Archiv des Autors: Peter Sutter

Arbeiten bei Amazon: Die inneren Widersprüche des kapitalistischen Konkurrenzprinzips

 

Mimi Harris, so berichtet die „Wochenzeitung“ am 22. Oktober 2020, arbeitet bei Amazon. Während des Shutdowns sei die Rate von 250 Objekten pro Stunde auf 400 erhöht worden. Und am Ende jeder Schicht hätte das Management eine Liste vorgelesen, von den schnellsten Angestellten zu den langsamsten. Sie, so Harris, sei häufig weit unten gewesen und diese öffentliche Demütigung hätte sie mit der Zeit fertiggemacht. Andere hätten bis zum Kollaps gearbeitet, nur um auf der Rangliste möglichst weit oben zu sein… Die Rangliste ist wohl das hinterhältigste Werkzeug in der Hand des Kapitalismus. Das beginnt spätestens im Kindergarten, wenn die Zeichnungen der Kinder miteinander verglichen werden oder wenn die Lehrerin, vielleicht ganz beiläufig und unbewusst, ein Kind, das seine Schuhe noch nicht selber binden kann, darauf hinweist, dass ein anderes dies schon kann. Aber so richtig los geht es dann in der Schule, wenn Prüfungen benotet werden und den Kindern knallhart bewusst wird, an welcher Stelle der Klassenrangliste sie stehen. Aber nicht nur die Kinder der einzelnen Schulklasse werden miteinander verglichen, mittels der internationalen Pisastudie werden sogar die Schulen weltweit miteinander verglichen und jedes Land kann dann schauen, welchen Platz auf der internationalen Rangliste es erreicht hat. Lernen die Kinder in der Schule allenfalls noch zu wenig, Ranglisten zu verinnerlichen, dann tragen sportliche Aktivitäten eifrigst das Ihrige dazu bei: Rennen, Klettern, Schwimmen um die Wette, und immer steht am Schluss eine Rangliste, ein Podest, ein Oben und ein Unten. So sind die Kinder dann bestens vorbereitet auf eine Arbeitswelt, wo jeder Einzelne wiederum bis zum Gehtnichtmehr beurteilt, bewertet und mit seinen Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen verglichen wird: Wie viele Briefe und Pakete pro Stunde verteilt der einzelne Briefbote im Vergleich zu seinen Kollegen, wie viel Umsatz generiert die einzelne Serviceangestellte im Vergleich zu ihren Kolleginnen, wie viele Klienten und Klientinnen pro Tag bewältigt die Angestellte auf dem Sozialamt. Und das geht so immer weiter bis zum nationalen Bruttosozialprodukt, in dem sich die „Wettbewerbsfähigkeit“ der gesamten Wirtschaft widerspiegelt und auch dies wiederum im Vergleich zu allen übrigen Ländern der Welt, Ranglisten, über die sich die „Guten“ freuen und die bei den „Schlechten“ wahrscheinlich ähnliche Gefühle auslösen, wie sie die Amazon-Mitarbeiterin empfindet, wenn sie am Ende eines harten Arbeitstages erfahren muss, dass sie doch wieder nur einen der letzten Plätze auf der Rangliste erreicht hat. Mit der Rangliste werden Menschen, Schulen, Firmen und ganze Länder dazu angestachelt, auf der Rennbahn zukünftigen Erfolgs das Äusserste und Beste zu geben. Und dennoch werden immer nur die Stärksten und Schnellsten diesen Erfolg auch tatsächlich erreichen – es liegt in der Natur der Sache, dass es in jedem beliebigen Unterfangen Sieger und Verlierer geben muss, wie bei einem Skirennen, bei dem alle Beteiligten unmenschliche Leistungen vollbringen, am Ende aber doch nur drei von allen auf dem Podest stehen, weil sie ein paar Tausendstel Sekunden schneller gewesen sind als die anderen. Oder wie bei einer Schulklasse, in der alle Kinder den gleichen IQ haben könnten, es aber dennoch genug winzige Unterschiede zwischen ihnen gäbe, um sie in „gute“ und „schlechte“ Schülerinnen und Schüler aufzuteilen. Die Rangliste ist eine riesige Lüge. Sie tut so, als wäre es jedem und jeder, die am Start steht, möglich, am Ende des Rennens auf dem Podest zu stehen, sie verschweigt aber die Tatsache, dass es gar nicht anders möglich ist, als dass eben nur ein Einziger oder eine Einzige dies auch tatsächlich schaffen wird, da ja selbst die winzigsten, geradezu vernachlässigbaren Unterschiede zum Anlass genommen werden, die Rangliste zu erstellen. Zwei fatale Auswirkungen hat die Rangliste: Erstens zwingt sie die Menschen, gegeneinander zu arbeiten statt miteinander. Zweitens demütigt sie permanent all jene, die „nur“ auf den hinteren Rängen landen. Auch die Amazon-Mitarbeiterin, die auf dem letzten Platz gelandet ist, hat am Ende des Tages eine ungeheure Leistung vollbracht, ihr Rücken und ihre Beine schmerzen kein bisschen weniger als der Rücken und die Beine jener, die auf den vorderen Plätzen rangieren, dennoch bekommt sie am Ende kein Dankeschön, sondern höchstens Vorwürfe oder böse Blicke ihres Vorgesetzten. Genau so wie das Schulkind, das eine schlechte Note bekommen hat, obwohl es sich ebenso viel oder sogar noch mehr Mühe gegen hat als sein Mitschüler, der mit der Bestnote glänzt. Wettbewerbe und Ranglisten, bei denen sich die Sieger ihre Siege dadurch erkaufen, dass sich die Verlierer mit ihren Niederlagen abfinden müssen, verschütten viel zu viel menschliches Potenzial, richten masslosen persönlichen, sozialen wie auch wirtschaftlichen Schaden an und sollten möglichst bald der Vergangenheit angehören…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

UBS-Angestellte bekommen Lohnerhöhung, Pflegepersonal geht leer aus…

 

Wer bei der UBS arbeitet, bekommt für 2020 einen zusätzlichen Wochenlohn. Dies, so teilt die Grossbank mit, sei ein „Zeichen der Wertschätzung für den besonderen Einsatz in der schwierigen Coronazeit.“ Die UBS lässt sich diesen Zustupf rund 30 Millionen Dollar kosten. Davon kann das Pflegepersonal in den Spitälern nur träumen: Pflegerinnen und Pfleger gehen leer aus, für sie gibt es weder eine Prämie noch eine Lohnerhöhung. Solche unsägliche Ungerechtigkeit ist nur deshalb möglich, weil Wirtschaft und Arbeitswelt nach rein betriebswirtschaftlicher Logik funktionieren: Firmen, die einen höheren Gewinn erzielen, können ihren Angestellten auch einen entsprechend höheren Lohn auszahlen, jene, die sich kaum über Wasser halten können, speisen ihre Angestellten mit entsprechend geringeren Löhnen ab, was so weit gehen kann, dass viele Menschen selbst bei voller Erwerbstätigkeit nicht einmal ausreichend von ihrem Lohn leben können. Diese betriebswirtschaftliche Logik klammert aus, dass alles mit allem zusammenhängt und jede Firma auf die Arbeit und die Leistungen anderer Firmen angewiesen ist, um überhaupt existieren zu können. Wenn die UBS trotz Krisenzeit so hohe Gewinne erzielt, dass sie ihren Angestellten einen zusätzlichen Wochenlohn bezahlen kann, dann ist dies nur möglich, weil irgendwer irgendwo das Essen hergestellt hat, das die UBS-Angestellten zu sich nehmen, weil irgendwer irgendwo die Häuser gebaut hat, in denen die UBS-Angestellten wohnen oder arbeiten, weil irgendwer irgendwo die Autos gebaut hat, mit denen sie herumfahren, und weil sich irgendwo irgendwer um sie kümmern wird, wenn sie krank werden – die Aufzählung liesse sich beliebig weiterführen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass wir uns von der betriebswirtschaftlichen Logik lösen müssen hin zu einer „gemeinwirtschaftlichen“ Logik. Was auf den ersten Blick utopisch oder kompliziert erscheinen mag, ist die einfachste Sache der Welt: In den afrikanischen Dörfern zur Zeit, als die Europäer den Kontinent noch nicht erobert hatten, galt das Prinzip des Teilens in der Gemeinschaft. Morgens zog man los zur Affenjagd, gegen Abend kam man mit den erbeuteten Tieren zurück ins Dorf. Einige der Jäger hatten drei oder vier Affen erbeutet, andere überhaupt keinen. Und nun ass nicht einfach jeder die von ihm erbeuteten Tiere, sondern alles wurde und unter alle gleichmässig verteilt – so wie wir das bei jedem Kindergeburtstagsfest machen, wenn jedes Kind ein gleich grosses Stück des Kuchens bekommt. Die Abkehr von der betriebswirtschaftlichen Logik hin zur gemeinwirtschaftlichen Logik ist völlig plausibel und wird dem Umstand gerecht, dass jeder Betrieb eben nur Teil eines grösseren Ganzen ist und dass daher für den Erfolg der einen direkt oder indirekt immer auch alle anderen ihren Beitrag leisten. Wie aber sollte man einen solchen Systemwechsel in die Praxis umsetzen? Nun, das ist eigentlich bloss eine Frage des Willens und des gesellschaftlichen Konsenses. Wenn sich nämlich alle einig wären, dass dies eine gerechte Lösung wäre, dann liesse sich bestimmt auch ein Weg finden, sie in die Tat umzusetzen. So könnte beispielsweise jede Firma am Ende des Monats den erzielten Reingewinn (die erbeuteten Affen) in eine schweizerische Gemeinschaftskasse einzahlen und aus dieser Kasse erhielten dann alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihren je gleichen Anteil des gesamten Kuchens, also eine Art „Einheitslohn“. So einfach wäre das – man müsste es nur wollen… 

 

 

 

Die Machenschaften der Pharmaindustrie: „Es geht nicht um die Bedürfnisse der Patienten, es geht um die Bedürfnisse der Aktionäre.“

 

Im Jahr 2015, so der vom Schweizer Fernsehen am 18. Oktober 2020 ausgestrahlte Dokumentarfilm „Big Pharma“, kauft der junge US-Hedgefond-Manager Martin Shkrelli alle Vermarktungsrechte am Malariamedikament Daraprin und erhöht den Preis pro Packung von 13.5 Dollar auf 750 Dollar, also um 5000 Prozent. „Lieber hätte ich den Preis noch mehr erhöht“, sagt Shkrelli in einer Diskussionsrunde mit Vertretern der Finanzpresse, „denn das ist meine Aufgabe. Niemand will es sagen, niemand ist stolz darauf, aber wir leben nun mal in einem kapitalistischen System. Meine Investoren erwarten, dass ich die Gewinne maximiere, nicht minimiere, dass ich aufs Ganze gehe. Es geht nicht um die Bedürfnisse der Patienten. Es geht um die Bedürfnisse der Aktionäre.“ Wie heisst es doch immer wieder so schön: Alles ist nur eine Sache von Angebot und Nachfrage, staatliche Eingriffe würden höchstens unnötigen Schaden anrichten, denn der freie Markt richte stets von ganz alleine alles zum Besten. Schön wäre es. Tatsächlich aber ist das kapitalistische Wirtschaftssystem nichts anderes als die Institutionalisierung und Legalisierung unzähliger Machenschaften, die man wohl ohne Übertreibung als Verbrechen bezeichnen müsste. Oder ist es etwa kein Verbrechen, wenn Menschen, welche dringendst auf bestimmte Medikamente angewiesen sind, diese nicht mehr bezahlen können, nur damit sich die Aktionäre der betreffenden Firmen ein noch grösseres Segelboot, ein noch dickeres Auto und eine noch luxuriösere Villa leisten können? Als die DDR unterging, hat der Westen akribisch alle Untaten der früheren sozialistischen Machthaber aufgedeckt und in allen Zeitungen war die Villa und der Garten Erich Honeckers zu sehen. Was wird wohl alles aufgedeckt und was wird wohl alles in den Zeitungen zu sehen sein, wenn der dereinst der Kapitalismus untergehen wird?

Frischer antikapitalistischer Wind von der neuen Parteispitze der schweizerischen SP

 

Wir bräuchten, so Cédric Wermuth, der zukünftige Co-Präsident der SP Schweiz, „eine ernsthafte Alternative zu den Zerstörungen und dem Chaos der kapitalistischen Globalisierung“, nichts weniger als einen „System Change“. So deutliche Worte waren von einem Präsidenten oder einer Präsidentin einer der grössten schweizerischen Parteien wohl noch nie zu hören. Und das macht Hoffnung. Hoffnung, dass sich die schweizerische Sozialdemokratie noch weit mehr als bisher nicht bloss im kapitalistischen Hamsterrad weiterdreht, sondern den Mut aufbringen wird, das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundsätzlich in Frage zu stellen und über mögliche Alternativen nachzudenken. Eine Aufgabe aber, die nicht von einer einzelnen Partei in einem einzelnen Land gelöst werden kann. Denn das Wesentliche des Kapitalismus liegt ja gerade darin, dass er ein weltumspannendes Macht- und Ausbeutungssystem aufgebaut hat, das an keiner Landesgrenze Halt macht und deshalb nur dann wirksam bekämpft werden kann, wenn sich ihm politische Kräfte entgegenstellen, die ebenfalls nicht an den Landesgrenzen Halt machen. Anders gesagt: Nach der Globalisierung des Kapitalismus braucht es eine Globalisierung aller weltweiten antikapitalistischen Kräfte, so etwas wie eine Wiederbelebung der Sozialistischen Internationale, die dringender wäre als je zuvor. Auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was Karl Marx sagte, in diesem Punkte hatte er zweifelsohne Recht: Es gibt keinen erfolgreichen Kampf gegen den Kapitalismus ohne internationale Solidarität. Oder, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

 

 

 

Klimaschutzmassnahmen der Schweiz nützten nichts, weil die Schweiz nur für einen Tausendstel des globalen CO2-Ausstosses verantwortlich sei?

 

Wohl das lächerlichste Argument gegen einschneidende Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ist jenes, dass die Schweiz ja bloss für einen Tausendstel des globalen CO2-Ausstosses verantwortlich sei und daher Massnahmen, welche die Schweiz ergreife, mehr oder weniger wirkungslos seien. Was für eine unsinnige Behauptung. Dass die Schweiz nur einen Tausendstel des globalen CO2-Ausstosses zu verantworten hat, ist ja logisch. Schliesslich macht die Schweizer Bevölkerung auch nur einen Tausendstel der gesamten Weltbevölkerung aus. Dabei ist die graue Energie, die bei der Produktion von im Ausland hergestellten und in die Schweiz importierten Waren aufgewendet wird, noch nicht einmal berücksichtigt, ebenso wenig wie die Folgen der Investitionen des Schweizer Finanzplatzes in umweltschädliche Grossprojekte im Bereich von Kohle-, Erdöl- und Gasgewinnung. Das alles heisst, dass die Schweiz sogar weit mehr als einen Tausendstel des globalen CO2-Ausstosses zu verantworten hat und deshalb an vorderster Front mit möglichst drastischen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen müsste. Dass alle anderen Länder ihrerseits eine möglichst wirksame Klimapolitik betreiben müssen, ist nur selbstverständlich. Die Zeit, in der man sich gegenseitig den Schwarzen Peter zugeschoben hat und jeder den Vorwurf, er tue Böses, mit der Ausrede, die anderen täten es ja auch, von sich gewiesen hat, diese Zeit sollte nun endgültig der Vergangenheit angehören.

Schweizer Grossbanken und der Kohleabbau in Deutschland: Sie wissen genau, was sie tun…

Der am 15. Oktober 2020 vom Schweizer Fernsehen SRF ausgestrahlte Dokumentarfilm „Schmutzige Geschäfte – der Schweizer Finanzplatz und die Klimakrise“ zeigt die Verwicklungen der Schweizer Grossbanken Credit Suisse und UBS mit dem deutschen Energiekonzern RWE, der nach wie vor in grossem Stil in der Nähe von Köln den Abbau von Kohle im Tagebau betreibt und nicht einmal davor zurückschreckt, ganze Dörfer dem Erdboden gleich zu machen und die betroffene Bevölkerung in neue Wohngebiete umzusiedeln.

Zwei Sequenzen in diesem Dokumentarfilm fallen besonders auf: Zunächst eine Szene, bei der Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen vor einer Zürcher Filiale der Credit Suisse eine friedliche Demonstration abhalten. Mitarbeitende der Bank, die sich zum Eingang begeben, werden von den Aktivisten und Aktivistinnen freundlich angesprochen und um eine Stellungnahme zu den umweltschädlichen Geschäften der Bank gebeten. Wie reagieren die Bankangestellten? Stechenden Schrittes preschen sie an den Demonstrantinnen und Demonstranten vorbei, verweigern jegliche Auskunft, bleiben nicht einmal stehen, suchen so schnell wie möglich die Eingangspforte, als wären sie auf der Flucht, eine Frau hält sich sogar den Arm vors Gesicht, als hätte sie Angst, in der Öffentlichkeit erkannt zu werden.

Die zweite Sequenz: Ein auf maximal fünf Minuten beschränktes Interview des Filmteams mit Bruno Bischoff, dem Beauftragten für Nachhaltigkeit der Credit Suisse. Was schon bei den flüchtenden Angestellten festzustellen war, zeigt sich hier fast noch deutlicher: Bischoff macht einen unglaublich unsicheren Eindruck. Als er den Raum, wo das Interview stattfinden wird, betritt, suchen seine Augen den ganzen Raum ab, als wollte er sich versichern, im Notfall den Raum so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Völlig unmotiviert schiebt er dann noch eine Topfpflanze beiseite, bevor er sich schliesslich in einen Sessel fallen lässt, nun bereit für Interview. Auch während des Interviews macht er einen extrem unsicheren Eindruck, es ist ihm in seiner Haut sichtlich ganz und gar nicht wohl. Als er dann meint, die Credit Suisse sei daran, eine nachhaltigere Anlagepolitik anzustreben und die Kredite an Firmen, welche Kohleabbau betreiben, nach und nach abzubauen, ist man nicht sicher, ob das bloss seine persönliche Meinung ist oder die offizielle Politik der Bank oder ob er es nur sagt, um bei all jenen, die den Film sehen werden, möglichst gut dazustehen.

Nun, sowohl die flüchtenden Angestellten wie auch der topfschiebende Nachhaltigkeitsbeauftragte zeigen uns mit all ihren Zeichen von Abwehr, Angst und Unsicherheit, dass ihnen höchstwahrscheinlich sehr wohl bewusst ist, persönlich für Geschäfte verantwortlich zu sein, die sowohl in moralischer wie auch in ökologischer Hinsicht höchst bedenklich sind. Wenn sie sich ihrer Sache nämlich so sicher wären, könnten sie ja locker und gelassen den fragenden Demonstranten und Demonstrantinnen Auskunft geben und es gäbe auch keinen Grund, das Interview mit dem Nachhaltigkeitsbeauftragten auf fünf Minuten zu beschränken.

Was für eine Erkenntnis lässt sich daraus ziehen? Nun, die im Zentrum des Dokumentarfilms stehende Grossbank ist nur eines von unzähligen kapitalistischen Unternehmen rund um den Erdball, die durch ihre Geschäfte, ihre Produktionsweise und ihre Profitsucht auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger grossen sozialen und ökologischen Schaden anrichten. Ich bin mir aber fast ganz sicher, dass die meisten Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten, ja sogar ihre Chefs und die Kapitalbesitzer, in ihrem Innersten „wissen“, dass zu vieles von dem, was sie tun, zu grossen Schaden anrichtet, doch sehen sie keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Sie sind sozusagen Gefangene ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte der unersättlichen kapitalistischen Wachstumslogik mit all ihren weltweit verheerenden Folgen. Als wären sie auf einem grossen Schiff und würden sie immer deutlicher erkennen, dass dieses einem Abgrund entgegensteuert, aber sie sehen weit und breit keine Rettungsboote, um das Schiff zu verlassen und ein neues, besseres Schiff zu besteigen.

Das bedeutet, dass wir eigentlich nicht so sehr gegen die „bösen“ Kapitalisten ankämpfen müssten, sondern, zusammen mit ihnen, gegen den „bösen“ Kapitalismus. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Von der Klimabewegung bis zu „Black Lives Matter“: Alles hängt mit allem zusammen…

 

Rund 2000 Menschen haben sich am gestrigen 10. Oktober 2020 auf dem Berner Bundesplatz versammelt, um sich für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem griechischen Moria in die Schweiz auszusprechen. Über hundert Organisationen hatten sich zusammengefunden, um diesen Anlass möglich zu machen. Eindrückliche Reden, eindringliche Statements und überall Plakate mit dem Slogan „Wir haben Platz!“ Ein starkes Zeichen. Zwei Wochen zuvor hatte die Klimabewegung eine Demonstration organisiert, ebenfalls in Bern und ebenfalls mit rund 2000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Vordergründig scheinen die beiden Anlässe nichts miteinander zu tun zu haben. Beim einen Anlass ging es um Flüchtlinge, beim anderen um das Klima. Und doch: Hat nicht beides – Flüchtlingskrise und Klimakrise – letztlich die gleiche Ursache? Bei beidem geht es doch um die Folgen jenes weltumspannenden kapitalistischen Wirtschaftssystems, das sowohl die exorbitanten sozialen Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern zur Folge hat wie auch jenen rücksichtslosen Raubbau an der Erde und der Natur, welcher die Klimaerwärmung mit allen ihren verheerenden Auswirkungen zur Folge hat. Die Ausbeutung der Menschen und die Ausbeutung der Natur sind die beiden Kehrseiten der gleichen – kapitalistischen – Medaille. Folgerichtig müssten sich politische Bewegungen für die Aufnahme von Flüchtlingen mit jenen, die sich für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen, zusammenschliessen, denn sie haben einen gemeinsamen Feind: den Kapitalismus. Und eigentlich müssten sich einer solchen antikapitalistischen Bewegung auch all jene Menschen anschliessen, die weltweit für „Black Lives Matter“ auf die Strasse gehen, denn auch die Ausbeutung und Erniedrigung von Menschen anderer Hauptfarbe ist nur möglich in einem System, wo Macht und Reichtum höchst ungleich verteilt sind und nicht alle Menschen die gleichen Rechte haben. Das Gleiche gilt für die Frauenbewegung, denn auch die Diskriminierung von Frauen ist nur möglich in einem System, das auf Ausbeutung und Ungerechtigkeit aufbaut. Hätten alle diese Protestbewegungen, die heute noch mehr oder weniger unabhängig voneinander agieren, nicht eine viel grössere Wirkung, wenn sie sich zu einer viel grösseren gemeinsamen politischen Kraft zusammenschliessen würden? Die Machthaber des Römischen Reichs folgten schon vor 2000 Jahren der Devise „Divide et impera“ – teile und herrsche. Sie wussten, dass sie alles daran setzen mussten, dass sich ihre möglichen Gegner nicht miteinander verbündeten, sondern miteinander Krieg führten und sich somit gegenseitig schwächten. So konnten sie ihre Macht ungestört aufrecht erhalten. Genau so ist es mit den heute weltweit agierenden Protestbewegungen von der Klimabewegung über „Black Lives Matter“ und den Flüchtlingsorganisationen bis zur Frauenbewegung und dem Kampf der Gewerkschaften für anständige Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit und faire Löhne. Es liegt, wie bei den Machthabern des Römischen Reichs, einzig und allein im Interesse des kapitalistischen Machtsystems, dass seine möglichen Widersacher voneinander getrennt bleiben und sich sogar gegenseitig voneinander abgrenzen, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Die Verschmelzung bisher voneinander unabhängiger Bewegungen zu einer weltweiten gemeinsamen antikapitalistischen politischen Kraft geht aber nicht ohne das Ende der Illusion, man könnte innerhalb des Kapitalismus ein einzelnes Problem lösen, wenn man nicht gleichzeitig auch alle anderen zu lösen versucht.

 

 

Klimabewegung: Zu früh für Zynismus und Resignation

 

„Was am Anfang die Hoffnung war“, sagt der Klimaaktivist Andri Gigerl in einem Interview mit der „NZZ am Sonntag“ vom 11. Oktober 2020, „ist jetzt der Zynismus. Wir glaubten, mit den Streiks könnten wir die Welt verändern. Daran glauben nicht mehr viele.“ Gross ist die Ernüchterung innerhalb der Klimabewegung: Hatten 2019 noch viele zehntausend Leute an den Demos teilgenommen, sind es jetzt noch ein paar tausend. Eine Folge davon sei, so Gigerl, dass sich die Bewegung immer mehr radikalisiere. „Die Zahl derer, die ein neues, antikapitalistisches System wollen“, so Gigerl, „wird immer grösser. Nur fragen wir uns, wie denn ein solches System aussehen könnte.“ Keine Frage, gemessen an der Anfangseuphorie einer radikalen „Weltveränderung“, ist eine gewisse Ernüchterung innerhalb der Klimabewegung nur zu verständlich. Und doch: Es wäre falsch zu behaupten, man hätte überhaupt keine Erfolge erzielt. In der gleichen „NZZ am Sonntag“, in der Andri Gigerl zitiert wird, ist zu lesen, dass das EU-Parlament am vergangenen Mittwoch eine weitere Verschärfung des Klimaschutzes beschlossen hat. Auch habe Chinas Staatschef vor vierzehn Tagen bekanntgegeben, dass sein Land energischere Massnahmen ergreifen werde, um vor 2060 klimaneutral zu werden. Zudem habe fast zeitgleich der Gouverneur von Kalifornien ein Verkaufsverbot für neue Benzin-und Dieselautos ab 2035 erlassen. Und gemäss neuesten Umfragen sprechen sich 52 Prozent der deutschen Bevölkerung für drastische Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aus. Zugegeben, das alles ist längst noch nicht genug und geht viel zu langsam. Und dennoch zeigt es, dass die Klimabewegung sehr wohl ihre Spuren hinterlassen hat und ganz und gar nicht vergeblich war. Und doch ist der Schluss, den ein wachsender Teil der Klimabewegung aus der aktuellen Situation zieht, nämlich dass letztlich alles eine Frage des herrschenden Wirtschaftssystems ist, absolut richtig und entscheidend. Nicht ohne Grund werden an den Demos die Schilder mit dem Slogan „System Change, not Climate Change!“ immer zahlreicher. Die Erkenntnis, dass es um weit mehr geht als um die Einsparung von ein paar Tonnen CO2 oder die Förderung der Solarenergie, scheint sich mehr und mehr auszubreiten. Dass wir uns indessen dieses „neue System“, das an die Stelle des kapitalistischen Systems treten würde, noch nicht so richtig vorstellen können, ist durchaus logisch, da wir ja alle in diesem kapitalistischen System aufgewachsen sind und es von klein auf in unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Werte und unser Verhalten aufgesogen haben. Und genau hier liegt die grosse Herausforderung der heutigen Zeit. Dass wir uns auf den Weg machen, dieses neue, nichtkapitalistische System zu entwerfen. Eine Vision, welche die besten Träume und Phantasien beflügeln und uns jenen Mut wieder geben kann, den wir schon fast verloren haben. Denn so gross die Aufgabe zu sein scheint, so naheliegend und einfach ist sie zugleich: Diese Vision ist nichts anderes als der Traum von einer Welt voller Liebe und Gerechtigkeit, ohne Ausbeutung und im Frieden zwischen den Menschen und mit der Natur, jener Traum, den jedes Kind schon von seiner Geburt an in sich trägt. Deshalb sagte auch der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer: „Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit, mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen darf.“

 

Sparmassnahmen bei Radio und Fernsehen: Über achttausend Jahre Knowhow, Wissen und Erfahrungen gehen verloren, einfach so, sang- und klanglos

Nachdem es zuerst verheimlicht wurde, ist es nun doch noch publik geworden: Nach „Aeschbacher“, „Schawinski“, „Eco“, „Sportaktuell“, „Mini Schwiz dini Schwiz“, „52 beste Bücher“, „Blickpunkt Religion“ und weiteren Sendungen soll nun auch „Netz Natur“ dem Sparhammer zum Opfer fallen, und dies, obwohl „Netz Natur“ zu den beliebtesten Fernsehsendungen gehört und mit durchschnittlich 553’000 Zuschauerinnen und Zuschauern einen Marktanteil von 30,6 Prozent erreicht.

„Unbeirrt“, so das St. Galler Tagblatt, „setzt SRF-Direktorin Nathalie Wappler ihren Kurs fort, geht mit der Axt durchs Haus und fällt im linearen Fernsehen eine Sendung nach der anderen – darauf hinweisend, dass im digitalen Bereich dafür etwas nachwachsen werde, doch was das sein könnte, weiss heute noch niemand genau.“ Logisch, dass sich ein solcher Kahlschlag auch auf den Personalbestand auswirken muss: Zwischen 2015 und 2020 wurden 740 Stellen abgebaut, in den kommenden Jahren sollen weitere 116 Stellen werden. Wenn man davon ausgeht, dass die betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durchschnittlich zehn Jahre lang bei SRF gearbeitet haben, dann bedeuten diese Entlassungen, dass innerhalb von ein paar wenigen Jahren über achttausend Jahre Knowhow, Wissen und Erfahrungen verloren gegangen sein werden, einfach so, sang- und klanglos.

Doch den schwarzen Peter bloss Nathalie Wappler in die Schuhe zu schieben, greift zu kurz. Die Axt, welche sie schwingt, hat sie nämlich von all jenen Firmen und Unternehmen bekommen, welche ihre Werbeaufträge bei SRF gekürzt oder gestrichen und damit jene Millionenlöcher geschlagen haben, welche die SRF-Direktorin nun so verzweifelt zu stopfen versucht. Aber selbst diese Firmen und Unternehmen als die eigentlichen „Schuldigen“ anzusehen, wäre zu kurzsichtig. Denn auch sie sind letztlich nichts anderes als Marionetten im kapitalistischen Welttheater, dessen Maxime in einem immer gnadenloseren gegenseitigen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Firmen und Unternehmen besteht, einem Konkurrenzkampf, in dem es stets bloss um die höchstmögliche Rendite geht, nicht aber um das Gemeinwohl und um die sozialen Bedürfnisse und Interessen der Menschen.

So lange wir in diesem Wirtschaftssystem leben, besteht die einzige Möglichkeit darin, zu definieren, welche Einrichtungen, Dienstleistungen und Angebote zur Grundversorgung gehören und welche nicht. Elemente der Grundversorgung müssten sodann ausschliesslich durch die öffentliche Hand finanziert werden, um nicht schwankendem privatwirtschaftlichen Engagement unterworfen zu sein. Ob Radio und Fernsehen zu dieser Grundversorgung gehören sollen oder nicht, genau darüber müsste man öffentlich und breit diskutieren. Jetzt und so schnell wie möglich – bevor so viel Geschirr zerschlagen ist, dass es nicht mehr wieder repariert werden kann.

SBB Cargo: Man kann etwas auch so lange „gesundschrumpfen“, bis es nicht mehr existiert

 

Eigentlich müssten gemäss der vom Schweizer Volk angenommenen Alpeninitiative Güter innerhalb der Schweiz vermehrt von der Strasse auf die Schiene umgelagert werden. Doch in der Realität ist genau das Gegenteil der Fall: Betrug der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter 1980 noch rund 60 Prozent, sind es heute gerade noch 23 Prozent. Wie ein Beitrag der „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 7. Oktober 2020 drastisch aufzeigte, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis SBB Cargo, das seit 2019 keine Subventionen mehr erhält und gemäss Gütertransportgesetz „eigenwirtschaftlich“, das heisst rentabel funktionieren muss, so gründlich gesundgeschrumpft ist, dass es am Ende gänzlich von der Bildfläche verschwunden sein wird. Alle Fakten und Zahlen deuten jedenfalls darauf hin: So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche kleinere Umladestationen aufgehoben und damit die Attraktivität des Angebots für viele Firmen aufgehoben. Zudem wurde die Belegschaft zwischen 2001 und 2020 von 5’091 auf 2’240 Angestellte reduziert, für die folgenden drei Jahre ist ein weiterer Abbau von 800 Stellen geplant. Kein Wunder, spricht Isabelle Betschart Kühne, Leiterin Produktion SBB Cargo, von einer unerträglichen Situation: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, uns geht buchstäblich das Geld aus, damit wir auch in Zukunft die Löhne bezahlen können.“ Da tönt es wie ein schlechter Witz, wenn Nils Planzer, Geschäftsführer der Planzer Transport AG und Mitbesitzer von SBB Cargo, meint, am Schluss müsse „SBB Cargo etwas Gesundes sein, das eigenwirtschaftlich ist und sich selber tragen kann.“ Dies, so Planzer, werde sicher bedeuten, dass SBB Cargo zukünftig weniger Mitarbeitende haben werde als jetzt. Wie weit sind wir eigentlich gekommen, dass der CEO eines Privatunternehmens, welches Güter auf der Strasse transportiert, auf die zukünftige Entwicklung der SBB Cargo offensichtlich mehr Einfluss hat als die öffentliche Hand? Es gibt nun mal aus strukturellen Gründen Unternehmen, die sich eben nicht „selber tragen können“. Was ist denn so schlecht daran, diesen unter die Arme zu greifen, vor allem dann, wenn höhere Interessen wie das Gemeinwohl oder, in diesem Falle, der Klimaschutz betroffen sind? Wenn SBB Cargo 1980, als es noch Bundessubventionen erhielt, 60 Prozent der Güter transportierte und heute nur noch 23 Prozent, dann müsste man schon sehr gute Argumente ins Feld führen, um nicht schleunigst wieder eine wie auch immer ausgestaltete Form von „Subvention“ von SBB Cargo einzuführen…