Archiv des Autors: Peter Sutter

Pandemie, Klimawandel, Armut und Hunger: Alles hängt mit allem zusammen

 

Mit grösster Wahrscheinlichkeit, so das Ende März 2021 bekanntgegebene Resultat eines internationalen Untersuchungsausschusses, ist das Coronavirus ursprünglich in der chinesischen Provinz Wuhan von der Fledermaus auf den Menschen übertragen worden. Expertinnen und Experten befürchten nun, dass sich weitere Pandemien dieser Art in der Zukunft häufen könnten. Denn, so Gertraud Schüpbach, Veterinärin und Epidemiologin an der Universität Bern, in der Sendung „10 vor 10“ am Schweizer Fernsehen vom 30. März 2021: „Wir beobachten in den letzten zwanzig Jahren, dass Pandemien immer häufiger vorkommen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Welt ist eindeutig kleiner geworden. Zum einen nimmt der Reiseverkehr sehr stark zu. Auch der Handel mit Tieren und Wildtieren nimmt stark zu. Und der Mensch dringt immer weiter in unberührte Lebensräume der Natur vor und es kommt zu immer häufigeren Kontakten zwischen Menschen, exotischen Tieren und Viren.“ Schüpbach fordert daher ein „weltweites Frühwarnsystem, das Menschen, Tiere und die Natur mit einbezieht.“ Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Tage eines der weltweit grössten Containerschiffe im Suezkanal stecken geblieben ist, Hunderte von Frachtschiffen während Tagen blockiert waren und unzählige globale Lieferketten kurz vor dem Zusammenbruch standen. Es ist wahrscheinlich auch kein Zufall, dass der Amazonasurwald schon wieder brennt, weite Teile Afrikas von Dürre und Hunger heimgesucht werden, Taifune und Wirbelstürme weltweit Küstengebiete verwüsten, die Gletscher immer schneller dahinschmelzen, der Meeresspiegel unaufhaltsam ansteigt und die Zahl der Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihre von Krieg, Armut und Hunger versehrte Heimat verlassen, immer weiter anwächst. Ja, Gertraud Schüpbach hat Recht: Wir brauchen ein weltweites Frühwarnsystem. Aber nicht eines bloss gegen zukünftige Pandemien und ein anderes gegen den Klimawandel und wieder eines gegen Ausbeutung, Rassismus, Kriege, Armut und Hunger. Nein, wir brauchen ein einziges grosses, umfassendes Frühwarnsystem gegen alles zusammen. Denn wo wir auch hinschauen, ob auf die brennenden Wälder in Brasilien, ob auf all jene, die weltweit am Coronavirus verstorben sind oder auf die eine oder andere Weise unsäglich darunter leiden, ob auf die Flüchtlinge auf Lesbos oder jene an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, ob auf die Kinder Afrikas, die millionenfach schon vor ihrem fünften Lebensjahr vor Hunger, Durst oder Erschöpfung sterben, ob auf die unsäglich leidenden Tiere in viel zu engen Laderäumen auf Lastwagen und in Schiffen, geschlagen, zerschunden, gequält: Alles hängt mit allem zusammen. Die Erde brennt, die Menschen bluten, die Natur leidet ohne Ende. Es wäre eine unverzeihliche Illusion, davon auszugehen, wir könnten den Ausbruch zukünftiger Pandemien erfolgreich verhindern, ohne nicht gleichzeitig auch alle anderen Wunden, unter denen unsere Erde, die Menschen und die Tiere leiden, zu heilen. Entweder wird alles zusammen heil oder es geht alles zusammen unter. Ohne eine radikale Überwindung des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch und mehr denn je auf endlose Profitmaximierung, gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur und einen blinden, jeglichem gesunden Menschenverstand spottenden Wachstumsglauben ausgerichtet ist, werden wir kein einziges der sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und ökologischen Probleme, die uns heute bedrohen, dauerhaft lösen können. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ 

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Auf dem Weg zu einer anderen, besseren Welt: sichtbare und unsichtbare Formen von Gewalt

 

An einer unbewilligten Demonstration gegen die Coronamassnahmen nahmen am 27. März 2021 in Zürich auch Linksextreme teil. Diese wehren sich vor allem dagegen, dass die finanziellen Folgen von Corona auf diejenigen abgewälzt werden, die sowieso schon sozial benachteiligt sind. Aber die Linksextremen gehen in ihren Forderungen noch viel weiter: „Während der Coronakrise“, so Adrian Oertli, Experte für Linksextremismus, in der Gratiszeitung „20minuten“ vom 29. März 2021, „haben viele Junge begonnen, die Gesellschaft radikal zu hinterfragen. Sie glauben nicht mehr daran, dass unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme im jetzigen System gelöst werden können, sie wollen einen Systemsturz und sehen keinen anderen Weg, das System zu ändern, als durch den gewalttätigen Widerstand.“ Nun ist sich wohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darin einig, dass Gewalt niemals, auch wenn die dahinterliegenden Visionen einer freien und gerechten Gesellschaft noch so edel sein mögen, ein Mittel zur Veränderung der Gesellschaft sein darf. Doch wenn wir uns bloss darauf beschränken, Gewalt als politisches Mittel zu verurteilen, machen wir es uns zu einfach. Es gibt nämlich nicht nur sichtbare, sondern auch unsichtbare Gewalt. Auch der ganz „normale“ und angeblich „gewaltfreie“ Alltag kann Gewalt ausüben. Die Flugreise auf die Malediven, der Verzehr von Fleisch, der Konsum von Luxusgütern, die wir uns nur dank gnadenloser Ausbeutung von Mensch und Natur leisten können – all dies sind ebenfalls Formen von Gewalt und erst noch weit schlimmer als jene, die sich mit ein paar Knallpetarden, ein paar eingeschlagenen Fensterscheiben und ein paar umgekippten Mülleimern manifestiert, weil sie nämlich nicht nur das Leben der hier und heute lebenden Menschen bedroht, sondern nichts weniger als die Lebensgrundlagen ganzer zukünftiger Generationen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich lehne Gewalt in jeder noch so „geringfügigen“ Form ab, weil Gewalt immer nur Gegenwalt hervorruft und nie den Weg ebnet zu etwas von Grund auf anderem und Besserem. Wenn wir aber die „sichtbaren“ Formen von Gewalt, welche von extremistischen politischen Gruppierungen verübt wird, verhindern wollen, dann geht dies nur, wenn wir nicht mehr länger die Augen verschliessen vor all den „unsichtbaren“ Formen von Gewalt, die das kapitalistische Wirtschaftssystem tagein tagaus auf ganz „alltägliche“ und „normale“ Weise ausübt. Wir dürfen die Ungeduld, die Sehnsucht und die Vision einer neuen, besseren Welt nicht einigen wenigen „Extremisten“ überlassen, jeder und jede trägt hier und heute schon die Verantwortung für die Welt, die wir unseren Kindern und Kindeskindern überlassen. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

… und sie dann händeringend einem Job nachrennen müssen, den es vielleicht schon gar nicht mehr gibt.

 

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass soziale Fortschritte, sind sie erst einmal errungen, nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden können. Nun muss ich mich eines Besseren belehren lassen: Gemäss einem Bundesgerichtsentscheid vom 9. März 2021 müssen Frauen nach einer Scheidung zukünftig ihren Lebensunterhalt selber verdienen und erhalten von ihrem ehemaligen Ehegatten keine Unterhaltsbeiträge mehr. Mit dieser Regelung werde, so die Argumentation des Bundesgerichts, dem Bild der „modernen und berufstätigen Schweizerin“ Rechnung getragen. Keine Frage: Dass geschiedene Männer ihrer früheren Frau lebenslang Unterhaltsbeiträge zahlen müssen, ist aus Sicht des Mannes höchst ungerecht. Aber kann man ein Unrecht aufheben, indem man dafür ein anderes in die Welt setzt? Wenn eine Frau, die sich vielleicht zehn oder 15 Jahre lang ausschliesslich oder während der meisten Zeit mit der Arbeit im Haushalt und mit der Erziehung der Kinder abgemüht hat, nun plötzlich infolge einer Scheidung vom einen Tag auf den anderen auf der Strasse steht und händeringend einem Job nachrennen muss, den es vielleicht schon gar nicht mehr gibt – dann ist das wohl mindestens so ungerecht oder vielleicht sogar noch um einiges ungerechter, als wenn ein Mann lebenslang Unterhaltungsbeiträge zahlen muss. Dies umso mehr, als viele Männer gerade dank der Familienarbeit ihrer Frau sich beruflich hoch arbeiten, Karriere machen und bedeutende Lohnzuwächse generieren konnten, all das, was ihren Frauen während der Zeit der gemeinsamen Ehe versagt geblieben ist. Nun mag man einwenden, dass zahlreiche Frauen nebst Haushalt und Kindererziehung einer ausserhäuslichen beruflichen Tätigkeit nachgehen und Väter oft einen Teil der Familienarbeit übernehmen. Doch die grosse Mehrheit der Ehepaare lebt noch ein traditionelles Rollenbild: Die Väter sind zu 80 oder 100 Prozent berufstätig, die Mütter kümmern sich um Haushalt und Kindererziehung und gehen, wenn überhaupt, nur einem kleinen Teilpensum ausserhäuslicher Erwerbsarbeit nach. Bei alledem geht gerne vergessen, dass Frauen, die sich „nur“ oder hauptsächlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern, durchaus eine vollwertige, anspruchsvolle und oft mühsame berufliche Tätigkeit ausüben, die nur deshalb kein gesellschaftliches Gewicht hat, weil sie nicht entlohnt wird. Tatsächlich aber ist die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmanns eine der gesellschaftlich wichtigsten Aufgaben, die man sich nur vorstellen kann. Nur wenn sich Eltern aufmerksam um ein gutes Zuhause und gute Bedingungen für das Aufwachsen ihrer Kinder kümmern, kann eine nächste Generation von Menschen heranwachsen, die den zukünftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen gewachsen sind. Ausgerechnet jene, die sich am meisten um diese Arbeit kümmern, mit Schikanen, Geringschätzung und Benachteiligungen aller Art zu bestrafen, ist wohl alles andere, aber gewiss kein gesellschaftspolitischer Fortschritt. Doch was für Lösungen wären denkbar? Viele Lösungsvorschläge wurden schon diskutiert, sind aber leider alle noch nicht mehrheitsfähig. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde, unabhängig vom Zivilstand, ein existenzsicherndes Einkommen für Männer wie auch für Frauen garantieren und den Druck, möglichst schnell und vielleicht auch zu schlechten Bedingungen wieder ins Erwerbsleben einzusteigen, wesentlich abfedern.  Ein Hausarbeitslohn würde einem der anspruchsvollsten und gesellschaftlich wichtigsten Berufe endlich jene Wertschätzung entgegenbringen, die ihm gebührt, und obendrein eine volle Rentenleistung im Alter garantieren. Ein Einheitslohn über alle Berufe würde noch einen Schritt weitergehen und es Frauen und Männern jederzeit möglich machen, jede beliebige berufliche Tätigkeit anzunehmen, ohne dadurch eine Lohnreduktion in Kauf nehmen zu müssen, im Gegensatz zur heutigen Praxis, wo in typischen Männerberufen immer noch weit mehr verdient wird als in typischen Frauenberufen und daher auch eher die Männer als die Frauen einer ausserhäuslichen Berufstätigkeit nachgehen. Schliesslich wäre es vielleicht auch an der Zeit, wieder einmal die Forderung nach einem Recht auf Arbeit aufzugreifen, um die Menschen vor der zermürbenden und erniedrigenden Jobsuche und dem Verkraften hunderter von Absagen bis hin zur drohenden Langzeitarbeitslosigkeit mit all ihren verheerenden menschlichen und gesellschaftlichen Folgen zu befreien. Der Entscheid des Bundesgerichts, dass geschiedene Frauen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssten, ist, ohne eine entsprechende soziale Abfederung, wohl definitiv ein Schritt in die falsche Richtung. Besonders stossend und geradezu ungeheuerlich ist die Tatsache, dass dieser Entscheid von einem fünfköpfigen Gremium des Bundesgerichts gefällt wurde, dem ausschliesslich Männer angehören. Wo bleibt der Aufschrei der Frauen? Es wäre doch nichts anderes als anständig, wenn fünf Bundesrichterinnen noch einmal über die gleiche Sache beraten würden. Vielleicht käme dann etwas anderes, Besseres heraus, etwas, was dem Bild der „modernen Schweizerin“ tatsächlich auch in einem umfassenden und nicht nur rein ökonomischen Sinn entsprechen würde.

AHV-Revision: Was ist die Wirtschaft und wer ist die Milchkuh?

 

In der „Arena“ des Schweizer Fernsehens vom 26. März 2021 zum Thema AHV-Revision wehrt sich FDP-Nationalrätin Regine Sauter dagegen, dass die „Wirtschaft“ durch immer höhere Beiträge an die AHV über Gebühren „belastet“ werde: „Wer bezahlt denn eigentlich das Ganze? Je mehr die Wirtschaft mit Abgaben belastet wird, umso mehr lastet das auch auf den Arbeitsplätzen. Es kann auch nicht im Interesse der Linken sein, wenn wir Reformen machen, welche die Arbeit und die Arbeitsplätze verteuern. Die Wirtschaft ist es letztlich, welche die Finanzierung aufbringen und die anstehende Revision bezahlen muss. Die Frage ist, wie viel man der Wirtschaft noch aufbürden kann, um nicht jegliches Wachstum abzuwürgen.“ Was für eine Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse! Als wäre die „Wirtschaft“ eine Milchkuh, die vom Staat gemolken und in letzter Konsequenz, wenn das immer so weiterginge, zu Tode gebracht würde. Dabei ist die „Wirtschaft“ doch nichts anderes als die Summe der in ihr arbeitenden Menschen, Millionen von Werktätigen, welche tagein tagaus ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, damit die „Wirtschaft“ florieren und ihre Gewinne generieren kann. Jede Firma, die am Ende des Jahres schwarze Zahlen schreibt und überdies ihren Chefs und Besitzern satte Einkommens- und Vermögenszuwächse verschaffen kann, verdankt dies alles einzig und allein dem Umstand, das die in ihr tätigen Menschen für ihre Arbeit weniger Lohn bekommen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. Nur die am „untersten“ Rand der Firma in der eigentlichen Produktion Tätigen schaffen tatsächlich Mehrwert – all die auf den „höheren“ Etagen in Verwaltung und Organisation Beschäftigten profitieren von diesem Mehrwert. Deshalb ist nicht die „Wirtschaft“ die eigentliche Milchkuh. Die eigentliche Milchkuh, das sind die auf den untersten Rängen der Firma arbeitenden Menschen, die nicht nur für sich selber, sondern zugleich auch für den „Überbau“ der Firma schuften müssen. Wenn nun also mehr Geld von der „Wirtschaft“ in die AHV fliessen soll, dann ist dies bloss ein kleiner Teil jenes Geldes, das den Arbeitern und Arbeiterinnen zuvor in Form des von ihnen geschaffenen Mehrwerts abgeknöpft worden ist. Dies hat nichts mit „Milchkühen“ zu tun und schon gar nicht mit „Grosszügigkeit“ seitens der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Es ist bloss ein winziger, längst fälliger Schritt in Richtung von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit. 

Ein neuer Kalter Krieg? Zeit für ein radikales Umdenken…

 

Zuerst bezeichnet der amerikanische Präsident Joe Biden den russischen Präsidenten Wladimir Putin als „Killer“. Dann lädt Biden seine Amtskollegen aus Japan, Indien und Australien zu einem virtuellen Treffen ein und US-Aussenminister Blinken besucht demonstrativ Japan und Südkorea – dies alles, um eine möglichst grosse Einheitlichkeit gegenüber China zu beschwören. Schliesslich treffen sich hochrangige Vertreter des chinesischen Regimes und der US-Regierung in Anchorage, wo es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen beiden Seiten kommt. Alles deutet darauf hin, dass wir wieder einmal mitten in einem Kalten Krieg sind, in dem Wortwahl und gegenseitige Drohgebärden zwischen den Grossmächten immer schärfere Formen annehmen. Gewiss, die Politik der chinesischen Regierung gegenüber Minderheiten wie den Uiguren und Tibetern ist ebenso wenig zu rechtfertigen wie das Vorgehen gegen die demokratische Bewegung in Hongkong. Doch gibt es im Rahmen der UNO und internationaler Menschenrechtsorganisationen genügend Plattformen, um diese Probleme anzusprechen und einer möglichen Lösung entgegenzuführen. Wenn hingegen gegenseitige Feindbilder geschürt, gegenseitige Drohkulissen aufgebaut und mit Strafzöllen und Sanktionen gedroht wird, dann ist das alles nur Öl ins Feuer jener Probleme, die man angeblich zu lösen versucht. „Insbesondere nach diesem persönlichen Angriff Bidens gegen Putin“, so SRF-Russlandkorrespondent David Nauer, „ist der Kreml erst recht nicht mehr bereit, auf die USA zuzugehen.“ Tatsächlich: Wo Türen zugeschlagen statt geöffnet werden, rückt eine Lösung zwischenstaatlicher Probleme in immer weiter entfernte Zukunft. Dass Drohungen auf der einen Seite Drohungen auf der anderen provozieren, dass Gewalt stets Gegengewalt hervorruft – dies alles müsste nun doch eigentlich langsam bekannt sein, umso mehr, als wir wissen, dass der allerletzte Schritt solcher Entwicklungen nichts anderes ist als der tatsächliche Einsatz all jener militärischen Mittel, die man über Jahrzehnte im gegenseitigen Machtgebaren aufgebaut hat. Nicht einmal wirtschaftliche Sanktionen sind ein taugliches Mittel, um dem politischen „Gegner“ Änderungen seiner Macht- oder Wirtschaftspolitik aufzuzwingen, denn Wirtschaftssanktionen treffen immer die Schwächsten. Das wissen wir spätestens seit den Wirtschaftssanktionen, welche die US-Regierung in den Neunzigerjahren gegen den Irak verhängte und denen rund eine halbe Million Kinder infolge mangelnder Ernährung und Medikamente zum Opfer fielen. Wir sind heute an dem Punkt angelangt, wo das Bestreben einzelner Staaten nach weltweiter Vorherrschaft und der Glaube, zwischenstaatliche Probleme liessen sich mit Zwangsmassnahmen, gegenseitigen Beschuldigungen und Drohgebärden oder gar mit militärischen Mitteln lösen, endgültig in der Mottenkiste der Vergangenheit versenkt werden müssen. Ist es ein Zufall, dass sich auf der heutigen Weltbühne, wo immer heftiger um die zukünftige globale Vormachtstellung gerungen wird, mit Joe Biden, Wladimir Putin und Xi Jinping drei Männer genau jenes patriarchalen Zeitalters gegenseitiger Macht- und Muskelspiele gegenüber stehen, dessen Zeit schon längst abgelaufen wäre? Schauen wir uns aktuelle demokratische Bewegungen von Weissrussland über Chile, Libanon, Hongkong bis hin zur Klimabewegung an, dann sehen wir überall junge Frauen an vorderster Front. Das gibt Anlass zu Hoffnung. Dass wir schon bald in einer Welt leben werden, die nicht mehr von Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung und gefährlichen gegenseitigen Machtspielen dominiert sein wird, sondern von gegenseitigem Respekt und vom Bemühen, für gemeinsame Probleme gemeinsame Lösungen zu finden.  

 

 

Weshalb die Zeit schon längst reif wäre für die Einführung einer Volkspension

 

Rentenalter, Kompensationszahlungen für alle Frauen, die zukünftig erst mit 65 Jahren in Pension gehen können, Steuererhöhungen und Sparmassnahmen, um die Finanzierung der AHV auch in Zukunft zu sichern: Die Altersvorsorge und ihre Finanzierung ist in sozialpolitischen Debatten zwischen linken und bürgerlichen Politikern und Politikerinnen seit Jahren ein Dauerthema und schlägt gerade jetzt, im Zusammenhang mit einer Erhöhung des Frauenrentenalters, höhere Wellen denn je. 

Doch müsste man nicht einmal ganz grundsätzlich innehalten? Wäre es nicht an der Zeit, das heutige verschachtelte und komplizierte Rentensystem mit erster, zweiter und dritter Säule über Bord zu werfen, ein System, das einmal mehr die Reichen belohnt und die Minderbemittelten benachteiligt? Niemand sollte doch im Alter zusätzlich dafür bestraft werden, dass er oder sie bereits ein Leben lang in Form von schlechten Arbeitsbedingungen, engen Wohnverhältnissen, niedrigem Lohn und unbezahlt geleisteter Care-Arbeit schon mehr als genug gelitten hat. Wenigstens in der letzten Phase des Lebens, im wohlverdienten Ruhestand, sollten die sozialen Ungleichheiten aufgehoben sein. 

Es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass der pensionierte Banker wochenlange Ferien auf Teneriffa geniessen kann, während sich die pensionierte Putzfrau, die jahrelang sein Büro auf Hochglanz getrimmt hat, nicht einmal ein Zugbillett für einen Ausflug nach Genf leisten kann. Besonders stossend ist diese Ungleichheit, wenn man bedenkt, dass Schlechterverdienende eine statistisch weitaus geringere Lebenserwartung haben und daher nicht nur monatlich, sondern über die gesamte Zeitspanne bis zu ihrem Tod viel geringere Rentenleistungen beziehen als jene, die ein Leben lang schon besser verdient haben und mit einer längeren Lebenszeit rechnen können. 

Wenn man sich das alles so überlegt, dann gibt es eigentlich nur eine einzige wirklich gerechte Lösung: eine existenzsichernde Volkspension mit gleicher Rente für alle, von der Putzfrau bis zum Banker. Damit wenigstens im Alter jene Klassengesellschaft aufgehoben wäre, die ins Leben so vieler Menschen lebenslang auf die eine oder andere Weise so schmerzliche Wunden schlägt. Eine zweite und eine dritte Säule bräuchte es dann nicht mehr – so könnte man sich auch zugleich erhebliche Verwaltungskosten ersparen und all die Bürokratie, das akribische Hin- und Herschieben von Geldern, das eifrige Bemühen, sich Vorteile auf Kosten anderer zu ergattern – all das wäre dann überflüssig. 

1972 lehnte das Schweizer Volk die Einführung einer Volkspension mit 79 Prozent der Stimmen ab. Das heisst nicht, dass das Anliegen falsch war. Es heisst nur, dass die Zeit dafür noch nicht reif war. Die Einführung des Frauenstimmrechts nach jahrzehntelangen Rückschlägen zeigt, wie sehr sich das öffentliche Bewusstsein im Laufe der Zeit tiefgreifend ändern kann. Wäre es nicht an der Zeit, auch in Sachen Volkspension einen neuen Anlauf zu wagen? Eine Abstimmung darüber würde wohl kaum an den Argumenten scheitern, sondern höchstens an den machtpolitischen Interessen all jener, die vom heutigen System auf Kosten anderer profitieren und nicht bereit sind, den Kuchen, den alle miteinander gebacken haben, auch möglichst gerecht wieder unter allen zu verteilen.

 

Vom Skirennsport bis zu den Fleischfabriken: Tödliches Konkurrenzprinzip

Skirennfahrer und Skirennfahrerinnen: Sie rasen im Höllentempo gefährlichste Pisten hinunter, vor der Kälte und vor Stürzen nur durch einen hauchdünnen Rennanzug geschützt, ohne Unterwäsche, weil diese das Fahrtempo vermindern und der Konkurrenz den Vorteil von ein paar wenigen, doch entscheidenden Tausendstelsekunden verschaffen könnte, festgeschnallt auf Skiern mit immer schärfer geschliffenen Kanten, die bei Stürzen im Tempo von hundert und mehr Stundenkilometern schwerste Schnittverletzungen verursachen können, und auch dies nur mit dem einzigen Ziel, ein paar Tausendstelsekunden früher im Ziel zu sein als ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten.

Kunstturnerinnen und Gymnastinnen: Sie werden gezwungen, ihren Körpern das Allerletzte abzuverlangen, zehn Stunden am Tag, im gnadenlosen Training am Barren, am Reck, auf dem Boden. Statt gelobt werden sie angeschrien, manchmal verweigert man ihnen, damit sie möglichst dünn bleiben, sogar das Essen und das Trinken, nicht selten müssen sie selbst dann noch weitertrainieren, wenn der Körper vor lauter Schmerzen fast zerbricht oder bereits von einer Verletzung betroffen ist, und dies alles nur, um an den nächsten Weltmeisterschaften der Konkurrenz eine Nasenlänge voraus zu sein.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fleischfabriken: Unerbittlich ist das Tempo, in dem gearbeitet wird, Schlag um Schlag, Messer um Messer, bis die Hände, die Arme und die Rücken fast auseinanderbrechen, Arbeiter um Arbeiterin dicht aneinandergedrängt, wie Teile einer riesigen Maschine, härteste Arbeit bei geringstem Lohn, und auch das alles nur, damit das solchermassen produzierte Fleisch um ein paar Cents billiger ist als jenes der Konkurrenz und dadurch einen höheren Gewinn abwirft, von dem sie, die Arbeiter und Arbeiterinnen, freilich nie etwas sehen werden.

Die Kinder und Jugendlichen in den Schulen: Auch sie, ängstlich und oft voller Selbstzweifel, angetrieben zu Höchstleistungen, manchmal bis in die Nacht hinein und unter Tränen, all die Verzweiflung, wenn das alles einfach zu gross und zu schwer geworden bist, und auch dies alles nur, um in der entscheidenden Prüfung nur auf keinen Fall zu versagen und, wenn irgend möglich, die Mitschülerinnen und Mitschüler um ein paar Zehntelspunkte zu übertrumpfen.

Ob im Skirennsport oder im Training der Kunstturnerinnen, ob in den Fleischfabriken oder den Schulen – und das sind nur vier von unzähligen weiteren Beispielen, die hier aufgezählt werden könnten -: Das Konkurrenzprinzip zwingt die Menschen dazu, gegeneinander statt miteinander und füreinander zu arbeiten. Je schärfer die Kante des einen Skirennfahrers ist, umso mehr zwingt er seine Konkurrenten dazu, ihre Kanten noch schärfer zu schleifen, ungeachtet der damit verbundenen Verletzungsgefahr. Je härter die Kunstturnerinnen des einen Landes trainieren, um so härter müssen die Kunstturnerinnen aller anderen Länder trainieren, nur um ja nicht ins Hintertreffen zu geraten. Je schneller die Arbeiterinnen und Arbeiter in der einen Fleischfabrik arbeiten, umso mehr zwingen sie sämtliche Arbeiterinnen und Arbeiter in allen anderen Fleischfabriken dazu, noch härter zu arbeiten, bloss um auf dem „freien“ Markt von Angebot und Nachfrage nicht ins Hintertreffen zu geraten. Und auch die Kinder und Jugendlichen in den Schulen: Je fleissiger das eine Kind lernt, je mehr Stunden es bis tief in die Nacht über seinen Büchern sitzt, je mehr es auf bisherige Freizeitbeschäftigungen verzichtet, umso mehr zwingt es seine Mitschüler und Mitschülerinnen dazu, es ihm gleich zu tun, denn wer möchte schon zu den Versagern und Verlieren gehören.

Dem Konkurrenzprinzip ist eine geradezu zynische Logik eigen. Es zwingt die Beteiligten in einen permanenten gegenseitigen Überlebenskampf, bei dem der Glaube aufrechterhalten wird, alle könnten erfolgreich sein, wenn sie sich nur genug anstrengten. Tatsächlich aber beruht das Konkurrenzprinzip darauf, dass immer nur einer der Beste sein kann und alle anderen mehr oder weniger auf der Strecke bleiben, selbst wenn sie sich noch so viel Mühe gäben. Besonders krass zeigt sich das beim Skirennsport: Es wird niemand bestreiten, dass auch die Skirennfahrerin, die „nur“ auf dem zwanzigsten Rang gelandet ist, immer noch eine unmenschliche Leistung vollbracht hat, bloss ist sie halt ein paar Hundertstelsekunden langsamer gewesen als die Beste.

Und noch in einem zweiten Punkt ist das Konkurrenzprinzip in sich selber höchst widersprüchlich. Es kennt nämlich keine Grenze nach oben. Die Kanten der Skis können immer noch um ein paar Millimeter schärfer geschliffen und die Skirennzüge können immer noch ein wenig dünner gemacht werden, bis vielleicht eines Tages die Fahrerinnen und Fahrer splitternackt zu Tale rasen. Die Übungen, welche die Kunstturnerinnen zeigen, können immer noch ein wenig schwieriger gestaltet werden, bis zu dem Punkt, da die Körper es gerade noch ganz knapp aushalten, bevor sie auseinanderbrechen. Das Arbeitstempo in der Fleischfabrik kann immer noch ein ganz klein wenig erhöht und die Arbeitsabläufe können immer noch ein klein wenig optimiert werden, so lange nicht die körperlichen Leiden der Arbeiterinnen und Arbeiter ein so hohes Mass erreicht haben, dass die Gesundheitskosten den Nutzen aus der geleisteten Arbeit übersteigen. Und den Kindern und Jugendlichen in den Schulen kann ohne klare Grenze nach oben ein immer höheres Lernpensum aufgebürdet wurden, auch wenn das mit dem realen Leben der Kinder und den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt schon längst nichts mehr zu tun hat.

Aus der Spirale des zerstörerischen und in letzter Konsequenz tödlichen Konkurrenzprinzips können wir uns nur befreien, wenn Wirtschaft und Arbeitswelt, Kultur, Bildung und Gesellschaft auf eine neue Basis gestellt werden, auf die Basis des Miteinander anstelle des Gegeneinander, auf die Basis der Kooperation anstelle der gegenseitigen Konkurrenzierung. So etwas Verrücktes wie Skirennen gäbe es dann wahrscheinlich nicht mehr. Ebenso wenig wie Weltmeisterschaften im Kunstturnen. Sportliche Aktivitäten würden überall und jederzeit so angelegt, dass die sie Menschen nicht krankmachen und ihnen Verletzungen zufügen, sondern dass sie ihrem Wohlergehen und ihrer Gesundheit dienen. Fleischfabriken wie auch alle anderen industriellen Betriebe wären vertraglich miteinander verknüpft, so dass Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten einheitlich geregelt wären und stets die Gesundheit und das Wohlergehen der arbeitenden Menschen Vorrang hätten vor allem anderen. Und in den Schulen würde man endlich damit aufhören, die Kinder miteinander zu vergleichen und einem gegenseitigen Wettkampf auszusetzen. Jedes Kind ist einzigartig, einmalig, hat Begabungen und Talente, welche kein anderes Kind hat, sein Lernen soll stets seinem Wohlergehen und seiner körperlichen und seelischen Gesundheit zugutekommen.

Eine neue Welt, die nicht mehr vom selbstzerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzprinzip beherrscht wird: nicht mehr eine Treppe, die gegen oben immer schmaler wird und auf der die meisten früher oder später auf der Strecke bleiben. Auch nicht ein Karussell, das sich immer schneller dreht und alle, die sich nicht mehr festhalten können, nach und nach fortschleudert. Sondern ein Garten oder eine Werkstatt, in der Platz ist für alle, die gleichberechtigt dort leben und arbeiten und in der das Wohlergehen des Ganzen zugleich das Wohlergehen jedes Einzelnen ist.

Wenn 55 Prozent der Deutschen finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt

 

„Die CDU ärgert sich rot und grün“ – so kommentiert die Tagesschau des Schweizer Fernsehens das Ergebnis der Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021. Und der „Tages-Anzeiger“ spricht gar von einem regelrechten „Debakel für die CDU“. In der Tat: Während in Baden-Württemberg die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer obenaus schwangen, brach die CDU auf historische Tiefstwerte ein. Bei den übrigen Parteien hielten sich Verluste und Gewinne in engen Grenzen, auffallend ist einzig das schlechte Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern. So weit so gut – oder eben so schlecht, je nachdem von welcher politischen Warte aus man es betrachtet. Doch handelt es sich bei solchen „demokratischen“ Wahlen nicht letztlich um eine Farce, eine immense Selbsttäuschung, ein in letzter Konsequenz durch und durch inszeniertes Nullsummenspiel? Wie komme ich auf diesen Gedanken? Nun, wenn man sich die Inhalte der einzelnen Parteien etwas näher anschaut, dann gibt es zwar durchaus gewisse graduelle Unterschiede. Doch letztlich stehen alle auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Keine der zur Wahl angetretenen Parteien fordert klar und deutlich die Überwindung des Kapitalismus und aller mit ihm verbundenen Zwangsläufigkeiten von der laufend weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Gewinnmaximierung bis hin zum blinden Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, der Hauptursache für den Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen. Selbst die „Linke“, die man sich noch am ehesten als antikapitalistische Kraft vorstellen könnte, führte einen überaus moderaten Wahlkampf. Schaue ich mir die Website der „Linken“ an, so wird zwar an wenigen Stellen der Begriff Kapitalismus mit dem Hinweis auf seine Unzulänglichkeiten erwähnt, die ganze Palette der von der Partei vorgeschlagenen Reformen bewegt sich aber insgesamt innerhalb der kapitalistischen Logik, man hat den Eindruck, dass die Partei den Kapitalismus nicht wirklich überwinden will – sonst müssten ihre Forderungen viel radikaler sein -, sondern bestenfalls zähmen, so wie dies, weniger weit gehend, auch die SPD anstrebt. Selbst die als Aussenseiterpartei angetretene „Klimaliste“ beschränkt sich auf die Forderung nach „konsequenten Klimaschutzmassnahmen“ und verzichtet auf die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Kapitalismus zweifellos unverkennbar ist. Grob gesagt: Eine Demokratie, welche diesen Namen verdient, müsste den Menschen nicht nur die Wahl zwischen ein bisschen mehr oder weniger Umweltschutz, zwischen ein bisschen mehr oder weniger sozialer Sicherheit oder ein bisschen mehr oder weniger Förderung des öffentlichen Verkehrs anbieten. Sie müsste den Menschen auch die Wahl anbieten, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben möchten, oder ob die Zeit reif wäre dafür, diesen Kapitalismus mit allen mit ihm verbundenen Unzulänglichkeiten und Zerstörungen zu überwinden. So gesehen sind die herrschenden „demokratischen“ Parteien nicht wirkliche Alternativen, zwischen ihnen liegen keine Welten, ihr Denken und ihre Sprache sind beinahe deckungsgleich, sie sind, einfach gesagt, nur Nuancen und Fraktionen einer Grossen Kapitalistischen Einheitspartei, zu der eine antikapitalistische Gegenpartei als echte Alternative schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Wenn die „Sieger“ dieser Landtagswahlen nun jubeln und die „Verlierer“ am Boden zerstört sind, dann jubelt, unsichtbar, vor allem einer: Der Kapitalismus. Er ist noch einmal davon gekommen. Er ist wieder für vier Jahre an der Macht – egal ob ganz vorne die CDU, die SPD oder die Grünen stehen. Nun könnte man einwenden, dass die Menschen mit dem kapitalistischen „Einheitsbrei“ offensichtlich einverstanden seien und sich eine Alternative zum kapitalistischen System gar nicht wünschen. Für diese These würde auch die Tatsache sprechen, dass die „Linke“, die noch am ehesten einer antikapitalistischen Kraft entspricht, weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die 5-Prozent-Hürde der Wählerinnen- und Wählerstimmen geschafft hat. Offensichtlich aber klafft die tatsächliche Lebensrealität der Bevölkerung und die Welt der Politik meilenweit auseinander. Denn, wie eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 ergeben hat, finden nur zwölf Prozent der befragten Deutschen, dass das „System für sie arbeitet“, 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form „mehr schadet als nützt“. Woher dieser immense Widerspruch? Die Menschen scheinen immer deutlicher zu spüren, dass irgendetwas „nicht mehr stimmt“. Aber sie sehen noch keine Alternative. Die einzige Alternative, die sie kennen, sind der Kommunismus und der Sozialismus der früheren DDR und der Sowjetunion. Und das, nämlich die Wiederholung gescheiterter Gesellschaftsmodelle, will freilich niemand, und deshalb klammert man sich lieber an den Kapitalismus, den man wenigstens kennt und von dem man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, erhofft, dass trotzdem alles eines Tages besser wird. Das Fazit: Es müsste darum gehen, eine Gesellschaftsutopie zu entwickeln, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern ebenso den Sozialismus und den Kommunismus früherer Zeiten. Eine solche Alternative muss es geben – will sich die Menschheit nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Das beste Potenzial, um eine solche Alternative zu entwickeln, hätte wohl die „Linke“. Hierzu freilich müsste sie mehr als eine Überwindung des Kapitalismus fordern. In jedem einzelnen Punkt müsste sie aufzeigen, wie jenes Leben aussähe, von der wir doch alle insgeheim träumen, ein Leben ohne gegenseitige Ausbeutung und gegenseitigen Konkurrenzkampf, ein Leben in sozialer Gerechtigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Und selbstverständlich muss eine solche Vision länderübergreifend entwickelt werden – so wie der Kapitalismus international vernetzt ist, genau so müssten sich auch die antikapitalistischen Kräfte international vernetzen. Im September sind die deutschen Bundestagswahlen. Es bleibt noch Zeit, an der Vision für eine Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten…

Naturwissenschaften und Politik: Als lebten wir in zwei verschiedenen Welten

 

Seltsam. Während Naturwissenschaften, Medizin, Technologie und Digitalisierung schon längst im 21. Jahrhundert angekommen sind und weiterhin jeden Tag neue Fortschritte erzielen, scheint die Welt der Politik buchstäblich im 19. Jahrhundert stecken geblieben zu sein. Gilt in der naturwissenschaftlichen Entwicklung die Regel, dass ein einmal erzielter Fortschritt nicht mehr rückgängig gemacht wird und alle weiteren Entwicklungsschritte darauf aufbauen, so ist in der Welt der parlamentarischen Demokratie von einem vergleichbaren Konsens keine Spur davon zu finden: Immer noch, wie eh und je, liefert man sich in den Parlamenten gegenseitige Redeschlachten, versucht den politischen Gegner kleinzureden, buhlt mit möglichst bunten und attraktiven Plakaten, Flugblättern und Internetauftritten um eine möglichst grosse Anhängerschaft für die kommenden Wahlen und verspricht das Blaue vom Himmel, um es, kaum ist man wieder gewählt, möglichst schnell zu vergessen. Würden Chirurgen, Weltraumforscherinnen und Brückenbauer ähnlich fahrlässig arbeiten, stünden wir schon längst vor einem Chaos unvorstellbaren Ausmasses. Dabei wäre nichts so dringend, als dass Politiker und Politikerinnen ebenso seriös arbeiten sollten wie die Forscherinnen und die Fachleute der naturwissenschaftlichen Welt. Würde man für die Bewältigung der Klimakrise, für die Überwindung von Armut, Hunger, Ausbeutung und Rassismus und für eine friedliche Lösung zwischenstaatlicher Konflikte nur einen Bruchteil jener Sorgfalt und Energie aufwenden, mit der fahrerlose Automobile entwickelt, ausgeklügeltste Sonden zu fernen Planeten geschickt und auch noch die anspruchsvollsten medizinischen Operationen mitten in unserem Gehirn durchgeführt werden, dann sähe die Welt wohl schon in Bälde ganz anders aus. Liegt das Problem darin, dass die Forscherinnen und Fachleute der naturwissenschaftlichen Welt schon längst über alle Grenzen hinweg zusammenarbeiten, während sich die Politik immer noch hauptsächlich im engen Rahmen der einzelnen Nationalstaaten bewegt? Wäre es nicht endlich Zeit, das Politische weltweit so zu vernetzen wie das Naturwissenschaftliche? Angesichts der drohenden Klimakrise müsste das eigentlich keine Frage mehr sein. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Plädoyer für die Arbeit der Hausfrau und des Hausmanns

„50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts und zahlreicher Debatten über Gleichstellung später dominiert nach wie vor das traditionelle Rollenmodell: Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeitet er Vollzeit, sie gar nicht oder Teilzeit, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen.“ Soweit ein Kommentar im „St. Galler Tagblatt“ vom 10. März 2021 zu einem Urteil des Bundesgerichts, wonach sich Frauen nach einer Scheidung wieder schneller in den Arbeitsmarkt eingliedern sollten.

Habe ich richtig gelesen? Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeiten die meisten Frauen gar nicht oder höchstens Teilzeit? Was für eine Beleidigung all jener Frauen, die „nur“ Hausfrauen sind, sich „nur“ um die Pflege und Erziehung ihrer Kinder kümmern, „nur“ den Haushalt besorgen und „nur“ kochen, waschen, putzen und aufräumen. Wenn ich bei meiner Schwiegertochter und ihren vier Kindern zu Besuch bin, dann habe ich jedenfalls nie den Eindruck, sie würde „nicht arbeiten“. Ganz im Gegenteil: Ihre Arbeitstage sind lange und anstrengend, oft kommt sie nicht einmal nachts zur Ruhe und so etwas wie eine Pause, in der sie auch mal eigenen Gedanken und Beschäftigungen nachgehen kann, gibt es frühestens am Abend, wenn alle Kinder im Bett sind.

Die Arbeit, die von „Nur-Hausfrauen“ geleistet wird, ist immens und gar nicht genug hoch einzuschätzen. Man könnte wohl sogar sagen, dass dieser Beruf einer der wichtigsten und elementarsten ist. Denn egal, ob jemand später einmal als Ingenieur, als Architektin, als Bauarbeiter oder als Krankenpflegerin arbeiten wird, sie alle waren einmal ein Kind, das nur deshalb gross werden konnte, weil es getragen von Liebe, Geduld und Aufmerksamkeit aufwachsen durfte. Dass sich auch Väter zunehmend in diese Aufgabe einbringen, ist zwar höchst erfreulich, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich dabei nach wie vor um eine kleine Minderheit handelt. Aber es ist noch viel krasser: Frauen bewältigen nicht nur den Löwenanteil von Haus- und Familienarbeit, sie kümmern sich zusätzlich häufig um kranke oder pflegebedürftige Nachbarn, Eltern oder Schwiegereltern und engagieren sich in Vereinen und Hilfsorganisationen, und dies alles zum Nulltarif: Der Anteil der Frauen an dieser so genannten Care-Arbeit beträgt in der Schweiz zurzeit über 61 Prozent, die Anzahl der von Frauen in diesem Bereich geleisteten Arbeitsstunden beläuft sich schweizweit jährlich auf über 8200 Millionen.

Emanzipation darf nicht bloss darin bestehen, dass möglichst viele Frauen in Branchen und Berufsfelder vordringen, die bisher den Männern vorbehalten waren. Sie darf sich auch nicht darauf beschränken, dass die Frauen möglichst schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. Emanzipation muss vor allem auch darin bestehen, dass die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmannes vollständige gesellschaftliche Gleichwertigkeit, Wertschätzung und in letzter Konsequenz auch die entsprechende Entlöhnung erfährt. Hoffentlich dauert es nicht noch einmal 50 Jahre, bis der Beruf der Hausfrau und des Hausmannes das genau gleiche Ansehen und die genau gleiche Bedeutung geniessen wie jeder andere Beruf.