Archiv des Autors: Peter Sutter

Krasse Misstände bei der Migros-Tochter Saviva – und doch alles andere als ein Einzelfall

 

Wie die TV-Sendung „Kassensturz“ des Schweizer Fernsehens vom 1. Dezember 2020 berichtet, herrschen bei der Migros-Tochter Saviva krasse Missstände. Saviva ist ein Transportunternehmen und beliefert im Auftrag der Migros Restaurants, Spitäler und Altersheime mit Lebensmitteln. Die  Chauffeure der Saviva klagen über haarsträubende Arbeitsbedingungen: Sie sind bis zu 13 Stunden unterwegs, meist in der Nacht und fast immer ohne Pause. Um dennoch die gesetzlichen Vorschriften einzuhalten, deklarieren sie die Zeit, die sie fürs Aus- und Aufladen benötigen, als Pausenzeit. Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wurden anfangs 2020 die Nachtzuschläge gestrichen und die Spesen gekürzt, so dass sich der monatliche Lohn um nicht weniger als 1000 Franken reduzierte. Ein Vertreter der Gewerkschaft Unia bezeichnet das Ganze im Gespräch mit dem „Kassensturz“ als „Missmanagement“. Dann bricht die Reportage ab. Aber eigentlich müsste sie doch jetzt erst so richtig anfangen. Denn die Firma Saviva ist ja nicht irgendein exotischer Einzelfall. Saviva steht stellvertretend für unzählige andere, kleinere und grössere Firmen, von der Reinigungsbranche über die Hotellerie bis zum Bau- und Gesundheitswesen, wo die arbeitenden Menschen unter einem stetig wachsenden Druck stehen, unter sich laufend verschlechternden Bedingungen immer grössere Leistungen zu erbringen. Und weshalb? Nicht weil alle diese Firmen schlecht geführt werden und auch nicht, weil die Firmenbesitzer, die Manager und die Chefs so schlechte Menschen wären. Sondern, ganz einfach: Weil wir im Kapitalismus leben, einem Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb und gegenseitigem Konkurrenzdruck beruht und, wie in einem Wettrennen, die arbeitenden Menschen dazu zwingt, immer noch schneller und besser zu arbeiten als die anderen – um im gegenseitigen Wettkampf nicht unterzugehen. Wenn, um auf den Bericht des „Kassensturz“ zurückzukommen, die Firma Saviva nicht das Letzte aus ihren Angestellten herauspresst, dann wird ihre Kundschaft keinen Moment zögern, ihre Aufträge dem nächstbesten Konkurrenten von Saviva, der noch billiger und noch schneller liefert, zuzuschanzen. Das Ganze gleicht einer riesigen Maschine, die sich immer schneller dreht und in der jeder nur darauf wartet, dass dem anderen der Schnauf ausgeht, bevor er ihm selber ausgeht. Eine Maschine, in der jeder Einzelne nur ein winziges Rädchen ist, das, wenn es aussteigen oder sich etwas langsamer bewegen möchte oder ganz einfach die ganze Belastung nicht mehr aushält, sogleich durch ein anderes Rädchen ersetzt wird, nur damit die ganze Maschine auch keinen einzigen Augenblick stillsteht. Die Lösung kann nicht darin bestehen, einzelne Rädchen auszuwechseln. Sie kann nur darin bestehen, eine von Grund auf neue Maschine zu bauen, die nicht mehr auf gegenseitiger Ausbeutung, endlosem Wachstum und nicht enden wollender Profitmaximierung beruht, sondern auf Gerechtigkeit, Lebensqualität und Fairness gegenüber jeglicher beruflicher Tätigkeit, kurz: einem „guten Leben“ für alle. Ob in einer der nächsten „Kassensturz“-Sendungen davon etwas zu hören sein wird? Schön wäre es…

Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative: ein Zeichen der Hoffnung

 

50,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben der Konzernverantwortungsinitiative, mit der Schweizer Konzerne für Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz hätten haftbar gemacht werden sollen, zugestimmt. Auch wenn die Vorlage schliesslich am Ständemehr gescheitert ist, können die Initianten und Initiantinnen doch für sich in Anspruch nehmen, eine Mehrheit der Bevölkerung von ihrem Anliegen überzeugt zu haben. Und das wird wohl seine Spuren hinterlassen und sich auch auf zukünftige Vorstösse mit ähnlicher Thematik positiv auswirken. Doch das Ganze hat einen grossen Haken. Denn an dieser Abstimmung teilnehmen durfte ausschliesslich die Schweizer Bevölkerung. Die Bevölkerung jenes Landes also, das eigentlich nur die „Schokoladenseite“ jener Handels-, Wirtschafts- und Finanzbeziehungen kennt, an deren anderem Ende sich Minenarbeiter Hunderte von Metern unter dem Boden zu Tode schuften, Kinder an vergiftetem Wasser sterben und Familien gezwungen sind, in Wolken von Staub und schädlichen Abgasen aufs engstem Raum zusammenzuleben. Doch dieses „andere Ende“ ist noch viel grösser, weltumspannender. Es sind auch endlose Kakao- und Kaffeeplantagen in Afrika und Lateinamerika, wo Arbeiterinnen und Arbeiter während zwölf oder mehr Stunden pro Tag in sengender Hitze all jene Produkte dem Boden abringen, die wir, am anderen, am goldenen Ende der Kette, pünktlich wiederum in unseren Supermärkten und auf unseren Tischen vorfinden. Es sind auch jene Textilfabriken in Indien und Bangladesh, wo Abertausende von Frauen zu Hungerlöhnen und oft unter Schlägen ihrer Aufseher jene Kleider anfertigen, die wir dann zu Billigstpreisen in unseren Modegeschäften kaufen können. Und es sind auch all die Verwüstungen durch den Klimawandel, der zur Hauptsache von den reichen Ländern verursacht wird, von dessen Folgen aber hauptsächlich die armen Länder betroffen sind. Wenn die Schweiz über die Konzernverantwortungsinitiative abstimmt, dann ist das, wie wenn der König darüber abstimmen würde, ob er seine Sklaven und Sklavinnen begnadigen möchte oder nicht – zweifellos würde er ein dickes Nein in die Urne legen, weil damit nämlich seine ganze Macht und sein ganzes Wohlergehen in sich zusammenbrechen würden. So gesehen ist es eigentlich sensationell, dass die Schweizer Bevölkerung mehrheitlich der Konzernverantwortungsinitiative zugestimmt hat. Aber das ist längst noch nicht genug. Eigentlich hätten all die Männer, Frauen und Kinder, die weltweit in Schweizer Konzernen arbeiten, ebenfalls über diese Initiative abstimmen sollen, denn sie sind ja – im Gegensatz zur Schweizer Bevölkerung – die eigentlich Hauptbetroffenen des Ganzen. Und eigentlich müssten nicht nur diese Frauen, Männer und Kinder, sondern weltweit alle Menschen darüber abstimmen können, ob Ausbeutung, endloses Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung weiterhin die Grundpfeiler der Weltwirtschaft bleiben sollen oder ob nicht an deren Stelle ein von Grund auf anderes, neues Wirtschaftssystem aufgebaut werden müsste, das auf Gerechtigkeit, Frieden und dem Respekt nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber der Natur beruhen würde. Eigentlich ist es ein grandioser Anachronismus, dass sich die kapitalistischen Wirtschaftsmächte längst über alle Grenzen hinweg global ausgebreitet und vernetzt haben, während die Demokratie – als angebliche Schwester des Kapitalismus – immer noch nur innerhalb der jeweiligen Landesgrenze stattfindet. Denn auf diese Weise können ausgerechnet jene Länder, die am meisten vom weltwirtschaftlichen Ausbeutungssystem profitieren und zugleich am meisten Macht haben, gleichzeitig auf „demokratische“ Weise am erfolgreichsten verhindern, dass sich am weltweiten Machtsystem grundsätzlich etwas ändert. Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative ist immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass es dem „König“ offensichtlich in seiner Haut nicht mehr ganz so wohl ist und vielleicht sogar er insgeheim von jener Welt träumt, die das „gute Leben“ nicht mehr nur für eine kleine Minderheit, sondern für alle Menschen möglich machen würde. Hoffen wir es.

Es gibt keine echte Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit

 

Bürgerliche Politiker und Politikerinnen singen gerne das Hohelied der „individuellen Freiheit“ als grösster Errungenschaft westlicher Demokratien – im Gegensatz zu Diktaturen oder „sozialistischen“ Staatsformen. Doch Freiheit im Kapitalismus ist ein trügerischer Begriff… 

Kann der Absolvent eines Gymnasiums aus hundert verschiedenen zukünftigen Ausbildungswegen frei wählen, bleibt dem Jugendlichen aus der „Unterschicht“, der die Schule frühzeitig abbrechen musste, gerade noch die Wahl zwischen einem Handlangerjob auf dem Bau und einem Job bei der Kehrichtabfuhr. Kann die Akademikerfamilie für ihre nächste Ferienreise frei zwischen Bali, Mauritius und den Malediven wählen, so muss die alleinerziehende Verkäuferin schon froh sein, wenn sie sich überhaupt ein Zugbillett nach Zürich oder Bern leisten kann, um dort ihre kranke Mutter zu besuchen. Bietet sich dem Ärzteehepaar als zukünftige Wohnstätte eine Vielzahl an Luxuswohnungen und Villen jeglicher Preiseklasse in der Agglomeration an, so muss die vierköpfige Familie eines Kochs schon dankbar sein, wenn sie sich mitten in der Stadt an einer vielbefahrenen Strasse in eine winzige Dreizimmerwohnung hineinzwängen darf. Kann sich der Geschäftsführer einer Computerfirma am Sonntagmorgen überlegen, ob er den Tag lieber auf seinem Segelboot auf dem Bodensee oder doch lieber auf dem Golfplatz verbringen möchte, wartet das fünfjährige Kind der Arbeiterfamilie immer noch sehnsüchtig auf das schon lange versprochene Dreirad. Können der Gymnasiallehrer und seine Frau, die Rechtsanwältin, mit ihren Kindern im Restaurant aus über 30 verschiedenen Menus das Gewünschte auswählen, samt Vorspeise und Dessert, muss die Putzfrau, die unlängst ihre Stelle verloren hat, ihren Kindern mit aller Mühe beibringen, dass es auch heute wieder nur noch knapp für gerade mal ein Stück Brot oder einen Teller Spaghetti gereicht hat…

Die Freiheit der einen ist eben im Kapitalismus nicht die Freiheit der anderen. Was wir „Freiheit“ nennen, sind in Tat und Wahrheit bloss Privilegien, welche die einen nur deshalb geniessen können, weil die anderen davon ausgeschlossen sind. Echte Freiheit als demokratische Errungenschaft wäre etwas von Grund auf anderes. Echte Freiheit wäre stets nicht nur meine eigene, sondern zugleich immer auch die Freiheit aller anderen. Echte Freiheit ist nur möglich auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit. Erst wenn alles, von den Gütern des täglichen Bedarfs bis zur Entlohnung für geleistete Arbeit, unter alle gerecht verteilt ist, erst dann können wir tatsächlich von Freiheit sprechen. Die Behauptung der bürgerlichen Politiker und Politikerinnen, Freiheit sei das Produkt der marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Gesellschaft, geht zurück an den Absender. Wenn wir Freiheit verwirklichen wollen, dann müssen wir zuerst soziale Gerechtigkeit verwirklichen.

Und wieder sind die Reichsten noch reicher geworden – und das mitten in der Corona-Zeit

 

Und wieder sind die reichsten Schweizer und Schweizerinnen noch reicher geworden, als sie es schon waren, und das mitten in der Corona-Zeit: Gemäss neuester Ausgabe der Zeitschrift „Bilanz“ hat das Vermögen der 300 Reichsten innerhalb eines Jahres von 702 um 5 auf sage und schreibe 707 Milliarden Franken zugenommen. Woher ist dieses viele Geld gekommen? Das ist ganz einfach: Mit jeder Tafel Schokolade, die wir kaufen, mit jedem Kilometer, den unser Auto fährt, mit jeder Versicherungsprämie und mit jedem Mietzins, den wir zahlen, wandert immer ein kleiner Teil davon in die Taschen der Firmenbesitzer, der Immobilienhändler, der Aktionäre und Aktionärinnen von Grosskonzernen. Diese 707 Milliarden Franken sind nicht eines Tages vom Himmel gefallen, sie stammen auch nicht aus dem Bauch eines versunkenen Schiffs. Nein, sie mussten, Franken für Franken, hart erarbeitet werden, aber nicht von denen, die sie besitzen, sondern von denen, die Nacht für Nacht am Bett eines Kranken oder Sterbenden stehen, von denen, die auch bei grösster Kälte, stärkstem Regen und Sturm unsere Häuser bauen, von denen, die unermüdlich von Tisch zu Tisch Speisen servieren, bis ihre Füsse und ihre Rücken so sehr schmerzen, dass sie nicht mehr schlafen können. Und die alle, von den Köchen und Floristinnen bis zu den Kanalarbeitern und Verkäuferinnen viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre – so dass stets unaufhörlich der Reichtum von den Arbeitenden zu den Besitzenden fliesst und sich die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter und weiter vertieft. Heute wird darüber gestritten, welche Wirtschaftszweige, welche Betriebe und welche selbstständig Arbeitende wie viel Geld bekommen sollen, um die Zeit der Coronaepidemie zu überleben. Dabei würde schätzungsweise wohl nur schon ein Zehntel des Vermögens, welches sich in der Hand der 300 Reichsten befindet, genügen, um all jenen, die infolge der Coronapandemie existenziell bedroht sind, über die Runden zu helfen und ihnen all ihre Ängste und Sorgen im Hinblick auf die Zukunft abzunehmen…

Der „Wettlauf“ um die Impfstoffe und seine Gewinner und Verlierer

 

Die Welt atmet auf – schon bald soll mit Impfungen gegen das Coronavirus begonnen werden. Doch wer ist das, die Welt? Einmal mehr und schärfer denn je tut sich ein unermesslicher Graben zwischen reichen und armen Ländern auf:  Während die reichen Länder bereits 2,6 Milliarden Impfdosen für eine Bevölkerung von einer Milliarde Menschen bestellt haben, was einem Deckungsgrad von 260 Prozent entspricht, soll das gegenwärtige Bestellziel der ärmeren Staaten gerade mal 20 Prozent der Bevölkerung abdecken, was 0,8 Milliarden Impfdosen für 4 Milliarden Menschen entspricht. Doch nicht nur was die Impfstoffe betrifft, sind die ärmeren Länder einmal mehr auf der Verliererseite. Auch die Gesundheitssysteme dieser Länder lassen sich in keinster Weise mit jenen der reichen Länder vergleichen, das heisst, dass die ärmeren Länder sogar noch viel mehr als die reicheren auf eine Impfung angewiesen wären. Und wenn nicht schon dies alles mehr als genug wäre, kommt noch eine weitaus grössere Ungerechtigkeit dazu: Ausgerechnet in jenen Ländern, für die am wenigsten Impfstoff vorhanden ist und deren Gesundheitssysteme in Anbetracht der Coronapandemie hoffnungslos überfordert sind, ausgerechnet in diesen Ländern werden Tür und Tor geöffnet, um Impfstoffe breitflächig zu testen. So zum Beispiel in Brasilien, wo unter anderen das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca, der US-Konzern Pfizer und das chinesische Unternehmen SinovacBiotech an Tausenden von Menschen Testreihen durchführen. Oder in Indien, wo vor allem der russische Impfstoff Sputnik V erprobt wird. Nicht einmal wenn es um die Gesundheit und das Überleben geht, gibt es so etwas wie länderübergreifende Solidarität. Nein, das Wettrennen zwischen den Nationen um grösstmögliche wirtschaftliche Profite, das schon vor Corona die Welt beherrschte, geht nun, in den Zeiten einer nie dagewesenen Pandemie, erst recht weiter. Und dieser Wettlauf kennt kein Erbarmen. Einmal mehr, buchstäblich tödlicher denn je, gehen die einen als Sieger hervor und die anderen als Verlierer. Ist dies alles nicht mindestens so schlimm wie jener Rassismus, gegen den in den vergangenen Monaten Abertausende Anhänger und Anhängerinnen der „Black Lives Matter“-Bewegung auf die Strassen gegangen sind? Weshalb empören wir uns so sehr über die einen Ungerechtigkeiten, während wir die anderen stillschweigend und gleichgültig hinnehmen?

Die deutschen Grünen auf dem Weg zur Macht – doch welches ist der Preis?

 

Die deutschen Grünen wittern Morgenluft. Sie wollen ihre bisherige Rolle als Opposition aufgeben und ab 2021 Regierungsverantwortung übernehmen. Zu diesem Zweck, so der „Tages-Anzeiger“ vom 23. November 2020, haben sie sich ein neues Grundsatzprogramm verpasst, mit dem sie „aus der früheren Ökonische in die Mitte der Gesellschaft“ gelangen möchten. Hätten die grünen „Fundis der Vergangenheit“ noch Radikalopposition betrieben, so spielten die Grünen heute eine ganz andere „Melodie“: „Das neue Programm lobt die Märkte für ihre Innovationskraft über den grünen Klee.“ Gleichzeitig wird nicht einmal mehr am Pariser Klimaabkommens festgehalten und die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad nicht mehr als Ziel, sondern nur noch als „Pfad“ formuliert, was jegliche umweltpolitische Beliebigkeit und Dehnbarkeit ermöglicht. Denn die Forderungen der Klimajugend seien ausserhalb ihres Kreises „nicht mehrheitsfähig und aus Sicht der Partei nur dazu angetan, Wähler in Massen zu vertreiben.“ Doch Halt. War es nicht gerade die Klimabewegung, welche mit dem Aufmarsch Hunderttausender Jugendlicher über Monate hinweg die Bevölkerung erst so richtig wachgerüttelt und zweifellos zum Vormarsch der Grünen wesentlich beigetragen hat? Und jetzt distanzieren sich die Grünen ausgerechnet von all jenen, die ihren Aufstieg ermöglichten? Wie könnte man das nennen? Ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man „mehrheitsfähig“ werden und sich an der Macht beteiligen will? Ist es Vernunft? Sind es die Gesetze der „Realpolitik“? Oder ist es nicht ganz einfach und brutal gesagt: Verrat? Verrat an den eigenen ursprünglichen Idealen, Verrat an all denen, die bei jedem Wetter und allen Anfeindungen zum Trotz auf den Strassen gekämpft haben, Verrat an all jenen Wählern und Wählerinnen, die ihre Stimmen immer wieder grünen Politikern und Politikerinnen gegeben haben in der Hoffnung, diese würden auch weiterhin und allen Anfeindungen zum Trotz die ursprünglichen Ziele der Klimabewegung nicht aus den Augen verlieren. „In der Mitte der Gesellschaft angekommen“: Wie gut das tönt, fast so gut wie die neue „Melodie“, die auf die Kräfte der Marktwirtschaft gesungen wird. Doch könnte man es nicht anders sehen? Die „Mitte der Gesellschaft“ ist nämlich nichts anderes als die „Mitte des kapitalistischen Monsters“. Schön, da sind jetzt die Grünen endlich angekommen, wie die Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verwickelt hat und nicht mehr herausfindet. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet veröffentlichte im Januar 2020 die internationale Kommunikationsagentur Edelmann das Ergebnis einer weltweiten Befragung. Daraus geht hervor, dass 56 Prozent der Deutschen davon überzeugt sind, dass „der Kapitalismus mehr schadet als nützt“. Würden sich die Grünen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen – als antikapitalistische politische Kraft präsentieren, so hätten sie also bereits ganz alleine die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite und wären dann tatsächlich „in der Mitte der Gesellschaft“ angelangt. Weshalb diese Ängstlichkeit, dieser Kleinmut, diese Aufgabe der ursprünglichen Ideale, dieses Anpassertum?  Ja, wir brauchen eine neue Melodie. Aber nicht die Melodie des Kapitalismus, diese hat genug Schaden angerichtet. Es braucht eine neue Melodie, eine Melodie des Friedens und der Gerechtigkeit jenseits von Machtspielen, von selbstzerstörerischem Wachstumswahn und der Ausbeutung von Mensch und Natur. Genau die Melodie, die von den Klimajugendlichen auf den Strassen gesungen wurde und hoffentlich schon bald wieder zu hören sein wird. Denn wie sagte schon wieder der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer: „Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm erschaut er einen Schatz, den er um nichts in der Welt austauschen soll.“  

Die Klimabewegung: Es braucht nicht nur technische, sondern auch philosophische Debatten

Reduktion der Treibhausgasemissionen und der Erderwärmung. CO2-Steuern. Förderung erneuerbarer Energieproduktion. Ausstieg aus dem Kohleabbau. Emissionsarme Verkehrssysteme. Elektromobile statt mit Benzin angetriebene Autos. Wirksamere Gebäudeisolationen. Dies einige der zentralen Forderungen der Klimabewegung.

Und ja: Wenn sich dies alles im Rahmen der demokratischen Meinungsbildung und Gesetzgebung mithilfe der nötigen politischen Mehrheiten nicht realisieren lasse, dann müsste man, so die offizielle Position der Klimabewegung, über einen Systemwechsel nachdenken, einen „System Change“. Was aber, wenn es dann bereits zu spät wäre? Müsste man über den „System Change“ nicht besser jetzt schon nachdenken, die Reihenfolge sozusagen umkehren: Zuerst der „System Change“, dann, darauf aufbauend, die sich daraus ergebenden umweltpolitischen, sozialen und technologischen Konsequenzen? Oder noch besser: Beides zugleich, sich gegenseitig ergänzend, das eine auf dem anderen aufbauend.

Ja, es braucht, neben der technischen, unbedingt auch eine „philosophische“ Debatte, und zwar von Anfang an: Wie soll die Welt aussehen, in der wir in zehn, zwanzig Jahren leben werden? Kann es uns gelingen, eine Wirtschaft, die auf immerwährendes Wachstum ausgerichtet ist, so zu transformieren, dass sie sich nur noch in sich selber regulierenden Kreisläufen bewegt? Braucht es in Zukunft noch Waffen und Armeen oder könnten die Länder nicht lernen, ihre Konflikte auf friedliche Art zu lösen? Soll Geld weiterhin dazu dienen, über andere Menschen Macht auszuüben, oder sollte es nicht vielmehr wieder ganz und gar auf seine ursprüngliche Funktion als Tauschmittel zurückgeführt werden? Wie könnte es gelingen, die Reichtümer und Güter der Erde gerecht unter allen Menschen zu verteilen und gleichzeitig die Gesetze der Erde, der Natur und der Zukunft zu beachten? Wie wäre Arbeit zukünftig zu organisieren, dass sie die Menschen nicht mehr krankmacht? Was ist ein gutes Leben und was müsste unternommen werden, um es allen Menschen dieser Erde möglich zu machen, ganz unabhängig davon, wo sie geboren wurden?

Alles hängt mit allem zusammen, und die Klimaerwärmung ist nur die Spitze von alledem, wenn auch wohl die bedrohlichste. Das ist die grosse Hoffnung, die tiefste Sehnsucht aller Menschen, die nicht endenwollende Suche nach dem Paradies: Dass eine andere Welt möglich ist. Und dass wir uns gerade an jenem historischen Punkt befinden, den Anfang dieser neuen Zeit zu erleben…

Armenien und Aserbaidschan: In solchen Momenten beginne ich zu träumen…

Dank seiner gesteigerten militärischen Schlagkraft und mithilfe der Türkei hat es Aserbaidschan im jahrzehntelangen Zwist mit Armenien unlängst in wochenlangen schweren Kämpfen mit Hunderten von Toten geschafft, weite Teile der Region Karabach zurückzuerobern und Armenien eine vernichtende Niederlage beizubringen. Zwischen 75’000 und 100’000 Menschen, davon 90 Prozent Frauen und Kinder, mussten aus den umkämpften Gebieten Bergkarabachs fliehen und eine unbekannte Anzahl aserbaidschanischer Zivilisten mussten ebenfalls ihre frontnahen Dörfer verlassen. Verbrannte Dörfer, von Streubomben zerfetzte Männer, Frauen und Kinder, Hunger und Verzweiflung, und das alles mitten im nahenden Winter. Zwei Länder, Seite an Seite, sie könnten gute Nachbarn sein, aber nein, sie fügen sich gegenseitig jegliches Leid zu, das man sich nur vorstellen kann.

In solchen Momenten beginne ich zu träumen. Ich träume von einer Welt, in der die Länder nicht von machtgierigen, ruhmsüchtigen und waffenstrotzenden Männern regiert werden, sondern von Frauen und Kindern. Ich träume von einer Welt, in der man Waffen und anderes militärisches Gerät nur noch in den Museen sehen kann. Ich träume von einer Welt, in der Nationalismus für immer der Vergangenheit angehört und das Grundprinzip der Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten, wenn es diese denn überhaupt noch gibt, nicht auf gegenseitigem Raubbau und Kampf um Ressourcen beruht, sondern auf geschwisterlichem Tauschen und Teilen. Ich träume von einer Welt, in der es Siege und Niederlagen höchstens noch in Märchen vergangener Zeiten gibt, aber nicht mehr in der Realität. Ich träume von einer Welt, in der das gute Leben nicht einer kleinen Minderheit Privilegierter vorbehalten ist, sondern ausnahmslos jedem einzelnen Menschen, ganz unabhängig davon, wo er geboren wurde. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis mein Traum Wirklichkeit sein wird?

Eine „Arena“ zur Coronakrise: „Wenn ich das höre, blutet mir das Herz.“

 

Schweizer Fernsehen, „Arena“ vom 13. November 2020 zum Thema „Corona – wer soll das bezahlen?“ Es diskutieren eine SP-Nationalrätin, ein SVP-Nationalrat, ein Nationalrat der Grünen, der Direktor von Avenir Suisse, ein Ökonom und ein Epidemiologe. Gegenseitig wirft man sich Argumente und Gegenargumente an den Kopf, wie es in der „Arena“ halt so üblich ist, immer nach dem Motto: Ich bin im Recht und du bist im Unrecht, ich habe alles verstanden und du hast nichts verstanden, ich will ja nur das Beste und du hast es nur leider noch nicht gemerkt. Bis nach etwa einer Stunde der Moderator die Expertenrunde verlässt und das Wort einer jungen Frau in der hinteren Sitzreihe übergibt, die bisher mehr oder weniger geduldig zugehört hat. „Wenn ich so Sachen höre, blutet mir das Herz“, sagt die Frau, die in der Gastronomie tätig ist und einen Food Truck betreibt. Sie sei mit viel Herzblut in die Gastroszene eingestiegen, habe es dann noch mit einem Hofladen versucht und arbeite stundenweise in einem Pferdestall, aber alles habe nichts genützt, jetzt stehe sie vor dem Nichts, und nicht nur ihre, sondern auch ganz viele andere Existenzen stünden auf dem Spiel. Ihre Verzweiflung könne sie nur schwer in Worte fassen. Hier in der „Arena“, meint sie, fühle sie sich am falschen Ort und die bisherige Diskussion hätte bloss dazu geführt, dass sie den Durchblick noch ganz verloren hätte. Ja, da fragt man sich dann wirklich, wer den „Durchblick“ verloren hat und wer am „falschen Ort“ ist. Wäre die  „Arena“ nicht das ideale Gefäss, um vor allem den am meisten von der Krise Betroffenen ein Podium zu geben? Weshalb lädt man sechs „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ in die Sendung ein, die alle nicht von der Krise existenziell betroffen sind, aber nur eine einzige tatsächlich Betroffene, und weshalb muss diese eine Stunde lang den „Experten“ und „Expertinnen“ zuhören, bis sie endlich auch einmal etwas sagen darf, aber nur ein paar Minuten lang, bevor das Wort dann wieder an die „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ zurückgeht? Zeugt dies alles nicht von einem weit verbreiteten, tiefsitzenden Vorurteil, wonach alles, was ein Politiker, ein Ökonom oder ein Wissenschaftler zu sagen hat, ungleich viel „wichtiger“, „wertvoller“ und „aussagekräftiger“ ist als all das, was eine Mutter, die Betreiberin eines Hofladens, ein  Koch oder eine Coiffeuse zu sagen hat? Wäre es nicht an der Zeit, genau jenen Menschen, die sich das heute noch nicht zutrauen und die das Gefühl haben, am „falschen Ort“ zu sein und keinen „Durchblick“ zu haben, genau diesen Menschen Mut zu machen, sich politisch und öffentlich für ihre Interessen einzusetzen? Ich träume von einer „Arena“, in der möglichst viele „einfache“ Bürgerinnen und Bürger von ihren Ängsten, ihren Nöten und ihrer Verzweiflung berichten und in der die „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ mindestens eine Stunde lang warten müssen, bis sie dann auch einmal etwas sagen dürfen. Eine „Arena“, in der das Wort einer Floristin, einer Krankenpflegerin oder eines Bauarbeiters genau so viel Gewicht hat wie das Wort eines Universitätsprofessors, einer Politikerin oder eines Wissenschaftlers… 

Hier unbeschreiblicher Reichtum – dort der Kampf ums nackte Überleben: Als gäbe es zwei verschiedene Welten im gleichen Land

 

Gastronomie und Hotellerie, Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende, Schausteller und Zirkusse, die ganze Eventbranche, Sportclubs, Reisebüros und Tourismusorganisationen – ihnen allen steht das Wasser bis zum Hals. Wenn ihnen nicht tatkräftig unter die Arme gegriffen wird, werden die meisten von ihnen die Coronazeit wirtschaftlich nicht überleben. Welche finanziellen Mittel wären nötig, um den drohenden finanziellen Kollaps zu verhindern? Eine Milliarde, zwei Milliarden, drei Milliarden? Die Auffassungen und Meinungen darüber, was möglich ist und was nicht, wer das bezahlen könnte und wer nicht, gehen quer durch Verbände, Parteien und politische Entscheidungsträger. Gleichzeitig, als gäbe es zwei verschiedene Welten, besitzen die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer insgesamt über 700 Milliarden Franken. Ein Bruchteil dieses Geldes würde also genügen, um all jene Betriebe, die jetzt um ihr Überleben kämpfen, am Leben zu erhalten. Seltsam, dass niemand auf die Idee kommt, auf diesen schier unvorstellbar vollen Geldtopf privaten Besitztums zurückzugreifen. Es muss in unseren Köpfen so etwas wie eine heilige Mauer existieren, die uns daran hindert, öffentliches und privates Geld in einem gemeinsamen Zusammenhang zu sehen. Dabei besteht ein solcher Zusammenhang sehr wohl. Diese 700 Milliarden Franken im Besitz der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer sind nämlich nicht zufällig zustande gekommen. Vieles von diesem Geld wurde über Jahrhunderte vererbt und weitervererbt und somit der Öffentlichkeit entzogen. Anderes Geld hat sich dadurch gebildet, dass man durch Firmenbesitz oder als Aktionär reich geworden ist, Geld, das nicht eigentlich erarbeitet wurde, sondern im Gegenteil entstanden ist aus der Arbeit anderer, aus tagtäglicher harter Arbeit, von deren Früchten jene, welche sie leisteten, selber aber ausgeschlossen blieben. Wieder anderes Geld ist entstanden einzig und allein durch gewinnbringendes Hin- und Herschieben von Geld oder Rohstoffen oder Gütern aller Art. Und wieder anderes Geld ist entstanden durch den Besitz von Immobilien, die wiederum gewinnbringend an Menschen, die sich selber kein Wohneigentum leisten können, vermietet wurden. So gesehen kann man privaten Reichtum und öffentliches Geld nicht voneinander trennen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen, dass jedes Unternehmen, das privaten Gewinn anhäuft, auf Infrastrukturen von den Strassen über die Schulen bis zur Gesundheitsversorgung angewiesen ist, zu deren Kosten selbst die am wenigsten Bemittelten ihren hart erarbeiteten Teil beitragen. Es ist daher wohl nicht übertrieben zu behaupten, Geld in dem phänomenalen Umfang, wie es die Reichen und Reichsten hierzulande besitzen, sei nicht wirklich erarbeitetes, sondern vielmehr – auf was für verschlungenen Wegen auch immer – gestohlenes Geld. Und umso mehr es sich am einen Ort anhäuft, umso schmerzlicher fehlt es an einem anderen Ort. Es wäre daher – im Sinne gutschweizerischer Demokratie und Solidarität – wohl nicht vermessen, einen Beitrag der vermögendsten Schweizer und Schweizerinnen an all jene zu fordern, die hier und heute um ihr nacktes Überleben kämpfen. Denn, wie es schon der bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“