Archiv des Autors: Peter Sutter

Die Menschheit und ihr uralter Traum von der sozialen Gerechtigkeit

 

Vier von fünf Deutschen, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 24. September 2021, halten die Welt für ungerecht. Dies das Ergebnis einer von der Lindauer Stiftung Friedensdialog durchgeführten Studie. Dieser Befund deckt sich mit einer 2017 ebenfalls in Deutschland durchgeführten Befragung, wonach 92 Prozent der Deutschen den Leitwert der sozialen Gerechtigkeit für wichtig halten. Auch eine vom Edelman-Kommunikationsbüro im Jahre 2020 durchgeführte Befragung geht in die gleiche Richtung: Für 55 Prozent der Deutschen richtet der Kapitalismus mehr Schaden als Nutzen an, indem er dazu beitrage, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr vergrössere. Soziale Gerechtigkeit – offenbar ein Grundbedürfnis des Menschen, das aber in der heutigen Welt mit ihren immensen sozialen Gegensätzen auf unerträgliche Weise immer und immer wieder verletzt wird. Drei Fragen stellen sich. Erstens: Woher kommen Gier und Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten, wenn der Mensch doch angeblich von Natur aus ein mitfühlendes, soziales Wesen ist? Zweitens: Was ist soziale Gerechtigkeit denn eigentlich in letzter Konsequenz? Und drittens: Wie könnte soziale Gerechtigkeit weltweit verwirklicht werden? Zur ersten Frage nach der Gier und dem Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten: Dies hat – so meine Hypothese – wesentlich mit dem gesellschaftlichen Selektionssystem zu tun, dem man schon in der Schule und später in der Arbeitswelt und der Wirtschaft unterworfen ist. Wer auf der Erfolgsleiter nach oben kommen will, muss stark, schnell und skrupellos sein – ob er sich auf dem Weg nach oben auch noch um Schwächere kümmert, danach fragt niemand. Umgekehrt bleiben Sensible, Soziale, Mitfühlende, Verletzliche häufig auf der Strecke. Man nennt es zutreffend auch die „Ellbogengesellschaft“. Und so muss man sich dann nicht wundern, dass sich am oberen Ende der Gesellschaft, sei es in der Wirtschaft, der Forschung, der Bildung, der Politik, jene Menschen ansammeln, denen es vor allem um ihr eigenes Ego geht, um Macht und Prestige – gewiss eine Minderheit der Bevölkerung, welche jene Fürsorglichkeit, durch welche sich eine Mehrheit der ganz „einfachen“, „gewöhnlichen“ Menschen auszeichnen, ganz und gar nicht repräsentiert und die dennoch ungleich viel mehr Macht und Einfluss besitzt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Interessen zu bestimmen und zu beeinflussen. Zur zweiten Frage nach dem Wesen der sozialen Gerechtigkeit. Eigentlich ist es einfach: Es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass ein Mensch bloss aufgrund seines Geburtsortes, seiner sozialen Stellung oder seiner beruflichen Tätigkeit ein besseres oder schlechteres Leben haben sollte als irgendein anderer. Jeder Mensch trägt, indem er lebt und arbeitet, seinen individuellen Teil zum Erfolg und zum Gelingen des Ganzen bei und sollte daher auch den gleichen Teil wieder zurückbekommen wie alle anderen. In letzter Konsequenz müsste man daher einen weltweiten Einheitslohn einführen, alle Menschen müssten über gleich viel Nahrung und sauberes Trinkwasser verfügen wie alle anderen, gleich gute Wohnverhältnisse, die gleich gute Gesundheitsversorgung, den gleich guten Zugang zu Bildung und Kultur. Gewiss eine Utopie, die sich nicht heute oder morgen verwirklichen lässt. Nichtsdestotrotz dürfen wir sie nicht aus den Augen verlieren und uns stets bewusst sein, dass das Meiste, was als „soziale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, nicht wirklich sehr viel damit zu tun hat, so zum Beispiel, wenn im aktuellen deutschen Bundestagswahlkampf von einzelnen Parteien eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 bzw. 13 Euro gefordert und dies schon als ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit gefeiert wird – während im gleichen Land Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener das 200- oder 300fache davon einheimsen. Die Utopie einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit, von der wir weiter entfernt sind denn je, muss uns als Stachel im Fleisch so lange und so quälend schmerzen und uns so viele schlaflose Nächte bereiten, bis sich die Utopie in Wirklichkeit verwandelt haben wird. Zur dritten Frage nach der Verwirklichung weltweiter sozialer Gerechtigkeit: Dies geht nicht ohne eine radikale Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der kapitalistischen Klassengesellschaft. Nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch wegen der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen. In der eingangs zitierten Studie des Lindauer Friedensdialogs nannte die Mehrzahl der Befragten das „Engagement von Stiftungen“ als wirksamstes Mittel zur Realisierung weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Dies zeigt die unglaubliche Diskrepanz zwischen der Macht des real existierenden Kapitalismus und den fehlenden politischen Instrumenten, diese Macht zu brechen und durch ein von Grund auf neues, auf Frieden und Gerechtigkeit aufbauendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ersetzen. Und doch bleibt Hoffnung. Dass für die allermeisten Menschen die soziale Gerechtigkeit oberste Priorität hat, zeigt, dass wir, für eine bessere Zukunft, nicht so sehr den Menschen künstlich etwas aufzuzwingen brauchen, sondern dass es genügen müsste, all jene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie davon abhalten, ihre Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und nach dem guten Leben für alle Wirklichkeit werden zu lassen.

Klimastreik: Muss man denn zuerst Radau schlagen, bis man wahrgenommen wird?

 

Klimastreik am 24. September 2021. Weltweite Kundgebungen. Allein in Berlin sind 100’000 Menschen auf der Strasse, in ganz Deutschland schätzungsweise rund 620’000. Auch in der Schweiz finden in mehreren Städten Demonstrationen statt, mit insgesamt mehreren tausend Teilnehmenden. Der Klimastreik ist aus seinem coronabedingten Dornröschenschlaf erwacht. Ein Anlass für die Medien, umfassend darüber zu berichten? Fehlanzeige! Als ich mir am Freitagabend die Tagesschau anschaue und später die Sendung „10 vor 10“: nichts, einfach nichts, weder ein Bericht über die Kundgebungen in der Schweiz, noch ein Bericht über die grossen Kundgebungen in Deutschland. Und als ich am folgenden Morgen den „Tagesanzeiger“ lese, sieht es nicht viel besser aus. Im Hauptteil der Zeitung eine kümmerliche Randnotiz über die Anlässe in Deutschland, ohne Bild und mit dem Hinweis, es hätten „zehntausende“ Menschen im ganzen Land demonstriert, obwohl es nur allein schon in Berlin rund 100’000 gewesen sind. Im Lokalteil dann immerhin ein etwas längerer Artikel über die Kundgebung in Zürich, aber ohne Angabe der Teilnehmerzahl und mit einem Bild, auf dem gerade mal ein gutes Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu sehen sind, während sich doch insgesamt etwa 4000 Menschen am Zürcher Klimastreik beteiligt haben. Wenn ich mir die Berichterstattung über die Kundgebungen der Gegnerinnen und Gegner von Impfungen und Coronaschutzmassnahmen in Erinnerung rufe, dann frage ich mich schon: Muss man denn, um von den Medien und damit auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, zuerst andere Menschen beschimpfen und beleidigen, Morddrohungen aussprechen, Hass in den sozialen Medien verbreiten, mit dem Sturm aufs Bundeshaus drohen und von der Polizei aufgebaute Absperrgitter einzureissen versuchen? Die Klimabewegung hätte wohl mindestens so viel wenn nicht mehr Beachtung verdient als die Kritiker und Kritikerinnen der Coronaschutzmassnahmen. Erstens gerade weil es eine durch und durch friedliche und gewaltlose Bewegung ist und es selbst bei einer Teilnehmerzahl von mehreren zehntausend bis anhin nie auch nur ansatzweise zu Ausschreitungen und Tätlichkeiten gekommen ist und auch nie zu Beschimpfungen und Beleidigungen „Andersdenkender“. Und zweitens, weil der Klimaschutz zweifellos wohl das wichtigste Thema unserer Zeit ist. Wenn Hitze und Dürre grosse Teile der Erdoberfläche unfruchtbar machen, die Trinkwasserversorgung in weiten Teilen der Welt zusammenbricht und die Meeresspiegel so sehr ansteigen, dass Millionen von Menschen ihre Heimat verlieren, dann nützen auch die erfolgreichsten wirtschaftlichen Kennziffern, die ausgeklügeltsten Verkehrssysteme und die besten Sozialeinrichtungen nicht mehr viel. Doch ganz offensichtlich scheint auch den Medien der kurzfristige materielle Profit wichtiger zu sein als die gemeinsame Sorge um die Zukunft aller Menschen auf diesem Planeten. 

Der Klimastreik und ein hinkender Bauarbeiter: Alles hängt mit allem zusammen

 

24. September 2021, Klimastreik in Zürich. Nach und nach füllt sich der Platz vor der Technischen Hochschule, wo die Kundgebung ihren Anfang nimmt. Wenige Meter davon entfernt sind Bauarbeiter damit beschäftigt, an der Fassade des Hochschulgebäudes ein Gerüst aufzubauen. Und dann sehe ich ihn, der mir heute den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen wird: ein älterer Arbeiter, der stark hinkend und mit schmerverzerrtem Gesicht die schweren Rohre schultert und dorthin trägt, von wo sie dann mit einem Seil hochgehievt werden. Sein Gesicht widerspiegelt nicht nur seine Schmerzen, es ist auch grau und voller Furchen. So wie er aussieht, müsste er wohl schon lange pensioniert sein. Sieht ihn niemand von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimakundgebung oder will ihn niemand sehen? Schlagartig wird mir bewusst, dass alles mit allem zusammenhängt. Es ist der Kapitalismus. Dieser gleiche Kapitalismus, der mit seinem Dogma unbegrenzten Wachstums nicht nur unser Klima aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, sondern auch dem nimmersatten Profit zuliebe das Letzte aus den arbeitenden Menschen herauspresst, bis sie nur noch humpelnd und unter Aufbietung ihrer letzten Kraft, geplagt von Schmerzen, Tag für Tag ihren Feierabend kaum erwarten können. Dieser gleiche Kapitalismus, der täglich Abertausende Kinder in Afrika schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs tötet, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens Nahrungsmittel in solchem Überfluss vorhanden sind, dass sich die Menschen den Luxus leisten können, einen Drittel davon in den Abfallkübel zu werfen. Dieser gleiche Kapitalismus, der Wälder gigantischen Ausmasses verbrennen lässt, Böden, die Luft, Seen und Flüsse vergiftet und dafür verantwortlich ist, dass schon Abertausende von Tier- und Pflanzenarten für immer von diesem Planeten verschwunden sind. Dieser gleiche Kapitalismus und die von ihm verursachte wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Millionen von Menschen zu Flüchtlingen macht und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben nur zu oft in Nichts zerschlagen lässt. Dieser gleiche Kapitalismus, der, wenn es um Macht, Einfluss und die Gier nach Bodenschätzen und Rohstoffen geht, auch nicht vor dem Einsatz militärischer Mittel zurückschreckt, über ganze Länder hinweg Blutspuren hinterlassend, die über Jahrzehnte hinweg nicht mehr verheilen werden. Inzwischen wälzt sich der Zug des Klimastreiks durch die Strassen der Zürcher Innenstadt. Laute, mitreissende Musik. Tanzende Menschen. Parolen, tausendfach erschallend. Ein wunderbares Gefühl, Teil von so viel Leidenschaft, von so viel Hoffnung zu sein. Und in diesem Augenblick habe ich einen Traum. Ich träume, dass dieser Zug, in dem ich mich bewege, immer grösser wird. Aus jeder Seitengasse, an der wir vorbeikommen, strömen immer wieder neue Menschen hinzu, ergiessen sich wie Bäche in einen Fluss, der immer breiter und breiter wird: Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, die es satt haben, von ihren Aufsehern angeschrien und geprügelt zu werden, nur weil sie nicht genug schnell arbeiten. Ein Kind aus Vietnam, das nackt und schutzlos dem Angriff einer amerikanischen Napalmbombe ausgesetzt war und dessen Körper noch immer von schmerzenden Narben übersät ist. Afrikanische Sklavinnen und Sklaven, die millionenfach in den finster stinkenden Bäuchen englischer und portugiesischer Schiffe nach Amerika verschifft und dort zu unsäglicher Zwangsarbeit verdammt wurden, bloss um jene Handelshäuser reich zu machen, auf deren Fundamenten der europäische Kapitalismus später seine Herrschaft aufbauen sollte. Kinder aus aller Welt, die schon von klein auf schwerste Arbeiten verrichten müssen und für die schon ein paar Schuhe der grösste Luxus sind. Und ja, dann strömen auch sie aus wieder anderen Seitengassen: kleinere und grössere Tiere, auch sie gezeichnet von unvorstellbarem Leiden, in viel zu engen Gehegen, auf viel zu überfüllten Transportschiffen, in Schlachthöfen unbeschreiblicher Ängste, und alles nur, um mittels aller dieser Qualen den grösstmöglichen materiellen Profit herauszuschlagen. Und jetzt, mitten in der riesigen Menge, sehe ich ihn auf einmal wieder, den alten Bauarbeiter mit dem grauen Gesicht. Noch immer humpelt er, aber wo in seinem Gesicht der Schmerz zu sehen war, sind jetzt Heiterkeit und Hoffnung. Es ist, als wäre er von diesem gewaltigen Fluss getragen und nichts könnte ihn mehr aufhalten. Nein, dieser 24. September 2021 ist nicht das Ende. Es ist der Anfang, an dem alles erst so richtig beginnt, die Quelle, wo der Fluss entspringt, der Weg, an dem unzählige weitere Bäche und Flüsse in ihn münden werden, bis wir am Meer angelangt sind, wo eine neue Zeit Wirklichkeit geworden sein wird.

 

Evergrande – ein kapitalistisches Lehrstück gefährlicher Tragweite

 

Der zweitgrösste chinesische Immobilienentwickler Evergrande, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 21. September 2021, ist mit 315 Milliarden Dollar verschuldet. Die drohende Pleite hat weltweite Auswirkungen und schürt die Angst vor einer neuen Finanzkrise. Betroffen wären nicht nur die 3,8 Millionen Angestellten, deren Jobs indirekt von Evergrande abhängen, sondern auch die Kurse global tätiger Banken, unter anderem der schweizerischen Finanzinstitute CS und UBS. Voraussichtlich hätte eine Pleite von Evergrande auch ein sinkendes Wirtschaftswachstum von China zur Folge. Dies wiederum hätte Auswirkungen auf die Rohstoffpreise und würde zahlreiche Schwellenländer in Not bringen, deren finanzielle Lage stark von den Rohstoffpreisen abhängig ist. Ein schwächeres Wachstum Chinas hätte insbesondere auch für Deutschland negative Konsequenzen: Für das Exportland Deutschland ist China der wichtigste Handelspartner. Eine Schwächung Deutschlands wiederum hätte negative Auswirkungen auf die Schweiz. Die auf der Titelseite des „Tagesanzeigers“ publizierte Karikatur zeigt hintereinander aufgestellte Dominosteine. Der erste ist Evergrande. Kippt dieser, dann kommt es zu einer Kettenreaktion und der Reihe nach kippen auch alle übrigen Steine. Ein anderes Bild wäre eine Kette, die auseinanderbricht, sobald ihr schwächstes Glied reisst. Man muss nicht viel von Ökonomie verstehen um zu sehen, dass hier offensichtlich alles aus den Fugen geraten ist. Nur schon damit angefangen, dass beim Handel mit Immobilien derart astronomische Summen im Spiel sein können, wo doch, nüchtern betrachtet, Wohnen und Wohnungsbau zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehören und am vorteilhaftesten gemeinnützig oder genossenschaftlich organisiert sein müssten, fern jeglichen Gewinnstrebens und fern jeglicher Spekulation. Aber eben, wenn man so tief im kapitalistischen Dickicht festgefahren ist, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, kann sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen und sieht noch in den grössten Absurditäten etwas „Normales“. Auch die Tatsache, dass der globalisierte Kapitalismus, in dem alles weltweit miteinander verknüpft und verbunden ist, erregt höchstens noch ein kurzes Staunen, bevor wir wieder zu einer „Tagesordnung“ zurückkehren, die, wenn man sie aus Distanz von einem anderen Planeten aus anschauen könnte, mindestens als der helle Wahnsinn erscheinen müsste. Welche unselige Macht hat uns eigentlich dazu gebracht, alles mit allem zu verknüpfen? Das ist, wie wenn man in allen Häusern einer Stadt vorsorglich genügend Benzin einlagern würde, damit, wenn eines der Häuser brennt, gleich alle anderen auch zu brennen beginnen. Viel vernünftiger wäre doch eine grösstmögliche Autonomie jedes einzelnen Unternehmens, jeder einzelnen Landesregion, jeder einzelnen Volkswirtschaft. Damit jeglicher Schaden möglichst begrenzt bleibt und sich nicht wie ein Lauffeuer landes- und weltweit ausbreiten kann. Die weltweite Verknüpfung von allem mit allem hat uns jeglichen ökonomischen Gestaltungswillen aus der Hand gerissen. Als würden wir von einer unsichtbaren Macht regiert, auf die wir jeglichen Einfluss verloren haben und der wir schicksalshaft ausgeliefert sind. Wir meinen, die althergebrachten Religionen überwunden zu haben, doch gleichzeitig haben wir nur eine neue Religion geschaffen, die Religion des globalisierten Kapitalismus, der wir von Brasilien bis Russland, von Südafrika bis Taiwan, von Kanada bis China zu Füssen liegen. Es bleibt uns nur übrig, wie gebannt auf unsere Bildschirme zu starren und die steigenden und fallenden Kurse zu verfolgen und zu hoffen, dass nur ja nichts wirklich Schlimmes passiert. Fast wünschte man sich, dass alle diese Absurditäten noch viel schlimmere Formen annehmen, bloss um uns die Augen dafür zu öffnen, noch rechtzeitig das Ruder herumzureissen und ein neues Zeitalter jenseits aller kapitalistischen Verrücktheiten Wirklichkeit werden zu lassen.

Hurra, jetzt dürfen auch die Kundinnen und Kunden von Coop schon das Personal bewerten und können erst noch einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen…

 

Wie das Gratisblatt „20minuten“ am 20. September 2021 berichtet, sollen Kundinnen und Kunden von Coop zukünftig das Verhalten und das Auftreten des Personals an der Kasse und auf der Verkaufsfläche bewerten können, auf einer Skala von 0 bis 5. Coop hat zur Einführung dieses Bewertungssystems sogar extra ein Gewinnspiel lanciert: Wer sich am Bewerten aktiv beteiligt, kann einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen. Wenn ich also zukünftig meinen Einkauf auf das Rollband lege und mir die Kassierin freundlich zulächelt, dann werde ich nicht mehr wissen, ob es sich da einfach um eine ganz spontane und freundliche Mitarbeiterin handelt, ob ich ihr besonders sympathisch bin oder ob sie das nur deshalb tut, um eine möglichst positive Bewertung zu ergattern. Das Gleiche im Hotel und im Restaurant, wo die Gäste schon seit Längerem die Möglichkeit haben, übers Internet eine Beurteilung des in Anspruch genommenen Angebots vorzunehmen, so dass auch die Zimmermädchen, die Köche, der Herr am Empfang und die Kellnerinnen bei jedem Handgriff und jeder Bewegung wissen, dass dieses oder jenes Verhalten oder dieses oder jenes falsche Wort zur falschen Zeit eine negative Gästebewertung zur Folge haben könnte – und folglich höchstwahrscheinlich auf eine entsprechende Rüge ihres Arbeitgebers. Bald werden wir wahrscheinlich auch schon die Arbeit unserer Physiotherapeutin, unseres Fitnesstrainers, unserer Krankenpflegerin, unserer Zahnärztin, unseres Briefträgers und unserer Coiffeuse via Internet bewerten können und alle werden sich jede erdenkliche Mühe geben, um in den Genuss einer positiven Bewertung zu gelangen. Nun, was soll daran so schlecht sein? Erstens töten solche Bewertungssysteme jegliche Spontaneität ab. Das Lächeln der Kellnerin, die anschliessend von ihrem Gast bewertet wird, gleicht dem Lächeln von Sportgymnastinnen und Synchronschwimmerinnen, die auch dann noch ein Lächeln auf dem Gesicht haben, wenn ihr Körper vor Anstrengung und vor Schmerzen fast zerbricht. Weit ist da der Weg nicht mehr hin bis zu jenen Robotern, die ihre Kundinnen und Kunden zwar perfekt bedienen – wie das heute in japanischen Hotels und Restaurants schon gang und gäbe ist -, stets ein Lächeln auf dem Gesicht haben, nie ihre Geduld verlieren, nie einen Fehler machen – dafür aber keine Seele mehr haben. Die Coiffeuse, die eine wunderbare Frisur herbeizaubert, die Verkäuferin im Modegeschäft, welche ihre Kundinnen besonders einfühlsam berät, der Koch, der sich alle Mühe gibt, ein feines Gericht zuzubereiten: Sie alle haben das auch vorher schon nach bestem Wissen und Gewissen gemacht, doch jetzt stehen sie bei jeder Bewegung und jedem Wort im Blickfeld eines unsichtbaren Auges. Ein durch nichts zu rechtfertigender Eingriff in die Persönlichkeit der Betroffenen, denen man aus völlig unerklärlichen Gründen nun auf einmal all das, was bisher selbstverständlich war und nichts anderem entsprang als der Leidenschaft und der Liebe zu ihrer Arbeit, nun auf einmal nicht mehr zuzutrauen scheint – als wären es Marionetten, die nur dann funktionieren, wenn einer oben ist, alle Fäden in der Hand hält und die Figuren richtig zu führen weiss. Zweitens, und das erscheint mir noch schlimmer: Solche Bewertungssysteme verschlimmern all jene „Untertanenverhältnisse“, die bereits vor der Einführung des Bewertungssystems bestanden, erst recht. Das Leitmotiv, wonach der Kunde König sei, wird nun erst recht auf die Spitze getrieben. Hat sich der Gast früher über ein Essen, das ihm nicht schmeckte, bei der Kellnerin beschwert, so saust er nun nach dem Essen nach Hause und hackt seine negative Bewertung in den Computer. Da negative Bewertungen erfahrungsgemäss häufiger gegeben werden als positive, erhöht dies zusätzlich den Druck auf die Angestellten. Das zutiefst Unmenschliche daran ist, dass die Kundinnen und Gäste zwar stets – ganz nach dem Motto: wer zahlt, befiehlt – auch ihre schlechten Tage haben und auch mal unfreundlich oder sogar herablassend und verletzend sein dürfen – man dem Personal aber genau dieses Recht, auch mal einen schlechten Tag oder auch mal eine schlechte Laune zu haben, verwehrt. Kein Wunder, wird es immer schwieriger, genügend Personal für Jobs zu finden, die einerseits überaus streng und schlecht bezahlt sind und in denen man anderseits so gnadenlos der Willkür von Kundinnen und Gästen ausgeliefert ist. Seit ich unlängst der Bäckerin im Supermarkt, wo ich regelmässig einkaufe, dafür gedankt habe, dass sie stets so gutes Brot backe, grüsst sie mich jedes Mal schon von Weitem, wenn sie mich beim Einkaufen sieht. Und auch die Kellnerin im Restaurant, wo ich kürzlich zu Mittag gegessen habe, strahlte übers ganze Gesicht, als ich ihr für die freundliche und zuvorkommende Bedienung ein herzliches Dankeschön ausgesprochen habe. Wäre das nicht eine viel effizientere – und erst noch billigere – Methode, um Menschen für ihre Arbeit zu motivieren, statt sie rund um die Uhr mit Argusaugen zu beobachten, zu vergleichen und zu bewerten?

Was die Klimakrise und eine falsch verstandene Fortschrittsgläubigkeit miteinander zu tun haben

 

Ich habe noch von keinem einzigen Politiker, keiner einzigen Politikerin und keiner einzigen politischen Partei die Forderung gehört, Wohlstand sei abzubauen. Im Gegenteil: Alle, ob „links“, „rechts“ oder „grün“, propagieren stets nur eine Steigerung des vorhandenen Wohlstands und dass es den Menschen in Zukunft stets besser gehen solle als in der Vergangenheit und der Gegenwart. Dabei wäre doch genau dies, ein Abbau unseres im weltweiten Vergleich geradezu paradiesischen Wohlstands, das einzige mögliche Mittel, um der Klimakrise wirksam zu begegnen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede nicht von all jenen Menschen, die selbst mitten in den „reichen“ Ländern Europas trotz meist härtester Arbeit so wenig verdienen oder so wenig finanzielle Unterstützung bekommen, dass sie ihre Wohnungsmiete nicht bezahlen können, auf den dringend nötigen Zahnarztbesuch verzichten müssen, sich nicht einmal ein Kino- oder Theaterticket leisten können oder vielleicht sogar am Ende des Monats nicht einmal mehr zwei ausreichende Mahlzeiten pro Tag auf dem Tisch haben. Nein, ich rede von den tausenden SUVs, die tagein tagaus über vier- oder sechsspurige Autobahnen donnern. Ich rede von Ferienflügen nach Mallorca, nach Teneriffa oder auf die Malediven. Ich rede vom Fünfgangmenu im Luxushotel. Ich rede von den Skifahrern, die sich per Helikopter auf einen Gletscher fliegen lassen. Ich rede von den Passagierinnen und Passagieren eines Kreuzfahrtschiffs quer durch das Mittelmeer. Ich rede von der Zweit- oder Drittwohnung im Tessin, am Genfersee oder auf der Lenzerheide. Ich rede von den Milliarden Kleidungsstücken, die in armen Ländern zu Hungerlöhnen produziert werden und in unseren Modeketten so billig zu haben sind, dass viel zu viel davon gekauft wird und das Kleidungsstück oft schon im Müll landet, bevor es auch nur ein einziges Mal getragen wurde. Ich rede von den Lebensmitteln, die auch, wie die Kleider, so billig sind, dass wir uns den Luxus leisten können, ein Drittel des Gekauften in den Müll zu werfen. Ich rede von Computern, Laptops und Smartphones, die einem so rasanten technischen Wandel unterworfen sind, dass ein eben erst gekauftes Gerät oft schon nach nicht einmal zwei Jahren durch ein neues ersetzt wird. Ich rede von Fernsehbildschirmen, die immer grösser werden und eine immer bessere Bildqualität aufweisen, so dass auch hier laufend tausende von Geräten, die noch bestens funktionieren würden, wieder durch neue ersetzt werden. Ich rede von der Werbeindustrie, die uns immer wieder Produkte schmackhaft zu machen versucht, die wir dann kaufen, obwohl wir sie gar nicht wirklich brauchen. Jahrzehntelang benützte man, für ärmere Länder des Südens, den Begriff „unterentwickelt“. Müsste man nicht, analog dazu, für die reichen Länder des Nordens den Begriff „überentwickelt“ verwenden? Oder wäre es vielleicht noch zutreffender, von „fehlentwickelt“ zu sprechen? Vielleicht ist es das, was die Natur in Gestalt der Klimakrise uns sagen will: Ihr lebt nicht so, wie die Erde als Ganzes es lieben würde. Ihr lasst auf dieser gleichen Erde unermesslichen Reichtum und unsägliche Armut zu. Ihr verletzt tagtäglich die heiligen Gesetze des Lebens, der Würde, des Gleichgewichts, der Gerechtigkeit. Könnten wir die Sprache der Natur verstehen, dann wäre dies wohl ein milliardenfaches Klagen, Schreien und Weinen, von den brennenden Wäldern über die schmelzenden Gletscher und aus den Schlachthöfen bis hin zu den abertausenden Insekten, die schon ausgestorben oder unmittelbar davon bedroht sind. Ja, wir müssen dringend Abschied nehmen vom Irrglauben, immer mehr Wohlstand sei möglich, jeder könne auf der Leiter von Geld und Besitztum immer weiter in die Höhe steigen. Das Gegenteil muss Wirklichkeit werden: der Verzicht auf unnötigen Luxus, die Besinnung auf das, was wirklich notwendig ist für ein gutes Leben, das gleichzeitig auch ein gutes Leben ist für alle anderen Menschen, für die Tiere, die Pflanzen, die ganze Natur. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Nehmen wir das Ernst, würde dies nicht weniger als den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte bedeuten. Die Abkehr nämlich von einer falsch verstandenen Fortschrittsgläubigkeit, von der wir immer deutlicher und immer drastischer erkennen, dass sie uns an einen Punkt gebracht hat, wo es mit den bisherigen Denkmustern und Wertvorstellungen schlicht und einfach so nicht mehr weitergehen kann. Oder, wie es Martin Luther King so treffend formulierte: „Entweder lernen wir, als Brüder und Schwestern gemeinsam zu überleben, oder wir werden miteinander als Narren untergehen.“  

Der Stadt-Land-Graben: Die SVP hat ein neues Feindbild entdeckt!

 

Die SVP hat ein neues Feindbild entdeckt: die Städterinnen und Städter. SVP-Präsident Marco Chiesa hat in seiner diesjährigen Rede zum schweizerischen Nationalfeiertag das Thema ins Spiel gebracht, seither wird es eifrig weitergekocht und einzelne SVP-Exponenten rufen doch sogar tatsächlich zu einem Aufstand der angeblich „benachteiligten“ Landbevölkerung gegen die angeblich „privilegierte“ Stadtbevölkerung auf. Dabei ist das Ganze doch bloss ein riesiges Ablenkungsmanöver. Der tatsächliche Graben in der Schweiz verläuft nicht zwischen Stadt- und Landbevölkerung, sondern zwischen Arm und Reich. Von dem einen Prozent der Bevölkerung, die über 43 Prozent der Vermögen verfügt, leben ebenso viele in einer Stadt wie auf dem Land. Gleichzeitig findet man alleinerziehende Verkäuferinnen, die täglich ums Überleben kämpfen müssen, Serviceangestellte und Coiffeusen, die hart am Existenzminimum leben, und Ausgesteuerte, die sich nicht einmal eine anständige Wohnung leisten können, sowohl in Basel wie auch in Klosters, in Zumikon ebenso wie in Genf, in Zürich ebenso wie in Gruyères oder in Schüpfheim. Es sind nicht die Bewohnerinnen und Bewohner der Städte, die auf Kosten der Bewohnerinnen und Bewohner des Landes leben. Es sind die Reichen, die auf Kosten der Armen leben. Denn diese ungeheuren Geldsummen, die sich in den Händen der Reichen befinden und laufend weiter in den Himmel wachsen, müssen von irgendwem in harter Arbeit erwirtschaftet werden – von all jenen, die täglich schwere Arbeit verrichten und dennoch viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Zusammenhänge, die, wenn man sie aufdecken würde, das Weltbild der SVP ganz schön ins Wanken bringen würden. Da ist es doch viel einfacher, den Missmut, das Unbehagen und all die Gefühle von Benachteiligung, die das Leben in der kapitalistischen Klassengesellschaft mit sich bringen, auf ein neues Feindbild auszurichten, auch wenn dieses noch so sehr an den Haaren herbeigezogen ist. Was für ein nächstes Feindbild wird der SVP, nach den Ausländern, den Moslems, den Minaretten und nun der Stadtbevölkerung, wohl noch einfallen, um immer wieder künstliche Gräben aufzureissen, die Menschen in Freund und Feind aufzuspalten und uns davon abzulenken, endlich den tatsächlichen Problemen und Missständen unserer Zeit in die Augen zu schauen?

Kein Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer: Eines Tages wird man erkennen, dass es Apartheid gewesen ist…

 

Eine klare Mehrheit des Aargauer Kantonsparlaments, so der „Tagesanzeiger“ vom 6. September 2021, hat unlängst die Einführung des Ausländerstimmrechts auf Gemeindeebene abgelehnt. In der Debatte argumentierten die Gegner des Ausländerstimmrechts unter anderem mit der Feststellung, die „Schweiz gehöre ausschliesslich den Schweizern“. Was für eine grenzenlose Arroganz, ja geradezu Menschenverachtung! Was wäre diese Schweiz ohne ihre abertausenden ausländischen Bauarbeiter, die „unsere“ Häuser, Strassen, Brücken und Tunnels bauen? Ohne ihre abertausenden ausländischen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, Ärztinnen und Ärzte, die in „unseren“ Spitälern Kranke und Verletzte pflegen? Ohne die vielen ausländischen Landarbeiterinnen und Landarbeiter, die „unser“ Gemüse ernten? Ohne die unzähligen ausländischen Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, die „unsere“ Maschinen, Baugeräte und Lebensmittel herstellen? Ohne die zahllosen ausländischen Putzfrauen, die „unsere“ Toiletten, Büros, Spitäler, Restaurants und Fabrikhallen sauber halten? Ohne die zehntausenden ausländischen Köche, Köchinnen, Serviceangestellte und Zimmermädchen, die Tag für Tag dafür sorgen, dass „unsere“ Hotels und Restaurants ein so hohes internationales Ansehen geniessen? Keine Sekunde lang würde „unsere“ Schweiz bestehen. Wie ein Kartenhaus würde sie augenblicklich in sich zusammenfallen, wenn die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Dienst aufgäben und „unserer“ Schweiz den Rücken kehrten. Dass ausgerechnet jenen Menschen, welche tagtäglich härteste Arbeit zum Wohle des Ganzen verrichten, dafür in der Regel vergleichsweise wenig verdienen und erst noch wenig gesellschaftliche Wertschätzung erfahren, dass ausgerechnet diesem Teil der Bevölkerung auch noch das politische Mitbestimmungsrecht verweigert wird, kann man eigentlich nicht anders bezeichnen als Apartheid. Leider rückt die Geschichte meist erst viel später die Realität ins richtige Licht. Dass Millionen von Afrikanerinnen und Afrikaner in die amerikanische Sklaverei gezwungen wurden, fand man zu jener Zeit als „normal“. Auch die Apartheid zwischen Schwarz und Weiss im damaligen Südafrika fand man „normal“. Auch dass Frauen in der Schweiz bis 1971 keine politischen Rechte hatten, fand eine Mehrheit der Bevölkerung „normal“. Und genau so ist es mit der Apartheid zwischen „inländischen“ und „ausländischen“ Menschen in der heutigen Schweiz: Sie erscheint uns als „normal“ – denn schliesslich leben wir ja in „unserer“ Schweiz, und nicht in der Schweiz von Kosovoalbanern, Türkinnen und Portugiesen. Die sollen schön brav arbeiten und sich mit wenig Lohn zufrieden geben und im Übrigen bitte einfach das Maul halten. Doch glücklicherweise beginnt sich Widerstand zu regen. Vereinzelte Kantone haben das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer eingeführt und bestimmt wird selbst der Kanton Aargau ihnen eines Tages folgen. Zeichen der Hoffnung. Nur manchmal wünscht man sich, gesellschaftlicher Fortschritt würde ein bisschen schneller voranschreiten…

Akademische Karrieren: Wenn die Rädchen schon zurechtgeschliffen werden, bevor sie sich noch richtig zu drehen begonnen haben…

 

„Wer an einer Hochschule reüssieren will“, schreibt der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann in der „NZZ am Sonntag“ vom 29. August 2021, „tut gut daran, die Stationen der Karriere genau zu planen. In den Wirtschaftswissenschaften ist es üblich, spätestens nach dem regulären Studium an eine renommierte Universität zu wechseln, um eine Dissertation zu schreiben. Danach erfolgt ein weiterer Wechsel zu ersten Anstellung an einer anderen Universität, sofern die Publikationsernte üppig genau ausfiel. Wenige Jahre später kommt die unbefristete Professur. Das klingt dynamischer, als es ist. Die Ausbildungszeit besteht im Wesentlichen darin, dass ein Büro mit dem andern vertauscht wird. Ob ich an der Mailänder Bocconi-Universität oder an der Yale University einen Artikel über die Wirkung von Deviseninterventionen schreibe, ändert wenig daran, dass ich hüben wie drüben hauptsächlich vor dem Computer sitze, die gleichen Papers lese und mich mit den Kolleginnen und Kollegen auf Englisch austausche. Nur das Nachtleben unterscheidet sich signifikant: Mailand ist eindeutig spannender als New Haven, Connecticut.“ Dies alles erinnert mich an eine mittelalterliche Priesterkaste: Eine Vielzahl ungeschriebener Rituale legt fest, wer dazu gehört und wer nicht. Zwischen denen, die dazu gehören, und dem „gewöhnlichen“ Volk klafft ein unüberwindlicher Abgrund. Die Klasse der Elite, der Abgehobenen hat ihr eigenes Denken, ihre eigene Sprache, ihr eigenes Selbstverständnis. So generiert die kapitalistische Ökonomie ihren Nachwuchs und die Rädchen werden aufs Feinste zurechtgeschliffen, bevor sie sich noch richtig zu drehen begonnen haben. „Aussenseiter“, „Querdenker“, „Systemkritiker“ haben hier schon von allem Anfang an keinen Platz. Und die Welt wird gnadenlos zweigeteilt: Oben jene, die über ökonomische Zusammenhänge nachdenken, sie analysieren, darüber Dissertationen und Bücher schreiben und für all das meist gar nicht schlecht bezahlt werden. Unten jene, die für viel weniger Geld mit ihrer täglichen Arbeit als Krankenpflegerinnen, Bauarbeiter, Köchinnen, Putzfrauen, Buschauffeure, Hausfrauen und Verkäuferinnen an vorderster Front genau das verkörpern, was schliesslich diese Wirtschaft, über welche die „Expertinnen“ und „Experten“ nur gescheit reden und nachdenken, in ihrer Gesamtheit ausmacht. Solcherlei Expertentum und Elitedenken ist letztlich höchst undemokratisch und müsste dringendst aufgewirbelt werden, indem zukünftige „Ökonomen“ und „Ökonominnen“ über Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern an der Basis der Arbeitswelt verfügen und auch Menschen mit „schrägen“, unkonventionellen Biografien Zugang zu den „höchsten“ Stufen der Wissenschaft haben müssten. Damit auch andere Denkrichtungen neben dem kapitalistischen Mainstream eine Chance hätten und die Institutionen der akademischen Welt nicht bloss Aufbewahrungs- und Konservierungsorte althergebrachter Traditionen wären, sondern Orte innovativer, kreativer Zukunftsgestaltung. Leider geht, wie Straumann in seinem Artikel ausführt, der aktuelle Trend genau in die entgegengesetzte Richtung: „Nachwuchsleute mit unkonventionellen Biografien haben es nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern in allen Sozial- und Geisteswissenschaften zunehmend schwer. Ein neues Zeitalter des Konformismus ist angebrochen.“

99-Prozent-Initiative: Und wieder solidarisieren sich die Armen mit den Reichen

 

Nachdem erste Meinungsumfragen noch ein knappes Ja für die 99-Prozent-Initiative gezeigt hatten, ist die Zustimmung gemäss einer neuen Umfrage von Tamedia und „20 Minuten“ auf 40 Prozent gesunken. Was so mancher Initiative aus dem linksgrünen Lager schon in der Vergangenheit immer und immer wieder passierte, scheint sich einmal mehr zu wiederholen: Der erste Eindruck, die erste Reaktion, das erste Bauchgefühl sagt Ja – unter dem Eindruck einer meist finanzstarken Gegenpropaganda und gezielt geschürter Ängste zerbröselt die anfängliche Zustimmung immer mehr und endet meist mit einer mehr oder weniger deutlichen Ablehnung. Unglaublich: Nur ein winziger Teil der Bevölkerung, die Reichen und Reichsten, wären von dieser Initiative und der von ihr geforderten Erhöhung der Steuer auf hohe Kapitalgewinne betroffen. Alle anderen würden in Form höherer Steuergelder davon profitieren. Und doch wird aller Voraussicht nach einmal mehr die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen ihre Interessen stimmen und sich in ihr eigenes Fleisch schneiden. Wie ist das zu erklären? Erstens scheint der grossen Mehrheit der Bevölkerung nicht bewusst zu sein, wie Reichtum zustande kommt. Immer noch geistert das Märchen vom Tellerwäscher herum, der es mit harter Arbeit schaffte, schliesslich Millionär zu werden. Tatsächlich aber ist der grösste Teil jenes Reichtums, der sich in den Händen der Reichen und Reichsten befindet, nicht erarbeitet, sondern geschenkt. Sei es durch Erbschaften, durch den Handel und das Vermieten von Immobilien, durch Finanz- und Rohstoffgeschäfte und durch Gewinnbeteiligungen in Form von Dividenden oder anderen Kapitalanlagen, die alle nur deshalb so lukrativ sind, weil Hunderttausende von „Büezern“ und „Büezerinnen“ für ihre tägliche Schufterei viel weniger Geld bekommen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Dass es Geschenke und nicht Früchte harter Arbeit sind, zeigt sich nur schon darin, dass ein einziges Prozent der Schweizer Bevölkerung über mehr als 40 Prozent aller Vermögenswerte verfügt – so viel kann man auch durch härteste Arbeit gar nicht wirklich verdienen. Es ist somit wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass das Geld in den Händen der Reichen und Reichsten nicht nur geschenktes, sondern sogar im eigentlichen Sinne geraubtes Geld ist. Noch krasser wird es, wenn wir uns das Vermögen der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer anschauen: Diese besitzen nämlich 709 Milliarden Franken – eine Summe, die dem jährlichen Militärbudget der USA entspricht! Der so genannte Gini-Koeffizient gibt an, wie gerecht der Wohlstand in einem Land verteilt ist. Liegt er bei Null, besitzt jeder so viel wie alle anderen. Läge der Index hingegen bei eins, so gehörte einem Einzelnen alles. Die Schweiz steht bei 0,48 – im internationalen Vergleich ein schlechter Wert. Die UNO gibt für alle Länder, die über 0,4 liegen, eine Warnung betreffend zu grosse Vermögensunterschiede aus und definiert einen Wert von 0,6 als Hinweis für eine mögliche zukünftige Revolution! Zweitens stellen wir, was die Schweiz betrifft, ein auf den ersten Blick nahezu unbegreifliches Phänomen fest: Obwohl das Gesamtvermögen in so wenigen Händen konzentriert ist und sich unaufhörlich die Arbeit der Armen in das Kapital der Reichen verwandelt, solidarisieren sich in unserem Land dennoch nicht etwa die Reichen mit den Armen, sondern die Armen mit den Reichen! Nur wenige empören sich über die Hungerlöhne und die Arbeitsbedingungen auf den untersten Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide und die sagenhaften Reichtümer in den Händen der Reichen. Aber viele bemitleiden den Reichen, der heute schon erhebliche Steuern zahle und dem man nicht noch weitere Lasten aufbürden könne, ohne der „Wirtschaft“ erheblichen Schaden zuzufügen. Und dann ist da noch, drittens, die Abstimmungspropaganda. Eigentlich geradezu grotesk: Ausgerechnet ein Teil jenes Geldes, das von den Reichen den Armen auf unzähligen unsichtbaren Wegen abgeknöpft worden ist, wird nun dazu verwendet, gegen die 99-Prozent-Initiative Werbung zu betreiben: In der „Schweiz am Wochenende“ veröffentlichen die Jungfreisinnigen ein doppelseitiges Inserat für 114’350 Franken, in der „Sonntagszeitung“ wird ein Inserat für 67’165 Franken folgen. Von so viel (gestohlenem) Geld können die Initiantinnen und Initianten der 99-Prozent-Initiative nur träumen. Und so werden am 26. September 2021 höchstwahrscheinlich nicht nur die 99-Prozent-Initiative der Juso, sondern auch ein kleiner, aber hoffnungsvoller Schritt von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit zu Grabe getragen und das Märchen von den Reichen, die sich ihren Reichtum hart erarbeitet haben, und von den Armen, die an ihrer Armut selber Schuld seien, wird unbeirrt weitergeträumt…