Archiv des Autors: Peter Sutter

G-20-Gipfel in Rom: Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind

 

Der G-20-Gipfel in Rom hätte Wegbereiter sein können für die am 1. November 2021 beginnende zweiwöchige Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow. „Stattdessen“, so der „Tagesanzeiger“, „haben die grossen Wirtschaftsmächte einmal mehr offenbart, dass sie sich nicht einig sind über die Dringlichkeit beim Kampf gegen die Klimaerwärmung.“ Insbesondere der chinesische Staatschef Xi Jinping warf ein, der industrialisierte Westen hätte über Jahrzehnte keine Rücksicht nehmen müssen, er solle jetzt mal mit dem guten Beispiel vorangehen, denn es sei nicht einzusehen, weshalb die aufstrebenden Mächte nicht dieselben Chancen haben sollten wie früher die Konkurrenz. Xi Jinping brachte es damit tatsächlich auf den Punkt: Alles begann damit, dass ein Teil der Welt – allen voran Europa und Nordamerika – reicher und mächtiger sein wollten als der Rest der Welt. Wichtigstes Instrument war dabei die Industrialisierung: Je mehr Industrialisierung, umso mehr Reichtum und Macht. Und damit war ein globaler Wettkampf entbrannt, der bis heute andauert und sich sogar im Laufe der Zeit noch immer mehr verschärft hat. Dass die ärmeren und „zurückgebliebenen“ Länder die gleichen Chancen fordern wie die reichen Länder des Nordens, kann man ihnen nicht verargen. Wir, die reichen Länder des Nordens, haben tatsächlich kein Recht, anderen Ländern jenen Weg zu versperren, den wir selber seit Jahrhunderten so erfolgreich beschritten haben. Und doch entpuppt sich dieser Weg angesichts der drohenden Klimakrise als fataler Irrweg. Würden nämlich alle Länder der Welt so viele Schadstoffe produzieren wie die reichen Industrienationen und würden alle Länder der Welt einen so grossen ökologischen Fussabdruck aufweisen wie zum Beispiel die Schweiz, welche drei Mal mehr Rohstoffe und Energie verbraucht, als die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt – dann wäre der totale Klimakollaps schon längst Tatsache. Dies bedeutet, dass sich die vermeintliche Fahrt ins Paradies, welche die reichen Länder des Nordens vorgespurt haben und der die armen Länder des Südens eifrig nachfolgen, je länger je mehr als eine Fahrt in die Hölle entpuppt. Deshalb kann man noch so viele G-20-Gipfel und noch so viele Weltklimakonferenzen abhalten: So lange nicht am Dogma blindwütiger Industrialisierung und Technologisierung, militärischer Aufrüstung, endloser Profitmaximierung und Wachstumsgläubigkeit gerüttelt und das globalisierte, auf Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftsmodell nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, kann sich nicht wirklich etwas ändern und wird man nach der Weltklimakonferenz vermutlich ebenso enttäuscht und ernüchtert sein wie nach der Konferenz der 20 grössten Industrienationen. Denn, wie Albert Einstein es so treffend formulierte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“  

Frauensession in Bern: zu früh um zu feiern…

 

Frauensession in Bern. Auf den 246 Stühlen, wo sonst die gewählten Parlamentärinnen und Parlamentarier sitzen, haben 246 Frauen Platz genommen. Die Frauen feiern. Sie singen, klatschen, jubeln, freuen sich über die erkämpften Fortschritte in der Sozial- und Gleichstellungspolitik und schauen voller Tatendrang in die Zukunft. „Ich bin überwältigt“, sagt Sophie Ackermann, die Geschäftsführerin des schweizerischen Dachverbands Alliance F, „Sie können sich nicht vorstellen, wie schön dieser Anblick ist.“ Ob so viel Euphorie seien ein paar kritische Gedanken erlaubt. Ja, die Frauen in der Schweiz haben in den 50 Jahren seit der Einführung des Frauenstimmrechts politisch viel erreicht. Doch die erkämpften Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir allen diesen Erfolgen zum Trotz nach wie vor in einer durch und durch kapitalistischen Klassengesellschaft leben, an deren Grundstrukturen auch das Vordringen der Frauen in immer mehr Machtbereiche nicht grundsätzlich etwas geändert hat. Noch immer leben in der Schweiz rund 700’000 Menschen in bitterer Armut. Noch immer beträgt der Unterschied zwischen den Spitzenlöhnen und den Tiefstlöhnen das Verhältnis von 300 zu 1. Noch immer – und sogar noch immer mehr – wird man hierzulande nicht dadurch reich, dass man möglichst viel und schwer arbeitet, sondern dadurch, dass man von möglichst hohen Erbschaften profitiert oder von Unternehmensgewinnen, die letztlich von Menschen mit tiefen Einkommen in schwerer Arbeit erwirtschaftet wurden. Noch immer ist die gesellschaftliche Wertschätzung höchst ungleich verteilt und geniesst der Chefarzt im Spital oder die Rechtsanwältin ein viel höheres Ansehen als die Verkäuferin oder die Putzfrau. Noch immer gehören typisch „weibliche“ Berufe zum traditionellen Tieflohnsegment, während die Löhne kontinuierlich in die Höhe steigen, je „männlicher“ der entsprechende Beruf ist. Noch immer – und sogar immer noch mehr – ist die Arbeitswelt von gegenseitigem, oft nahezu mörderischem Konkurrenzkampf um Macht und Profite geprägt, einem Konkurrenzkampf, der schon in der Schule beginnt und die Kinder zu einem gegenseitigen Wettstreit um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zwingt. Noch immer ist die Wirtschaft auf permanentes, endloses Wachstum fixiert und noch immer verbraucht die Schweiz drei Mal so viele Ressourcen und Energie, wie die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Noch immer erzielt die Schweiz im Handel mit Entwicklungsländern einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern dann in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Noch immer betreibt die Schweiz eine Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die massgeblich für den Klimawandel und alle damit verbundenen ökologischen Zukunftsbedrohungen mitverantwortlich ist. Sehen wir uns die Erfolge der Frauenbewegung durch diese „kapitalismuskritische“ Brille an, dann müssen wir konstatieren, dass die Frauen zwar seit Jahrzehnten in kapitalistische Machstrukturen hineingewachsen sind, diese aber dadurch nicht grundsätzlich hinterfragt oder umgestaltet wurden. Ein Beispiel: Die Lehrerin, die Teilzeit arbeitet – fraglos ein bedeutender gesellschaftlicher Fortschritt, wäre so etwas doch vor 40 oder 50 Jahren nur in seltenen Fällen möglich gewesen -, kann sich dies aber nur leisten, weil die Kitaangestellte, die ihr Kind betreut, so viel weniger verdient als sie selber und sie auch ihrer Putzfrau nur einen Bruchteil ihres eigenen Lohnes bezahlen muss. Die Lehrerin kann auch nur deshalb abends auswärts essen gehen, weil das Essen dank der tiefen Löhne des Kochs und der Kellnerin für sie genug erschwinglich ist. Und sie kann auch nur deshalb jedes Jahr neue Kleider und für ihre Kinder schöne neue Spielsachen kaufen, weil die Textilarbeiterinnen und die Fabrikarbeiter, welche diese Dinge herstellen, im Vergleich zu ihr, der Lehrerin, so erbärmlich wenig verdienen. So erfreulich der gesellschaftliche Fortschritt ist, den die Lehrerin geniesst – er ist nur möglich, solange die kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen nicht grundsätzlich angetastet werden. Von den zahlreichen Macht-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen in der globalisierten kapitalistischen Welt sind die Diskriminierung, die Benachteiligung und die Unterdrückung von Frauen nur eine von vielen, wenn auch zweifellos eine der gravierendsten. Und es ist keine Frage: Alles muss unternommen werden, um diese zu beseitigen. Aber damit sind wir noch lange nicht am Ende, sondern eigentlich erst am Anfang. Auch alle übrigen Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen müssen auf dem Weg zu einer solidarischen, gewaltfreien, ausbeutungsfreien Welt überwunden werden: Die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter durch all jene, die das nötige Kapital und die nötige Macht besitzen, um andere für sich arbeiten zu lassen. Die Ausbeutung der armen Länder des Südens durch die reichen Länder des Südens. Die Ausbeutung der Natur durch Raubbau, Gewinnsucht und unbegrenzte Profitmaximierung. Eigentlich wäre erst dann, wenn alle diese Ausbeutungsverhältnisse überwunden wären, die Zeit gekommen, um zu feiern, zu singen, zu klatschen und sich gegenseitig zuzuprosten… 

Mythos Bildung – der falsche Weg

 

Eine Anzeige des Hilfswerks Caritas in meiner Tageszeitung: Einem afrikanischen Fischer mit Wollkappe wird folgendes Zitat in den Mund gelegt: „Meine Kinder werden nicht mehr Fischer sein.“ Der Leser und die Leserin wird aufgerufen, zu diesem Zweck eine Geldspende zu leisten und so „das Richtige zu tun“. Doch ist es tatsächlich das „Richtige“? Ist Bildung, wie es so schön heisst, tatsächlich der Weg aus der Armut? Schaut man sich nur jene Menschen an, die tatsächlich den Aufstieg vom Fischer zum Dorflehrer oder gar zum Universitätsdozenten schaffen, dann mag dies ja möglicherweise zutreffen. Und doch geht die Rechnung nicht auf. Denn wenn alle Fischer eines Tages Dorflehrer oder gar Universitätsdozenten sind, dann gibt es niemanden mehr, der Fische fängt. Wenn alle Frauen, die jetzt Äcker und Felder bearbeiten, Krankenschwestern oder Ärztinnen sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Äcker und die Felder bearbeitet. Und wenn alle Männer, die jetzt Häuser bauen, Rechtsanwälte oder Banker geworden sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Häuser, Strassen und Brücken baut. Der Ruf nach immer mehr und mehr Bildung ist der falsche Weg und führt in eine katastrophale Sackgasse, nicht nur in den ärmeren Ländern des Südens, auch in den reicheren Ländern des Nordens. Der Skandal besteht nicht darin, dass die Menschen zu wenig gebildet sind. Der Skandal besteht darin, dass der Fischer und die Ackerbäuerin in Afrika, der Bauarbeiter, der Lastwagenfahrer und die Putzfrau in Europa oder den USA nur deshalb so arm sind, weil sie einen Beruf ausüben, der traditionell schlecht entlohnt ist und nur wenig gesellschaftliche Wertschätzung geniesst. Die Lösung liegt nicht darin, dass sich alle diese unterprivilegierten Arbeiterinnen und Arbeiter bis zum Gehtnichtmehr weiterbilden, um auf der gesellschaftlichen Erfolgsleiter möglichst weit nach oben zu kommen. Die Lösung würde vielmehr darin liegen, dass ihre existenziell so wichtige und unentbehrliche Arbeit fair entlohnt wird – in letzter Konsequenz bis hin zu einem weltweiten Einheitslohn – und endlich die Wertschätzung erfährt, die sie tatsächlich verdient. Dann wird der afrikanische Fischer im Inserat der Caritas nicht mehr sagen, dass seine Kinder eines Tages nicht mehr Fischer sein werden, sondern er wird sagen, dass seine Kinder endlich stolz darauf sein können, einen Beruf ausüben zu können, der mindestens so wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist als der Beruf eines Immobilienmaklers oder einer Computerspezialistin. In Anlehnung an eine uralte indianische Weisheit, wonach man Geld nicht essen kann, könnte man sagen: Erst wenn die letzte Universität gebaut, die letzte Semesterarbeit geschrieben und der letzte Doktortitel vergeben ist, wird man sehen, dass man von Bildung allein nicht leben kann.

 

Und was, wenn uns der Strom eines Tages ausgeht?

 

Elektromobile boomen schon fast so wie E-Bikes. Flugzeuge sollen zukünftig mit Wasserstoff angetrieben werden, zu dessen Aufbereitung eine Unmenge an Elektrizität benötigt wird. Rechenzentren für die Bewältigung der wachsenden Flut digitaler Daten verschlingen so viel Strom wie ganze Grossstädte. Die Palette untereinander vernetzter und vom Smartphone gesteuerter Haushaltsgeräte wächst und wächst. Alles in allem, so die Prognose des Elektrokonzerns Axpo, wird der Strombedarf in der Schweiz bis zum Jahr 2050 um 35 Prozent ansteigen. So ist es nicht verwunderlich, dass ein unlängst veröffentlichter Bericht des Bundes warnt, die Sicherheit der schweizerischen Stromversorgung könnte schon in wenigen Jahren nicht mehr garantiert sein. Als mögliche Massnahme schlägt der Bund vor, im Schnellverfahren Gaskraftwerke zu bauen, um der Gefahr einer Strommangellage vorzubeugen. Und die Axpo schlägt vor, die bisherigen Kernkraftwerke erst nach 60 Jahren abzuschalten, während Economiesuisse-Präsident Chrstoph Mäder sogar den Ausstieg aus der Kernenergie grundsätzlich infrage stellt. Zudem soll weiterhin Strom aus der EU importiert werden. Schliesslich setzt man grosse Hoffnung in die Solarenergie. Erforderlich wäre aber eine Ausweitung der bestehenden Anlagen um das 14fache – was in Anbetracht der nötigen Bewilligungsverfahren wohl ein reiner Wunschtraum bleiben muss. Erstaunlicherweise spricht alles nur davon, wie man den steigenden Strombedarf in Zukunft abdecken könnte. Aber niemand spricht davon, ob es nicht vielleicht zweckmässiger und zukunftsträchtiger wäre, schlicht und einfach nicht mehr solche Unmengen an Strom zu verbrauchen, wie wir uns das heute gewohnt sind. Denn auf alle fossilen Energiequellen zu verzichten, alles auf die Karte der erneuerbaren Energien zu setzen und zugleich Jahr für Jahr mehr Strom zu verbrauchen – das ist eine Rechnung, die früher oder später schlicht und einfach nicht aufgehen kann. Man spricht zwar immer von „intelligenten“ Technologien, aber wirklich intelligent und vorausschauend wäre es doch, einen masslos verschwenderischen Lebensstil zu hinterfragen, der im Moment zwar viele Annehmlichkeiten mit sich bringt, uns aber gleichzeitig buchstäblich den Boden unter den Füssen wegfrisst. Muss es in den Herbstferien tatsächlich der Flug nach Teneriffa sein oder wäre die Wanderwoche im Engadin nicht mindestens so erlebnisvoll und erholsam? Brauche ich wirklich ein E-Bike oder täte es meiner Gesundheit nicht vielleicht sogar besser, weiterhin die Hügel mit meinem elektrofreien Bike hochzukraxeln? Bin ich wirklich auf ein privates Automobil angewiesen oder wäre es vorstellbar, zur Gänze auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen? Oder, wenn ich wirklich unbedingt ein Automobil bräuchte: Welche Wege wären auch ohne das Automobil zu bewältigen, mit dem öffentlichen Verkehr, dem Fahrrad oder zu Fuss? Muss ich mir wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem beliebigen Ort auf meinem Smartphone Videos und Spielfilme anschauen können? Könnte ich mir vorstellen, für die Wohnungsmiete ein wenig mehr Geld aufzuwerfen und dafür so nahe bei meinem Arbeitsort zu leben, dass ich auf mühsames Pendeln in überfüllten Zügen oder Bussen verzichten könnte? Brauche ich tatsächlich alle diese miteinander vernetzten und gesteuerten Unterhaltungs-, Haushalts- und Kommunikationsgeräte in meiner Wohnung, den riesigen Flachbildschirm, die Musikanlage, mit der man ganze Konzerthallen beschallen könnte, den selbstfahrenden Rasenmäher, der sich während 24 Stunden durch meinen Garten bewegt? Gewiss: Die Konsumentinnen und Konsumenten, das ist nur die eine Seite. Die andere, das sind die Firmen, welche alle diese stromfressenden Fahrzeuge, Geräte und Kommunikationsmittel produzieren. Doch wenn etwas nicht mehr gekauft wird, dann wird es früher oder später auch nicht mehr hergestellt. So einfach ist das. Unser heutiges Konsumverhalten und unseren heutigen verschwenderischen Lebensstil kritisch zu hinterfragen, hat nichts mit blinder, verklärender Nostalgie zu tun – ganz abgesehen davon, dass sich schon heute ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die meisten dieser „Luxusgüter“ sowieso schon gar nicht erst leisten können. Wünschbares von Machbarem zu unterscheiden, Sinnvolles und Sinnloses zu unterscheiden, das wäre ein verantwortungsbewusster Blick in die Zukunft: Dass nämlich möglichst viele, aber eben nicht blindlings alle dieser Annehmlichkeiten, die wir heute geniessen, auch noch unseren Kindern und Kindeskindern zur Verfügung stehen werden. Denn nicht nur die Energie, auch die Rohstoffe sind begrenzt. Längerfristig können wir nicht mehr verbrauchen, als die Erde stets von Neuem wieder nachwachsen lässt. „Die Welt“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“

 

 

Jugendidealismus und Realpolitik zwischen Traum und Wirklichkeit

 

Wenn sich in diesen Tagen in Deutschland die SPD, die Grünen und die FDP auf den Weg zu Koalitionsverhandlungen im gegenseitigen Ringen um zukünftigen Einfluss und Führungspositionen begeben, dann ist dies nicht nur die Auseinandersetzung zwischen den Führungsgremien jener drei Parteien, die in den Bundestagswahlen am erfolgreichsten abgeschnitten haben. Es ist zugleich die Auseinandersetzung zwischen dem, was man als „Träume“ und „Idealismus“ und dem, was man als „Wirklichkeit“ und „Realpolitik“ bezeichnen könnte. Ist nämlich die jüngere Generation – angefangen von der Klimabewegung bis zu den Jungen Grünen und den Juso – voller Tatendrang, voller Ungeduld, voller Visionen von einer gerechten und lebenswerten Zukunft, so sind eben solche Ungeduld und solche Visionen bei der „älteren“ Generation nur höchst selten anzutreffen. Es ist der ewig gleiche Konflikt zwischen dem „vernünftigen“ Erwachsenen und dem „ungestümen“ Kind. Ich erinnere mich gut: Als ich im Alter von etwa zwölf Jahren so „naiv“ war, mir eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg zu erträumen, belehrte mich mein Vater, dies wäre gar nicht möglich, da es in der Geschichte der Menschheit immer schon Kriege gegeben habe und dies deshalb auch in Zukunft weiterhin so sein werde. Und auch König Kreon warnte in der griechischen Sage seine Tochter Antigone davor, ihren Bruder, der bei den Mächtigen des Landes in Ungnade gefallen war, entgegen aller Gesetze zu bestatten – und sich dadurch den Zorn der Götter aufzuladen. Seither hat sich die Geschichte von Kreon und Antigone abertausendfach wiederholt. Und auch in diesen Tagen werden in Deutschland einmal mehr der Jugendidealismus und die Träume von einer anderen Welt auf dem Altar der „Realpolitik“ zu Grabe getragen. Warum nur werden die Menschen fast alle im Verlaufe ihres Lebens so furchtbar erwachsen? Warum geben die Menschen im Laufe ihres Lebens fast alle ihre kindlichen und jugendlichen Träume auf? Warum werden die meisten von ihnen, obwohl sie doch gerade selber noch Kinder gewesen waren, plötzlich zu Erwachsenen, die nun ihrerseits wieder ihre eigenen Kinder belehren und zu möglichst „vernünftigen“ Wesen erziehen wollen? „Im Jugendidealismus“, sagte der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit, mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.“ Ja, es wäre so etwas wie eine Revolution, der Sprung in ein neues Zeitalter. Und es liegt so nahe, wir müssen es gar nicht erfinden, es wird uns jeden Tag millionenfach geschenkt, mit jedem Kind, das geboren wird und die Sehnsucht nach unendlicher Liebe und Gerechtigkeit noch in sich trägt. Ich weiss, die „vernünftigen“ Erwachsenen werden sagen: Aber die Welt ist nicht so, Ungerechtigkeit und Machtkämpfe sind Tatsachen, denen wir uns stellen müssen, Träume von einer anderen Welt mögen schön sein, aber sie helfen uns nicht dabei, die Probleme, die wir hier und heute haben, zu lösen. Nun ja, aber dann wird nie etwas aus diesem Traum von der unendlichen Liebe und Gerechtigkeit. So „naiv“ es klingen mag: Ich plädiere dafür, an das Unmögliche zu glauben. „Tue zuerst das Notwendige“, sagte Franz von Assisi, „dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche.“
Vielleicht hilft uns dieses Bild weiter: Wenn wir erwachsen werden, dann sollten wir möglichst nur mit einem Bein dieses „vernünftige“ Wesen werden, das wir uns unter einem „normalen“ Erwachsenen vorstellen, während wir mit dem anderen Bein in der Welt des Kindes, der Jugend, der Visionen und der Träume verbleiben sollten. Das würde sich in allen unseren täglichen Verhaltensweisen niederschlagen und uns stets anspornen, einerseits zwar auch kleine, auf den ersten Blick geringfügige Schritte anzupacken, dabei anderseits aber nie das grosse Ganze aus den Augen zu verlieren – wie ein in weiter Ferne liegender Fixstern, der dem täglichen Handeln zuverlässig die Richtung weist. Ja, eine solche Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit könnte unter Umständen schmerzvoll und manchmal vielleicht kaum aushaltbar sein. Aber sie wäre der einzige Weg in ein neues Zeitalter, in dem sich nicht mehr die Kinder bemühen würden, möglichst schnell erwachsen zu werden, sondern die Erwachsenen, möglichst lange Kinder zu bleiben. „Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen“, sagte Mark Twain, „wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“ Ich bin zuversichtlich. Noch nie hatte Antigone so viele Nachfolgerinnen und Nachfolger wie heute.

 

Nestlé-Chef Mark Schneider: „Hier tut sich etwas Gewaltiges“

 

Wie Nestlé-Chef Mark Schneider in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 18. Oktober 2021 berichtet, gibt es heute bei den Vitaminen in den USA bereits personalisierte Angebote: Die Kundinnen und Kunden füllen einen umfangreichen Fragebogen aus und bekommen dann Beutelchen mit den Vitaminen, die auf sie abgestimmt sind. Ganz generell werde die Personalisierung von Nahrung zukünftig eine immer grössere Rolle spielen, da zum Beispiel jemand, der verengte Herzkrankgefässe habe, auf keinen Fall rotes Fleisch essen sollte, oder jemand, der einen Eisenmangel habe, unbedingt eisenhaltige Nahrung zu sich nehmen sollte. Schneider schwebt sogar eine Smartwatch vor, die durch die Haut lesen kann, um wichtige medizinische Daten permanent zu überprüfen. Doch nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Haustieren nimmt die Personalisierung der Nahrung laufend an Bedeutung zu. So verfüge Nestlé bereits heute über ein Tierfutter-Start-up, das Hundebesitzern Nahrung nach Hause schickt, die auf das eigene Tier abgestimmt sei. Denn ein Hund brauche je nach Grösse, Alter und Bewegung anderes Futter. Auch spiele es eine Rolle, ob ein Hund vor allem im Garten oder hauptsächlich in einem kleinen Apartment lebe. – Ich lese nochmals den Titel des zweiseitigen Interviews mit Mark Schneider: „Hier tut sich etwas Gewaltiges“ und den Untertitel „Interview zur Ernährung“. Kann es tatsächlich sein, dass dieses „Gewaltige“ einzig und allein darin besteht, die Nahrung für eine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung mit immer raffinierteren Mitteln zu „personalisieren“, während mit keinem einzigen Wort erwähnt wird, dass eine Milliarde Menschen vor lauter Hunger nicht eine einzige Nacht gut schlafen können und jeden Tag weltweit zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben? Sollte das „Gewaltige“, von dem der Chef des grössten multinationalen Nahrungsmittelkonzerns spräche, nicht darin bestehen, dass weltweit kein einziger Mensch mehr Hunger leiden müsste – bevor man an die Erfüllung von Luxusbedürfnissen für eine satte Minderheit der Weltbevölkerung auch nur im Entferntesten denken könnte? Aber ja, da habe ich mich gewaltig getäuscht. Denn wir leben ja nicht in einer Welt, in der das Wohlergehen aller Menschen die oberste Priorität hat. Wir leben in einer kapitalistischen Welt, in der die Güter schon lange nicht mehr dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern nur noch dorthin, wo die Menschen am meisten Geld haben, um sie auch tatsächlich kaufen zu können. Und es ist ja noch viel schlimmer: Unzählige Rohstoffe und Nahrungsmittel, die in den reichen Ländern „veredelt“ und gewinnbringend verkauft werden, stammen aus Ländern, wo die Menschen auf den Feldern, Plantagen und in den Minen zu Hungerlöhnen schwerste Arbeit verrichten und auf fast alles verzichten müssen, was für die Menschen in den reichen Ländern des Nordens selbstverständlich ist. Man spricht so gerne von der Globalisierung und meint, aus der Sicht all jener, die davon profitieren, meistens durchaus etwas Positives. Aber diese Globalisierung ist fast ausschliesslich eine Globalisierung der Konzerngewinne und der Verwandlung von Blut, Tränen und Schweiss am einen Ende der Welt in das Gold und in den Luxus am anderen Ende der Welt. Wann endlich wird auch der Chef eines multinationalen Lebensmittelkonzerns nicht mehr ruhig schlafen können, wenn ihm bewusst geworden ist, welches die Opfer sind, denen er seine Profite verdankt? Und wann endlich wird das „Gewaltige“, über das gesprochen wird, nicht mehr eine immer weiter voranschreitende Globalisierung von Konzerngewinnen und eine immer grössere Kluft zwischen Arm und Reich sein, sondern eine Globalisierung der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens für ALLE?

 

„Squid Game“ – eine ins Tödliche übersteigerte Form des Ultrakapitalismus

 

111 Millionen Haushalte hat die Netflix-Serie „Squid Game“ bereits erreicht, so die „NZZ am Sonntag“ vom 17. Oktober 2021. In „Squid Game“ kämpfen Menschen, die von der Leistungsgesellschaft ausgeschieden wurden, ums nackte Überleben, getrieben von der Hoffnung, ein gigantisches Preisgeld zu gewinnen, um damit wieder in die Gesellschaft zurückzukehren – wenn sie das nicht schaffen, werden sie kaltschnäuzig hingerichtet. Doch trotz aller Brutalität ist im Film nie Blut zu sehen – die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben gleichsam „steriles“ Töten und sollen offensichtlich nicht auf den Gedanken kommen, es könnte etwas Leidvolles und Schmerzliches sein. „Squid Game“, so der Filmwissenschafter Marcus Steinegger, „ist eine ins Tödliche übersteigerte Form des Ultrakapitalismus, wie wir ihn in unserer Gesellschaft erleben: In der heutigen Berufswelt müssen wir alle Top of the Game sein, an der Spitze stehen. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir weg. Und diesem Wettkampf sind schon die Kinder und die Jugendlichen von klein auf ausgesetzt.“ Ich frage mich, was für einen Nutzen Filme wie „Squid Game“ haben sollen – ausser natürlich für die Produzenten des Films und aller anderen, die damit Geld verdienen. Es ist die uralte Frage: Wird das Aggressionspotenzial, das in jedem Menschen auf die eine oder andere Weise schlummert, durch den Konsum solcher Medienprodukte abgebaut und „unschädlich“ gemacht, oder doch eher zusätzlich angeheizt? Das Beispiel einer belgischen Primarschule, wo die Kinder auf dem Pausenplatz „Squid Game“ nachgespielt und ihre Kolleginnen und Kollegen, die beim Spiel verloren hatten, verprügelt haben, deutet doch eher darauf hin, dass Verhaltensmuster von Ausgrenzung und Gewalt als Folge der entsprechenden „Vorbilder“ eher verstärkt als in harmlose Bahnen gelenkt werden. Grundsätzlich ist ja davon auszugehen, dass jedes Kind von Natur aus eine „fürsorgliche“ wie auch eine latent „feindselige“ Seite hat. Da müsste doch, wenn wir an das Zusammenleben der Menschen und die gegenseitige Solidarität im Kleinen wie auch im Grossen denken, alles unternommen werden, um die fürsorgliche Seite der Menschen zu stärken und zu fördern. Diese Forderung steht freilich in absolutem Gegensatz zur Medienindustrie, der es um nichts anderes geht, als – im Sinne des Kapitalismus – in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Das ist in doppeltem Sinne fragwürdig: Zum einen, indem die latent vorhandene Aggressivität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen schamlos ausgenützt und zu Geld gemacht wird, zum einen aber auch dadurch, dass gerade Filme wie „Squid Game“ durch das Glorifizieren gewalttätiger „Helden“ genau dieses kapitalistische Muster einer gnadenlosen Klassengesellschaft, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind, zusätzlich anheizt und als das „Normale“ erscheinen lässt – ohne auch nur im Entferntesten eine Alternative dazu aufzuzeigen. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann einen Film mit dem Titel „Squid Game, Teil zwei“. In dieser Fortsetzungsgeschichte gäbe es keine Waffen, nur die Waffen der Liebe. Es gäbe keine Ausgrenzungen, nur die Macht gegenseitiger Solidarität. Es gäbe auch keine Siegerpodeste, keine Wettbewerbe, keine Siege und keine Niederlagen, nur eine Welt, in der jeder Mensch voller Selbstvertrauen, voller Wertschätzung und gegenseitiger Anerkennung leben könnte… 

Roger Köppel und das „Recht auf Hass im Internet“

 

Unter dem Titel „Hass, ein Plädoyer“ schreibt SVP-Nationalrat Roger Köppel in der „Weltwoche“ vom 12. Oktober 2021: „Es vergeht kaum eine Woche, in der Zeitungen oder Politiker nicht die Abschaffung des Hasses im Internet fordern. Ich dagegen fordere Fairness für den Hass. Ich plädiere fürs Hassen. Denn die Hassrede ist genauso Teil des freien demokratischen Gesprächs wie die Liebeserklärung. Doch die Hass-Verbieter und Hans-Bekämpfer möchten, dass es nur noch Liebeserklärungen gibt. Ich wage die Behauptung: Dieses Unterfangen wird scheitern. Wer hasst, sagt aus tiefster Seele nein. Das dürfen wir uns von niemandem verbieten lassen. Es darf kein Hassverbot geben. Im Gegenteil, wir sollten die Leute ermutigen, ihren Hass auf den sozialen Medien auszuleben. Das ist besser, als wenn sie zum Küchenmesser greifen oder sich eine Pistole oder ein automatisches Gewehr kaufen.“ Herrschte bislang weitgehend der Konsens, dass Hass im Internet etwas Verwerfliches sei, fordert uns nun also tatsächlich ein Nationalrat und Chefredaktor einer Wochenzeitung dazu auf, lustvoll im Internet möglichst viel Hass zu verbreiten. Als gäbe es so etwas wie ein Recht auf Hass. Gleichzeitig zieht Köppel das Gegenteil, die Liebe, oder, wie er es nennt, die „Liebeserklärung“, ins Lächerliche, so als wäre das bloss etwas für allzu Sentimentale und Weicheier. Besonders stossend die Argumentation, dass die Menschen, wenn das Verbreiten von Hass im Internet verboten würde, dann halt zum Küchenmesser oder zum automatischen Gewehr greifen würden. So etwas wie eine Drohung: Lasst uns unseren Hass im Internet verbreiten, sonst, wenn ihr uns das verbieten wollt, greifen wir zu gröberem Geschütz. Völlig daneben auch Köppels Behauptung, wer Hass verbreite, sage „aus tiefster Seele Nein“. Damit unterstellt Köppel jedem Kind, das nicht gehorcht, und jeder Klimaaktivistin, welche gegen eine zu lasche Klimapolitik protestiert, dass ihr „Nein“ einzig und allein purem Hass entspringe. Dabei hat das eine mit dem anderen auch nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Die meisten Menschen, die sich mit Leidenschaft gegen Missstände oder Ungerechtigkeiten zur Wehr setzen, lehnen Hass und Gewalt aus Überzeugung ab. Nein, man kann es drehen und wenden, wie man will: Es bleibt am Ende kein stichhaltiges Argument übrig, das die Verbreitung von Hass im Internet und den sozialen Medien rechtfertigen könnte. Ob sich Köppel seiner höchst gefährlichen Rhetorik nicht bewusst ist? Gehören Beleidigungen gröbster Art, Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen, gehört das alles noch zum „Recht auf Hass“, das man den Menschen nicht wegnehmen sollte? Nur in einem Punkt gebe ich Roger Köppel Recht: Man wird den Hass im Internet nicht verbieten können. Aber man sollte wenigstens alles Erdenkliche tun um die Menschen darüber aufzuklären und mit ihnen darüber zu diskutieren, wie schädlich das Verbreiten von Hass im Internet ist, wie wenig Konstruktives damit erreicht werden kann und wie viel Unheil damit schon angerichtet worden ist. Dies erwarte ich von einem verantwortungsvollen Politiker und Chefredaktor und nicht, dass er das Verbreiten von Hassbotschaften im Internet sogar noch salonfähig macht und glorifiziert. Wer das Recht auf freie Meinungsäusserung hoch hält und gleichzeitig das „Recht auf Hass“, muss früher oder später einsehen, dass sich beides zusammen gleichzeitig nicht vereinbaren lässt.

In meiner Stadt ist etwas los: Der ganz normale tägliche Wahnsinn

 

In meiner Stadt ist etwas los. Als wären sie über Nacht eingeflogen und plötzlich standen sie da: Vier in den Himmel ragende Bauvisiere haben eines der Geschäftshäuser an der Bahnhofstrasse förmlich in die Zange genommen. Geschätztes Volumen des ausgesteckten Neubaus: etwa das Doppelte des bisherigen Gebäudes, alle jetzt noch vorhandenen Gehbereiche und Grünflächen aufgeschluckt, jeder Quadratmillimeter dem renditesüchtigen Kapital unterworfen. Ich kann es immer noch nicht glauben: Ein Gebäude, das wahrscheinlich gut und gerne auch noch die nächsten hundert Jahre überstehen würde, mit guter Bausubstanz und einer gefälligen Architektur mit terrassenförmig abgestuften Wohngeschossen auf den obersten Etagen, soll tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht werden? Wo jetzt Menschen ihre Einkäufe tätigen, andere ihrer Arbeit nachgehen und es sich wieder andere in ihren Wohnungen gemütlich gemacht haben – von all dem soll nichts anderes übrig bleiben als ein riesiger Schutthaufen, der mit einem immensen Aufwand an Energie zerkleinert, abtransportiert und entsorgt werden muss? Und was ist mit all den Rohstoffen, dem Baumaterial, der Energie, die erforderlich sein wird, um das neue, doppelt so grosse Gebäude zu errichten? Dies alles würde ja vielleicht dann noch Sinn machen, wenn der Bedarf an zusätzlicher Fläche für Geschäfte, Büros, Arztpraxen oder gewerbliche Nutzung in unserer Stadt tatsächlich so gross wäre, doch genau das Gegenteil ist der Fall: Seit Jahren stehen zahlreiche Lokalitäten für Geschäfte, Büros und Kleingewerbe leer und konnten trotz intensivster Bemühungen nicht vermietet werden. Gleichzeitig fehlt es an allen Ecken und Enden an preisgünstigen Wohnungen, während immer mehr Wohnungen im höchste Preissegment gebaut werden. Wie heisst es so schön: Der Freie Markt regle alles am besten zum Wohle der Menschen. Wie lange noch glauben wir dieses Märchen?

 

Gesundheitswesen: Der Markt regle alles zum Besten? Schön wäre es…

 

Martin Pfister, Gesundheitsdirektor des Kantons Zug, scheint an der Pflegeinitiative des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, über die am 28. November 2021 abgestimmt wird, keine Freude zu haben. In der Tagesschau des Schweizer Fernsehens vom 12. Oktober 2021 sagte er: „Wenn man Bundesvorgaben machen würde für die Löhne, dann glauben wir nicht, dass hier eine deutliche Verbesserung erzielt werden könnte.“ Noch widersprüchlicher und fadenscheiniger geht’s nun wirklich nicht. Wer, wenn nicht der Bund, soll denn faire Löhne durchsetzen, nachdem seit Jahrzehnten alle bisherigen Anstrengungen, Bemühungen und Initiativen auf betrieblicher und kantonaler Ebene nichts gefruchtet haben? Wer, wenn nicht der Bund, sollte garantieren, dass das Gesundheitssystem endlich zu einer Institution wird, die nicht nur um das Wohl der Patientinnen und Patienten besorgt ist, sondern ebenso um das Wohl des Pflegepersonals? Wer, wenn nicht der Bund, sollte dafür sorgen, dass die derzeit 11’000 offenen Stellen in der Pflege möglichst bald besetzt und die bis 2029 benötigten 70’000 zusätzlichen Pflegenden rechtzeitig ausgebildet werden können? Der Zuger Gesundheitsdirektor Martin Pfister ist freilich nicht der einzige Gegner der Pflegeinitiative, der den Nutzen und den Sinn „staatlicher“ Eingriffe und Vorgaben in Frage stellt. Die Angst davor, der Staat könnte übermässig in etwas eingreifen, was ohne ihn viel besser funktionieren würde, entspringt dem unbeirrbaren Glauben, der „Markt“ regle früher oder später alles zum Besten. Genau dieser „Markt“ hat aber bis zur Stunde ganz kläglich versagt und es ist eigentlich unfassbar, dass trotzdem immer noch eifrig an diesem Irrglauben festgehalten wird. Gut, bietet uns die Pflegeinitiative für einmal die Gelegenheit, das Schiff in eine neue Richtung zu lenken…