete
bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren
und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld
allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer
Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Reichste versenken Bidens Reichtumssteuer – ist das noch eine echte Demokratie?

 

„Wir sollten stolz darauf sein, dass unser Land soviel Reichtum produzieren kann“ – mit diesen Worten, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 1. April 2022, kämpft John Manchin, demokratischer Senator aus West Virgina, gegen Joe Bidens Plan einer Reichtumssteuer, von der nicht das jeweilige Vermögen als solches, sondern das Wachstum von Vermögen betroffen wäre. Wenn zum Beispiel der Wert des Facebook-Aktienpakets von 30 auf 60 Milliarden Dollar zunähme, dann würde man diese 30 Milliarden als Einkommen deklarieren und entsprechend versteuern. Bekämpft wird die Idee einer solchen Reichtumssteuer auch mit Argument, dass jeder und jede eines Tages reich werden könne und dafür nicht schon zum Vornherein „bestraft“ werden sollte. Auch Kongresspräsidentin Nancy Pelosi, selber eine der reichsten Abgeordneten, lehnt Bidens Vorschlag ab. Man merkt schon, dass auch in den amerikanischen Schulen nur das ABC der Buchstaben und das Einmaleins gelehrt wird, nicht aber das ABC des Kapitalismus. Sonst wüssten nämlich Manchin, Pelosi und alle anderen, die sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer einsetzen, wie Reichtum tatsächlich zustandekommt. Nämlich dadurch, dass Millionen von Menschen für ihre Arbeit weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, und sich dieses Geld dann in den Reichtum der Reichen verwandelt. Die Reichen sind nur deshalb reich, weil die Armen arm sind – Reichtum und Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Mit jedem Kilo Brot, das gekauft wird, mit jeder Arbeitsstunde am Fliessband, mit jedem Haus, jeder Strasse und jeder Brücke, die gebaut werden, mit jeder Versicherung, die abgeschlossen wird, mit jeder Tonne Stahl, die in ein Auto, ein Schiff oder einen Panzer verwandelt wird, fliesst unaufhörlich Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen und demzufolge werden auch die Unterschiede zwischen ihnen immer grösser. Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf irgendwelchen exotischen Bäumen oder in irgendwelchen geheimnisvollen Muscheln auf dem Meeresgrund. Es entsteht einzig und allein aus den Tränen, dem Schweiss und dem Blut all jener, die täglichste Schwerstarbeit verrichten und dennoch von den Früchten ihrer Arbeit ausgeschlossen bleiben. Wenn irgendwer auf irgendetwas zu Recht stolz sein müsste, dann gewiss nicht die Reichen auf ihren Reichtum, sondern all die Millionen Tag für Tag hart arbeitenden Frauen und Männer auf das, was sie unermüdlich leisten, die Bauarbeiter und die Krankenpflegerinnen, die Verkäuferinnen und die Fabrikarbeiter, die Putzfrauen und die Lastwagenfahrer, die Gärtner und die Friseusen, die Bäcker und die Kinderbetreuerinnen, ohne deren unermüdlichem Einsatz von früh bis spät die ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich zusammenbrechen und selbst der ganze Reichtum der Reichen im Nichts verschwinden würde. Wenn Abgeordnete, von denen selber die meisten über weit überdurchschnittliche Vermögen verfügen, sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer wehren, die nur ein klein wenig mehr Gerechtigkeit mit sich bringen würde, dann kann man wohl kaum mehr von einer echten Demokratie sprechen, dies umso weniger, als gemäss Umfragen eine grosse Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Bidens Vorschlag einer Reichtumssteuer unterstützen würde. Müsste man das nicht eher als „Plutokratie“ bezeichnen, als Diktatur des Reichtums und des Geldes? An dem Tag, an dem eine echte Demokratie an die Stelle der kapitalistischen Plutokratie getreten sein wird, wird man nicht mehr stolz darauf sein, „möglichst viel Reichtum zu produzieren“, sondern darauf, den vorhandenen Reichtum möglichst gleichmässig und gerecht unter alle Menschen verteilt zu haben.