Archiv des Autors: Peter Sutter

Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands – wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden

 

Mehr als 7000 russische Soldaten, so die „New York Times“, könnten im Ukrainekrieg bereits gefallen sein. Ukrainische Quellen sprechen sogar von 13’500 Toten. In knapp drei Wochen hätte Russland somit mehr Soldaten verloren als die USA in den 20 Jahren Irak- und Afghanistankrieg zusammen. Dazu kommen erst noch, je nach Schätzung, 14’000 bis 21’000 Verwundete. Doch sagen alle diese Zahlen rein gar nichts aus über das unermessliche Leiden, das sich dahinter verbirgt: siebzehn- und achtzehnjährige Wehrpflichtige, kaum richtig ausgebildet, in einen Krieg geschickt, von dem ihnen eingetrichtert worden war, es handle sich bloss um ein Manöver, eingequetscht in viel zu enge Panzerkabinen, tagelang ohne Nachschub an Essen und Treibstoff, quälender Kälte ausgesetzt, traumatisiert durch die allesdurchdringenden Schmerzensschreie zu Tode getroffener Leidensgenossen, in ständiger Angst vor ihren Vorgesetzten, welche schärfste Sanktionen ergreifen würden, sollte nur ja einer auf die Idee kommen, dieser Hölle durch eine Flucht über die Frontlinie zu entrinnen. Und für jeden der Gefallenen und Verwundeten eine ganze Familie irgendwo im fernen Moskau, in Wladiwostok oder Nowosibirsk, Eltern, Grosseltern, Frau und Kinder, die vor lauter Angst um den geliebten Vater nicht mehr schlafen können und sich selber infolge der Sanktionen des Westens immer öfters auch das Lebensnotwendigste nicht mehr leisten können. Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch die russische Bevölkerung und ganz besonders die russischen Soldaten leiden in diesem sinnlosen, verbrecherischen Krieg unermesslich. Der Unterschied ist nur: Das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer hat in der westlichen Öffentlichkeit, in den Zeitungen, am Fernsehen und in den sozialen Medien ein Gesicht. Die Russinnen und Russen dagegen leiden unsichtbar. Denn sie sind ja, aus der Sicht des Westens, die „Bösen“ – egal ob es sich um Putin, um die russischen Soldaten, um die russische Bevölkerung oder um russische Künstlerinnen und Künstler handelt, welche von westlichen Theater- und Konzerthäusern boykottiert werden. Eine gefährliche Schieflage, die – angeheizt durch den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in seinen Videobotschaften an das amerikanische und das deutsche Parlament – immer mehr auf den Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ hinausläuft, immer stärker von Kriegs- und Durchhalteparolen bestimmt wird und immer weniger von der Suche nach einer gemeinsamen Friedenslösung. Im Gegenteil: Wer immer noch für Verständigung und für Kompromisse eintritt, wird schon fast als ewiggestriger Träumer belächelt. Dabei ist nichts so naiv wie die Vorstellung, man könne einen Krieg gewinnen, indem man seinen Feind vernichtet, selbst auf die Gefahr hin, damit einen Weltkrieg auszulösen. Das einzig wirklich Realistische und Vernünftige ist, sich auszusöhnen und sich gegenseitig die Hände zu reichen. Drei Berichte, auf die ich – fernab vom kriegerischen medialen Mainstream – gestossen bin, geben mir trotz allem Hoffnung. Der erste: Seitens der russischen Regierung liegt mittlerweile ein 15-Punkte-Plan zu einer Friedenslösung mit der Ukraine vor. Die wichtigsten Elemente: Die Ukraine gibt ihre Ambitionen auf, der NATO beizutreten; die Ukraine verzichtet auf ausländische Militärbasen im Land; die Ukraine soll eine eigene Armee behalten; Staaten wie die USA, Grossbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren; die russischen Truppen ziehen sich aus der Ukraine zurück. Was ist an diesem Plan so ungeheuerlich? Weshalb hetzt Selenski die NATO-Staaten gegen Russland auf, statt sich ernsthaft auf den Vorschlag Russlands einzulassen? Offenbar hat die ukrainische Regierung zu wenige überzeugende Gegenargumente, steht dem Plan aber skeptisch gegenüber, weil man den Russen „nicht trauen“ könne. Wer aber so denkt, verunmöglicht a priori jede Friedenslösung und müsste dann eigentlich konsequenterweise schon gar keine Friedensverhandlungen führen, denn jeglicher Versuch einer Verständigung ist ohne eine gegenseitige Vertrauensbasis zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Der zweite Bericht, ebenfalls fernab von medialem Scheinwerferlicht: Am 17. März 2022 erliessen ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte einen gemeinsamen Friedensappell. Er lautet wie folgt: „Wir rufen die Verantwortlichen der Konfliktparteien und der USA dazu auf, alles daran zu setzen, konstruktive und effektive Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zu beschleunigen, um die Menschenleben in der Ukraine und Russland zu retten.“ Der dritte Bericht betrifft die 28jährige russische Cellistin Anastasia Kobekina. Sie war von der Kartause Ittigen im schweizerischen Thurgau aus politischen Gründen ausgeladen worden, obwohl sie sich dezidiert gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesprochen hatte. Die Entrüstung über die Absage des Konzerts war aber in der Kulturszene so gross, dass gleich zwei Veranstalter in die Bresche springen wollten, um dennoch ein Konzert mit Anastasia Kobekina zu ermöglichen. In wenigen Tagen wird das Konzert nun stattfinden und als Zeichen der Aussöhnung wird Kobekina zusammen mit einem Geiger aus der Ukraine auftreten und nebst anderen auch ukrainische Werke interpretieren. Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands. Wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden. Wie dieser ausgehen wird, dazu können wir alle etwas beitragen, sowohl die Politiker und Politikerinnen, wie auch die Medien und wie auch jede Einzelne und jeder Einzelne von uns. 

Ohne Aufklärung und Selbstkritik gibt es keine nachhaltige, dauerhafte Friedenslösung

 

„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“, so der deutsche Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel im „Tagesanzeiger“ vom 17. März 2022, „gab es eine Zeit der Offenheit. Verhängnisvollerweise hat das Regime Putin diese Suchbewegung abgebrochen und blockiert. Putin verkörpert eine Politik, die nicht fähig ist, einen Ausweg aus dem Grossmachtstreben zu finden. Putin stemmt sich gegen den Lauf der Geschichte.“ Von einem Historiker und Osteuropaexperten hätte ich eigentlich eine etwas differenziertere Betrachtungsweise erwartet. Schlögel scheint die Rede Putins vor dem deutschen Reichstag im September 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, völlig entgangen zu sein. „In dieser Rede“, so der langjährige ARD-Publizist Fritz Pleitgen, „gab Putin alles, um die Europäische Union für eine faire Partnerschaft mit Russland zu gewinnen. Er erklärte einen stabilen Frieden auf dem europäischen Kontinent zum Hauptziel Russlands und forderte eine Abkehr von den Stereotypen und Klischees des Kalten Kriegs. Und er betonte, ohne eine standfeste Sicherheitsarchitektur sei auf diesem Kontinent kein Klima des Vertrauens und kein einheitliches Grosseuropa zu schaffen.“ Ebenfalls unterschlägt Schlögel die Tatsache, dass trotz dieser russischen Friedensangebote die NATO-Osterweiterung unter Federführung der USA aktiv und gezielt vorangetrieben wurde und dies, obwohl die Administration George Bush sen. dem damaligen Sowjetführer Gorbatschow im Februar 1990 versprochen hatte, die NATO werde „keinen Inch“ nach Osten vorrücken, und der US-Historiker George Kennan 1997 mit folgenden Worten vor einer NATO-Osterweiterung warnte: „Die ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung lenken, die uns nicht gefallen wird.“ Schliesslich erwähnt Schlögel auch mit keinem Wort, dass die jährlichen Militärausgaben der USA zwölf Mal höher sind als jene Russlands. Meine Anmerkungen sollen auf keinen Fall als Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dienen. Krieg ist nie und unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Trotzdem sollte man sich aber weiterhin, und in einer so angespannten Zeit wie der unseren erst Recht, um die historische Wahrheit bemühen. Von einem glaubwürdigen Historiker erwarte ich Aufklärung, nicht polemische und einseitige Zuspitzungen und Schuldzuweisungen. Aufklärung aber beinhaltet immer auch Selbstkritik. Erst wenn wir erkennen, dass der Westen an der heutigen weltpolitischen Entwicklung nicht gänzlich unschuldig ist, werden wir in der Lage sein, eine Friedensordnung aufzubauen, die nachhaltig und dauerhaft Bestand haben wird.

Schweizerische Flüchtlingspolitik: Der Rassismus in unseren Köpfen

 

„Lieber Ukrainer als Afghanen“ – so titelt das „Tagblatt“ am 16. März 2022. Während in der Schweiz Ukrainerinnen und Ukrainer mit offenen Armen empfangen und von der Bevölkerung bereits 55’000 Privatbetten zur Unterbringung der Flüchtlinge angeboten worden seien, hätte sich bei der Migrationswelle 2015 aus Eritrea, Afghanistan und Syrien die Gastfreundschaft der Schweiz in engsten Grenzen gehalten. Von der grosszügigen und unkomplizierten Aufnahmepraxis mit dem neuen Status „S“, von dem die ukrainischen Flüchtlinge profitierten, hätten die Flüchtlinge aus dem Süden und aus dem Osten, die an den Grenzen Osteuropas unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum in Notunterkünften untergebracht seien oder die Nächte im Freien verbringen müssten, nicht einmal zu träumen gewagt. Gemäss Margrit Oswald, emeritierter Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Bern, liege der Grund für diese eklatanten Unterschiede bezüglich Gastfreundschaft und Aufnahmepraxis darin, dass man sich „kulturell und religiös den Ukrainerinnen und Ukrainern näher fühlt als Menschen aus fernen Ländern.“ Die Ukraine sei eben, so Oswald, „Teil der westlichen Wertegemeinschaft“. Auf den ersten Blick ein Argument, das ich nachvollziehen kann, auf den zweiten Blick aber löst der Begriff der „Wertegemeinschaft“ gleich eine Vielzahl von Fragen aus. Denn der Begriff der „Wertegemeinschaft“ beinhaltet doch, bewusst oder unbewusst, dass die Werte der „eigenen“ Gemeinschaft jener anderer Gemeinschaften überlegen seien. Die gleiche Vorstellung schwingt auch mit, wenn wir von mehr oder weniger „entwickelten“ Gesellschaften sprechen. Von hier aus ist es dann nur ein kurzer Weg bis zur Überzeugung, der „Wert“ eines Menschen sei abhängig von seiner nationalen oder ethnischen Herkunft. Gewiss, niemand wird das so sagen, aber die tägliche Erfahrung zeigt, dass solcher „Rassismus“ – Abwertung und Diskriminierung von Menschen oder Volksgruppen gegenüber anderen – immer noch tief in unseren Köpfen steckt. Nur so ist zu erklären, dass die von den USA gegen Afghanistan und den Irak geführten Kriege niemals die gleich hohen medialen Wellen schlugen, wie dies beim Krieg in der Ukraine der Fall ist, obwohl sowohl der Afghanistan- wie auch der Irakkrieg ebenso völkerrechtswidrig waren und gegen eine Million ziviler Opfer forderten. Aber eben, es waren halt „nur“ Irakis und Afghaninnen, die der militärischen Macht und Gewalt zum Opfer fielen. Rassismus steckt tiefer in unseren Köpfen, als uns lieb ist. Wenn wir von marokkanischen Landarbeiterinnen und Landarbeitern hören, die auf spanischen Erdbeerfeldern gnadenlos ausgebeutet werden, dann versetzt uns dies für einen kurzen Moment in Schrecken, aber meistens geht das schnell vorbei, es sind ja „nur“ Marokkanerinnen und Marokkaner – wären es Deutsche oder Schweizerinnen, würde dies einen europaweiten Schrei des Entsetzens auslösen. Auch die zehntausend Kinder, die weltweit täglich vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs infolge Nahrungsmangels sterben, sind ja „nur“ afrikanische, asiatische oder südamerikanische Kinder. Auch die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren „nur“ Japanerinnen und Japaner. Und auch auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas wurden über 300 Jahre lang „nur“ Afrikanerinnen und Afrikaner zu unmenschlichster, tödlicher Arbeit gezwungen. Wenn wir von „Wertegemeinschaft“ sprechen, dann müssen wir sehr genau, sehr differenziert und sehr selbstkritisch jegliches „Wertedenken“ und jegliche Form von Rassismus, der sich damit verbindet, hinterfragen. Ja, es gibt unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Ethnien, Religionen, Nationalitäten, Denkweisen. Die Werte der Menschlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der Toleranz und des Friedens aber sind universell. Die einzige „Wertegemeinschaft“, die wirklich zählt, ist die Wertegemeinschaft aller Menschen über alle Grenzen hinweg. Sie ist erst dann an ihrem Ziel angelangt, wenn weltweit ein gutes Leben für alle heute und in Zukunft lebenden Menschen auf diesem Planeten Wirklichkeit geworden ist.

NATO-Osterweiterung: „Der Westen nützte die Schwäche Russlands schamlos aus.“

 

Die offizielle westliche Sicht auf die NATO-Osterweiterung besagt, dass diese, erstens, zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für Russland bedeutet hat und dass es, zweitens, das Recht eines jeden souveränen Staates sei, selber zu entscheiden, welchem Militärbündnis er angehören wolle. Dieser These widerspricht der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen in seinem Buch „Friede oder Krieg“. „Nach dem Ende des Kalten Kriegs“, schreibt Pleitgen, „machte sich in der US-Rüstungsindustrie die Erkenntnis breit, dass mit dem Ende der Sowjetunion ein Feind abhanden gekommen war, dem die Waffenhersteller viele schöne, vor allem aber gewinnbringende Aufträge verdankten.“ Diese „böse Entdeckung“ hätte eine machtvolle Gruppe auf den Plan gerufen, einen militärisch-industriellen Komplex, der schon vom früheren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower als „Gefahr für die Demokratie“ beschrieben worden sei. Die Vertreter dieses militärisch-industriellen Komplexes hätten in den Staaten Ost- und Mitteleuropas einen „vielversprechenden neuen Markt“ gefunden. Rasch hätten die Firmen der amerikanischen Rüstungsindustrie Kontakte zu den potenziellen NATO-Beitrittskandidaten geknüpft und in deren Hauptstädten Büros eingerichtet. Ein weiterer wichtiger Schritt seien die US-Präsidentschaftswahlen Ende 1996 gewesen: „Um die Stimmen der Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa für sich zu gewinnen, versprach Bill Clinton in seinem Wahlkampf die Aufnahme der nunmehr unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion in die NATO. Als er schliesslich die NATO-Osterweiterung als Marshall-Plan für Ost- und Mitteleuropa beschrieb, gab es kein Halten mehr, die Kandidaten für den NATO-Beitritt standen Schlange.“ All dies, so Pleitgen, hätte in schärfstem Kontrast gestanden zu dem im Februar 1990 von der Administration George Bush sen. gegenüber Michael Gorbatschow abgegebenen Versprechen, wonach die NATO „keinen Inch“ in Richtung Osten erweitert werden sollte, ein Versprechen, das später auch von US-Aussenminister James Baker ausdrücklich bekräftigt worden sei. Auf erhebliches Unverständnis sei das Konzept der NATO-Osterweiterung auch beim amerikanischen Diplomaten, Historiker und Publizisten George Kennan gestossen, der in diesem Zusammenhang von einem „verhängnisvollen Fehler der amerikanischen Politik“ gesprochen und davor gewarnt habe, dass diese Entscheidung die russische Aussenpolitik in eine Richtung drängen könnte, die sich früher oder später als grossen Schaden für die amerikanische Sicherheitspolitik erweisen könnte. „In seiner wirtschaftlich desolaten Lage“, so Pleitgen, „hatte Russland gegen den Expansionskurs der NATO keine Chance. Entsprechend matt fiel der Widerstand aus. Der Westen nützte die Schwäche Russlands rigoros aus. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung. 1999 wurden Lettland, Litauen und Polen von der NATO aufgenommen, wenige Jahre später wechselten sieben weitere Länder des ehemaligen Sowjetimperiums in das Atlantische Bündnis.“ Auch ein Brief von 40 führenden amerikanischen Politikerinnen und Politikern an Präsident Clinton, in dem das Vorrücken des Westens bis an die Grenzen Russlands als historischer Fehler bezeichnet worden sei, hätte diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten vermocht. Pleitgen verweist in seinem Buch auch auf das Beispiel Finnlands, welches eine der längsten Grenzen zu Russland hat, ein neutraler Staat geblieben ist und gut nachbarliche Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland pflegt. „Man muss sich fragen“, so Pleitgen, „warum sich die politischen Führer des Westens kein Beispiel an Finnland nehmen.“ Alle diese bedenkenswerten Ausführungen des langjährigen ARD-Korrespondenten Fritz Pleitgen dürfen selbstverständlich niemals und auch nur im Entferntesten als Rechtfertigung für den russischen Einmarsch in die Ukraine dienen. Aber sie können uns helfen, uns einen etwas differenzierteren Blick auf die Realität zu verschaffen in einer Zeit, da es nur noch Schwarz oder Weiss, nur noch Gut oder Böse zu geben scheint und rein gar nichts mehr dazwischen.

Schweizer Banker als Soldaten der Ukraine?

 

„Der russische Präsident Putin“, so der amerikanische Publizist und Pulitzer-Preisträger Tim Weiner im „Tagesanzeiger“ vom 14. März 2022, „setzt sehr geschickt Fehlinformationen und Täuschungen ein. Washington versucht deshalb, den Meister der Informationskriegsführung mit dessen Waffen zu schlagen. Die US-Regierung und die Geheimdienste haben dafür einen Präventivschlag geführt gegen Putins potente Propaganda. Jetzt steht Putin nackt da vor der Welt. Das ermöglicht einen wirksamen Wirtschaftskrieg. Unserer neuen, starken Koalition gehören nun sogar auch die Schweizer Banker an und werden Soldaten in diesem Wirtschaftskrieg.“ Weiter führt Weiner aus, dass die CIA im amerikanischen Bundesstaat North Carolina einen Stützpunkt habe, wo seit 2015 kleine Gruppen von Ukrainern für paramilitärische Operationen ausgebildet würden. In der Ukraine selber helfe ausserdem die National Security Agency (NSA), elektronische Abhörmassnahmen durchzuführen. Die NSA setze zu diesem Zweck ein neues, hochmodernes Spionageflugzeug ein, das alle Arten von Nachrichtendienst- und Aufklärungssensoren an Bord habe… Informationskrieg, Präventivschlag, Wirtschaftskrieg, Schweizer Banker als Soldaten der Ukraine, paramilitärische Operationen – ein Vokabular, das hellhörig macht und ein grelles Schlaglicht darauf wirft, wie eben nicht nur von russischer, sondern auch von westlicher Seite zunehmend eine Kriegslogik und eine Kriegsrhetorik die Oberhand zu gewinnen scheinen, die das allgemeine Denken immer mehr in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken droht. Dass man nur schon auf die Idee kommt, Schweizer Banker als „Soldaten der Ukraine“ zu bezeichnen, verdeutlicht, wie sehr hier schon alles einem Freund-Feind-Denken untergeordnet wird, das jegliche Gedanken an eine mögliche Friedenslösung in weite Ferne zu rücken scheint. Auch der Begriff “ Informationskrieg“ lässt nichts Gutes erahnen und erinnert unwillkürlich an die „Brutkastenlüge“, die den USA als Vorwand dienten, um den Irak 1991 militärisch anzugreifen: Irakische Soldaten hätten bei der Invasion Kuwaits im August 1990 kuwaitische Frühgeborene getötet, indem sie diese aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden hätten sterben lassen. Erst nach der US-geführten militärischen Intervention zur „Befreiung“ Kuwaits stellte sich die Geschichte als reine Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton heraus. Die Vermutung liegt nahe, dass die CIA auch heute noch mit vergleichbaren PR-Agenturen zusammenarbeitet, geht es doch, wie Weiner explizit sagt, darum, den Gegner mit seinen eigenen Waffen – sprich Kriegspropaganda, Manipulationen und Falschinformationen – zu schlagen. Nun mag man einwenden, der eigentliche Aggressor sei unzweifelhaft Putin und alle gegen ihn ergriffenen Massnahmen, Operationen und Sanktionen seien bloss berechtigte Mittel zur Selbstverteidigung der Ukraine bzw. des Westens. Nur bedeutet dies letztlich eine Kapitulation vor jener Kriegslogik, die nur immer alles noch schlimmer macht, je mehr sie von beiden Seiten auf die Spitze getrieben wird. Egal ob auf der einen Seite russisches Machtgebaren, auf der anderen Seite die von Russland als bedrohlich empfundene NATO-Osterweiterung und dazwischen die Ukraine als Zankapfel globaler Machtpolitik: Es müssten doch all jene Mittel, all jene Energie, all jene Zeit, die für den Krieg, für Wirtschaftssanktionen und für gegenseitige Desinformationskampagnen verschleudert werden, in den Abbau gegenseitiger Ängste und Feindbilder und in den Aufbau einer gemeinsamen Friedenslösung investiert werden. „Entweder werden wir gemeinsam als Brüder und Schwestern überleben“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „oder wir werden als Narren miteinander untergehen.“ 

Von der Friedensdemo bis zum Klimastreik: Alles hängt mit allem zusammen…

 

Friedensdemonstration in Bern am 12. März 2022, rund 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mitten in der Menge ein etwa neunjähriger Bub, mit einem selbergebastelten Pappschild, darauf gekritzelt in ungelenker Schrift KEIN KRIEG, ein Flugzeug dick und rot durchgestrichen und mittendrin das Friedenszeichen. Auch heute, einen Tag später, haben erneut viele Zehntausende europaweit für den Frieden und ein Ende des Krieges in der Ukraine demonstriert, Zehntausende wie der kleine Bub mit seinem Pappschild, winzige Tropfen, von denen jeder einzelne beinahe unsichtbar wäre, die aber alle zusammen den Beginn eines Flusses bilden könnten, der sich eines Tages nicht mehr aufhalten lassen würde. Und das ist noch längst nicht alles. Schon bald werden wir von Neuem auf die Strasse gehen, gegen Umweltzerstörung, Klimawandel und die sinnlose Verschwendung all jener Ressourcen, ohne die ein Weiterleben auf diesem Planeten früher oder später in Frage gestellt wird. Und ganz bestimmt wird es auch wieder Demonstrationen geben gegen den Rassismus, für die Gleichberechtigung der Frauen, gegen die politische Verfolgung Andersdenkender, für eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel, gegen Hunger, Armut, unmenschliche Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit. Noch scheinen diese verschiedenen Bewegungen und ihre Aktionen nichts miteinander zu tun zu haben, tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Der zentrale Begriff, auf den sich alles zurückführen lässt, ist die Liebe. Die Liebe als Urform zwischen allem Lebendigen, die Liebe, die Tag für Tag millionenfach verletzt wird, egal, ob es sich dabei um den Kriegstreiber handelt, der seine Soldatinnen und Soldaten aufs Schlachtfeld schickt und zahllose Kinder, Frauen und Männer unvorstellbaren Ängsten, Schmerzen und Leiden preisgibt. Oder ob es sich um Profiteure und Spekulanten von Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen handelt, welche verantwortlich sind für den täglichen Tod Zehntausender Hungerleidender in den ärmsten Ländern der Erde. Oder ob es sich um Politiker und Politikerinnen handelt, die unbeirrt am jetzigen Wirtschaftssystem festhalten, obwohl längst erwiesen ist, dass unbegrenztes Wachstum auf einer Erde begrenzter Ressourcen schlicht und einfach keine Zukunft hat. Ich wage zu behaupten, dass der Augenblick, in dem sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass dies alles mit allem zusammenhängt, der Anfang einer Revolution sein könnte. Einer Revolution freilich, die ganz anders wäre als alle Revolutionen der Vergangenheit, in denen stets neue Gewalt an die Stelle der vorangegangenen getreten ist. Einer Revolution der Liebe, denn nur sie vermag die so lange und leidvolle Geschichte von Gewalt und Gegengewalt dauerhaft auf den Kopf zu stellen. Skeptiker und Skeptikerinnen mögen einwenden, solche Visionen wären naiv, blauäugig und hätten mit der harten Wirklichkeit und dem angeborenen Egoismus der Menschen nichts zu tun. Dem wäre zu entgegnen, dass die so genannte „Wirklichkeit“ nicht einfach etwas Gottgegebenes ist, sondern etwas, was wir von Tag zu Tag mit unseren Händen und unserem Herzen immer wieder neu gestalten können. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte schon vor 250 Jahren der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch im bekannten Lied „Schrei nach Liebe“ der deutschen Band „Die Ärzte“ heisst es, an die Adresse rechtsextremer Gewalt: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.“ Was für eine Hoffnung! In allem noch so „Bösen“ steckt immer ein Kern von Liebe, den es zu entdecken und zu sich selber befreien gilt. Aber selbst wenn das alles nicht so wäre: Wer und was soll uns denn davon abhalten, es nicht wenigstens versucht zu haben? Das Einzige, was an den herrschenden Verhältnissen definitiv nichts zu ändern vermag, sind Untätigkeit und Resignation. Tun wir alle doch wenigstens das kleine Bisschen, was in unserer Macht steht. Und sei es bloss dem neunjährigen Bub mit seinem selbergebastelten Pappschild an der Friedensdemo vom 12. März in Bern zuliebe…

Ukraine: Vision einer Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege dringender und aktueller denn je

 

„Wenn die linke Wunschwelt mit der Realität des Kriegs kollidiert“ – so der Titel eines Kommentars von Thomas Isler in der „NZZ am Sonntag“ vom 13. März 2022. Und weiter: „Die Linke neigt stets dazu, das Reale zu unterschätzen. Leitlinie ihrer Politik ist nicht der skeptische Pragmatismus, sondern stets die kühne Utopie, ungeachtet jeder Machbarkeit.“ Die SP Schweiz wird von Isler mit ihrer deutschen Schwesterpartei SPD konfrontiert, welche viel vernünftiger sei, die Zeichen der Zeit erkannt, in Waffenlieferungen an die Ukraine eingewilligt und eine 100-Milliarden-Investition in die Bundeswehr angekündigt habe. Immer wieder dieser Vorwurf der Blauäugigkeit, Naivität und Weltfremde. Doch wer ist hier eigentlich blauäugig, naiv und weltfremd? Ist es die Idee einer Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege? Oder ist es nicht viel eher die Idee, man könne mit Waffengewalt etwas Gutes und Sinnvolles bewirken für die nachfolgenden Generationen? Ist es nicht so, dass Kriege keine Sieger kennen, sondern stets nur Verlierer? Und ist es nicht so, dass Stimmen gegen Aufrüstung und Krieg angesichts eines drohenden Einsatzes von Atomwaffen, die sehr wohl das Ende menschlicher Zivilisation auf diesem Planeten zur Folge haben könnten, aktueller und dringender sind denn je? Kriegslogik und Kriegstreiberei scheinen indessen immer mehr um sich zu greifen, Andersdenkende drohen an den Rand gedrängt zu werden. „Es ist, als hätte sich die Erde und mit ihr der Mensch innert weniger Stunden um 180 Grad gedreht“, schreibt Peer Teuwsen in der gleichen Ausgabe der „NZZ am Sonntag“, und weiter: „Wir verwandeln uns blitzschnell die Logik des Krieges an, in Wort, Handlung und Denken. Wenn ich ehrlich bin, fehlen mir die richtigen Worte für das, was sich gerade an Ungeheuerlichem in unsere Köpfe frisst.“ Da ist die Grundhaltung einer pazifistisch ausgerichteten Linken dringender nötig denn je. Wenn SP-Copräsidentin Mattea Meyer sagt, in einem Parteiprogramm zeichne man nicht in erster Linie die Realität, sondern eine Wunschwelt, dann ist das nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke. Ins allgemeine Kriegsgeheul einzustimmen, ist einfach und bequem. Die Stimme gegen all das Unfassbare zu erheben, erfordert dagegen viel Mut und Standfestigkeit und ist wichtiger und notwendiger denn ja, denn, wie der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Sanktionen wirken wie Naturkatastrophen, sie treffen vor allem die Benachteiligten

 

Werden die vom Westen gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen schon bald ihre Wirkung zeigen und in naher Zukunft zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führen? Vermutlich ist viel eher das Gegenteil zu erwarten. „Autoritäre Staatschefs, deren Länder mit Sanktionen belegt werden“, so die US-Wissenschaftlerin Amanda Licht im deutschen „Handelsblatt“ vom 21. September 2011, „herrschen eher länger als kürzer – die Sanktionen wirken also oft sogar stabilisierend.“ Auch der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sieht – gemäss einem Bericht des deutschen „Redaktionsnetzwerks“ vom 7. März 2022 – in den Sanktionen kein geeignetes Mittel, um den Krieg in der Ukraine zu beenden: „Putin wird seine Ziele mit jedem Mittel erreichen und wird sich durch keine Sanktion der Welt davon abbringen lassen.“ Gleicher Meinung ist der „Tagesanzeiger“ vom 12. März 2022: „Wie die historischen Erfahrungen mit den Sanktionen zeigen, verstärken sie in der Regel die Repression im betroffenen Land, zu einem Nachgeben oder einem Regimewechsel kommt es selten.“ Dass dies so ist, lässt sich einfach erklären: Druck erzeugt stets Gegendruck, Gewalt erzeugt Gegengewalt, Aufrüstung auf der einen Seite erzeugt Gegenaufrüstung auf der anderen – weshalb sollen Wirtschaftskriege anderen Mustern folgen als die Kriege auf dem Schlachtfeld? Ein weiterer wichtiger Grund für die Zwecklosigkeit von Wirtschaftssanktionen liegt darin, dass diese nie die Reichen und Mächtigen treffen, sondern stets nur die Armen und Benachteiligten. „Sanktionen“, so der „Tagesanzeiger“ vom 22. Februar 2022, „wirken ähnlich wie gewaltsame Konflikte oder Naturkatastrophen. Sie treffen vor allem die Benachteiligten.“ Das müssten wir eigentlich spätestens seit den von den USA gegen das irakische Regime zwischen 1991 und 1995 verhängten Wirtschaftssanktionen schon längstens wissen: Diesen Wirtschaftssanktionen fielen infolge fehlender Nahrung und medizinischer Versorgung eine halbe Million Kinder zum Opfer, mehr als der Atombombenabwurf von Hiroshima gefordert hatte. Und dies, während der irakische Machthaber Saddam Hussein und seine Entourage gefahrlos überlebten und mit allen Gütern und Luxusartikeln bestens versorgt waren. Und genau gleich ist es auch heute bei den gegen Russland ausgesprochenen Sanktionen: Reiche Russinnen und Russen – so berichtet „20minuten“ am 11. März 2022 – versuchen, einen Teil ihres Reichtums von Europa nach Dubai zu verlagern, um ihr Vermögen vor der Verschärfung der westlichen Sanktionen zu schützen, während gleichzeitig die Menschen in Moskau und anderen russischen Städten im Supermarkt vor beinahe gänzlich leergefegten Regalen stehen. Davon auszugehen, dies würde die Bevölkerung zur Wut gegen Putin anstacheln und zu einem Regierungsumsturz führen, ist naiv. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil, nämlich, dass sich die Wut der Bevölkerung gegen die westlichen Länder wenden wird, welche die Sanktionen verhängt haben. Fatal ist, dass sich auch die Schweiz den Sanktionen der EU gegen Russland angeschlossen hat, ausgerechnet die Schweiz, die doch stets so vehement auf ihre Eigenständigkeit und Neutralität pocht. Diese „Neutralität“ erweist sich nun endgültig als reine Farce, wäre es doch der Schweiz, im Gegensatz zu den nun ergriffenen Sanktionen gegen Russland, nicht im Traum in den Sinn gekommen, im Jahre 2003 Sanktionen gegen die USA zu ergreifen, welche gegen den Irak ohne Grund und mithilfe von Lügen und falschen Behauptungen einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen hatte, der in der Folge über einer halben Million Zivilpersonen das Leben kosten sollte. Mit den Sanktionen gegen Russland hat die Schweiz die einmalige Chance verpasst, gegenüber der Ukraine und Russland als neutrale Vermittlerin aufzutreten. Nun muss die Schweiz mit ansehen, wie mit der Türkei und Israel zwei Länder in diese Bresche springen, welche bezüglich Menschenrechte alles andere als eine lupenreine Weste tragen. Rolf Weder, Professor für Aussenwirtschaft und Europäische Integration an der Universität Basel, nahm in der Sendung „10vor10“ des Schweizer Fernsehens am 11. März 2022 zu den Sanktionen gegen Russland wie folgt Stellung: „Russland wird damit um Jahrzehnte zurückgeworfen.“ Wieder einmal, wie so oft: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch kann dies allen Ernstes unser Ziel sein? Ist das ein Russland, das wir uns wünschen? Geht von einem Russland, das „um Jahrzehnte zurückgeworfen“ wird, nicht eine viel grössere Kriegsgefahr aus als von einem Russland, das dem Westen auf Augenhöhe begegnen kann? Putin hat den Krieg angefangen, zweifellos. Aber wir führen ihn weiter. Durch Wirtschaftssanktionen. Durch den Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler von internationalen Wettkämpfen. Durch die Absage von Auftritten russischer Künstlerinnen und Künstler auf westlichen Theater- und Konzertbühnen. Dadurch, dass es bereits Restaurants gibt, in denen Russinnen und Russen nicht mehr bedient werden, Spitäler, in denen Russinnen und Russen nicht mehr behandelt werden, und Schulen, in denen Kinder mit russischen Namen ausgelacht und beschimpft werden. Ob der Hass damit kleiner wird? Wohl kaum. Höchste Zeit, die Spirale sich gegenseitig verstärkender Gewalt zu durchbrechen und der Kriegslogik eine Friedenslogik entgegenzusetzen. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: Wenn wir uns vom Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verführen lassen, dann wird alles nur immer noch schlimmer – und am Ende sind wir alle blind.

Ukraine: Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit

 

„Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“ – diese Aussage des US-Senators Hiran Johnson im Jahre 1914 bewahrheitet sich einmal mehr in der Art und Weise, wie über den seit nunmehr mehr als zwei Wochen wütenden Krieg in der Ukraine berichtet und wie dieser in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Keine Frage: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist in aller Schärfe, Deutlichkeit und Unmissverständlichkeit zu verurteilen, für Kriege gibt es nie und unter keinen Umständen eine Rechtfertigung. Aber mit der – verständlichen – Wut auf die russische Regierung und insbesondere Wladimir Putin sind wir offensichtlich auf dem anderen Auge völlig blind geworden, es gibt nur noch Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse, Freund oder Feind. So „böse“ Wladimir Putin – und in seinem Gefolge schon bald das gesamte russische Volk – wahrgenommen wird, in umso hellerem Licht erstrahlt die Ukraine, als wäre dieses Land ein unbestreitbarer Hort von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Tatsache ist, dass – gemäss „Wikipedia“ – seit 1991 das Ukrainische die einzige zugelassene Amtssprache des Landes wie auch die Pflichtsprache in den Schulen ist, obwohl grosse Teile der Bevölkerung immer wieder gefordert haben, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Neuerdings müssen sogar auch sämtliche Zeitungen des Landes ausschliesslich in Ukrainisch erscheinen – wenn ein Verlag dennoch eine russische Ausgabe veröffentlichen will, muss sie parallel dazu eine ukrainische Auflage publizieren, was in aller Regel nur schon aus finanziellen Gründen gar nicht möglich ist. Und das soll eine vorbildliche Demokratie sein? Kein besseres Licht wirft der Europäische Rechnungshof in einem Bericht vom 23. September 2021 auf die Ukraine: „Grosskorruption und eine Vereinnahmung des Staates durch private Interessen sind in der Ukraine immer noch weit verbreitet.“ So ist es nicht verwunderlich, wenn die Ukraine – gemäss „de.statistica.com“ – in der „Korruptionsweltrangliste“ den Platz 122 von 180 untersuchten Staaten belegt – Platz 1 ist der am wenigsten, Platz 180 der am meisten korrupte Staat. Immer wieder ins Reich der Lügen wird auch der Vorwurf Russlands verbannt, wonach rechtsextreme, nationalsozialistische Kräfte in der ukrainischen Armee eine wichtige Rolle spielten. Tatsache ist, dass – wie der „Spiegel“ berichtet – zahlreiche „Neonazis“ auf der Seite der ukrainischen Streitkräfte kämpfen. Gemeint ist vor allem das rechtsextreme Asow-Regiment der ukrainischen Nationalgarde. Rechtsextreme wie das Asow-Regiment, so die „Weltwoche“, „hoffen, endlich ihren Hass auf russische Untermenschen austoben zu können.“ Eine besonders berüchtigte und wegen ihrer brutalen Foltermethoden gefürchtete Kampftruppe ist – so „watson.ch“ – die tschetschenische Paramiliz „Kadyrowzy“. Einseitige Schuldzuweisungen ranken sich auch um den Donbass und das Minsker Abkommen, in dem sich, durch Deutschland und Frankreich 2014 und 2015 vermittelt, die Konfliktparteien in der Ostukraine zu einer Friedenslösung verpflichteten. Entgegen der Behauptung, nur die Separatisten hätten sich nicht an die Vereinbarungen gehalten, berichtete der „Deutschlandfunk“ am 13. Juli 2016: „Sowohl die Ukraine wie auch die Separatisten halten ihre Zusagen nicht ein und verletzten das Minsker Abkommen wiederholt.“ Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, hat vor allem auch damit zu tun, dass nebst der Schlacht zwischen Panzern, Flugzeugen, Bodentruppen und Einzelkämpfern eine zweite, ebenso heftige Schlacht tobt, die Propagandaschlacht im Fernsehen und in den sozialen Medien. Eine Schlacht, die in Bezug auf die Meinungsbildung über das Kriegsgeschehen eine eminent wichtige Rolle spielt. Wie sehr dabei mit manipulierten Informationen operiert wird, zeigte ein Beitrag der „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 9. März: Angeblichen Kriegsopfern wird künstliches Blut ins Gesicht gestrichen, ein Mann wühlt eine angebliche Landmine aus dem Boden, die tatsächlich eine Kunststoffattrappe ist, und es werden angeblich abgeschossene feindliche Flugzeuge gezeigt, die tatsächlich aus einem Videogame herausgeschnitten wurden. In dieser Sparte, so berichtet die „Rundschau“, habe sogar die ukrainische gegenüber der russischen Propaganda die Oberhand, sei sie doch im Vergleich mit der simplen und hölzernen russischen Propaganda viel professioneller und raffinierter. Unwillkürlich fragt man sich dann sogar, ob das russische Bombardement einer Kinderklinik in Mariupol am 9. März tatsächlich mehrere Kinder und Mitarbeitende getötet hat oder ob, wie der russische Aussenminister Serge Lawrow behauptet, das Spital gar nicht mehr in Betrieb gewesen, sondern vom Bataillon Asow besetzt worden sei, welches zuvor sämtliche schwangere Frauen, Ärzte und Krankenschwestern vertrieben hätte. Aussage gegen Aussage, wem soll man glauben? Normalerweise glauben wir den „guten“ Ukrainern, nicht den „bösen“ Russen. Aber wer garantiert, welche Seite Recht hat und welche nicht? Braucht es nicht gerade in so kriegerischen Zeiten umso mehr eine Abkehr von allzu einseitigem Schwarzweiss- und Freundfeindbilddenken? Das Bemühen, die eigene Sichtweise immer wieder zu hinterfragen? Eine kritische Distanz zu allzu starren Positionen, die nur blind machen für alles, was nicht ins gemachte Bild hineinpasst? Nicht um irgendetwas zu verharmlosen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Sondern nur, um wieder erste Fäden zu spinnen zwischen dem, was auseinandergerissen worden ist, im Grunde aber zusammengehört. Selbst wenn Wladimir Putin und ein paar Dutzend Oligarchen und selbstherrliche Kriegstreiber in Moskau für diese Fäden unerreichbar sind, so gibt es doch noch viele Millionen Russinnen und Russen, die unter diesem Krieg genauso leiden wie Millionen von Menschen in der Ukraine und all jenen Ländern, die von den Wirtschaftssanktionen existenziell betroffen sind. Das Dümmste, was uns einfallen kann, ist, diese Millionen von Menschen aufzuspalten in „Gute“, für die alle anderen die „Bösen“ sind, und in „Böse“, die von allen „Guten“ verhöhnt, verlacht und verfolgt werden. Selbst in den Zeiten des Krieges, und dann erst Recht, dürfen wir uns niemals zu Feinden unserer selbst machen lassen. Nicht dem „Feind“ dürfen wir keine Chance lassen, sondern dem Hass, der Gewalt und dem Krieg. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „überleben wir gemeinsam als Brüder und Schwestern, oder wir gehen als Narren miteinander unter.“

Ukrainekonflikt: Auge um Auge, Zahn um Zahn – bis am Ende alle blind sind

 

Während schon vom dritten Weltkrieg die Rede ist, schreibt Anatol Lieven, Russlandforscher bei der US-Denkfabrik Quincy Institute for Responsible Statecraft, im „Guardian“, dass eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts nach wie vor möglich sei und es durchaus dafür noch Spielraum gäbe. „Der Westen“, so Lieven, „würde moralisch falsch liegen, wenn er sich gegen einen angemessenen Deal wehren würde, mit dem die Invasion und das Leid der ukrainischen Bevölkerung beendet werden könnte.“ In der Tat. So sehr man in aller Deutlichkeit und Schärfe die Invasion Russlands in die Ukraine verurteilen muss, so entschieden müsste man für eine friedliche Verständigung und einen Kompromiss zwischen den beiden Konfliktparteien eintreten. Dass die Maximalforderungen sowohl von der einen wie auch von der anderen Seite – NATO-Beitritt der Ukraine versus Einverleibung der Ukraine in die Russische Föderation – zum Vornherein unvereinbar sind und, solange beide Seiten stur daran festhalten, zu nichts anderem führen als zu einer weiteren, immer gefährlicheren Eskalation des Konflikts, ist sonnenklar. Es gibt keine einzige denkbare Alternative zu einer Friedenslösung, die nur zustande kommen kann, wenn beide Seiten zu einem Kompromiss bereit sind. Denn, so ein Bericht amerikanischer Geheimdienste in der „New York Times“: Wird Putin durch die heftige Reaktion des Westens weiter in die Enge getrieben, könnte er zu bislang undenkbaren Mitteln greifen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Dass Nachgeben ein Zeichen von Schwäche sei, ist ein Irrtum, der über Jahrtausende unermessliches Leiden über die Menschheit gebracht hat. Es ist der uralte alttestamentliche Glaubenssatz, wonach jeder Form von Gewalt mit noch grösserer Gewalt begegnet werden müsse: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein Glaubenssatz, mit dem schon Jesus gründlich Schluss machte, indem er die Feindesliebe ins Zentrum seiner Lehre stellte. Und auch Mahatma Gandhi verfolgte die Philosophie der Gewaltlosigkeit, indem er das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ad absurdum führte und davor warnte, dass, wenn man ihm folgte, am Ende alle blind seien, sowohl die vermeintlichen „Sieger“ wie auch die vermeintlichen „Gewinner“. Auch der römische Schriftsteller und Philosoph Cicero hatte schon vor über 2000 Jahren gesagt: „Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Und der chinesische Philosoph Laotse sagte im 6. Jahrhundert: „Der Weise ist auf Entscheidung aus, aber er entscheidet fern der Gewalt.“ Weshalb sind diese Stimmen im Laufe der Geschichte immer und immer wieder untergegangen? Weshalb hat die Gewalt immer und immer wieder über die Gewaltlosigkeit und radikale Feindesliebe obsiegt? Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel ist heute dringender nötig denn je, haben die Worte des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy, wonach entweder die Menschheit dem Krieg ein Ende setzen wird, oder aber der Krieg der Menschheit ein Ende setzen wird, in einer Zeit, da sogar ein Atomkrieg nicht mehr gänzlich auszuschliessen ist, eine nie dagewesene Aktualität erlangt. Wenn ein Ehepaar zerstritten ist, wird eine Mediatorin beigezogen. Für Arbeitskonflikte gibt es Gewerkschaften. Für Diebstähle, Gewalttaten und andere Delikte gibt es Gerichte. Aber wenn sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Grossmächte bedrohlich gegenüberstehen, dann ist da weit und breit niemand in Sicht, der schlichtend eingreift und nicht schon zum Vornherein die Position der einen oder der anderen Seite einnimmt. Bräuchte es vielleicht so etwas wie einen „Rat der Weisen“, in dem nicht nur Politiker und Politikerinnen alter Schule Einsitz haben, sondern Künstlerinnen und Philosophen, Psychologinnen und Friedensforscher, Väter und Mütter, Kinder und Jugendliche mit ihren Visionen von einer Welt voller Liebe, Frieden, Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle? Das Schreckliche an der heutigen Zeit ist: Dass wir angesichts immer grösserer Bedrohungen von der Armut und dem Hunger in weiten Teilen der Welt über einen drohenden Weltkrieg bis hin zur Klimakatastrophe fast schon jegliche Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft verloren haben. Das Gute an der heutigen Zeit ist: Dass uns alle diese Bedrohungen dazu zwingen, ob wir wollen oder nicht, die bisherigen Denkmuster räuberischer Macht- und Profitgier, kriegerischen und gewalttätigen Grossmachtdenkens und verantwortungsloser Blindheit gegenüber den Bedürfnissen der Natur und zukünftiger Generationen aufzugeben und radikal neue Wege zu beschreiten. Diese Lektion ist es, an der wir nicht vorbeikommen, wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder in 50 oder 100 Jahren auf diesem Planeten noch ein lebenswertes Zuhause haben. Es ist eben genau so, wie der britische Philosoph Bertrand Russell vor über 50 Jahren zu bedenken gab: „Die zentrale Frage der heutigen Zeit ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“