Archiv des Autors: Peter Sutter

Schweizerische Ausländer- und Flüchtlingspolitik: Nein, die Erde ist keine Kugel, sie ist eine Pyramide…

 

Gemäss Artikel 30 des schweizerischen Ausländergesetzes kann ein Kanton einer ausländischen Person die Aufenthaltsbewilligung erteilen, wenn es um „erhebliche fiskalische Interessen“ geht – sprich, wenn die betreffende Person so reich ist, dass ihr Aufenthalt in der Schweiz mit genug erheblichen Steuereinnahmen verbunden ist. Das lassen sich gutbetuchte Ausländerinnen und Ausländer nicht zwei Mal sagen: Total 34 chinesische Staatsangehörige, so berichtet der „Tages-Anzeiger“ am 16. Februar 2021, kamen in den vergangenen vier Jahren in die Schweiz. Insgesamt leben zurzeit 352 Ausländerinnen und Ausländer mit einer solchen Sondererlaubnis in der Schweiz. Sie stammen aus China, Russland, Saudi-Arabien, den USA und Brasilien. Um wen es sich dabei handelt, bleibt geheim. Angaben zu den Personen, die von diesem Sonderstatus profitieren, werden von den zuständigen Behörden mit dem Hinweis auf das Steuergeheimnis und den Datenschutz zurückgehalten. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zum Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo rund 8000 Menschen in notdürftigen Behausungen leben. Das neue Lager, so berichtet die Entwicklungsorganisation Oxfam, sei noch schlimmer, als das abgebrannte Lager von Moria gewesen sei. Manche der Zelte seien nur 20 Meter vom Meer entfernt und böten keinen Schutz vor starkem Wind und Regen. Es fehle an Heizungen. Essen gebe es meist nur einmal am Tag und sei zudem von schlechter Qualität. Auch gäbe es kaum sanitäre Anlagen mit fliessendem Wasser, so dass viele Lagerbewohner sich im Meer waschen müssten. Ausserdem fehle es an einem Abwassersystem. Aufgerüttelt von diesen unmenschlichen Verhältnissen, haben sich inzwischen mehrere Schweizer Städte bereiterklärt, eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen von der Insel Lesbos aufzunehmen. Doch sie erhielten von der Justizministerin Karin Keller-Sutter die Antwort, dass es hierfür „keine rechtliche Grundlage“ gäbe und das Asylwesen Sache des Bundes sei. Dass die Erde keine Scheibe ist, auf der sich die Menschen aller Länder auf Augenhöhe begegnen, wissen wir schon längst. Sie ist aber auch keine Kugel. Sie ist eine Pyramide, an deren oberstem Ende die Reichen und Reichsten sitzen, und auf deren Stufen gegen unten die Menschen immer ärmer und ärmer werden. Während den Reichen und Reichsten aller Länder weltweit alle Türen offenstehen und sie sich völlig „legal“ von Land zu Land, von Luxushotel zu Luxushotel, von Kreuzfahrtschiff zu Kreuzfahrtschiff bewegen können, endet die Reise der Armen und Ärmsten auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung an Stacheldrahtzäunen, meterhohen Betonmauern und an einem schweizerischen Gesetzbuch. Einem Gesetzbuch, das gleichzeitig Reichen und Reichsten aus aller Welt Unterschlupf gewährt, ganz unabhängig davon, auf was für „legalen“ oder „illegalen“ Wegen sie ihren Reichtum erworben haben. In solchen Momenten fehlen einem dann plötzlich einfach die Worte…

 

Erst wenn der Kapitalismus verschwunden ist, wird auch die Kinderarbeit verschwinden

 

Fast alle Staaten der Welt, so das „Tagblatt vom 13. Februar 2021, hätten sich mit der Agenda 2030 der UNO auf das Ziel geeinigt, jegliche Form der Kinderarbeit bis 2015 abzuschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse allerdings noch viel geschehen: Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO seien weltweit immer noch 218 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren von Kinderarbeit betroffen. – Erstaunlich ist, dass zwar zahlreiche internationale Organisationen, Politiker und Politikerinnen und sogar die Mehrheit der multinationalen Konzerne übereinstimmend die Abschaffung der Kinderarbeit fordern, dass aber niemand ernsthaft die Frage stellt, welches denn die eigentlichen Ursachen der Kinderarbeit sind. Dabei liegen diese doch auf der Hand: Kinder müssen überall dort arbeiten, wo ihre Eltern nicht genug Geld verdienen, um eine Familie ernähren zu können. Kein Vater und keine Mutter lässt ihr Kind arbeiten mit dem Ziel, ihm Schaden zuzufügen. Sie tun es nur deshalb, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse sie dazu zwingen und sie ohne den Lohn des Kindes nicht überleben könnten. Somit wäre das einfachste Mittel zur Abschaffung der Kinderarbeit, weltweit allen Menschen existenzsichernde Löhne auszurichten. Doch damit sind wir schon beim nächsten Knackpunkt. Würde die Firma A auf der Plantage B oder in der Mine C ihren Arbeiterinnen und Arbeitern existenzsichernde Löhne zahlen, so würden die Produkte, die Nahrungssmittel oder die Rohstoffe, die sie herstellen oder zutage befördern, so teuer, dass sie sie nicht mehr verkaufen könnten, Firma A würde Pleite machen und alle ihre Arbeiterinnen und Arbeiter wären arbeitslos. Wir befinden uns eben nicht in einer heilen, gerechten, menschenfreundlichen Welt. Wir befinden uns im globalen Kapitalismus, der aufs engste mit einem permanenten, sich laufend noch verschlimmernden, buchstäblich mörderischen Preiskampf verbunden ist. In diesem globalen System der Ausbeutung von Mensch und Natur, des ungebrochenen Glaubens an ein immerwährendes Wachstum und des gegenseitigen Konkurrenzkampfs über alle Grenzen hinweg bilden die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Plantagen und in den Minen des Südens die schwächsten, verletzlichsten Glieder. Dabei müsste es doch, wenn schon, genau umgekehrt sein. Ob Schokolade, Kaffee, tropische Früchte, Kobalt oder Palmöl: Die eigentliche Schwerarbeit ganz unten, ohne die sämtliche Lieferketten über den Transport, die Vermarktung bis hin zum Verkauf in den Supermärkten des Nordens und die unsäglichen Gewinne der Aktionäre multinationaler Konzerne augenblicklich in sich zusammenbrechen würden, diese Schwerarbeit müsste eigentlich, als Basis von allem, nicht am schlechtesten, sondern, im Gegenteil, am besten bezahlt sein. Anzuklagen sind daher nicht nur all jene multinationalen Konzerne, welche aus der Ausbeutung von Mensch und Natur ihre Gewinne erzielen. Anzuklagen ist vor allem das kapitalistische System weltweiter Ausbeutung, in der sich das Elend, der Schweiss und die Tränen der Menschen des Südens unaufhörlich in das Gold des Nordens verwandeln. Ohne Überwindung des Kapitalismus bleiben all die schönen Worte für eine bessere und gerechtere Welt reine Illusion. Nicht nur Ausbeutung, Hunger und Armut, sondern auch die Kinderarbeit wird erst dann verschwinden, wenn auch der Kapitalismus verschwunden ist.

IV und Sozialhilfe: Und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?

 

„IV drängt Wenigverdiener in die Sozialhilfe ab“ – so titelt der heutige „Tages-Anzeiger“ vom 8. Februar 2021: „Anspruch auf eine Rente der IV hat nur, wer wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen mit einem mindestens 40 Prozent tieferen Einkommen leben muss. Dies macht sich die IV zunutze, wie Recherchen zeigen. Sie rechnet bei ihren Rentenentscheiden mit Löhnen für Hilfsarbeiten, die auf dem Arbeitsmarkt gar nicht bezahlt werden. Das ist vor allem für Menschen ein Problem, die schon vor der Invalidität wenig verdient haben. Viele haben keine Chance auf eine Rente und landen bei der Sozialhilfe.“ Eigentlich ist es absurd: Eigentlich müssten Menschen, die in ihrer beruflichen Tätigkeit über Jahre ihr Bestes gaben und dabei auch ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls ganz besonders rücksichtsvoll behandelt werden und sogar so etwas wie ein Schmerzensgeld bekommen. In der Realität aber ist genau das Gegenteil der Fall. Verunfallte oder erkrankte Berufsleute werden bestraft, indem sie nun entweder, wenn sie „Glück“ haben, einer schlechter bezahlten, einfacheren Tätigkeit nachgehen, oder aber, wenn sie Pech haben, überhaupt keine Arbeit mehr finden und früher oder später in der Sozialhilfe landen. Ganz so, als wären sie an ihrer misslichen Lage selber Schuld und müssten sich halt nun wohl oder übel damit abfinden, auf ihren früheren Lebensstandard zu verzichten. Gewiss, wir sind weit entfernt von früheren Zeiten, als sich Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen konnten, mit Betteln oder irgendwelchen Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten mussten. Wir haben, glücklicherweise, ein soziales Netz, das niemanden fallen lässt. Und trotzdem: Ist es nicht höchst ungerecht, wenn Menschen, nur weil sie das Pech hatten, infolge einer besonders schweren Arbeit oder anderer schlechter äusserer Umstände krank zu werden oder einen Unfall zu erleiden, zeitlebens damit bestraft werden, am alleruntersten Rand der Gesellschaft zu leben? Ob es die IV-Rente ist oder das Sozialhilfegeld: Die betroffenen Menschen müssen auf hunderterlei Annehmlichkeiten verzichten, die für den Rest der Gesellschaft selbstverständlich sind, vom Kinobesuch über das auswärts Essen bis hin zur jährlichen Ferienreise. Das einzige wirklich Gerechte wäre ein Einheitslohn: Ausschlaggebend wäre nicht mehr der soziale Status, der mit einer bestimmten beruflichen Tätigkeit verbunden ist. Ausschlaggebend wäre der geleistete Aufwand, die investierte Leistung. Wenn ein körperbehinderter Hilfsgärtner mit vollem Einsatz eine Stunde lang Pflanzen gesetzt, Unkraut gejätet und Sträucher geschnitten hat, dann hat er, in Bezug auf sein vorhandenes Potenzial, eine ebenso grosse Leistung erbracht wie die Ärztin, die sich eine Stunde lang voller Empathie um ihre Patienten und Patientinnen gekümmert hat. Und so müssten eigentlich beide für diese Stunde auch genau den gleichen Lohn bekommen, tragen sie doch beide das Beste, was in ihren Kräften liegt, zum Gelingen des Ganzen bei und haben somit beide das Anrecht auf einen gleich hohen Lebensstandard. Bleibt aber die Frage, wie denn mit jenen Menschen umzugehen sei, die überhaupt keine, auch keine schlechte, Arbeitsstelle finden. Nun, auch das ist wiederum kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Die Arbeitswelt müsste schlicht und einfach so organisiert sein, dass es für jeden Menschen eine ihm gemässe berufliche Tätigkeit gibt, eine Arbeitswelt also, die nicht von oben bestimmt ist, von der Gewinnsucht und den Profitansprüchen von Konzernen, sondern von unten, von den Menschen mit all ihren Begabungen, ihrem Potenzial und ihren Leidenschaften. IV-Renten, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, das mag ja alles gut und recht sein, tatsächlich aber handelt es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung in einer Welt, die immer noch meilenweit von echter sozialer Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle entfernt ist.

Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber

 

Schweizer Fernsehen SRF1, 4. Februar 2021, Dokumentarfilm „Die Schere – Der Graben zwischen Arm und Reich“. Eindrücklich werden eine alleinerziehende Mutter, eine Mittelstandsfamilie und ein Unternehmer, der zu den 300 reichsten Schweizern gehört, porträtiert. Das Fazit: Die Schere zwischen Arm und Reich war schon vor der Coronakrise gross und hat sich im Verlaufe der Pandemie noch weiter vergrössert. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer im Verlaufe des Jahres 2020 noch einmal um 7 Milliarden Franken reicher geworden sind und nun insgesamt 709 Milliarden Franken besitzen, eine Summe, die genügen würde, den Gotthardbasistunnel nicht weniger als 58 Mal zu bauen! „Wer keine Aktien und keine Immobilien hat, der schaut in die Röhre“, sagt der Unternehmer. Tatsächlich: Die Reichsten der Reichen sind vor allem deshalb so reich, weil sie viel geerbt haben oder sich mittels Aktien oder dem Besitz von Immobilien bereichern konnten. An dieser Stelle hätte der Film allerdings noch um einiges weiter in die Tiefe gehen können. Denn dass es Arme und Reiche gibt und die Reichen immer reicher werden, während die Armen arm bleiben oder sogar noch ärmer werden, das ist alles andere als ein Zufall. Es ist die unausweichliche und logische Folge des kapitalistischen Geld- und Wirtschaftssystems, das auf einer permanenten Umverteilung des Reichtums von den Arbeitenden zu den Besitzenden beruht. Die Armen sind deshalb so arm, weil die Reichen so reich sind – und umgekehrt. Denn das Geld wächst weder auf Bäumen, noch findet man es in den Muscheln irgendwo auf dem Meeresgrund. Das Geld wandert unaufhörlich aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen, aus den Händen derer, die arbeiten, in die Hände derer, die besitzen, verwalten und organisieren. Jeder Franken, um dessen Wert hier und heute eine Aktie gestiegen ist, stammt ursprünglich aus konkreter Arbeit irgendwo an einer Werkbank, auf einem Baugerüst oder in der Küche eines Restaurants. Nur weil der arbeitende Mensch für seine Arbeit weniger Lohn bekommt, als seine Arbeit eigentlich wert wäre, ist es möglich, dass andere Menschen, die keine konkrete Arbeit verrichten, dennoch mehr Geld bekommen als der Arbeiter oder die Arbeiterin, welche den Gewinn erwirtschaftet hat. Damit nicht genug: Unaufhörlich fliesst Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen: beim Einkaufen im Supermarkt, beim Bezahlen der Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten, beim Einkauf von Kleidern und Schuhen. Der Schweiss der Arbeitenden verwandelt sich buchstäblich endlos ins Gold der Reichen – die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Medaille. Deshalb ist es die grösste Lüge, wenn sich der Unternehmer mit seiner „Wohltätigkeit“ brüstet, weil er doch so viel Steuern zahle, welche der Allgemeinheit zugute kämen. Die Wahrheit ist: Mit seinen Steuern gibt er den arbeitenden Menschen bloss einen winzigen Teil dessen zurück, was er ihnen zuvor gestohlen hatte.Wer daher fordert, man müsse die Armut bekämpfen, müsste vorher eigentlich die Forderung aufstellen, man müsste den Reichtum bekämpfen. Denn wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Im Jahre 2040: das gute Leben für alle

 

Im Jahre 2040 ist das gute Leben für alle Menschen weltweit Wirklichkeit geworden. Der extreme Reichtum von früher ist ebenso von der Bildfläche verschwunden wie die extreme Armut. Es herrscht ein Einheitslohn für jegliche berufliche Tätigkeit über alle Grenzen hinweg. Geld ist nur noch reines Tauschmittel. Geld als Machtmittel, Banken, Börsen, Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten materieller Profite – all das gehört der Vergangenheit an. An Ressourcen, Rohstoffen und Lebensmitteln wird nur so viel verbraucht, als auf natürliche Weise wieder nachwächst. Der ökologische Fussabdruck des Menschen liegt bei 1,0. Die Wirtschaft ist von unten nach oben aufgebaut, nicht umgekehrt. Und sie ist nicht mehr auf Wachstum und materiellen Profit ausgerichtet, sondern auf die Bedürfnisse der Menschen: Zunächst werden so viele Nahrungsmittel hergestellt, dass weltweit alle Menschen genug zu essen haben. Dann werden so viele Kleider hergestellt, dass alle Menschen weltweit genug davon bekommen. Und so weiter. Luxusartikel kommen erst ganz zuletzt und auch erst dann, wenn die ihnen vorangehenden grundlegenderen Bedürfnisse aller Menschen weltweit erfüllt sind. Alles, was hergestellt wird, darf die dreifache Verträglichkeit nicht überschreiten. Zum einen die Sozial- oder Globalverträglichkeit: Das betreffende Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es sich für alle Menschen weltweit herstellen lässt. Zweitens, damit zusammenhängend, die Umweltverträglichkeit: Ein Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es nicht zu einer Umweltbelastung führt, welche das Verhältnis zwischen Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht bringt. Und drittens die Zukunftsverträglichkeit: Ein Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es auch 20 oder 50 Jahre später immer noch hergestellt werden könnte, ohne das Verhältnis zwischen Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fahrräder würden wohl die dreifache Verträglichkeit erfüllen, Privatautos hingegen wohl kaum. Vegetarische Ernährung würde die dreifache Verträglichkeit ebenfalls erfüllen, Ernährung mit Fleischprodukten wahrscheinlich nicht oder wenn, dann nur in sehr beschränktem Umfang. Im Jahre 2040 ist zudem das Grundprinzip des Zusammenlebens, in jeder Kommune, in jedem Land, aber auch weltweit nicht mehr die gegenseitige Konkurrenz, sondern die Kooperation. Es geht nicht mehr darum, der Beste, Schnellste, Stärkste und Erfolgreichste zu sein, sondern vielmehr darum, dass jeder Mensch, jede Stadt, jede Region, jedes Land mit seinen individuellen Begabungen und Talenten das Bestmögliche zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Das fängt schon in den Schulen an, wo die Kinder nicht mehr gegeneinander wetteifern, sondern jedes sich auf seine eigene Weise entfalten kann. Die Schulen des Jahres 2040 gleichen nicht mehr einer Treppe, wo es darum geht, möglichst schnell oben zu sein, sondern einem Garten, in dem es für jedes Kind einen einzigartigen, unverwechselbaren Weg seines Lernens und seiner persönlichen Entfaltung gibt. Und noch etwas: Im Jahre 2040 gibt es keine Waffen und keine Armeen mehr, alle zwischenstaatlichen Konflikte werden friedlich ausgetragen und ohne dass es zu Gewinnern und Verlierern kommt. In einer solchen Welt gibt es auch keine Flüchtlinge mehr, denn wer wollte schon, wenn er in seiner Heimat ein gutes Leben haben kann, freiwillig diese verlassen. Wenn Menschen im Jahre 2040 andere Länder bereisen, dann begegnen sie sich weltweit in jedem Land mit den dort lebenden Menschen auf der gleichen Augenhöhe, nicht als Touristen, denen die Einheimischen zu dienen haben, aber eben auch nicht als Flüchtlinge, denen man mit Abwehr, Ablehnung oder gar Verachtung begegnet. Das alles sind nur ein paar Pinselstriche jenes grossen Gemäldes, das uns die Welt im Jahre 2040 zeigt und zu dem Millionen weitere Menschen ihre eigenen Pinselstriche auf dem Weg zu einem guten Leben für alle hinzufügen können. Meine Zukunftsvision sei naiv? Mag sein. Aber die Vorstellung, alles könne so weitergehen wie bisher und der Freie Markt würde schon dafür sorgen, dass am Ende alles gut herauskäme, diese Vorstellung ist wohl noch um ein Vielfaches naiver…

Denen eine Stimme geben, die sonst nie im Rampenlicht stehen

 

Schweizer Fernsehen SRF1, 2. Februar 2021. Im „Club“ diskutieren eine Historikerin, eine ehemalige Bundesrätin, eine Nationalrätin, eine Unternehmerin und eine Hochschuldozentin zum Thema 50 Jahre Frauenstimmrecht. Es ist nicht der erste und wird wohl auch nicht der „letzte“ Club sein, in dem ausschliesslich Expertinnen, Fachpersonen, Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss oder bekannte Persönlichkeiten zu Wort kommen. Dabei wäre doch gerade das Thema Frauenstimmrecht Anlass genug dazu gewesen, für einmal jenen Frauen eine Stimme zu geben, die sonst nie im Rampenlicht stehen und die den überwiegenden Teil jener Arbeit leisten, die typischerweise von Frauen verrichtet wird: Verkäuferinnen, Krankenpflegerinnen, Floristinnen, Kellnerinnen, Putzfrauen, Hausfrauen, Prostituierte, Näherinnen, Haushalthilfen, Kitaangestellte, Coiffeusen, Kosmetikerinnen, Bäckerinnen. Anstrengende, überaus anspruchsvolle und oft gefährliche Tätigkeiten, die dennoch meist schlecht bezahlt sind und wenig gesellschaftliche Wertschätzung geniessen, obwohl sie für das Funktionieren der gesamten Gesellschaft und Wirtschaft unentbehrlich sind und man keinen Tag auf sie verzichten könnte. In der „Club“-Sendung zum Thema Frauenstimmrecht wurde unter anderem ausgiebig über das Thema Quoten diskutiert: Ob es sinnvoll sei, zum Beispiel für politische Ämter oder Verwaltungsräte, einen fixen Frauenanteil vorzuschreiben. Wäre es nicht an der Zeit, auch für öffentliche Debatten und mediale Berichterstattung eine Quote einzuführen, mit der man garantieren könnte, dass die verschiedenen Gesellschaftsschichten angemessen vertreten wären?   

Berufliche Auszeiten als gesellschaftliches Grundrecht für alle

 

76 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, so der „Tages-Anzeiger“ vom 2. Februar 2021, können in ihrem Job ihre Talente und Neigungen nicht genügend ausleben und wünschen sich eine mehrmonatige Auszeit – dies das Ergebnis einer von Martin J. Eppler, Professor für Kommunikationsmanagement an der HSG, durchgeführten Studie. Eppler schlägt vor, vermehrt wieder auf die eigene „innere Stimme“ zu hören, um möglichst viel von dem, was man sich schon als Kind erträumte, in die tägliche berufliche Arbeit einfliessen zu lassen. Als besonders positives Beispiel erwähnt Eppler einen Mitarbeiter von Goldman Sachs, der sich entschlossen hatte, ein Jahr in einem Kloster zu leben. Goldman Sachs hätte ihm den vollen Lohn als Beitrag an seine persönliche Weiterentwicklung gezahlt. Im Kloster hätte der Mann seine Freude am Lernen wiederentdeckt und anschliessend noch einen Master in Kinderpsychologie und Politologie erworben. Nun, worüber Eppler hier berichtet, ist wohl das, was sich unzählige andere auch erträumten. Doch nicht alle Menschen können bei Goldman Sachs arbeiten. Was ist mit einer Verkäuferin, einem Bauarbeiter, einer Krankenpflegerin, einem Fabrikarbeiter? Wünschten diese sich nicht auch gelegentlich eine Auszeit und die Gelegenheit, das zu verwirklichen, wovon sie als Kinder dereinst geträumt hatten? Und hätten sie eine solche Auszeit nicht mindestens so sehr verdient wie der Bankangestellte oder die Hochschulprofessorin, die sich dank ihres guten Lohnes eine Auszeit selbst dann leisten kann, wenn sie während dieser Zeit keinen Lohn bezieht? Eine Auszeit von zum Beispiel einem Jahr nach jeweils zehn Jahren beruflicher Tätigkeit sollte nicht davon abhängen, ob man das Glück oder das Pech hat, bei einer gutbetuchten Firma tätig zu sein oder bei einer, die immer hart ums Überleben kämpft. Eine solche Auszeit und die Chance, immer wieder einen Teil seiner Kindheitsträume zu verwirklichen, sollte ein gesellschaftlich verankertes Grundrecht für alle sein. Und ich bin überzeugt, dass sich das sogar finanziell lohnen würde, denn, wie auch Martin J. Eppler sagt: „Etwas zu tun, bei dem ich richtig enthusiastisch bin, hilft mir, meinen eigenen Wesenskern zu erkennen und meine Energien viel besser fliessen zu lassen.“ Es wäre ein Segen für alle…

Gedenkfeiern an den Holocaust – und was ist mit all den anderen Opfern unserer Geschichte?

 

Am 27. Januar 1945, heute vor 76 Jahren, wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von den Alliierten befreit. Aus diesem Anlass finden in verschiedenen Städten Gedenkfeiern statt und in politischen Reden werden die Schrecken des nationalsozialistischen Terrors, dem zwischen 1935 und 1945 rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen sind, in Erinnerung gerufen. Auf dass sich ein solches Verbrechen nie mehr wiederholen möge und jener abgrundtiefe Rassenhass, der das Unvorstellbare überhaupt erst möglich machte, für immer der Vergangenheit angehören solle. Gedenkfeiern und Worte der Mahnung, die gerade in der heutigen Zeit von höchster Bedeutung und Dringlichkeit sind. Nur wer aus der Geschichte lernt, hat die Chance, es in Zukunft besser zu machen. Und doch haftet dem Blick auf die Schrecken des Holocausts etwas Einseitiges an. Ein Scheinwerferlicht, das sich auf eine ganz bestimmte Epoche der europäischen Geschichte richtet, gleichzeitig aber andere, ebenso schreckliche Episoden unserer Vergangenheit und Gegenwart im Dunklen lässt. Ich denke an den Sklavenhandel, an die zwangsweise Deportation von rund zwölf Millionen Afrikanern und Afrikanerinnen zwischen 1519 und 1867 nach Amerika, von denen rund 1,5 Millionen schon bei der Überfahrt ihr Leben verloren. Sklavinnen und Sklaven, deren Arbeitskraft erbarmungslos ausgebeutet wurde und von denen unzählige, wenn sie sich gegen ihre Herren zu wehren versuchten, zu Tode gefoltert wurden. Das sei kein Teil der europäischen Geschichte? Und ob! Niemand anders als europäische Handelshäuser waren die eigentlichen Organisatoren des Sklavengeschäfts und ganze Länder bauten ihren späteren Reichtum, der Europa schliesslich zum reichsten Kontinent der Welt gemacht hat, auf den Qualen, den Schmerzen und dem Blut jener zwölf Millionen Menschen auf. Wenn man für die Opfer des Holocausts Gedenkfeiern abhält, dann müsste man, wenn man der Geschichte gerecht werden will, zweifellos auch für die Opfer des afrikanisch-amerikanischen Sklavenhandels Gedenkfeiern abhalten. Ein Datum würde sich mit ein wenig gutem Willen bestimmt finden lassen. So könnte man zum Beispiel den 1. Januar 1803 feiern, den Tag, an dem das erste europäische Land, nämlich Dänemark, den Sklavenhandel verbot. Oder den Tag, an dem das letzte Sklavenschiff Afrika verliess. Oder den Tag, an dem das letzte europäische Handelshaus nicht mehr länger mit Sklavenhandel seine Geschäfte betrieb. Und weiter müsste man auch, ehrlicherweise, Gedenkfeiern abhalten für all jene Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf der Flucht nach Europa entweder auf dem Landweg oder im Mittelmeer ihr Leben verloren haben. Wiederum wird wohl der Einwand erhoben, dies hätte doch nichts mit Europa zu tun, sondern, wenn schon, mit den Ländern, aus denen die Flüchtlinge stammen. Doch wiederum ist dem zu entgegnen, dass auch dieses Problem sehr wohl und sehr direkt und sehr viel mit Europa zu tun hat. Denn dass die armen Länder arm sind und die reichen reich, ist kein Zufall, sondern die ganz logische Folge eines Wirtschaftssystems, das auf rücksichtsloser Profitmaximierung und der Ausbeutung der Armen durch die Reichen beruht. So haben jüngste Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam ergeben, dass die Industrieländer – allen voran Europa – im Handel mit den Entwicklungsländern 48 Mal mehr profitieren, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgeben. Und auch hierfür würde sich, wenn man es wollte, zweifellos ein passendes Datum für eine Gedenkfeier finden lassen. Naheliegend wäre der 20. Juni, der Weltflüchtlingstag. Man könnte aber auch zum Beispiel den 29. Juni 2019 wählen. An diesem Tag fuhr die mutige Kapitänin Carol Rackete trotz eines Landeverbots mit ihrem Rettungsschiff und 40 Flüchtlingen in den Hafen von Lampedusa ein – eine Frau, die wohl eher als all jene Politiker und Politikerinnen, die sich mit tausend Ausreden gegen eine Aufnahme weiterer Flüchtlinge zur Wehr setzen, in die Geschichte eingehen wird. Und erst recht müsste man eine Gedenkfeier veranstalten für jene unzähligen Kinder in den Ländern des Südens, die noch vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil es ihnen an Nahrung, sauberem Trinkwasser oder Medikamenten fehlt – wiederum genau deshalb, weil die Güter weltweit so ungerecht verteilt sind und sich am einen so viel Luxus auftürmt, dass am anderen Ende schlicht und einfach nichts mehr übrig bleibt. Rund zehntausend Kinder täglich waren es schon vor der Coronapandemie, seither werden es wohl noch viele mehr sein. Das passendste Datum wäre hierfür wohl der 1. Juni, der Internationale Tag des Kindes. Freilich genügt es nicht, bloss Gedenkfeiern abzuhalten und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Aber wenn man Gedenkfeiern für die Opfer des Sklavenhandels, für all die Flüchtlinge und ihre verzweifelte Hoffnung auf ein besseres Leben und für die namenlosen Kinder der Welt, die nicht einmal fünf Jahre alt werden dürfen, wenn man für sie alle auch so eindringliche Gedenkfeiern wie für die Opfer des Holocaust abhalten würde, dann würde sich in den Köpfen mit der Zeit vielleicht doch etwas ändern und die Einsicht würde wachsen, dass wir nicht nur derer gedenken sollten, die schon gestorben sind, sondern vor allem auch derer, die noch leben.  

 

„Nachhaltig“ – alle reden davon, doch was würde es wirklich bedeuten?

 

„Es ist Anfang 2021“, so WEF-Gründer Klaus Schwab im Tages-Anzeiger vom 25. Januar 2021, „viele erwarten, dass das ein besseres Jahr wird als das vergangene. Diese Chance müssen wir nutzen. Wir müssen einen höheren Grad an gesellschaftlicher Reife anstreben und eine solide Basis für das Wohlbefinden der Menschen und der Erde schaffen.“ Und auch der schweizerische Bundespräsident Guy Parmelin hat eine Botschaft für die Zukunft: „Wir müssen“, sagte er in einer Grussbotschaft an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des im Mai in Singapur stattfindenden WEF 2021, „über die Gegenwart hinausschauen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich entschlossen für ein nachhaltiges Wachstumsmodell entscheiden.“ Weder Klaus Schwab noch Guy Parmelin sind „linke“ oder „grüne“ Weltveränderer. Und doch läuft das, was sie sagen, auf nichts anderes hinaus als genau das: eine radikale, tiefgreifende Umkrempelung und letztlich das Ende des kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, ob ihnen das lieb ist oder nicht, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Denn wenn Klaus Schwab einen „höheren Grad an gesellschaftlicher Reife“ fordert, so ist diese schlicht und einfach nicht zu haben in einem Wirtschaftssystem, das den Menschen in erster Linie auf seine Funktionen des Produzierens und Konsumierens reduziert. Und wenn er eine „solide Basis für das Wohlbefinden der Menschen“ postuliert, so ist auch eine solche nicht zu haben in einem Wirtschaftssystem, das auf gegenseitigem Konkurrenzkampf beruht, der dazu führt, dass die Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung erbringen müssen. Und wenn er „eine solide Basis für das Wohlbefinden der Erde“ verlangt, dann ist dies erst recht nicht zu verwirklichen in einem Wirtschaftssystem, das aufgrund seines immanenten Wachstumszwangs die natürlichen Ressourcen der Erde in immer schnellerem Tempo verbraucht und vernichtet. In sich zutiefst widersprüchlich ist auch die Forderung Guy Parmelins nach einem „nachhaltigen Wachstumsmodell“. Wie wenn es möglich wäre, die Wirtschaft weiter wachsen zu lassen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen auch für kommende Generationen zu sichern. Überhaupt, das Wort „nachhaltig“: Es gibt wohl keinen anderen Begriff, der in politischen Reden so häufig vorkommt, egal ob es sich um Aussagen von“linken“ oder „rechten“, „bürgerlichen“ oder „grünen“ Politikern und Politikerinnen handelt. Ob sich wohl jemand schon mal die Mühe genommen hat, diesen Begriff etwas genauer unter die Lupe zu nehmen? Seinen Ursprung hat das Wort „nachhaltig“ im Jahre 1713, als Hans Carl von Carlowitz, ein Oberhauptbergmann aus Sachsen, aufgrund einer drohenden Holzverknappung forderte, dass immer nur so viel Holz geschlagen werden dürfe, wie durch Aufforstung wieder nachwachsen könne. Was nichts anderes heisst, als dass nur schon allein das Wort „nachhaltig“ den Kapitalismus grundlegend in Frage stellt, da es schlicht und einfach nicht möglich ist, die Produktion von Gütern laufend wachsen zu lassen und gleichzeitig mit den Schätzen der Erde und der Natur so umzugehen, dass immer nur soviel verbraucht wird, wie wieder nachwachsen kann – man denke nur ans Erdöl, das über Millionen Jahre in der Erde „angewachsen“ ist und infolge der kapitalistischen Welteroberung innerhalb weniger Jahrzehnte verbraucht worden ist, bis schon bald nichts mehr davon übrig bleibt. Wenn Politiker und Politikerinnen hier und heute mit Begriffen wie „nachhaltig“, „zukunftsverträglich“, „Wohlbefinden“, „Gerechtigkeit“ und dergleichen um sich werfen, ohne gleichzeitig den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen, dann unterliegen sie, bewusst oder unbewusst, einer gewaltigen Selbsttäuschung: All das, was sie fordern, ist nicht umsonst zu haben. Es hat einen Preis. Und der besteht in nichts Geringerem als dem Abschied vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem Aufbau einer neuen, tatsächlich gerechten, menschenfreundlichen, nachhaltigen Wirtschaftsordnung und eines guten Lebens nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle Menschen dieser Erde. 

Schwerer Sturz von Urs Kryenbühl in der Abfahrt von Kitzbühel: Die Interessen der Menschen und die Interessen des Geldes

 

Das Abfahrtsrennen von Kitzbühel gilt als eines der gefährlichsten. Das zeigte sich heute einmal mehr, als der Schweizer Skirennfahrer Urs Kryenbühl auf der Schanze kurz vor dem Ziel das Gleichgewicht verlor, mit einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern mit dem Kopf auf der pickelharten Piste aufschlug und regungslos im Zielraum liegen blieb, bevor er mit dem Helikopter hospitalisiert wurde. Unglaublich, aber wahr: Sowohl Beat Feuz wie auch Dominique Paris und sogar der unter seinen Kollegen als „Wildsau“ geltende Maxence Muzaton hatten die Rennleitung bereits nach dem am Vortag durchgeführten Training darauf hingewiesen, dass der Zielsprung zu gefährlich und daher nicht zu verantworten sei, Carlo Janka bezeichnete den Zielsprung sogar als „tickende Zeitbombe“ – offensichtlich ohne Erfolg. Es scheint ganz so, als ob die Einschaltquoten der Fernsehübertragungen und das Geschäft mit der Werbung einen höheren Stellenwert haben als die Gesundheit der Athleten. Wenn dann, sobald etwas Fürchterliches geschieht, ein Aufschrei des Entsetzens durch die Reihen der Verantwortlichen und des Publikums geht, dann ist das mehr als scheinheilig: Man baut die Piste so, dass sie Stürze förmlich provoziert, und gibt sich dann völlig überrascht, wenn tatsächlich genau das passiert, was man eigentlich hätte verhindern können. Doch nicht nur Skirennfahrer und Skifahrerinnen, sondern auch Motorradfahrer, Kunstturnerinnen, Leichtathleten, Schwimmerinnen und Tennisspieler bezahlen mit ihrer Gesundheit, manchmal sogar mit ihrem Leben, für jene Gewinne, die dann früher oder später in die Kassen von Sportorganisatoren, Veranstaltern, Fernsehanstalten und all jener Firmen fliessen, die dank diesem oder jenem Event ihre Profite erzielen. Damit fügt sich der Spitzensport nahtlos in die kapitalistische Kosten-Nutzen-Rechnung ein: So wie der Arbeiter am Fliessband und die Detailhandelsangestellte im Supermarkt sind auch die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler nichts anderes als kleine Rädchen innerhalb einer grossen Maschine, die am Ende auf Teufel komm raus rentieren muss – mit welchen Opfern auch immer. Beat Feuz, Dominique Paris und Maxence Muzaton hätten sich eine andere Piste gewünscht – ihre Meinung zählte nicht. Auch die angehenden Kunstturnerinnen von Magglingen, welche brutalste Trainingsmethoden über sich ergehen lassen müssen, wurden wahrscheinlich nie gefragt, wie viele Trainingsstunden pro Tag sie zumutbar fänden. Und auch die Fahrer der Tour de France müssen sich über himmelhohe Berge quälen und sich auf glitschigem Kopfsteinpflaster der Gefahr von Stürzen aussetzen, ohne dass sie je dazu um ihre Meinung gebeten worden wären. Wie viele Stürze wie den heutigen von Urs Kryenbühl, wie viele kaputttrainierte Kunstturnerinnen, wie viele zerschundene Gelenke von Tennisspielerinnen und wie viele Massenkarambolagen von Radrennfahrern braucht es wohl noch, bis auch der Spitzensport wieder dorthin zurückkehrt, wo er einmal angefangen hatte: beim Wohlergehen und bei der Gesundheit der Menschen und, vor allem, bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung: mit dem eigenen Körper nur das zu tun, was ihm guttut und sich nicht von äusseren Interessen, Profitzwecken und der Schaulust des Publikums instrumentalisieren zu lassen.