Archiv des Autors: Peter Sutter

Erst wenn das Patriarchat überwunden ist, wird auch der Krieg überwunden sein…

 

„Fünf Männer“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 3. März 2022, „haben diesen Krieg zusammen beschlossen“: Präsident Wladimir Putin, Verteidigungsminister Sergei Schoigu, ein alter Freund Putins, mit dem er gerne zusammen in seine sibirische Heimat zum Jagen und Pilzesammeln fährt, Alexander Bortnikow, Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, einer der reichsten Männer Russlands und ebenfalls seit Jahrzehnten mit Putin freundschaftlich verbunden, mit dem auch er, wie Schoigu, häufig in Sibirien auf die Jagd geht, Nikolai Patruschew, Chef des Sicherheitsrats, ebenfalls seit Jahrzehnten mit Putin befreundet, und schliesslich Sergei Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, stramm antiwestlich ausgerichtet und potenzieller Nachfolger von Wladimir Putin. Dicke Männerfreundschaften, Naturburschen, hochgedient im sowjetischen und später russischen Staatsapparat und jetzt auf dem Gipfel der Macht. Schossen sie früher auf Bären und Enten, schiessen sie jetzt auf Menschen. Männer unter sich. Und weit und breit keine Frau. Ist es da aus der Luft gegriffen, von patriarchaler Machtpolitik und patriarchaler Kriegstreiberei zu sprechen? Denn Leidtragende dieser äussersten Perversion, des Kriegs, sind nicht nur die Kriegsopfer in der Ukraine, sondern auch all die Millionen von russischen Frauen und Müttern, die sich jeden Tag von früh bis spät, viele von ihnen alleinerziehend, abrackern, um sich und ihre Kinder über die Runden zu bringen, und sich zusätzlich um ihre betagten Eltern und Verwandten sowie pflegebedürftigen Nachbarn kümmern und denen genau jenes Geld so schmerzlich fehlt, das jetzt im Krieg millionenfach verschleudert wird, und dies mitten in einer Zeit, da es den ärmeren Bevölkerungsschichten in Russland von Jahr zu Jahr immer schlechter geht, während sich gleichzeitig unter den 50 reichsten Oligarchen des Landes keine einzige Frau befindet. Aber auch der im Jahre 2003 von den USA völkerrechtswidrig angezettelte Krieg gegen den Irak war mit Präsident George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizepräsident Dick Cheney und Aussenminister Colin Powell ein reines Männerprojekt, dem über eine halbe Million unschuldiger irakischer Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Dass Frauen und Mädchen unter kriegerischen Auseinandersetzungen in besonders hohem Masse leiden, ist hinlänglich bekannt. „Ob in Bosnien, im Zweiten Weltkrieg oder im Irak“, so ein Bericht der Organisation „Medica mondiale“, „Kriege und Konflikte werden seit jeher auf dem Rücken von Frauen und Mädchen ausgetragen, unzählige werden vergewaltigt, gefoltert, verschleppt und versklavt. Meist endet die Gewalt nicht einmal, wenn die Waffen schweigen, sondern setzt sich auch nach Kriegsende fort.“ Doch inmitten allen Leidens und aller Zerstörung gibt es doch wenigstens diese leise Hoffnung: Ich denke an die Emanzipation der Frauen, die unaufhaltsam voranschreitet, auch wenn sie noch längst nicht am Ziel angelangt ist. Aber irgendwann wird die Zeit eines weltfremden bärenschiessenden Männerclubs, der über das Leben hunderttausender Menschen eigenmächtig sein Urteil fällt, ebenso vorüber sein wie die industriell-wirtschaftlich-militärischen Machtzirkel des sogenannten demokratischen Westens, der kein bisschen weniger Blut an seinen Händen hat. Irgendwann werden dort, wo die Männer sassen, die Frauen sitzen. Erst dann ist das Ziel erreicht. Denn erst wenn das Patriarchat überwunden ist, wird auch der Krieg überwunden sein.

Die Menschen sind nicht für den Krieg gemacht, sondern für den Frieden…

 

Die Schweiz schliesst sich den EU-Sanktionen gegen Russland vollumfänglich an. Deutschland liefert 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen an die Ukraine. Freiwillige Kämpfer aus Estland schliessen sich den ukrainischen Truppen an. Mehrere europäische Länder erhöhen ihre Militärbudgets massiv. Russische Sportlerinnen und Sportler werden von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. Und 53 Prozent der Finninnen und Finnen sprechen sich für einen NATO-Beitritt aus, 25 Prozent mehr als noch vor zwei Monaten. Sicher, es ist verständlich, dass Westeuropa und die USA nicht tatenlos zuschauen und mittels Wirtschaftssanktionen ihren Teil zur Unterstützung der Ukraine beitragen wollen. Ebenso verständlich ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land nicht einem von aussen eingedrungenen Aggressor kampflos überlassen wollen. Ebenso nachvollziehbar ist die Tatsache, dass die Schweiz nicht als einziges Land dastehen möchte, das die Wirtschaftssanktionen der übrigen Länder nicht mitträgt. Und doch habe ich bei alledem ein zutiefst ungutes Gefühl. Über alle Grenzen hinweg scheint sich immer mehr eine Kriegslogik auszubreiten, bei der man entweder voll und ganz mitmachen oder sich voll und ganz ins Abseits manövrieren kann – nichts dazwischen. Die uralte Geschichte von Schwarz und Weiss, Gut und Böse: Wenn du nicht mein Freund bist, dann bist du mein Feind. Wer sich zwischen die Fronten zu stellen versucht, erntet bestenfalls höhnisches Gelächter. Wer die andere Seite auch nur ein ganz klein wenig zu verstehen versucht, wird als Verräter abgestempelt. Wir sind wieder dort, wo wir vor Jahrzehnten schon einmal waren. Ein Restaurant in Stuttgart verweigert russischen Gästen den Zutritt, das Opernhaus Zürich gedenkt ein Gastspiel mit der russischen Sopranistin Anna Netrebko abzusagen – nicht zuletzt auf starken Druck aus der Bevölkerung. Und dann lese ich, dass 3,6 Milliarden Menschen schon heute durch den Klimawandel existenziell bedroht sind und dass die Auswirkungen des Klimawandels, wenn keine wirksamen Gegenmassnahmen ergriffen werden, die gesamte Erde früher oder später unbewohnbar machen werden. Was für ein Wahnsinn: Da wissen wir nichts Gescheiteres, als uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, statt all unsere Kraft, Energie und Phantasie über alle Grenzen hinweg für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen einzusetzen, damit die Erde auch noch für unsere Kinder und Kindeskinder ein lebenswertes Zuhause sein wird. „Eine Welt unter Waffen“, sagte US-General Dwight D. Eisenhower, „verpulvert nicht nur das Geld allein. Sie verpulvert auch die Zukunft unserer Kinder.“ Doch trotz alledem habe ich meine Hoffnung nicht verloren. Die Gier nach Macht und Herrschaft über andere, Despoten, Feindbilddenken, Kriegstreiberei – das alles wird immer und immer wieder von einzelnen Menschen aufgrund ureigener egoistischer Interessen aufgebaut. Mit anderen Worten: Auch das Gegenteil von alledem – die Menschlichkeit, die Toleranz, die Gerechtigkeit, die „Feindesliebe“ – kann ebenso wieder von Menschen verbreitet, aufgebaut und in die Tat umgesetzt werden. Vielleicht erleben wir ja heute eine Zeit, in der sich sozusagen zwei Epochen der Menschheitsgeschichte gegenseitig überlappen: Die alte Epoche, die Epoche von Machtgier, zerstörerischem Nationalismus und Kriegstreiberei, neigt sich allmählich ihrem Ende entgegen. Die neue Epoche, die Epoche des Friedens, der Gerechtigkeit und des guten Lebens für alle, hat eben erst begonnen. Eine Zwischenzeit, in der sich das Alte noch einmal verzweifelt aufbäumt im Wissen, dass seine Zeit schon bald abgelaufen sein wird. Denn eines ist sicher: Die Menschen sind nicht für den Krieg gemacht, sondern für den Frieden. Eigentlich haben wir ja gar keine andere Wahl, denn, wie US-Präsident John F. Kennedy so treffend sagte: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Anna Netrebko und das Opernhaus Zürich: Es braucht auch Menschen zwischen den Fronten

 

Anna Netrebko, die als weltbeste Sopranistin gilt, verurteilt den Krieg ihres Heimatlandes gegen die Ukraine aufs Schärfste: „Ich bin gegen diesen Krieg“, liess sie gemäss „Tagesanzeiger vom 28. Februar 2022 verlauten, „ich will, dass dieser Krieg aufhört und alle in Frieden leben können.“ Mit dieser Stellungnahme läuft Netrebko Gefahr, nicht mehr nach Russland reisen zu können. Trotzdem erwägt das Opernhaus Zürich, ihr auf den 26. und 29. März geplantes Gastspiel als Lady Macbeth zu streichen, dies nicht zuletzt auf Druck aus verschiedenen Medien. Der Grund: Im Jahre 2014 hätte sie sich mit der grossrussischen Flagge fotografieren lassen und ihren 50. Geburtstag hätte sie im Kreml gefeiert, wo Putin eine spezielle Grussbotschaft für sie verlesen hätte. So verbrecherisch und durch nichts zu rechtfertigen der Krieg Russlands gegen die Ukraine zweifellos ist, sollte man bei alledem doch nicht jegliches Augenmass gänzlich verlieren. Oder wäre es dem Opernhaus Zürich nach dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak im Jahre 2003 mit mehr als einer halben Million ziviler Opfer auch nur im Entfernesten in den Sinn gekommen, einem amerikanischen Opernsänger oder einer amerikanischen Opernsängerin nur deshalb einen Auftritt zu verweigern, weil sie irgendwo irgendwann mit einer amerikanischen Flagge fotografiert wurden oder an einer Geburtstagsfeier von George W. Bush aufgetreten waren? In einer Zeit zunehmender Polarisierung und der Tendenz, jeden, der nicht mein Freund ist, zu meinem Feind zu erklären, braucht es auch Menschen, die zwischen den Fronten stehen. Menschen wie Anna Netrebko, die sich dazu bekennt, „keine Politikerin, sondern eine Künstlerin“ zu sein: „Mein Ziel ist es, Menschen über politische Grenzen hinweg zu vereinen.“ Kann es ein schöneres, wichtigeres Ziel geben? Man möchte ihr, nicht nur am Opernhaus Zürich, sondern auch an möglichst vielen weiteren Orten, möglichst viele glanzvolle Auftritte gönnen. Eine Absage ihres Gastspiels am Opernhaus Zürich wäre ein trauriger Kniefall vor dem zunehmenden Geist der Spaltung und einer Feindbildmentalität, die schon mehr als genug Schaden angerichtet haben.

Ukraine: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin…

 

Wieder rollen die Panzer. Wieder marschieren die Soldaten. Wieder dröhnen Flugzeuge mit tödlicher Fracht durch den Himmel. Wieder heulen die Sirenen. Wieder suchen die Menschen in Bunkern und U-Bahn-Stationen Schutz. Wieder ist Krieg. Das Verrückteste, das Absurdeste, das Widersinnigste, was man sich nur vorstellen kann. Denn ich bin sicher: 99 Prozent aller Menschen, ob in Russland oder der Ukraine, ob in Schweden oder Indien, ob in Chile oder Neuseeland, wollen nur eines: in Frieden leben, genug zu essen, warme Kleider und ein Dach über dem Kopf haben, über ausreichende medizinische Versorgung, Bildung und eine fair bezahlte Arbeitsstelle verfügen. Krieg ist nichts, was mit den Grundbedürfnissen der Menschen zu tun hat. Nichts, was in der „Natur“ des Menschen liegt – obwohl dies immer und immer wieder behauptet wird. Nein, Krieg muss herbeigeredet, inszeniert, gemacht, erzwungen werden – gegen den Willen der Menschen. Wenn gestern Morgen der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen hat, dann ist es nicht das russische Volk, das diesen Krieg gewollt hat. Es ist vielmehr die staatliche Propaganda und das Zerrbild einer angeblich „faschistischen“ und russlandfeindlichen ukrainischen Regierung, das so lange, gezielt und systematisch über die staatlichen Medien Russlands verbreitet wurde, bis es schliesslich auch die Menschen im fernen Sibirien geglaubt haben. Kriege sind nur möglich, wenn Feindbilder aufgebaut werden, Angst geschürt wird und der angekündigte Krieg als gute, ehrenwerte oder notwendige Angelegenheit verkauft werden kann. Dass sich die jeweiligen Kriegstreiber dabei auch gerne der Lüge bedienen, hat uns das Beispiel des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Kriegs gegen den Irak – mit über einer halben Million ziviler Opfer! – nur allzu deutlich gezeigt: Das amerikanische Volk hätte diesen Krieg nicht gewollt. So musste mit einer besonders krassen Lüge nachgeholfen werden: Wider besseres Wisse behauptete die US-Regierung, der Irak sei im Besitz von international geächteten Massenvernichtungswaffen. So waren die drei Voraussetzungen, um einen Krieg entfesseln zu können, erfüllt: erstens das Feindbild eines „bösen“ Staates, zweitens die Angst vor einer möglichen Bedrohung durch eben diese angeblichen „Massenvernichtungswaffen“ und drittens das ehrenwerte Motiv, im Dienste des Friedens sowohl die Bereitstellung wie auch die mögliche Weiterentwicklung dieser angeblichen „Massenvernichtungswaffen“ zu unterbinden. Ist es heute ein undurchsichtiger, allesbeherrschender, weitverzweigter Machtzirkel rund um Wladimir Putin, so war es 2003 in den USA ein ebenso undurchsichtiger politisch-industriell-militärischer Machtzirkel rund um den Präsidenten George W. Bush. Es wäre ein Leichtes, Dutzende weiterer Beispiele aufzuzählen. Ihnen allen ist gemeinsam: Kriege sind nicht Kriege zwischen Völkern. Kriege sind Kriege der Reichen und Mächtigen gegen die ganz „gewöhnlichen“ Männer, Frauen und Kinder ihrer Völker. Kriege sind die extremste und zerstörerischste Form von Klassengesellschaften. Das „Böse“, das sie antreibt und überhaupt erst möglich macht, kommt von „oben“, von den Herrschenden, nicht von „unten“, von den Menschen, die frühmorgens aufstehen, um auf den Feldern, in den Fabriken und Krankenhäusern zu arbeiten, und am Abend müde und erschöpft zu Bett gehen. Aber es ist sogar noch viel schlimmer: Nicht nur, dass die Reichen und Mächtigen die Kriege inszenieren, nein, von ihren zerstörerischen Folgen sind sie selber zugleich am wenigsten betroffen. George W. Bush befand sich keinen Moment lang in Lebensgefahr, während der von ihm inszenierte Krieg über einer halben Million Menschen im fernen Irak das Leben kostete. Auch Wladimir Putin sehen wir in jeder Fernsehübertragung stets in prunkvollen Sitzungszimmern und Konferenzsälen, während seine Soldaten, die jetzt in der Ukraine im Einsatz stehen, neben ihrem Panzer bei Minustemperaturen in knietiefem Morast nächtigen. Und vollends absurd wird das Ganze, wenn wir uns die Kosten vor Augen führen, welche die Aufrüstungen und Kriegsführungen verschlingen und die gerade im Falle des Kriegs gegen die Ukraine besonders zynisch sind, geht es den Menschen in Russland doch von Jahr zu Jahr schlechter und wissen eine immer grössere Zahl von ihnen kaum mehr, wie sie ihre Auslagen für Lebensmittel, Kleidung und Heizkosten bestreiten sollen. „Jede Kanone“, sagte US-General Dwight D. Eisenhower, „die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Doch warum machen wir das alles immer und immer wieder mit? Warum sind jetzt Zehntausende von russischen Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine, obwohl sie doch alle viel lieber friedlich zuhause wären, ihrer täglichen Arbeit nachgingen, mit ihren Kindern spielen und Partys feiern würden? Weshalb lassen sich 99 Prozent der Menschen von einem einzigen Prozent dermassen an der Nase herumführen? „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ – diese Botschaft des amerikanischen Schriftstellers Carl Sandburg ist heute aktueller denn je. Stellen wir uns vor: Putin hätte seinen Einsatzbefehl erteilt und alle russischen Soldatinnen und Soldaten wären einfach in ihren Panzern, Flugzeugen und Lastwagen sitzen geblieben. So wie der 24. Februar 2022 in die Geschichte einzugehen droht als der Tag, an dem in Europa wieder einmal ein grosser Krieg begann, so wäre dieser gleiche Tag in die Geschichte eingegangen als der Tag, an dem der Aufruf Carl Sandburgs endlich in die Tat umgesetzt worden wäre. Als der Irakkrieg 2003 drohte, gab es in ganz Europa riesige Friedensdemonstrationen. Jahrelang erfreuten sich auch europaweit die Friedensmärsche zu Ostern grossen Zulaufs. Und heute? Obwohl der Einsatz gegen Krieg und für Frieden und Abrüstung dringender nötig wäre denn je, ist alles unheimlich still. Aber vielleicht, das ist die Hoffnung, wird der Krieg, der in diesen Tagen begonnen hat, zum Weckruf an die so riesige überragende Mehrheit der Menschheit, sich nicht mehr länger von einer kleinen, machtgierigen und herrschsüchtigen Minderheit vor den Karren spannen zu lassen. Denn es ist eben schon so, wie US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Der Ukrainekonflikt: Historische Chance verpasst

 

Im „Tagesanzeiger“-Artikel „Putin beginnt einen neuen Kalten Krieg“ vom 23. Februar 2022 wird der US-Historiker George F. Kennan zitiert, der in den späten 1940er-Jahren der sowjetischen Aussenpolitik „Geheimniskrämerei, Mangel an Offenheit, Doppelzüngigkeit und grundsätzlich unfreundliche Absichten“ vorgeworfen hatte. Objektiverweise müsste man aber hinzufügen, dass der gleiche George F. Kennan viele Jahre später, nämlich 1997, auch noch Folgendes gesagt hatte: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Während längerer Zeit lehnte auch der US-amerikanische Präsident Bill Clinton eine NATO-Mitgliedschaft osteuropäischer Staaten ab. Am 26. Juni 1997 äusserten mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten in einem offenen Brief ihre Bedenken gegenüber einer Osterweiterung der NATO. Ähnlich äusserte sich auch der frühere Verteidigungsminister der USA Robert Gates. Und Frankreichs Präsident François Mitterrand erklärte: „Ich persönlich würde es begrüssen, sowohl den Warschauer Pakt wie auch die NATO schrittweise aufzulösen.“ Europa stünde wohl heute nicht an der Schwelle eines grösseren Kriegs mit unabsehbaren Folgen, wenn man auf diese warnenden Stimmen von damals gehört hätte…

Es gibt keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit und keine soziale Gerechtigkeit ohne Klimagerechtigkeit

 

Wie die „NZZ am Sonntag“ vom 20. Februar 2022  berichtet, sind bereits 2,2 Millionen Menschen in Grossbritannien in die sogenannte „Energiearmut“ gerutscht. Oft stehen sie vor der Entscheidung, entweder zu heizen oder zu kochen. Viele Haushalte, vor allem im kalten Norden Englands und in Schottland, heizen nur noch ein- oder zweimal die Woche. Menschen sitzen zuhause, eingehüllt in Decken, dennoch frierend, ohne warmes Essen und in völliger Dunkelheit, weil ihr Guthaben auf dem Stromzähler aufgebraucht ist und sie kein Geld haben, um es zu verlängern. Zustände, die zuletzt während der Kriegsjahre an der Tagesordnung waren. Und es soll noch schlimmer werden: Im April wird die bisherige Preisobergrenze für Energiekosten aufgehoben und die Rechnungen werden dann um 50 Prozent steigen. Jeder zehnte Brite, jede zehnte Britin wird dann nicht mehr in der Lage sein, sich ständig Essen und Heizung zu leisten. „Auch in anderen Ländern“, schreibt die „NZZ am Sonntag“, „verschärft sich die Situation. Die Preisexplosion bei Gas und Strom treibt immer mehr Menschen mit bescheidenem Einkommen an den Rand der Existenz.“ Bereits hat eine Gruppe gutbetuchter Tory-Abgeordneter im britischen Unterhaus Morgenluft gewittert und ist drauf und dran, die herrschende Notlage für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren: Sie kritisieren die hohen Energierechnungen lautstark und schieben die Schuld dafür der Klimapolitik in die Schuhe, welche infolge ihrer Investitionen in erneuerbare Energien für die gewaltige Teuerung verantwortlich sei. Soweit die Ausführungen der „NZZ am Sonntag“. Sehr zu denken geben muss uns das Vorpreschen der Tory-Abgeordneten: So wird einmal mehr dem Kampf gegen den Klimawandel der Schwarze Peter zugespielt und so werden einmal mehr die tatsächlichen Zusammenhänge auf den Kopf gestellt. Denn nicht die hohen Energiepreise sind das eigentliche Problem, auch nicht die Förderung der erneuerbaren Energien und auch nicht die Massnahmen gegen den Klimawandel. Das tatsächliche Problem ist die Armut. Wenn es sich ein Zehntel der britischen Bevölkerung nicht mehr leisten kann, täglich zu kochen und die Wohnung zu heizen, dann muss im gleichen Atemzug festgestellt werden, dass neun Zehntel der Bevölkerung sich eben dies sehr wohl leisten können, und noch weit mehr darüber hinaus, denken wir nur an all jene Ferienreisenden, die regelmässig nach Mallorca oder noch viel weiter fort fliegen und dabei Unmengen von Ressourcen verprassen, die dann genau dem ärmsten Teil der Bevölkerung so schmerzlich fehlen. Oder denken wir an die vielen grossen, weiträumigen Villen, in denen Gutbetuchte leben und ein Vielfaches dessen an Heizenergie verbrauchen, was den ärmeren Haushalten fehlt. Oder führen wir uns vor Augen, wie viele Millionen privater Motorfahrzeuge täglich über die Strassen donnern und jene Abertausenden Tonnen Erdöl wegfressen, das man viel gescheiter für die Befriedigung der minimalen Grundbedürfnisse verwenden würde. Ist das nicht eine grenzenlose Menschenverachtung, wenn es im gleichen Land, wo Menschen frieren und hungern, so viele Millionäre und Milliardäre gibt wie in wenigen anderen Ländern? Weshalb gibt es so wenig Widerstand gegen das System der kapitalistischen Klassengesellschaft, das nicht nur in Grossbritannien, sondern auch weltweit immer absurdere und wildere Blüten treibt? Doch statt die tatsächlichen Wurzeln das Übels anzupacken, werden alle Leiden bloss auf dem Buckel der Schwächsten ausgetragen und die Kaste der Reichen und Mächtigen kommt stets wieder ungeschoren davon: Werden der Klimaschutz und die Förderung der erneuerbaren Energien angeblich zum Wohle der Armen bekämpft – wie dies zum Beispiel auch die SVP in der Schweiz tut -, so ist dies in höchstem Grade scheinheilig: Eigentlich wird damit vom eigentlichen Problem, der kapitalistischen Klassengesellschaft, abgelenkt und zweitens wird die Last von der einen schwachen Gruppe, den Armen, einfach auf eine noch schwächere Gruppe abgewälzt, nämlich auf all jene Menschen, die noch gar nicht geboren sind und früher oder später unter den Folgen einer Klimaerwärmung leiden werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Das Hin- und Herschieben der Probleme ist fatal und nützt letztlich niemandem etwas. Es gibt keine Alternative zu einer radikalen Erneuerung unseres Gesellschaftssystems. Denn Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit ist eine ebenso grosse Illusion wie soziale Gerechtigkeit ohne Klimagerechtigkeit. Beides ist unauflöslich mit dem anderen verbunden auf dem Weg in eine Zukunft, in der das gute Leben für alle Menschen weltweit Wirklichkeit geworden sein wird.

 

Kamila Walijewa – die Spitze eines gewaltigen Eisbergs

 

Die 15jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa gilt seit Jahren als beste Eiskunstläuferin. Niemand erwartet von ihr an den Olympischen Spielen weniger als eine Goldmedaille. Doch nach dem Sieg der Russinnen im Teamwettkampf wird bekannt, dass Kamila Walijewa positiv auf ein verbotenes Herzmittel getestet worden ist. Trotzdem darf sie unter Vorbehalt auch im Einzelwettkampf antreten. Denn der definitive Entscheid über eine mögliche Sperrung steht noch aus. Doch der Druck, der auf Kamila Walijewa lastet, ist immens. Sie hält ihm nicht Stand, stürzt zwei Mal in der Kür und wird „nur“ Vierte. Schluchzend verlässt sie das Eis, ihre Enttäuschung ist grenzenlos, das jahrelange harte Training, die immensen Erwartungen, die Belastung rund um den noch ausstehenden Entscheid über eine mögliche Sperrung – all das bricht sich in wenigen Sekunden die Bahn. Doch ihre Trainerin, Eteri Tutberidse, kennt kein Erbarmen: Keine Umarmung, kein Trost, nur die Kritik, Kamila hätte ihr Programm verpatzt, den Sieg hergeschenkt, zu kämpfen aufgehört, die schwierigsten Sprünge aus der Hand gegeben und alle Mühe sei vergebens gewesen. Was für eine Kaltherzigkeit! Jetzt, wo Kamila Trost besonders dringend nötig gehabt hätte, wird ihr dieser zur Gänze verweigert. Selbst der ARD-Korrespondentin und ehemaligen Eiskunstläuferin Katarina Witt zerreisst es fast das Herz: „Ich finde“, so ihr TV-Kommentar, „man hat Kamila Walijewa der Welt zum Frass vorgeworfen. Alle Welt hat zugeschaut und daran muss sie jetzt zerbrechen.“ Ein besonders herzzerreissender Einzelfall? Mitnichten. Tutberidse ist bekannt für ihre unmenschlichen Trainingsmethoden: Julia Lipnitskaja, 2014 mit 15 Jahren jüngste Teamolympiasiegerin, musste wegen Magersucht zurücktreten, Jewgenia Medwedewa, Silbermedaillengewinnerin von 2018, hat einen kaputten Rücken, und weitere junge Talente sind mittlerweile so schwer verletzt, dass sie ihre Karrieren aufgeben mussten. Doch es wäre falsch, bloss mit dem Finger auf einzelne „böse“ russische Trainerinnen zu zeigen. Das Beispiel von Kamila Walijewa ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Es geht nicht um ein paar wenige „Einzeltäterinnen“. Es geht um das System als Ganzes. Ein System, das auf einer gewaltigen Lüge aufbaut, der Lüge nämlich, man müsste nur genug lange und genug hart trainieren und nur genug viele Schmerzen auf sich nehmen und nur auf genug Freizeit verzichten – um eines Tages an den Olympischen Spielen oder an den Weltmeisterschaften auf der obersten Treppenstufe zu stehen und eine Goldmedaille in Empfang nehmen zu können. Millionen von Kindern und Jugendlichen wird diese Lüge schon von Klein auf eingepflanzt, Millionen von Kindern und Jugendlichen weltweit werden gezwungen, einen unerbittlichen, zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf auf sich zu nehmen, damit am Ende ein paar wenige von ihnen zuoberst stehen werden und sich für alle anderen trotz aller Schmerzen und Entbehrungen dieser Traum in Nichts aufgelöst haben wird. Blenden wir zurück: Kamila Walijewa wurde bereits im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter gezwungen, sich in Gymnastik, Ballett und Eiskunstlauf zu üben. Als sie sechs Jahre alt war, übersiedelten sie und ihre Mutter nach Moskau, um dort eine besonders renommierte Talentschmiede zu besuchen, und als Zwölfjährige wurde sie in die Eiskunstlaufschule von Eteri Tutberidse aufgenommen. Niemals liesse sich mit Erwachsenen so etwas machen. Nur mit Kindern ist so etwas möglich, mit Kindern, die den Versprechungen und Verlockungen der Erwachsenen noch blinden Glauben schenken und nicht daran zweifeln, dass es diese Erwachsenen auch dann noch gut mit ihnen meinen, wenn sie ihnen die unmenschlichsten Qualen abverlangen. Mit ihrer Aussage, man habe Kamila Walijewa „der Welt zum Frass vorgeworfen und alle schauen zu“, hat Katarina Witt den Nagel auf den Kopf getroffen. Nicht nur Systeme des Rechts, sondern auch Systeme des Unrechts können sich etablieren, wenn nur eine genügende Anzahl von Menschen tatenlos zuschauen oder sich sogar aktiv daran beteiligen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der in früheren Zeiten verschwiegen, verheimlicht und geleugnet wurde, tritt heute nach und nach ins Licht der Öffentlichkeit. Doch ist das, was Kindern und Jugendlichen im Namen des „Spitzensports“ angetan wird, so viel weniger verwerflich? Sind all die Lügen, die man den Kindern von Klein auf eintrichtert, nicht auch eine Form von Kindesmissbrauch? Wäre es nicht an der Zeit, die Ideologie des Spitzensports und all seiner zerstörerischen Folgen ebenso kritisch anzuprangern und zu hinterfragen wie die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch kirchliche „Würdenträger“? Oder sind wir durch Habgier, Sensationslust und nationalistischen Ehrgeiz schon so sehr verblendet, dass wir das Unrecht als Unrecht schon gar nicht mehr wahrzunehmen vermögen?

Deutsche Bevölkerung kritisch gegenüber dem Kapitalismus: Zeichen einer neuen Zeit…

 

Eine vom deutschen „Spiegel“ durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass 40 Prozent der 16- bis 29Jährigen, 39 Prozent der Männer und sogar 45 Prozent der Frauen der Meinung sind, dass der Kapitalismus nicht das bestmögliche Wirtschaftssystem für Deutschland sei. Auffallend vor allem das Ergebnis bei den Frauen: Nur 39 Prozent bejahen die Frage, ob der Kapitalismus das bestmögliche System sei, 16 Prozent können sich weder für ein Ja noch ein Nein entscheiden. Das Umfrageergebnis ist umso erstaunlicher, als gegenwärtig ja keine Alternative zum Kapitalismus in Sicht ist, kein Land, in dem ein anderes, nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem installiert wäre und erfolgreich funktionieren würde. Das heisst: Dieses neue, nichtkapitalistische Wirtschaftssystem muss erst noch erfunden werden. Und daran führt kein Weg vorbei. Denn wenn sich sogar nahezu die Hälfte der deutschen Bevölkerung, eines Landes, das trotz vieler Widerwärtigkeiten im Vergleich mit den meisten anderen Ländern doch immer noch auf der Sonnenseite steht, ein anderes Wirtschaftssystem wünscht, wie wäre dann wohl das Ergebnis, wenn man die gleiche Frage den Menschen in Ghana, Burkina Faso oder Ecuador stellen würde? Doch schauen wir uns die Argumente der Verfechter und Verfechterinnen des Kapitalismus bzw. der sogenannten „Freien Marktwirtschaft“ etwas genauer an. Sie begehen mindestens drei Denkfehler. Erstens idealisieren sie den Kapitalismus, indem sie ihn als „Freie Marktwirtschaft“ bezeichnen. Sie verschleiern damit, dass dies bloss ein anderes, etwas wohlklingenderes Wort für den Kapitalismus ist. Und sie blenden aus, dass „frei“ nichts anderes bedeutet als die Freiheit der Reichen und Mächtigen, die Menschen und die Natur nach den Interessen von Profitsteigerung und Gewinnmaximierung möglichst optimal auszubeuten. Auch „Markt“ ist nichts anderes als ein Synonym für die Tatsache, dass ein Markt, der dem Wohl der Menschen tatsächlich dienen würde, zur Voraussetzung hätte, dass alle daran Beteiligten die gleich langen Spiesse hätten, nicht so wie in der Welt des Kapitalismus, wo die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen zu können. Der zweite Denkfehler der Verfechterinnen und Verfechter des Kapitalismus besteht darin, die globalen Zusammenhänge der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse auszublenden. Wenn tropische Früchte, Schokolade oder Kaffee in unseren Supermärkten für die meisten Menschen immer noch erschwinglich sind und die Nahrungsmittelkonzerne mit diesen Produkten dennoch Millionengewinne erwirtschaften, dann ist das nur möglich, weil die Menschen, welche auf den Plantagen, in den Lebensmittelfabriken und auf den Transportschiffen arbeiten, so wenig verdienen, dass sie davon kaum leben können. Alles hängt mit allem zusammen. Globalisierter Kapitalismus ist nichts anderes als globalisierte Ausbeutung. Reichtum und Armut sind keine Zufälligkeiten, Reichtum und Armut hängen aufs Engste zusammen, bedingen sich gegenseitig, sind die beiden untrennbaren Kehrseiten der gleichen Münze. Wer immer die Vorzüge der „Freien Marktwirtschaft“ bzw. des Kapitalismus lobt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob es ihm wirklich genüge, selber ein gutes Leben zu haben, oder ob er nicht auch an all jene Menschen denken müsste, denen er sein gutes Leben verdankt und die dennoch ein schlechteres Leben haben als er selbst. Der dritte Denkfehler der Verfechter und Verfechterinnen des kapitalistischen Wirtschaftssystems besteht in der Behauptung, es gäbe gar keine Alternative zum Kapitalismus bzw. jede wäre schlechter und überhaupt hätten alle nichtkapitalistischen Gesellschaftsmodelle in der Vergangenheit ausschliesslich versagt. Diese Sichtweise ist besonders fatal. Sie würde nämlich bedeuten, dass der Kapitalismus die einzig mögliche, letzte, endgültige und beste Form sei, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten zu verwirklichen sei. Immer mehr Menschen erkennen, dass wahrscheinlich viel eher das Gegenteil der Fall ist, nämlich, dass der Kapitalismus ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist, das mit seinen Dogmen unbegrenzter Profitmaximierung und unbegrenzten Wirtschaftswachstums geradezu in den Abgrund führt. Zurück zum Ergebnis der „Spiegel“-Umfrage: Es stimmt optimistisch. Immer mehr Menschen scheinen von der Illusion, der Kapitalismus werde schon früher oder später alles zum Guten zu wenden, Abschied zu nehmen. Der nächste Schritt muss sein, dass an allen Ecken und Enden, weltweit, die Menschen beginnen, über die Vision und den Traum von einer neuen Welt jenseits des Kapitalismus nachzudenken  und dies Schritt für Schritt in die Wirklichkeit umzusetzen. Das ist keine Illusion. Es ist die einzige mögliche Realität in einer ausser Rand und Band geratenen Welt. Denn was Menschen irgendwann im Laufe der Geschichte nach ganz bestimmten Interessen aufgebaut haben, das können Menschen im Laufe der Geschichte aufgrund von neuen Erkenntnissen jederzeit auch wieder abbauen, umbauen und durch etwas von Grund auf Neues ersetzen..

Die Digitalisierung – eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist?

 

„Wir stecken in einem digitalen Strukturwandel“, so kommentiert SVP-Nationalrat Gregor Rutz im „Tages-Anzeiger“ vom 14. Februar 2022 das Abstimmungsergebnis zum schweizerischen Mediengesetz, „und diesen digitalen Strukturwandel können wir nicht einfach aufhalten.“ Eine Aussage, die von unterschiedlichster Seite immer wieder zu hören ist, wenn von der „Digitalisierung“ und dem „digitalen Fortschritt“ die Rede ist. Dementsprechend sind dann auch alle finanziellen Mittel Recht, wenn es um die Förderung der Digitalisierung geht, insbesondere auch weil die Schweiz in diesem Bereich gegenüber vielen anderen Ländern im Rückstand sei. Wohlgemerkt: Auch ich möchte nicht auf meinen Computer verzichten, ebenso wenig wie auf mein Smartphone. Auch ich schätze die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Internets, schreibe häufig E-Mails und recherchiere immer wieder in der grossen weiten Welt des Wissens. Und doch stosse ich mich an der Aussage, der digitale Strukturwandel sei „nicht einfach aufzuhalten“. Zahnbürsten, Staubsauger und Kühlschränke, die nur noch mithilfe einer App funktionieren, Hotelangestellte in der Gestalt von Robotern, automatische Gesichtserkennung, Schrittzähler und Gesundheitsüberwachungssysteme, selbstfahrende Autos, ferngesteuerte chirurgische Eingriffe, Onlineshopping und das damit verbundene Ladensterben, Hackerangriffe, die landesweite Kommunikationssysteme lahmlegen, lebensgefährliche technische Pannen in Notrufzentralen – die digitale Büchse der Pandora ist schon weit, weit geöffnet und man wagt sich kaum vorzustellen, was diese Entwicklung, welche in wenigen Jahrzehnten die Welt auf den Kopf gestellt hat, in den folgenden zehn oder zwanzig Jahren noch alles mit sich bringen mag. Die Aussage, dies alles sei „nicht aufzuhalten“, ist fatal und erinnert mich an mittelalterliche Glaubensbekenntnisse. Ja, die Digitalisierung ist so etwas wie eine neue Religion. Fährt man an einem Bürohochhaus beim Zürcher Hauptbahnhof vorbei und sieht dort übereinander und untereinander geschachtelt hunderte Köpfe, die alle auf einen Bildschirm starren, oder befindet man sich in einem Zugsabteil, wo bald jeder, der nicht auf sein Handy fixiert ist, schon als Exot erscheint – dann ist es, als wäre dies alles eine endlose Suche nach dem Glück, irgendwo stets am anderen Ende der digitalen Fäden, die alles auf unsichtbare Weise über Satelliten fernab der Erdoberfläche miteinander verbinden. Noch einmal: Ich wehre mich nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung. Nur gegen diesen Fatalismus, dass alles so komme, wie es kommen müsse, ganz unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht. Warum machen wir uns so klein? Warum sind wir, die alles und alle um uns herum bei jeder Gelegenheit kritisieren, ausgerechnet gegenüber der Digitalisierung so unkritisch? Weshalb gibt es so wenig Widerstand gegen den Glaubenssatz, wonach alles, was technisch möglich sei, früher oder später auch verwirklicht werde, ganz unabhängig vom Nutzen, den es den Menschen tatsächlich bringt? Weshalb spricht niemand davon, dass die Digitalisierung einer der grössten Stromfresser ist und damit eine wesentliche Mitursache des Klimawandels? Zu einer einseitig auf Digitalisierung ausgerichteten technischen Entwicklung braucht es dringend so etwas wie einen gesellschaftspolitischen Gegenpol. Die Digitalisierung darf nicht das Alleinseligmachende sein, dem sich alles andere unterzuordnen hat, sondern nur eines von unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung von Arbeit und Alltag. Stellt man die Digitalisierung zu einseitig in den Vordergrund, dann besteht die Gefahr, dass andere Entwicklungsbereiche  zurückgedrängt, an ihrer Entfaltung gehindert oder schon gar nicht mehr wahrgenommen werden. Vier Beispiele: Als ich kürzlich zum Geburtstag meiner Tochter einen Schirm kaufen wollte, suchte ich ein kleines Fachgeschäft auf. Die Verkäuferin zeigte mir stolz ihre Auswahl, zudem informierte sie mich fachkundig über den Herkunftsort und die Produktionsbedingungen der verschiedenen Schirme. Ihre etwa zehnjährige Tochter war mit dabei und half beim Einpacken des von mir ausgewählten Schirms, was ihr sichtlich Spass machte. Menschliche Begegnung, fröhliche Gesichter, ein herzliches Lachen – ein Einkaufserlebnis, das mir gänzlich entgangen wäre, hätte ich den Schirm im Internet gekauft. Zweites Beispiel: Auch in den Schulen, wen wunderts, hat die Digitalisierung einen enormen Stellenwert. Millionenbeträge werden dafür lockergemacht. Dabei wären für eine ganzheitliche Entwicklung der Kinder andere Lernbereiche wie zum Beispiel das Musische, das Soziale, manuelles, handwerkliches und körperliches Tun sowie die Hauswirtschaft mindestens so wichtig. Doch statt diese Bereiche ebenso stark zu fördern, werden nicht selten ausgerechnet in diesen Fächern sogar Schulstunden gestrichen und „eingespart“. Drittes Beispiel: Es gibt immer mehr Menschen, die keine Theateranlässe, keine Konzerte und keine Kinoveranstaltungen mehr besuchen, weil sie das alles ja auch, und erst noch billiger, im Internet haben können. Damit entgeht ihnen aber das einzigartige Liveerlebnis, die prickelnde Atmosphäre in einem Kino- oder Theatersaal, die Begegnung und der Austausch mit anderen Menschen. Würde man nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel, die für Digitalisierungsprojekte aufgeworfen werden, zur Förderung der Kulturszene verwenden sowie zur Verbilligung von Tickets für Menschen, die sich einen Theater- oder Konzertbesuch gar nicht leisten können, wäre dies ein äusserst wertvoller Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen, zur Zufriedenheit und zur Gesundheit der Menschen. Viertes Beispiel: Als Alternative zur Meinungsäusserung in den „sozialen“ Medien, gibt es, glücklicherweise, immer noch die Lokalzeitung, ein beliebtes und hervorragendes Gefäss für Leserbriefe, überaus gut geeignet zur Meinungsbildung und zum gegenseitigen Austausch von Ideen, bewegt man sich als Verfasserin oder Verfasser eines Leserbriefs doch in einem Umfeld, wo sich viele Menschen gegenseitig kennen und daher auch der zwischenmenschliche Respekt ungleich viel grösser ist als in der Anonymität der „sozialen“ Medien. Vier Beispiele, stellvertretend für unzählige andere, die zeigen, dass die analoge Welt genau so ihre Vorteile und Stärken hat wie die digitale. Wir können, um auf die anfängliche zitierte Aussage von Gregor Rutz zurückzukommen, die Digitalisierung sehr wohl aufhalten. Nicht indem wir etwas verbieten, sondern indem wir der analogen Welt, in der wir zum grössten Teil glücklicherweise immer noch leben, den gleichen Stellenwert, das gleiche Gewicht, gleich viel Energie und Geld verleihen wie der digitalen Welt. Nur ein Gleichgewicht zwischen den beiden Welten kann uns davor bewahren, dem einen oder anderen Extrem zu verfallen. Die Digitalisierung darf nicht zur Religion werden. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eines von vielen unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung der Zukunft.

Asha Rada, der siebte Sinn und der Beginn eines neuen Zeitalters…

 

Als ich etwa zehn Jahre alt war, las ich in einer Illustrierten, die meine Eltern abonniert hatten, von einem achtjährigen Mädchen, das in einem indischen Zirkus als Akrobatin arbeiten musste. Jedes Mal, wenn sie ihre Darbietung verpatzte, wurde sie nach der Vorstellung von ihrem Vater ausgepeitscht. Mich wühlte diese Nachricht dermassen auf und mein Mitleid mit diesem Mädchen war so gross, dass ich in der Folge buchstäblich des Abends nicht mehr einschlafen konnte. Es war mir, als fühlte ich ihre Schmerzen, als hörte ich ihre Schreie, als verspürte ich ihre Angst  jeden Abend vor dem nächsten Auftritt. Ich weiss sogar heute immer noch, wie das Mädchen hiess: Asha Rada. Weil ich nämlich ihren Namen jeden Abend unzählige Male wiederholte, in der Hoffnung ihr damit zu helfen, so lange, bis mich der Schlaf übermannte. Lieber wollte ich sterben, als zu leben und zu wissen, dass dieses Mädchen im fernen Indien jeden Tag mit der Angst vor einer so grausamen Bestrafung durch ihren eigenen Vater leben musste. Eines Tages schrieb ich sogar einen Brief an die Redaktion der Illustrierten mit der Frage, ob es betreffend Asha Rada neue Informationen gäbe – ohne dass ich freilich eine Antwort bekommen hätte. Heute, über 60 Jahre später, frage ich mich: Wie kann ich denn jetzt, in dieser Zeit, ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass jeden Tag rund zehntausend Kinder weltweit mit viel grösseren Schmerzen, als Asha Rada sie jemals erleiden musste, vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben müssen, nur weil sie nicht genug zu essen haben? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass Millionen von Menschen weltweit auf der Flucht sind, krank und frierend, mit keiner anderen Habseligkeit als den paar Kleidern, die sie tragen? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass sämtliche Prognosen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darauf hindeuten, dass meine Enkelkinder , wenn sie erwachsen sein werden, in einer Welt leben werden, in der unerträgliche Hitze, verheerende Unwetter, die Überflutung immer grösserer Wohngebiete, Wasser- und Nahrungsmangel grösser und grösser werdende Ausmasse annehmen werden? Was uns Menschen fehlt, ist so etwas wie ein siebter Sinn. Wir sehen all das, was sich täglich vor unseren Augen abspielt. Wir hören die Stimmen unserer Mitmenschen, Motorgeräusche, das Singen der Vögel. Wir riechen den Duft von Blumen und das Parfüm auf unserer Haut. Wir nehmen den Geschmack von Früchten, Gewürzen und Kaffee auf unserer Zunge wahr. Wir spüren mit unserem Gesicht und mit unseren Händen Regen, Hitze und Kälte. Aber wir spüren nicht das bittere Elend , dem weltweit Milliarden von Menschen schutzlos ausgeliefert sind. Ja, wir spüren nicht einmal das Elend, von dem Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betroffen sind. Wir können in einer Wohnung leben und es uns gut gehen lassen, ohne wahrzunehmen, dass im gleichen Haus, getrennt durch eine dicke Mauer, nur Zentimeter von uns entfernt, ein Kind schon zum dritten oder vierten Mal hintereinander hungrig zu Bett gegangen ist, weil sein Vater unlängst seinen Job verloren hat und das vorhandene Held hinten und vorne nicht für ein einigermassen anständiges Leben ausreicht. Ja, der siebte Sinn. Er würde uns durch die scheinbar undurchlässigen Mauern hindurchschauen und das Elend auf der anderen Seite spüren lassen. Er würde uns die Augen dafür öffnen, dass Armut und Reichtum nur die beiden Kehrseiten der gleichen Münze sind und jedes überflüssige Geldstück in der Tasche des Reichen das Geldstück ist, welches in der Tasche des Armen fehlt. Er würde uns die Schmerzen jener zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger sterben, spüren lassen und uns den Schlaf so lange rauben, bis alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen hätten. Er würde uns mit jeder Waffe, die hergestellt wird, und mit jeder Armee, mit dem ein Land ein anderes bedroht, einen so schmerzenden Stich mitten durch unser Herz jagen, dass nur ein kompromissloser weltweiter Frieden uns wieder zur Ruhe bringen könnte. Er würde bei jedem Kind, das geboren wird, in uns ein Feuer entfachen, alles, aber auch alles Erdenkliche zu tun, damit die Erde auch in 50 oder 100 Jahren noch ein Ort sein wird, wo alle Menschen ein gutes Leben haben können. In der Tat: Die entscheidende Frage ist, ob wir uns primär als Einzelwesen definieren oder als Teile eines Gemeinwesens, ob sich der Egoismus dem Gemeinwohl unterordnen soll oder umgekehrt. Es könnte die entscheidende Frage sein, ob es auf diesem Planeten ein Weiterleben der Menschheit geben kann oder nicht. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ Dass ich als zehnjähriger Junge wegen Asha Rada nicht schlafen konnte, zeigt, dass der „siebte“ Sinn offensichtlich ein geradezu heiliges Geschenk ist, das wir alle schon mit unserer Geburt mitbekommen haben. Leider geht dieses Geschenk bei den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens verloren. Doch eigentlich stimmt das nicht: Es ist nicht verloren, sondern nur überdeckt, überwachsen, verdrängt. Es wieder ans Licht zu bringen, all die vergessenen Asha Radas in unserer Lebensgeschichte und all die Schmerzen, die damit verbunden waren, wieder aufzuspüren und lebendig werden zu lassen: Es wäre der Anfang einer neuen Zeit…