Archiv des Autors: Peter Sutter

CO2-Gesetz: Eine Avocado im Supermarkt oder ein Apfel im Quartierladen?

 

Im „Club“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 25. Mai 2021 geht es um das CO2-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird. Während die befürwortende Seite Lenkungsabgaben auf Benzin, Heizöl und Flugtickets sowie die Errichtung eines Klimafonds zur Förderung alternativer Energien als unerlässlich erachtet, streitet die gegnerische Seite den Nutzen sämtlicher solcher Massnahmen rundweg ab und behauptet, dass technologische Innovationen zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen auch ohne solche Massnahmen möglich seien. Während ich das Gespräch verfolge, verspüre ich in mir eine immer stärker werdende Ungeduld. Wann endlich stellt jemand in der Runde die Frage, was für einen Wohlstand wir uns denn, um den Klimawandel aufzuhalten, in Zukunft überhaupt noch leisten können? Denn mit höheren Benzinpreisen und Abgaben auf Flugtickets ist das Problem des viel zu hohen CO2-Ausstosses ja überhaupt nicht gelöst, so lange munter weiter geflogen wird und die Anzahl der Autos auf unseren Strassen weiterhin kontinuierlich zunimmt. Und wann endlich stellt jemand die Frage, welche von all den Gütern, die wir täglich kaufen und konsumieren, wirklich notwendig sind und auf welche wir allenfalls, um den Klimawandel aufzuhalten, auch verzichten könnten? Doch ich warte vergebens. Die Runde scheint sich, wenn auch geteilt in Pro und Contra zum CO2-Gesetz, mindestens in dem Punkte einig zu sein, dass wir unseren bisherigen Wohlstand ungehindert weiterführen können und sämtliche Ursachen des Klimawandels einzig und allein mit finanziellen und technischen Massnahmen in den Griff zu bekommen sind. Und dies, obwohl wir Schweizerinnen und Schweizer jedes Jahr drei Mal so viel Ressourcen und Rohstoffe verbrauchen, als von der Erde auf natürliche Weise wieder geschaffen werden. Und in diesem Moment wird mir erst bewusst, dass die wichtigste Person in dieser Runde, die wohl genau diese Fragen gestellt hätte, fehlt, nämlich ein Vertreter oder einer Vertreterin der Klimajugend. Unbegreiflich, dass das Schweizer Fernsehens darauf verzichtet hat, hat die Klimajugend doch genau dieses Thema, über das hier eineinhalb Stunden diskutiert wurde, überhaupt erst ins Rollen und in jenes öffentliche Bewusstsein gebracht, das es heute hat. Aber Halt. Ganz am Schluss der Sendung, in der allerletzten Wortmeldung, meint ausgerechnet die Vertreterin der SVP, man müsste halt auch mal darüber diskutieren, ob es sinnvoll sei, mit dem Auto zum Supermarkt zu fahren, um dort eine Avocado zu kaufen, oder ob es nicht gescheiter wäre, zu Fuss in den Quartierladen zu gehen, um dort einen Apfel zu kaufen. Schade, dass die Sendung an dieser Stelle zu Ende war, eigentlich hätte sie hier erst so richtig anfangen müssen… 

 

 

Neues schweizerisches Antiterrorgesetz: Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig, aber wenn, dann richtig

 

Das neue schweizerische Anti-Terror-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, soll mehr Möglichkeiten für die Polizei schaffen, gegen potenzielle Gefährder vorzugehen, bei denen konkrete und aktuelle Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass sie in Zukunft eine terroristische Aktivität ausüben könnten. Dabei geht es vor allem um „Linksextreme“, „Rechtsextreme“ und „Islamisten“, wobei Letztere in der öffentlichen Diskussion im Zentrum stehen. Namentlich könnten gegen solche Gefährder Kontakteverbote, elektronische Überwachung mit Fussfesseln, Standortverfolgung über Mobiltelefone, Meldepflicht, Hausarrest sowie ein Verbot, das Land zu verlassen, verhängt werden, und dies bereits ab dem Alter von zwölf Jahren. Kein anderes Land weltweit ausser Saudi-Arabien kennt ein so strenges Anti-Terror-Gesetz. Zahlreiche Strafrechtler und Strafrechtlerinnen geben zu bedenken, dass so weitreichende Massnahmen gegen Menschen, die ja noch keine Straftaten begangen haben, höchst bedenklich und auch nicht vereinbar seien mit den internationalen Menschenrechten. Dass Prävention gegen Terrorismus auch ganz anders angegangen werden könnte, skizzierte Olivier Roy, französischer Politikwissenschaftler und profunder Kenner muslimischer Gesellschaften und Gemeinschaften, in einem Artikel der NZZ vom 5. Januar 2021. Am Beispiel von Frankreich zeigt Roy auf, dass man, um den islamistischen Terror zu bekämpfen, dem Islam mehr Raum in der Gesellschaft geben müsste, statt ihn in Nischen abzudrängen, wo es an jeglicher sozialer Kontrolle fehle. Auch sei es wichtig, dass die islamischen Gemeinschaften gut ausgebildete, einheimische Geistliche hätten, welche die soziale Realität der Gläubigen kennen und teilen, an Stelle von schlecht bezahlten Imamen, die aus den Ursprungsländern geholt werden und kaum die Landesspreche sprechen. Diese Geistlichen wiederum sollten, so Roy, nicht in Industriearealen oder Hinterhöfen predigen, sondern in hellen, schönen Moscheen. Vorbildlich sei in diesem Zusammenhang Österreich, wo der Staat muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkennt. Roys Ausführungen werfen in der Tat ein schiefes Licht auf die Art und Weise, wie die Schweiz mit ihrer muslimischen Minderheit umgeht. Statt den „hellen, schönen Moscheen“, müssen sich die islamischen Glaubensgemeinschaften meist nach wie vor mit Industriearealen und Hinterhöfen zufrieden geben. Und die Diskussionen und Abstimmungen über Minarette, Burkas und Kopftücher zeigen, dass Vorurteile und Ressentiments gegenüber einer Minderheit, die immerhin fast sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, immer noch weit verbreitet sind. Einverstanden, man muss dem Terrorismus den Nährboden entziehen. Aber nicht, indem man das weltweit schärfste Antiterrorgesetz etabliert und schon Zwölfjährige mit Fussfesseln herumlaufen lässt oder unter Hausarrest stellt. Viel besser wäre es, Formen des Zusammenlebens und des gegenseitigen Respekts aufzubauen, die ein Aufkommen extremistischer Tendenzen schon gar nicht erst aufkommen lassen. Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig. Aber wenn, dann richtig.

Agrarinitiativen: Eigentlich müsste man auch die Konsumentinnen und Konsumenten in die Pflicht nehmen

 

Man fordert von den Bäuerinnen und Bauern, möglichst umweltschonend und ohne chemische Hilfsmittel zu produzieren. Doch die Produktion ist nur ein Teil des Gesamtsystems. Ein anderer, mindestens so wichtiger Teil des Systems sind die Agro- und Lebensmittelkonzerne, die mit der Produktion und dem Handel mit Lebensmitteln ihre Gewinne erwirtschaften. Und schliesslich, als dritter Teil, die Konsumentinnen und Konsumenten. Was für ein Widerspruch: Der Landwirtschaft auferlegt man minutiöse Details bis hin zu geradezu Milliliter genauen Vorschriften, was, wann, wo und wie angepflanzt und geerntet werden darf. Gleichzeitig laufen die Konsumentinnen und Konsumenten sozusagen frei herum, können jederzeit ihre Produkte dort einkaufen, wo sie im Moment gerade am billigsten sind, können so viele Grillpartys schmeissen und so viel Fleisch auf ihre Teller türmen, wie sie nur wollen, können im Supermarkt die Früchte und das Gemüse, das nicht im Hochglanz erstrahlt und nicht perfekt geformt ist, auf dem Gestell liegen lassen, können Äpfel aus Südafrika und Neuseeland kaufen, nur weil sie ein bisschen billiger sind als die schweizerischen, und können sich den Luxus leisten, einen Drittel des Gekauften verschimmeln und ungeniessbar werden zu lassen. Ja, was für ein Widerspruch. Und das alles im Namen einer falsch verstandenen „Freiheit“, bei welcher der Konsument und die Konsumentin ganz zuoberst stehen und alle anderen ihnen zu dienen haben – mit fatalen Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Arbeits- und Lebensbedingungen in den ärmeren Ländern und auf die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen. Höchste Zeit, endlich auch die Konsumentinnen und Konsumenten in die Pflicht zu nehmen – bevor sich die heute noch so billigen Preise für Lebens- und Nahrungsmittel, die stets in verschwenderischer Fülle zur Verfügung stehen, in einen so hohen Preis verwandeln, dass wir ihn eines Tages vielleicht auch mit dem dicksten Portemonnaie nicht mehr werden bezahlen können.

„Entwicklungshilfe“ – nicht mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein…

 

Katja Gentinetta, politische Philosophin, berichtet in der „NZZ am Sonntag“ vom 16. Mai 2021 über die Tätigkeit der Stiftung Swisscontact in Entwicklungsländern. So wurde beispielsweise im Jahre 2020 nach elf Jahren Laufzeit ein mit 60 Millionen Dollar dotiertes, gross angelegtes Projekt zur Stärkung der Kakaobranche in Indonesien abgeschlossen. Im Verlaufe des Projekts wurden 165’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern in 57 Distrikten aus zehn Provinzen geschult. Gegenstand der Schulungen waren Betriebswirtschaft, Buchhaltung, Farm-Management und Ernährungspraxis. Ausserdem wurde eine Datenbank aufgebaut, mit der die nachhaltige Produktion verfolgt und zertifiziert werden kann. Über 100’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern wurden bereits auch von dritter Stelle zertifiziert. Die landwirtschaftliche Produktivität konnte um rund 20 Prozent gesteigert werden. Und die Zahl der Kakaobäuerinnen und Kakaobauern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, konnte halbiert werden. „Das Projekt“, so Gentinetta, „ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Privatwirtschaft zur nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen kann.“ So erfreulich die Bilanz dieses Projekts auf den ersten Blick erscheinen mag, so viele offene Fragen stellen sich, wenn man das Ganze etwas kritischer unter die Lupe nimmt. Wenn rund 80’000 Kakaobauern und Kakaobäuerinnen nun nicht mehr unter der Armutsgrenze leben müssen, heisst das ja gleichzeitig, dass die anderen rund 80’000 immer noch unter der Armutsgrenze leben müssen und dies, obwohl 60 Millionen Dollar in das Projekt investiert wurden und die landwirtschaftliche Produktion um 20 Prozent gesteigert werden konnte. Dies zeigt, dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung handelt. Die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern werden zwar geschult, zertifiziert und in die Mechanismen des betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denkens eingeführt, bis sie perfekt angepasst genau so funktionieren, wie der kapitalistische Weltmarkt dies von ihnen verlangt. Der eigentliche Skandal, der aber hinter allem steckt, wird nicht angepackt. Der Skandal, dass die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern für ihre Arbeit viel zu wenig verdienen im Vergleich zu den multinationalen Konzernen, die mit dem Transport, dem Handel, der Verarbeitung und dem Verkauf der Schokolade ihre ganz grossen Milliardengeschäfte tätigen. Und das Geschäft mit dem Kakao und der Schokolade ist ja nicht das einzige Geschäft, das so funktioniert. Auch bei der Kaffeebohne, beim Palmöl, bei der Ananas, weiteren tropischen Früchten und zahllosen anderen Produkten, die in der „Dritten Welt“ gewonnen werden, überall dasselbe: Zuunterst die Plantagenarbeiter, die Gemüsepflückerinnen, die Erntehelfer, welche die schwerste, anstrengendste und gefährlichste Arbeit verrichten und dennoch fast nichts verdienen, während die Profite von unten nach oben in gleichem Masse zunehmen, wie die Schwere der Arbeit abnimmt. Da ist alles, was sich „Entwicklungshilfe“ nennt, lediglich ein winziger Tropfen auf einen riesigen heissen Stein, der Milliarden von Menschen in den Boden drückt: Allein die Schweiz erzielt im Handel mit Entwicklungsländern 48 Mal mehr Profit, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgibt. Swisscontact und andere „Entwicklungshilfeorganisationen“ leisten zweifellos gute Arbeit, die vielen Menschen in armen Ländern das Leben ein wenig leichter machen kann. Noch zielführender aber wäre es, wenn sich diese Organisationen ebenso eifrig um den Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung kümmern würden, in der Menschen nicht mehr bloss deshalb zu einem Leben in Armut verurteilt sind, weil sie jene Güter produzieren, mit denen sich die Menschen in den reichen Ländern das Leben schön machen und erst noch eine goldene Nase verdienen.  

Auch ohne Flugzeug lässt sich wunderbar reisen…

 

In einem Propagandavideo gegen das CO2-Gesetz, über welches in der Schweiz am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, steht Camille Lothe, Präsidentin der Jungen SVP Kanton Zürich, auf einem Steg am Zürichsee, wo gerade ein Schiff ablegt. „Wir Jungen“, sagt Lothe, „wollen die Welt erkunden, neue Freundschaften schliessen und andere Länder kennen lernen.“ Doch wenn das CO2-Gesetz und damit eine neue Steuer von bis zu 120 Franken pro Flug angenommen werde, so Lothe, dann würde das Fliegen „für viele von uns, die nur ein kleines Budget haben, fast unmöglich“. Dabei, so Lothe, sollten doch alle die Chance haben, die Welt zu erkunden. Lothe verschweigt allerdings in ihrem Propagandavideo, dass ein Teil der Flugticketabgaben in der Höhe von 60 Franken pro Kopf und Jahr wieder an die gesamte Bevölkerung zurückverteilt werden soll. Und noch etwas verschweigt sie: Dass das Erkunden anderer Länder und die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Sprachen sehr wohl auch möglich ist, ohne sich mit einem Flugzeug fortzubewegen. Ich erinnere mich an meinen ersten Sprachaufenthalt in England, im Alter von 18 Jahren. Unvergesslich sind mir heute noch die Überfahrt von Calais nach Dover, die Klippen an der südenglischen Küste, das Eintauchen in eine neue Welt, die erste Begegnung mit meiner Gastfamilie, die Faszination, welche die englische Sprache in mir auslöste, die begeisternden Vorlesungen an der Sprachschule, die ich besuchte. Weiter erinnere ich mich an eine Reise, die ich, zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher, im Jahre 1976 unternahm. Wir hatten die verrückte Idee, vom Bodensee dem Rhein entlang und dann über die Alpen bis nach Bellinzona zu wandern, rund 300 Kilometer in zwei Wochen. Das stundenlange Wandern mit schweren Rucksäcken, die Vielfalt und der Wechsel der Landschaften, der Siedlungen und der Natur, das Übernachten im Heuschober, unter Garagendächern oder im Freien – all das wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Und dann kam, zusammen mit meiner Frau, die Zeit der grossen Radtouren, jeden Sommer, quer durch die Schweiz, Deutschland und Frankreich. Allein über die Fahrt von der Neissequelle in Tschechien bis an die Ostsee könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Mittlerweile bin ich über 71 Jahre alt und bereue es keinen Moment, nie in Amerika, Afrika, auf Bali oder auf den Malediven gewesen zu sein. Das Reisen mit dem Flugzeug, für viele von uns zur Selbstverständlichkeit geworden, ist kein Menschenrecht, sondern ein Privileg, von dem über 90 Prozent der Weltbevölkerung ausgeschlossen sind. Nicht Flugticketabgaben sollten unser Reiseverhalten steuern, sondern der gesunde Menschenverstand. Und dieser sagt uns, dass das Reisen mit dem Flugzeug zu reinen Privat- und Vergnügungszwecken auf diesem Planeten schlicht und einfach keine Zukunft hat. Zugegeben, der Umbau der Flugbranche wird äusserst schmerzlich und kostspielig sein. Aber die weltweiten Schäden, welche die Klimaerwärmung zur Folgen haben wird, werden tausend Mal schmerzlicher und kostspieliger sein. Vielleicht ist diese Erkenntnis selbst an der jungen SVP-Politikerin nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Schliesslich steht sie in ihrem Propagandavideo nicht am Flughafen Kloten, sondern am Zürichsee. Und es gibt in der Schweiz noch weitere rund 1500 Seen. Wir müssten sehr, sehr lange leben, um sie alle kennenzulernen, uns an ihren Ufern zu tummeln, sie zu durchschwimmen, sie zu Fuss oder per Fahrrad zu umrunden. Ja, das Schöne liegt in nächster Nähe, man muss es nur sehen… 

 

 

Lebensnotwendige Alternative zum „Freien Markt“: Auch Häuser und Brücken baut man nicht ohne Plan…

 

Gigantische Mengen an Fischen, die vor der westafrikanischen Küste gefangen und in chinesische Fischmehlfabriken transportiert werden, wo sie dann zu Futter für Lachse verarbeitet werden, die in norwegischen Aquakulturfarmen gezüchtet werden. Birnen, die in Argentinien geerntet, in Thailand verpackt und in den USA verkauft werden. Wein, der in Italien produziert, in die USA exportiert und später nach Deutschland transportiert wird, wo er billiger ist als der Wein, der auf direktem Weg von Italien nach Deutschland gelangte. Textilien, die in Bangladesch und anderen Billiglohnländern in so grosser Stückzahl hergestellt werden, dass nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen überhaupt verkauft werden können und der Rest im Müll landet. Die Liste liesse sich beliebig verlängern, beispielhaft für eine Weltwirtschaft, die nicht nur in ökonomischer, sondern vor allem auch in sozialer und ökologischer Hinsicht ausser Rand und Band geraten ist. Und dies nur deshalb, weil niemand an diesem geradezu heiligen Dogma des „Freien Marktes“ zu rütteln wagt, wonach eben dieser „Freie Markt“ die einzige und beste Art und Weise sei, Produktion und Wirtschaftsabläufe zu regeln und die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Was für ein Unsinn. Der „Freie Markt“ folgt einem einzigen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen und der Natur zutiefst missachtenden Prinzip: Die Waren werden dort produziert, wo die Löhne am niedrigsten sind, und sie werden dort verkauft, wo die Menschen am meisten Geld haben, sie auch tatsächlich kaufen zu können. Mit dem Effekt, dass sich am einen Ende der Welt ein immer grösserer und sinnloserer Luxus anhäuft, während es am anderen Ende der Welt am Allernotwendigsten fehlt und Millionen von Menschen nicht einmal genug zu essen haben. Ob wir wollen oder nicht: Wenn wir das ändern wollen und wenn dieser Wahnsinn nicht noch immer weitere Blüten treiben soll, dann kommen wir nicht darum herum, das Dogma des „Freien Marktes“ radikal in Frage zu stellen und uns nach einer neuen, an den tatsächlichen Bedürfnissen von Mensch und Natur orientierten Wirtschaftsordnung umzusehen. Diese neue Wirtschaftsordnung wäre eine Art Planwirtschaft. Ich weiss, dass sich bei diesem Wort bei unzähligen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die Haare aufstellen werden. Sie werden sogleich den Vergleich mit der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten ins Feld führen und sie werden argumentieren, dass Planwirtschaft ein endgültig gescheitertes Wirtschaftsmodell sei. Doch Hand aufs Herz: Was ist grundsätzlich an einem Plan so schlecht? Jedes Haus und jede Brücke, die gebaut werden sollen, brauchen einen Plan. Jede Chirurgin und jeder Chirurg, der eine Operation vor sich hat, braucht einen Plan. Jeder Koch und jede Köchin brauchen, um ein Gericht zuzubereiten, einen Plan. Jeder Regisseur und jede Regisseurin, die ein Theaterstück auf die Bühne bringen wollen, brauchen einen Plan. Nur die Weltwirtschaft, das Grösste, Umfassendste und Komplexeste, was man sich nur vorstellen kann, soll ohne Plan auskommen? Nun, wie sähe eine solche moderne „Planwirtschaft“ aus? Im Gegensatz zur Freien Marktwirtschaft, die auf möglichst schrankenlose Ausbeutung von Mensch und Natur sowie auf grösst mögliche Gewinn- und Profitmaximierung ausgerichtet ist, wäre die neue „Planwirtschaft“ an einem möglichst sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, an der Erfüllung der tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auch für kommenden Generationen orientiert. Konkret: Erstens gälte das Prinzip möglichst kurzer Wege zwischen den Orten der Produktion und den Orten des Konsums. Zweitens wären alle wirtschaftlichen Aktivitäten den Leitideen der Sozial-, der Umwelt- und der Zukunftsverträglichkeit unterworfen. Drittens wäre die neue „Planwirtschaft“ eine Wirtschaft „von unten“: Zunächst würden die Grundbedürfnisse befriedigt, und zwar über alle Grenzen hinweg; alle Menschen hätten genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, ausreichende Kleidung, sauberes Trinkwasser, Zugang zu medizinischer Grundversorgung, Bildung und Kultur. Erst wenn alle diese Grundbedürfnisse befriedigt wären, bestünde der nächste Schritt darin, gewisse „Luxusgüter“ herstellen, aber stets in aufsteigender Folge: Erst wenn sich ausschliesslich alle Menschen ein gewisses „Luxusgut“ leisten könnten, würde die Produktion eines zusätzlichen, „nächst höheren“ Luxusgutes in Angriff genommen, dies alles freilich stets im Rahmen der Sozial-, Umwelt- und Zukunftsverträglichkeit. Gegner und Gegnerinnen einer neuen „Planwirtschaft“ werden ins Feld führen, dass dies das Ende jener Freiheit bedeuten würde, die wir heute mit dem Prinzip der „Freien Marktwirtschaft“ verbinden und die darin besteht, dass es Firmen und Unternehmen gänzlich freigestellt ist, an welchem Ort, zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis welche Produkte auf den Markt geworfen werden. Doch um was für eine Freiheit geht es da eigentlich? Wenn diese Freiheit darin besteht, dass tonnenweise vor der westafrikanischen Küste gefangene Fische über Tausende von Kilometern nach China geschafft werden, um in Form von Fischfutter noch einmal über Tausende Kilometer wieder nach Norwegen transportiert zu werden, dann verzichte ich noch so gerne auf eine solche Freiheit. Und erst recht kann ich nichts anfangen mit der „Freiheit“, unsere Erde und die natürlichen Lebensgrundlagen materiellem Profit zuliebe dermassen auszuplündern, dass für kommende Generationen nicht einmal mehr das Allernötigste zum Überleben übrig bleiben wird. „Freier Markt“ oder „Neue Planwirtschaft“ – das ist nicht bloss ein Gedankenspiel. Es ist die Frage, ob wir Menschen auf diesem Planeten eine Zukunft haben werden oder nicht…

Alle, die wollten, könnten reich werden: Das Märchen, das bis auf den heutigen Tag weitererzählt wird…

 

Im Gratisblatt „20minuten“ vom 10. Mai 2021 werden die Lehrlingslöhne verschiedener Berufsgruppen miteinander verglichen. So etwa verdient eine Coiffeuse im ersten Lehrjahr zwischen 500 und 700 Franken und im dritten Lehrjahr zwischen 700 und 1000 Franken, während es beim Maurerlehrling 957 im ersten Lehrjahr und 1862 Franken im dritten Lehrjahr sind. Kommentiert werden diese Zahlen von Urs Casty, Gründer und Chef der Lehrstellenplattform Yousty. Er sagt: „Der Lohn sollte nicht im Vordergrund stehen. Wichtiger ist, dass die Lehre Spass macht. Und mit der Karriere und dem Lohn geht’s dann automatisch weiter. Denn man kann überall viel Geld verdienen, wenn man will.“ Aha, das alte Märchen vom Tellerwäscher, der zum Millionär geworden ist. Dieses Märchen, das sich längst als reine Illusion erwiesen hat. Erstaunlich, dass es heute immer noch „Fachleute“ gibt, welche sich an diesem Wunschdenken festklammern. Wer behauptet, alle, die wollten, könnten viel Geld verdienen, soll mal einer Verkäuferin, einer Coiffeuse, einer Krankenpflegerin, einem Koch oder einem Kehrichtmann erklären, was genau sie wollen und um wie viel mehr sie sich anstrengen müssten, um „viel Geld zu verdienen“. Die Antwort wird wahrscheinlich lauten, dass sie sich halt weiterbilden, Karriere machen und in der Berufshierarchie aufsteigen müssten. In dreifachem Sinne ein höchst fadenscheiniger und widersprüchlicher Lösungsvorschlag. Denn erstens gibt es nun mal nicht in jedem Berufszweig adäquate Aufstiegsmöglichkeiten. Zweitens haben nicht alle die zeitlichen und finanziellen Mittel, sich umfassend weiterzubilden. Und drittens wäre es ja auch gesamtgesellschaftlich alles andere als wünschbar, wenn alle, die schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben, „Karriere“ machen würden. Wer würde dann noch unsere Haare schneiden, wer würde unsere Strassen bauen, wer würde die Gestelle im Supermarkt auffüllen, wer würde unsere kranken und betagten Menschen pflegen? Nein, der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass zu wenige  Menschen Karriere machen und in der Berufshierarchie so lange aufsteigen, bis sie endlich einen anständigen Lohn haben. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass sich Millionen werktägiger Menschen, die Tag für Tag anspruchsvollste und härteste Arbeit leisten, dennoch mit Löhnen abfinden müssen, die bis zum Dreihundertfachen kleiner sind als jene der am meisten Verdienenden. Dabei ist der kleine Lohn und all die damit verbundenen finanziellen Einschränkungen nur das Eine. Das Andere ist, dass dies alles nur zu oft noch mit dem Gefühl verbunden ist, an der misslichen Situation selber Schuld zu sein. Denn, wie schon wieder sagte es Urs Casty – und so wie er denken und argumentieren auch unzählige andere, die sich in den obersten Etagen der Einkommenspyramide befinden -: Es könne ja jeder, wenn er wolle, reich sein. Was im Klartext nichts anderes heisst: Wer arm ist, der ist eben selber Schuld. Wie viel Aufklärung und wie viel Zeit braucht es wohl noch, bis diese verheerende Lüge aus der Welt geschafft ist und die heute so eklatanten Lohnunterschiede zwischen „oben“ und „unten“ endlich der Vergangenheit angehören?

Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden

 

Eine junge Politaktivistin fordert anlässlich einer Kundgebung zum Tag der Arbeit die „Zerstörung des Kapitalismus“. Und B., der sich ebenfalls seit Jahren mit den Auswüchsen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschäftigt, meint, der Kapitalismus werde niemals „gewaltlos“ seine Herrschaft aufgeben – was im Klartext heisst, dass er also nur mittels Gewalt überwunden werden könne. Zugegeben, der Kapitalismus ist selber eine Form von Gewalt. Gewalt, welche die Reichen gegenüber den Armen ausüben. Gewalt in Form von materiellem Überfluss in den reichen Ländern, während weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Gewalt, welche weltweit Milliarden von Arbeiterinnen und Arbeitern dazu zwingt, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu schuften und dennoch nur einen kleinen Teil dessen zu verdienen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Gewalt, welche eine auf endloses Wachstum und unbeschränkte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft gegenüber der Natur verübt und heute schon die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören droht. Dennoch wäre es zweifellos der falsche Weg, dieser kapitalistischen „Systemgewalt“ eine antikapitalistische „Gegengewalt“ entgegenzustellen. Ganz im Gegenteil: Die herrschende Systemgewalt kann nur überwunden werden, wenn ihr als radikale Gegenutopie die absolute Gewaltlosigkeit entgegengestellt wird. Denn so viel sollten wir aus der Geschichte gelernt haben: Der gewaltsame Sturz des französischen Königtums im 18. Jahrhundert führte bloss zu einer erneuten Schreckensherrschaft, nur dass die, die vorher unten waren, nun oben waren, und umgekehrt. Nicht viel anders die russische Oktoberrevolution, die unvermittelt in eine neue Diktatur mündete und den eben gerade erwachten Traum von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit jäh im Nichts erstickte. Ganz anders politische Bewegungen, die sich am Prinzip der Gewaltlosigkeit orientierten: Mahatma Gandhis berühmter „Salzmarsch“, der 1947 in der Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien gipfelte, und die von Martin Luther King zwischen 1955 und 1965 angeführte amerikanische Bürgerrechtsbewegung, welche zur Aufhebung der Rassentrennung in den USA führte und zur Erteilung des Stimm- und Wahlrechts an die gesamte schwarze Bevölkerung. Es mag naiv klingen, aber es geht kein Weg an der Gewaltlosigkeit vorbei. Eine neue Gesellschaft kann nicht gegen die Menschen, sondern nur mit ihnen verwirklicht werden. Und da müssen wir nicht einmal von einer Zukunft träumen, die in weiter Ferne liegt: Die Überwindung des Kapitalismus hat schon längst begonnen, nur haben es viele noch gar nicht gemerkt. Die weltweite Klimabewegung, getragen von vorwiegend jungen Menschen, „Black Lives Matter“, die Frauenbewegung und weltweit zahlreiche weitere kleinere und grössere Bewegungen für Menschenrechte, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, aber auch das Ergebnis einer vom Kommunikationsbüro Edelman durchgeführten Umfrage, wonach 55 Prozent der Deutschen den Kapitalismus als eher „schädlich“ als „nützlich“ bezeichnen – dies alles sind doch die besten Zeichen dafür, dass schon unglaublich vieles in Bewegung gekommen ist und wir nun einfach nicht aufgeben dürfen, nur weil uns alles immer noch viel zu langsam geht. Echter Wandel braucht eben seine Zeit, die Veränderung in den Köpfen und der Herzen der Menschen erfolgt nicht auf Knopfdruck und von heute auf morgen. Zu tief hat sich der Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen in unser Denken und Fühlen hineingefressen, es bedarf einer Riesenanstrengung, um alle diese Verkrustungen und Verhärtungen wieder abzulegen und den eigentlichen Kern unseres Seins wieder freizulegen, diese unendliche Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit, die wir alle als Kinder noch uns getragen hatten. Der Kapitalismus wird nicht auf irgendwelchen Schlachtfeldern, nicht durch Strassenschlachten oder Gewehrkugeln überwunden. Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden.

1. Mai 2021 in St. Gallen: Und es liegt so etwas wie ein bisschen revolutionäre Stimmung in der Luft…

 

An diesem nasskalten 1. Mai 2021 haben sich bei der Grabenhalle in St. Gallen rund 500 Menschen eingefunden, um an einer Kundgebung zum traditionellen Tag der Arbeit teilzunehmen. Viele bunte Fahnen, Transparente, eine gute Stimmung, auffallend viele sehr junge Menschen, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften, Linksparteien und Ausländerorganisationen. Auf dem Zug durch die Altstadt werden lautstark antikapitalistische Parolen skandiert, revolutionäre Stimmung liegt in der Luft, endlich, nach so langen coronabedingten Monaten des Schweigens. Zum Abschluss der Kundgebung: Mehrere Reden junger Frauen, eindringlich, leidenschaftlich, mitreissend. Es geht um faire Löhne, um die Gleichberechtigung der Frauen, um das Abstimmungs- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, um finanzielle Unterstützung für all jene, die von der Coronapandemie besonders betroffen sind, um eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen, um möglichst rasche und wirksame Massnahmen gegen den Klimawandel, um die Überwindung des Kapitalismus. Zugleich finden Kundgebungen zum Tag der Arbeit auch in Bern, Zürich und anderen Städten statt. Zugegeben, es sind keine Massenaufmärsche. Aber es sind Brennpunkte, an denen sich der Wind inmitten einer Zeit, in der es leider an weitergehenden Visionen ganz und gar mangelt, behutsam in eine neue Richtung zu drehen beginnt. Wäre dies alles für die Medien nicht ein gefundenes Fressen? Doch als ich am nächsten Tag meine Sonntagszeitungen lese, finde ich bloss zwei kleine Randnotizen zu den Kundgebungen vom 1. Mai, mit dem Hinweis, die Anlässe seien „weitgehend friedlich“ verlaufen. Keines, aber auch kein einziges Wort über die sozialpolitischen Forderungen, von denen an diesem Tag die Rede war, und auch kein einziges Wort über all jene Visionen und Träume von einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt, die gerade in einer so schweren Zeit wie der unsrigen umso lebenswichtiger wären. Haben die Medien an diesem Tag geschlafen? Hätten die jungen Menschen, statt Parolen zu skandieren, Lieder zu singen und Reden zu halten, Autos anzünden und Fensterscheiben einschlagen sollen? Wäre ihnen dann wohl mehr Beachtung geschenkt worden? Man kann, wie in Deutschland, Kundgebungen am 1. Mai verbieten. Man kann sie aber auch totschweigen. Das kommt fast aufs selbe heraus…

„Trinkwasserinitiative“ und „Pestizidinitiative“: Damit Menschen, Tiere und Natur wieder ins Gleichgewicht gelangen

 

Die „Trinkwasserinitiative“, über die am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, verlangt, dass künftig nur noch Landwirtschaftsbetriebe Subventionen oder Direktzahlungen erhalten, die auf den Einsatz von Pestiziden verzichten und ohne prophylaktischen Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung auskommen. Zudem sollen die Betriebe ihre Tiere ausschliesslich mit betriebseigenem Futter versorgen. Die „Pestizidinitiative“, über welche ebenfalls am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, will den Einsatz synthetischer Pestizide in der landwirtschaftlichen Produktion, in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und in der Boden- und Landschaftspflege verbieten. Auch der Import von Lebensmitteln, die synthetische Pestizide enthalten oder mit solchen produziert wurden, soll verboten werden. Zwei Initiativen, die auf den ersten Blick zweifellos vollumfänglich einleuchten, fordern sie doch nichts weniger als eine Landwirtschaft, die im Einklang mit der Natur, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und dem Wohl von Menschen und Tieren steht. Und doch erwächst den beiden Initiativen von allen möglichen Seiten Widerstand, vorab vom Schweizerischen Bauernverband, den bürgerlichen Parteien, der Economiesuisse und dem Gewerbeverband. Und sogar „Bio Suisse“, der Dachverband der Schweizer Knospe-Betriebe, lehnt zumindest die eine der beiden Initiativen, nämlich die „Trinkwasserinitiative“, ab. Das lässt sich nur so erklären, dass wir uns eben schon längst nicht mehr in einer kleinen, „heilen“ Welt befinden, in der auf natürliche Weise das Wohlergehen von Mensch, Tier, Pflanze und Natur aufs engste miteinander verknüpft sind. Nein, jeder noch so kleine Landwirtschaftsbetrieb, ob in der Schweiz, in Australien oder in Südafrika, ist Teil eines globalen Systems, in dem eben nicht das Wohlergehen von Menschen, Tieren und der Natur an erster Stelle stehen, sondern der grösstmögliche materielle Profit. Das alles führt dazu, dass in Brasilien jeden Tag riesige Waldflächen abgeholzt werden, damit die Menschen in den USA und in Europa täglich ihr Stück Fleisch auf dem Teller haben. Es führt dazu, dass in den reichen Ländern des Nordens Früchte und Gemüse, die aus fernen Ländern importiert werden, billiger sind als jene, die im eigenen Land produziert werden. Es führt dazu, dass auf grossen Farmen in Kanada und Australien immer schwerere Erntemaschinen zum Einsatz gelangen, so dass auf den Böden mit der Zeit überhaupt nichts mehr wachsen kann. Es führt dazu, dass mithilfe von Pestiziden weit grössere Mengen an Nahrung herausgepresst werden, als die Erde unter natürlichen Bedingungen hervorbringen würde, Nahrung, die dann auf einen Weltmarkt geworfen wird, auf dem die Preise im gegenseitigen Konkurrenzkampf ins Bodenlose gedrückt werden. Es führt dazu, dass in den reichen Ländern so viele Überschüsse produziert werden, dass rund ein Drittel aller Lebensmittel im Müll landen, während gleichzeitig weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Es führt dazu, dass die natürlichen Lebensgrundlagen in einer Art und Weise bedroht und zerstört werden, dass die Menschen in 40 oder 50 Jahren vielleicht überhaupt nichts mehr zu essen haben. Nicht der einzelne Boden hier oder dort ist krank. Nicht nur die Art und Weise, wie wir mit Tieren umgehen, ist krank. Das ganze System ist krank. Die Produktion von Nahrungsmitteln hat nicht dem Kapital, nicht den materiellen Interessen und nicht der Gewinnmaximierung multinationaler Konzerne zu dienen, sondern einzig und allein dem Wohl der Menschen, der Tiere, der Natur und dem Lebensbedürfnis zukünftiger Generationen. Deshalb ist die Stossrichtung der „Trinkwasserinitiative“ und der „Pestizidinitiative“ goldrichtig. Man kann sich nur wünschen, dass an unzähligen anderen Orten weltweit ähnliche Initiativen entstehen, damit das, was in unserer heute so „verrückt“ gewordenen Welt noch als „übertrieben“, „unrealistisch“ und „weltfremd“ erscheinen mag, eines Tages das Normalste und Selbstverständlichste ist, was man sich nur vorstellen kann, und damit es möglichst bald zu dem kommt, was die Klimabewegung schon lange fordert, nämlich zu einem radikalen „System Change“, in dem all das, was bis heute auseinandergerissen wurde, wieder ins Gleichgewicht gelangt.