Im Kanton Genf gilt seit der Volksabstimmung vom September 2020 der höchste Mindestlohn der Welt. Er beträgt 23 Franken pro Stunde. Wahrlich kein fürstlicher Lohn, wenn man ihn zum Beispiel mit dem Lohn eines Lehrers, einer Zahnärztin oder eines Rechtsanwalts vergleicht. Und doch geht selbst dieser bescheidene Mindestansatz zahlreichen bürgerlichen Politikern und Politikerinnen zu weit: SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr und CVP-Ständerat Erich Ettlin, unterstützt von prominenten Vertreterinnen und Vertreter der SVP, der FDP und der Mitte, haben zwei gleichlautende Motionen gegen die Durchsetzung von Mindestlöhnen eingereicht. Begründet wird das Anliegen unter anderem mit dem Beispiel eines Ostschweizer Bauunternehmens, das einen Auftrag auf einer Genfer Baustelle ausübe. Um sicherzustellen, dass alle ihre Angestellten den Mindestlohn verdienten, müsste die Firma erst „aufwendige Abklärungen treffen“, bevor sie überhaupt mit der Arbeit beginnen könnte. Fadenscheiniger geht es nun wirklich nicht mehr. Muss diese Firma nicht so oder so, bevor sie den Auftrag ausführen kann, „aufwendige Abklärungen treffen“? Muss sie nicht alle Pläne an das geltende Baugesetz anpassen und peinlichst genau daran achten, dass materielle, technische und ökologische Auflagen eingehalten werden? Muss sie nicht den Baugrund untersuchen, damit das Fundament auch sicher standfest gebaut werden kann? Muss sie nicht beim Einkauf von Geräten, Baumaterialien und Fahrzeugen alle Offerten peinlichst genau überprüfen, um sich sodann für das günstigste Angebot zu entscheiden? Muss sie nicht den Transport von Materialien, Maschinen und Angestellten aus der Ostschweiz bis nach Genf sorgfältigst planen und kalkulieren, damit nicht zu hohe Kosten anfallen? Und da soll dann die Einhaltung der Mindestlöhne so viel schwieriger und komplizierter sein? Da gäbe es wohl eine viel bessere Idee: Man führt den Mindestlohn nicht nur in einzelnen Kantonen, sondern schweizweit ein – dann wären alle anderen Probleme ganz von selber gelöst…
Archiv des Autors: Peter Sutter
Joe Biden und Donald Trump: Verkehrte Welt
Es gäbe, so der „Tages-Anzeiger“ vom 4. Januar 2020, ernsthafte Gründe für die Annahme, dass Donald Trump 2024 wieder zum US-Präsidenten gewählt werden könnte. Wenn es Biden nicht gelänge, die Lage der Amerikanerinnen und Amerikaner deutlich zu verbessern, dann würden diese nämlich Trumps Vorwürfen Glauben schenken, dass Biden letztlich doch nur ein Vertreter der alten Elite sei, dem das Wohl der hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikaner doch egal sei. Fürwahr ein Spiel mit falschen Karten. Denn natürlich stehen sich hier nicht in Gestalt von Donald Trump ein Volkstribun und in Gestalt von Joe Biden ein Vertreter der Eliten einander gegenüber. Beide sind Vertreter der Eliten, beide gehören jener auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung reich gewordenen Oberschicht an, welche den „hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikaner“ ein Dorn im Auge ist. Der Unterschied ist bloss, dass Donald Trump die Rolle eines Volkstribunen, der sich angeblich für das Wohlergehen der arbeitenden Menschen einsetzt, noch etwas geschickter zu spielen vermag als sein demokratischer Kontrahent. Wäre es ihnen mit der Verheissung, sich für das Wohlergehen sämtlicher Bürgerinnen und Bürger ihres Landes einzusetzen, wirklich Ernst, dann müssten sie lieber heute als morgen eine radikale Umgestaltung der herrschenden kapitalistischen Machtverhältnisse in Angriff nehmen – so, wie das von den demokratischen Parteilinken um Bernie Sanders gefordert wird. So lange aber weder Trump noch Biden eine solche radikale Umgestaltung in Angriff nehmen, wird aller Voraussicht nach mehr oder weniger alles beim Alten bleiben und der als Populist getarnte bisher erste Milliardär im Weissen Haus, der erst noch kaum je Steuern bezahlte, wird auch nach seiner Abwahl weiterhin Aufwind haben – umso mehr als Joe Biden höchstwahrscheinlich die Hoffnungen vieler Millionen Menschen, die ihn gewählt haben, früher oder später enttäuschen wird. Die gleiche Entwicklung wie in den USA können wir auch in Deutschland beobachten: Je mehr sich die Sozialdemokratische Partei von ihrer früheren Wählerbasis, der Arbeiterschaft, entfernt hat und selber Teil der herrschenden Machtelite geworden ist, umso mehr Zuspruch hat die „Alternative für Deutschland“, in deren Reihen sich genau jene zu kurz Gekommenen wiederfinden, die früher einer kämpferischeren SPD ihre Stimme gaben. Und nicht anders ist es in der Schweiz, wo viele Menschen aus der „Unterschicht“, deren politische Heimat früher die Sozialdemokratie war, heute in der Wählerschaft der SVP zu finden sind. Das Tragische ist, dass zwar alle Parteien in diesem Spiel um Macht und Einfluss immer wieder grosse Versprechungen abgeben, für die betroffenen Menschen, insbesondere für alle Benachteiligten und Zukurzgekommenen, aber mehr oder weniger alles beim Alten bleibt – solange nicht an den Grundfesten des kapitalistischen Machtsystems gerüttelt wird und der Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen, auf soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Ordnung in Angriff genommen wird.
Berufe und Arbeitswelt: Sollte nicht jedes Kind seine Zukunftsträume verwirklichen können?
Fragt man Kinder, was sie später einmal werden möchten, dann stehen Traumvorstellungen wie Pilot, Schauspielerin, Computerspezialistin, Sängerin, Schriftsteller, Tierärztin, Innenarchitektin oder Profifussballer an vorderster Stelle. Kinder, die Kehrichtmänner, Fabrikarbeiter oder Putzfrauen werden möchten, sucht man vergebens. So wäre es zwar eine wunderbare Vorstellung, dass jedes Kind das Recht haben müsste auf eine freie Entfaltung seiner Begabungen und Zukunftsträume. Doch wer, wenn dann alle eines Tages Schauspielerinnen und Tierärzte wären, würde dann noch das Gemüse ernten, das wir täglich auf unserem Teller haben? Wer würde dann noch die Strassen und die Häuser bauen, die wir befahren und in denen wir wohnen? Wer würde dann noch die Toiletten in den Zügen und in den Restaurants putzen, die wir täglich benützen? Wer würde dann noch in den Fabriken arbeiten, um all die Güter herzustellen, die wir täglich brauchen? Die kapitalistische Arbeitswelt geht mit den Zukunftsträumen der Kinder sehr willkürlich um. Sie gesteht einem Teil der Kinder die Möglichkeit zu, jene Berufe zu erlernen, die sie sich schon als Kinder gewünscht haben. Einer viel grösseren Zahl von Kindern aber verweigert sie genau so kategorisch eben dieses Recht und weist ihnen berufliche Tätigkeiten zu, die sie sich niemals gewünscht haben, die sie auch niemals freiwillig ergriffen hätten und die sie nicht mit Freude und Begeisterung verrichten, sondern bloss, weil man ja schliesslich von irgendetwas leben muss. Wäre es nicht viel gerechter, allen Kindern und späteren Erwachsenen das gleiche Recht zuzugestehen? Es wäre ganz einfach. Während der halben Arbeitszeit – täglich halbtags bzw. an zweieinhalb Tagen pro Woche – arbeitet jede und jeder in einem Beruf, der mit den kindlichen Zukunftsträumen und den individuellen Begabungen im Einklang steht, also ein frei gewählter Beruf, der mit Freude und Begeisterung verrichtet wird. Während der übrigen Zeit würde man dann einer beruflichen Tätigkeit nachkommen, die niemand freiwillig verrichten würde, die aber von jemandem erledigt werden muss, wenn Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes funktionieren sollen. So wäre die halbtags als Zahnärztin Tätige während des anderen halben Tages bei der städtischen Kehrichtabfuhr zu finden, der halbtags als Lehrer Tätige würde während des anderen halben Tages die Gestelle im Supermarkt auffüllen und den halbtags als Webdesigner Tätigen sähe man während des anderen halben Tages bei der Beschäftigung und dem Spazierengehen mit Alten und Pflegebedürftigen. Nicht nur, dass auf diese Weise persönliche Erfüllung in einer selbergewählten beruflichen Tätigkeit und der Dienst an der Gemeinschaft für alle Menschen gleichberechtigt im Einklang stünden. Auch würde die heutige Hierarchie in der Berufswelt, in der es so genannt „höhere“, angesehenere und besser bezahlte Tätigkeiten gibt und auf der anderen Seite „niedrigere“, weniger angesehene und schlechter bezahlte Tätigkeiten, mit einem solchen Arbeitsmodell wohl endgültig der Vergangenheit angehören, denn jeder, der eine „höhere“ berufliche Tätigkeit ausüben würde, wäre auch wieder irgendwo beim Verrichten einer „niedrigeren“ beruflichen Tätigkeit anzutreffen, gegenseitige Wertschätzung und Respekt vor der Arbeit, die der andere Mensch verrichtet, würden gleichermassen wachsen. Und das Leben wird insgesamt um vieles bunter und vielfältiger, wenn man nicht Tag für Tag bis zum Überdruss auf dem gleichen Bürostuhl Seite an Seite mit dem immer gleichen Arbeitskollegen sitzt oder Tag für Tag bis zum Überdruss Haare schneidet oder am Fliessband die immer gleichen Handgriffe verrichtet…
Dringend notwendige Überwindung des Kapitalismus: Was alle angeht, können nur alle lösen
„Wir müssen nicht runter mit den Löhnen, sondern die anderen Länder müssen rauf mit den Löhnen. In Europa erkennt man langsam, dass ein reiner Preiskampf alle nur ärmer macht.“ Das sagte nicht etwa ein Gewerkschafter oder eine Sozialdemokratin, sondern Hansuli Loosli, Verwaltungsratspräsident von Coop und Swisscom. Ein kapitalistischer Unternehmer stellt also eines der zentralen Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nämlich den freien Konkurrenzkampf auf dem offenen, möglichst uneingeschränkten Feld der freien Marktwirtschaft in Frage. Ist er somit ein verkappter Linker oder gar ein heimlicher Antikapitalist? Natürlich nicht. Und doch zeigt uns dieses Beispiel, dass das Unbehagen über die Exzesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems weit über jene paar linken „Utopisten“ und Weltveränderer hinausgeht, die man in der Regel als „Antikapitalisten“ zu bezeichnen pflegt. Bestätigt wird diese Beobachtung durch eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Umfrage, wonach 56 Prozent der Befragten die Meinung vertrat, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Es sind eben nicht nur die Fliessbandarbeiter in den Schlachthöfen, die Lastwagenfahrer, die zehn Stunden hintereinander ohne Pause am Steuer sitzen, und die Zimmermädchen in den Hotels, die im Zehnminutentakt ein Zimmer nach dem andern auf Hochglanz zu bringen haben, es sind nicht nur sie alle und viele, viele mehr, die unter dem kapitalistischen Wettbewerbsdruck und gegenseitigen Konkurrenzkampf leiden. Es sind auch die Firmenchefs, Unternehmer und Betriebsleiter, die laufend höhere Umsätze auszuweisen haben und sich im Wettbewerb mit ihren Konkurrenten jeden Millimeter erkämpfen müssen, um ihre Produkte gewinnbringend abzusetzen. Es ist auch jener Personalchef, an den ich mich gut erinnere und der über Wochen hinweg nicht mehr richtig schlafen konnte, weil er im Zuge von Sparmassnahmen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entlassen musste, mit denen er freundschaftlich verbunden war. Es gibt eben im Kapitalismus nicht die „bösen“ Ausbeuter und die „armen“ Ausgebeuteten. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass ausgebeutet. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass krank, das Rückenleiden der Amazonarbeiterin und das Burnout des IT-Managers sind bloss Symptome der alleinigen und gleichen Krankheit genannt Kapitalismus. Doch so lange die Menschen dies nicht erkennen und immer noch die Meinung vorherrscht, dieser Kapitalismus wäre gleichsam etwas Natürliches, Gottgegebenes, so lange kann sich nicht grundsätzlich etwas ändern. Die Unzufriedenheit des Arbeiters staut sich an zur Wut gegen seinen Vorgesetzten. Dieser wiederum sammelt seine Wut gegen den Firmenchef. Und jeder richtet seine Wut wiederum gegen alle seine Konkurrenten am Arbeitsplatz. Alle diese verpuffte Wut aber müsste sich nicht gegenseitig gegen Menschen richten, sondern gegen das System als Ganzes. Gleiches lässt sich zur Klimabewegung sagen: Es nützt nichts, die Wut gegen jene „bösen“ Unternehmen zu richten, die mit der Gewinnung von Kohle, Erdgas und Öl ihre Profite erwirtschaften. Denn auch diese wiederum sind nur einzelne Rädchen in diesem weltweiten kapitalistischen Ausbeutungssystem, unter dem nicht nur die Menschen, sondern eben auch die Natur unsäglich leidet. „Böse“ ist nicht dieser oder jener Mensch, dieses oder jenes Unternehmen. Böse ist, wenn schon, das System als Ganzes. Und deshalb kann sich nur dann dauerhaft etwas verändern, wenn wir damit aufhören, uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben, statt gemeinsam diese unerlässliche Aufgabe einer Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaues einer neuen, sowohl menschen- wie auch naturgerechten Wirtschaftsordnung in Angriff zu nehmen. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“
Die Überwindung des Kapitalismus – Illusion oder existenzielle Notwendigkeit?
„Allerdings“, schreibt der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger vom 29. Dezember 2020, „unterliege ich nicht der Illusion, die aktuelle Zeitenwende so radikal zu interpretieren wie jene Gesellschaftsutopisten, die nun gleich das ersehnte „Nullwachstum“, die „Klimarevolution“ oder gar die „Überwindung des Kapitalismus“ herbeibeschwören. Insofern hat Rudolf Strahm zwar Recht, als „Nullwachstum“, „Klimarevolution“ und „Überwindung des Kapitalismus“ sich nicht einfach von selber, als Folge der Coronakrise, einstellen werden. Es könnte auch ganz anders herauskommen, Chaos oder das Aufkommen populistischer Bewegungen sind ebenso denkbar wie eine baldige Rückkehr zur kapitalistischen „Normalität“. Nein, Nullwachstum, Klimarevolution und Überwindung des Kapitalismus kommen nicht von selber, man muss sie wollen, man muss für sie kämpfen, man muss für sie Mehrheiten finden. Und insofern haben die von Strahm erwähnten „Gesellschaftsutopisten“ eben doch Recht. Ihr Traum von einer anderen, besseren Welt ist aktueller und existenziell notwendiger denn je. Oder wünscht sich Rudolf Strahm allen Ernstes eine Zukunft, in der möglichst alles so weitergeht wie bisher? Sind das unbegrenzte Wirtschaftswachstum, die immer grössere Kluft zwischen Arm und Reich und der drohende Klimakollaps nicht die viel grösseren und gefährlicheren Illusionen als der Traum von einer friedlichen und gerechten Welt, in der Mensch und Natur im Einklang sind und alle Menschen, egal wo sie geboren wurden, ein gutes Leben haben?
Was ist ein gerechter Lohn: betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Sichtweise
Auf die Frage, ob das Gesundheitspersonal nicht doch mehr verdient hätte als nur Applaus, sagt Fredy Greuter, Mediensprecher des Arbeitgeberverbands: „Wenn es die betriebswirtschaftliche Situation zulässt, wäre es angebracht, dass die Mitarbeitenden einen Zustupf erhalten würden.“ Wie viele noch so berechtigte Forderungen nach Lohnerhöhungen sind schon mit dem Hinweis auf die so genannte „betriebswirtschaftliche“ Realität abgewürgt worden! Weshalb ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, zwischen finanzstärkeren und finanzschwächeren Branchen so etwas wie einen Finanzausgleich einzuführen, so wie dies beim interkantonalen Finanzausgleich zwischen finanzstärkeren und finanzschwächeren Kantonen schon seit Jahrzehnten gang und gäbe ist? Angesichts der eklatanten Lohnunterschiede von Branche zu Branche wäre es höchste Zeit, die betriebswirtschaftliche Logik durch eine volkswirtschaftliche Logik zu ersetzen. Dies würde in letzter Konsequenz zu einem landesweiten Einheitslohn führen, etwas, was zwar auf den ersten Blick völlig utopisch und unrealistisch erscheinen mag, tatsächlich aber das einzig wirklich gerechte Lohnmodell wäre, tragen doch alle von der Krankenpflegerin über den Buschauffeur bis zum Vermögensverwalter das jeweils Beste in ihren Kräften und Möglichkeiten Liegende zum Wohlergehen des Ganzen bei und müssten deshalb logischerweise auch alle gleichberechtigt am Erfolg des Ganzen teilhaben können. Mit der Einführung eines Einheitslohns hätte auch das ganze Gerangel um Aufstieg und Abstieg ein Ende und allen käme unabhängig von der beruflichen Tätigkeit, die sie ausüben, das genau gleiche Mass an gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung zuteil. Das Totschlagargument indessen, dass eine geforderte Lohnerhöhung in diesem oder jenem Berufszweig aus „betriebswirtschaftlichen“ Gründen beim besten Willen nicht drin liege, gehörte somit endlich der Vergangenheit an…
Impfaktionen in grossem Stil angelaufen – Beweis für kapitalistisches Erfolgsmodell?
„Kapitalismus hilft“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 27. Dezember 2020. Gemeint ist der Impfstoff gegen das Coronavirus, der nun in viel grösserer Menge und viel früher als erwartet zur Verfügung steht. Doch was wird sich ein indischer Reisbauer oder eine brasilianische Krankenpflegerin wohl denken, wenn sie das hören? Kapitalismus hilft, ja, das stimmt. Aber leider immer nur denen, die sowieso schon vorher auf der Sonnenseite standen. Während in den reichen Ländern des Nordens schon eifrig geimpft wird, mussten sich die Menschen in den armen Ländern des Südens zynischerweise bestenfalls damit abfinden, sich gegen ein dringend benötigtes kleines Entgelt als Testpersonen für den Impfstoff zur Verfügung zu stellen. Wenigstens sollen die ärmeren Länder nicht gänzlich leer ausgehen. Dafür sorgt eine Initiative der WHO, dank der für 2021 insgesamt rund zwei Milliarden Impfstoffdosen für arme Länder gesichert werden konnten, finanziert durch Länder, Firmen und Private. Wer nun erwartet hätte, die Schweiz als reichstes Land der Welt wäre bei den Geberländern ganz vorne mit dabei, sieht sich arg getäuscht: Der finanzielle Beitrag der Schweiz ist alles andere als grosszügig. Ja, es kommt eben immer drauf an, von welcher Seite her man den Kapitalismus anschaut, ob man ihn gut findet oder schlecht, ob er ein Segen ist oder ein Fluch, ob er hilft oder nicht…
Eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger? Die Realität sieht anders aus…
Abend für Abend stehen Hunderte von Menschen in Zürich, Basel, Lausanne, Genf, Biel, Bern und anderen Städten Schlange, um einen Teller Suppe, etwas Gemüse und ein paar Stücke Brot zu ergattern. Es sind Menschen, die durch die Coronakrise an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gespült worden sind: Working Poor, alleinerziehende Mütter, Sans-Papiers, Putzfrauen, Prostituierte, Obdachlose, Junkies, Arbeitslose, Serviceangestellte, Hilfsarbeiterinnen. Über die allererste dieser Hilfsaktionen, Frühling 2020 in Genf, wurde in den Medien noch ausführlich berichtet. Seither hört und sieht man kaum mehr etwas davon, obwohl die Schlangen der Hilfesuchenden in der Zwischenzeit immer zahlreicher und immer länger geworden sind. Offensichtlich hat man sich an das Elend schon so sehr gewöhnt, dass ihm keine besondere öffentliche Erwähnung mehr zuteil wird. Doch man stelle sich einmal vor, nicht Prostituierte, alleinerziehende Mütter und Putzfrauen würden nachts in der Kälte um einen Teller Suppe Schlange stehen, sondern Universitätsdozenten, Chefärztinnen, Bankdirektoren und Rechtsanwältinnen. Was für ein Aufschrei da wohl durchs ganze Land gehen würde! Offensichtlich scheinen in unserem Lande nicht alle Menschen gleich „wichtig“ zu sein. Dass das öffentliche Ansehen und Gewicht einer Person sehr stark von ihrer sozialen Stellung abhängt, zeigte sich auf erschreckende Weise auch in einem Artikel der NZZ am 30. Oktober 2020. In diesem Artikel wurde nämlich die Frage aufgeworfen, ob man, wenn die Intensivplätze in den Spitälern nicht mehr für alle Coronakranken ausreichen würden, nicht „verdienten Mitgliedern der Gesellschaft“ den Vorrang geben müsste. Das wären dann wahrscheinlich Stadtpräsidentinnen, Stararchitekten und Opernhausdirektoren, während eine Putzfrau, ein Gärtner oder eine Verkäuferin auf der Strecke bleiben würden. Welche Menschenverachtung! Während die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung in der breiten Öffentlichkeit immer wieder intensiv diskutiert wird und sich auf dem besten Weg befindet, nach und nach überwunden zu werden, sitzt offensichtlich eine andere Form von Diskriminierung noch immer tief in unseren Köpfen fest und ist weit davon entfernt, öffentlich thematisiert geschweige denn aktiv bekämpft zu werden: die Diskriminierung aufgrund der beruflichen Tätigkeit, der schulischen Bildung und der sozialen Stellung. Noch immer schaut man zu einem Arzt „hinauf“, während man auf eine Verkäuferin „hinunterschaut“. Noch immer spricht man von „gebildeten“ und „ungebildeten“ Menschen und meint damit beinahe ausschliesslich die Anzahl besuchter Schuljahre, nicht aber das Ausmass an Lebenserfahrung und praktischer Intelligenz. Noch immer werden ausgerechnet jene Menschen, welche die anstrengendsten, eintönigsten und gefährlichsten beruflichen Tätigkeiten ausüben, mit der geringsten gesellschaftlichen Wertschätzung und den geringsten Löhnen abgespeist, und dies, obwohl die ganze Gesellschaft, würde niemand diese Arbeiten verrichten, augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Noch immer wird Menschen, die es auf keinen grünen Zweig bringen, den Job verlieren oder von der Sozialhilfe abhängig sind, vorgeworfen, sie seien an ihrer Lage selber Schuld und hätten sich eben bloss mehr anstrengen müssen. Wie heisst es so schön in der Schweizerischen Bundesverfassung: „Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache und der sozialen Stellung.“ Sind Verfassungen nicht dazu da, im Laufe der Zeit auch tatsächlich umgesetzt zu werden? Wie lange müssen die Schlangen vor den Suppenküchen noch werden, bis sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt haben wird, dass es in einer solidarischen Gesellschaft nicht „wichtige“ und „unwichtige“ Menschen gibt, sondern alle genau gleich wichtig und wertvoll sind?
Wie sich die Territorien der Reichen auf Kosten der Territorien der Armen immer weiter ausdehnen
Weil die Autos immer breiter werden – seit 1995 um über sieben Zentimeter – müssen, wie die heutige „NZZ am Sonntag“ vom 20. Dezember 2020 berichtet, die Parkplätze in der Schweiz nach und nach verlängert und verbreitert werden. Da die zur Verfügung stehenden Bodenflächen heute schon knapp sind, wird dies mit grösster Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass zum Beispiel Radwege, Fussgängerbereiche und Kinderspielplätze verkleinert werden müssen.
Dies ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie sich die Territorien der Reichen auf Kosten der Territorien der Armen immer weiter ausdehnen. Gleiches gilt für das Geld, Symbol für Besitztum und Macht: Während die 64 Prozent der ärmeren Steuerpflichtigen der Schweiz 65 Milliarden Franken besitzen, verfügt das reichste Prozent über 790 Milliarden Franken. Gleiches gilt für den Wohnraum: Während 73 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer davon träumen, eigenes Wohneigentum zu erwerben, sind es nur gerade zehn Prozent, die sich das tatsächlich auch leisten können.
Und all dies ist im globalen Massstab noch viel krasser: Die zehn Reichsten der Welt besitzen über 1000 Milliarden Dollar – 40 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Jede Hektare tropischen Regenwalds, der zwecks Fleischproduktion für die Reichen in Brasilien abgeholzt wird, fehlt den dort lebenden Ureinwohnern als Lebensraum. Alle Flächen, die für den Anbau von Bananen, Kaffee oder Kakao genutzt werden, gehen für die Nahrungsmittelproduktion der ansässigen Bevölkerung verloren. Jedes Gramm Kobalt, Lithium oder seltener Erde, das aus dem Boden geschürft wird, steht zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung. Jede Luxusvilla in Mumbai oder Rio de Janeiro zwingt die Armen dazu, sich in den Slums auf noch engerem Raum zusammenzupferchen.
Meist werden solche Meldungen und Zahlen wahrgenommen als Zufälligkeiten, die nichts miteinander zu tun haben. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen, von den immer breiteren Autos über den knappen Wohnraum bis zur Zerstörung des brasilianischen Tropenwalds. In einer Welt, in der sich die Territorien der Reichen immer weiter ausdehnen auf Kosten der Territorien der Armen und in der nicht die soziale Gerechtigkeit, sondern die gegenseitige Ausbeutung, Gewinnmaximierung und das Dogma endlosen Wachstums an oberster Stelle stehen. Punktuelle Änderungen und Reformen genügen daher nicht. Es braucht vielmehr eine grundlegende Erneuerung unseres gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, damit das „gute Leben“ nicht nur für privilegierte Minderheiten, sondern für alle Menschen weltweit heute und in Zukunft Wirklichkeit werden kann.
Erste indigene Frau in einer US-Regierung: Doch es gibt noch andere Formen von Diskriminierung…
Mit der 60jährigen Deb Haaland aus New Mexiko nominiert Joe Biden zum ersten Mal in der Geschichte der USA eine Frau mit indigenen Wurzeln als Regierungsmitglied. Ein Meilenstein. Auch bei der Auswahl der übrigen Regierungsmitglieder hat Joe Biden bezüglich Alter, Geschlecht, Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit auf eine möglichst ausgewogene Zusammensetzung geachtet. Bei alledem geht aber nur zu leicht vergessen, dass es noch eine ganz andere Form von Diskriminierung gibt, an die man sich aber offensichtlich schon so sehr gewöhnt hat, dass sich niemand mehr darüber aufzuregen scheint. Es ist die Diskriminierung zwischen so genannt „Gebildeten“ und so genannt „Ungebildeten“. Wie Michael J. Sandel in seinem Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“ nachweist, hatten im Jahre 2000 95 Prozent der Abgeordneten im US-Kongress einen akademischen Grad, im Senat sogar 100 Prozent. Und dies, obwohl zwei Drittel der erwachsenen Amerikanerinnen und Amerikaner keinen Universitätsabschluss besitzen. Das war nicht immer so: 1960 hatten etwa ein Viertel der Senatorinnen und Senatoren und ebenfalls ein Viertel der Kongressabgeordneten keinen akademischen Abschluss. Die Kluft zwischen „Gebildeten“ und „Ungebildeten“ hat sich also seither immer mehr vertieft. Oben die, die es geschafft haben und dafür mit höherem Ansehen, mehr Macht und grösserem Einkommen belohnt werden. Unten die, die es nicht geschafft haben, sich mit einem Knochenjob abfinden müssen und erst noch mit geringerem Ansehen, kleinerem Einkommen und schlechteren Lebensverhältnissen auskommen müssen. Geradezu zynisch wird es, wenn sich dann, wie das oft der Fall ist, die „Gebildeten“ sogar noch als etwas Besseres fühlen, auf die „Ungebildeten“ hinabschauen oder sie sogar verachten, obwohl sie ihre „Sonnenplätze“ an der Spitze der gesellschaftlichen Machtpyramide genau denen verdanken, die unten, an der Basis, all jene unentbehrlichen Arbeiten verrichten, ohne welche die ganze Gesellschaft augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Die Diskriminierung, die der „Ungebildete“ erfährt, ist nicht kleiner als jene, welche ein Schwarzer oder eine Latina erfährt, wenn ihr die Fähigkeit zu einer höheren gesellschaftlichen Aufgabe zum vornherein abgesprochen wird. Sagte man früher einem Schwarzen, er wäre zu dumm für ein höheres politisches Amt, so sagt man dies heute, freilich ohne es offen auszusprechen, einem „Ungebildeten“ genau so unmissverständlich mitten ins Gesicht. Dabei sagt die so genannte „Bildung“ genau so wenig wie die Hautfarbe etwas Wesentliches über die Fähigkeiten eines Menschen aus. Sandel zeigt in seinem bereits erwähnten Buch auf, dass es in früheren amerikanischen Regierungen immer wieder Nichtakademiker gab und sich diese nicht selten durch besonders hervorragende Leistungen auszeichneten. Die Spaltung eines Volkes in „Gebildete“ und „Ungebildete“ ist ein ebenso grosses Unrecht wie die Diskriminierung von Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe. Und sie ist vor allem einer echten Demokratie in höchstem Grade unwürdig. Übrigens, auch Deb Haaland verfügt über einen Universitätsabschluss, wie könnte es auch anders sein…