Archiv des Autors: Peter Sutter

Das demokratische Recht darauf, ein „Systemveränderer“ oder eine „Systemverändererin“ zu sein

 

Nicht wenigen bürgerlichen Politikern und Politikerinnen ist die Besetzung des Berner Bundesplatzes am 21. und 22. September 2020 offensichtlich ganz gehörig in die Knochen gefahren und sie überbieten sich seither gegenseitig bei der Bezeichnung der beteiligten Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen mit Begriffen wie „Chaoten“, „Rechtsbrechern“, „Krawallmachern“ und „Systemveränderern“. Damit entziehen sie sich jeglicher sachlicher Auseinandersetzung. Wem man nämlich erst mal das Etikett eines „Übeltäters“ um den Hals gehängt hat, mit dem wird man bestimmt nicht mehr sprechen und ihm auch nicht mehr zuhören. Dass aber auch der Begriff des „Systemveränderers“ zu diesen Negativkategorien zählt, muss doch einigermassen zu denken geben, ist doch die Systemveränderung nichts anderes als das tägliche Brot in fast jeder seriös betriebenen beruflichen Tätigkeit. Erzielt der Arzt mit seiner Therapie keinen Erfolg, dann wird er das Konzept – das System – überprüfen und unter Umständen eine neue Strategie einschlagen. Wenn das Auto nicht mehr fährt, wird die tüchtige Automechanikerin nicht nur den Motor, sondern auch die gesamte Steuerung und Elektronik – eben das System – kontrollieren und die nötigen Massnahmen ergreifen. Wenn ein Geschäft Kunden verliert, dann wird ein Berater beigezogen, um mögliche Schwachstellen des Unternehmens – des Systems – aufzudecken und Verbesserungsvorschläge zu präsentieren. Was für die medizinische Therapie, für das kaputte Auto und die serbelnde Firma gilt, soll ausgerechnet für die aller grösste „Firma“, nämlich unser Wirtschaftssystem, nicht gelten? Wenn Tag für Tag mehrere Fussballfelder grosse Waldflächen abbrennen, sich immer grössere eben noch fruchtbare Gebiete in Wüsten verwandeln, sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich Tag für Tag immer weiter vergrössern – dann soll das alles nicht Anlass dazu sein, innezuhalten, den Ursachen nachzugehen, das System zu hinterfragen, unabhängige Berater und Beraterinnen beizuziehen? Wer andere als „Systemveränderer“ bezichtigt, erweist sich als im tiefsten Sinne undemokratisch. Er stellt nämlich das herrschende – kapitalistische – Wirtschafts- und Gesellschaftssystem über die Demokratie, indem er alle, welche dieses System in Frage stellen,  als „undemokratisch“ brandmarkt und ihnen somit das vorwirft, was er selber ist. Nichts kann einer echten Demokratie lieber sein als gute Ärzte, gute Automechanikerinnen, gute Unternehmungsberater – und gute „Systemveränderer“ und „Systemveränderinnen“, die den Mut und die Ausdauer haben, nicht nur kranke Mitmenschen, Autos und serbelnde Firmen von Grund auf kritisch zu überprüfen, sondern auch unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem als Ganzes.

Schnellstes Medikamentenfliessband der Welt: Coronaimpfstoff nur für die Reichen?

 

70 Millionen Franken investiert das Schweizer Chemieunternehmen Lonza in eine ultramoderne Produktionsstrasse für die Herstellung von Corona-Impfstoffen. Visp, wo die Anlage gebaut wird, soll laut dem Walliser Staatsrat Christophe Darbelley zur „Welthauptstadt des Kampfes gegen Covid-19“ werden. Doch was für uns Schweizerinnen und Schweizer sowie einige Länder des reichen Nordens gute Nachrichten sind, sind für den Rest der Welt umso schlechtere: In Visp wird gemäss Lonza nämlich nur für Europa produziert. Das findet Patrick Durisch von der NGO Public Eye äusserst problematisch. „Was hilft es“, sagt er, „wenn sich die reichen Nationen Impfstoffe reservieren, aber alle ärmeren Länder leer ausgehen? Moralisch ist das sehr verwerflich, denn hier geht es nur um Geld und Macht.“ Diese ganze Tragweite moralischer Verwerflichkeit wird erst dann so richtig offensichtlich, wenn wir uns kurz in Erinnerung rufen, weshalb denn die Länder des Nordens so viel reicher sind als die meisten Länder des Südens. Die Schweiz ist nämlich nicht deshalb so reich, weil unsere Erde so fruchtbar wäre, weil wir über so viele Rohstoffe und Bodenschätze verfügten oder weil wir so viel härter arbeiteten als andere. Wir sind nur deshalb so reich, weil wir in der Geschichte kapitalistischer Ausbeutung und Welteroberung von Anfang an auf der „richtigen“ Seite standen, nämlich auf der Seite derer, die dadurch reich geworden sind, dass andere im Elend versunken sind. Somit ist ein grosser, wenn nicht überwiegender Teil jenes Reichtums, auf den wir heute so stolz sind, im Grunde genommen gestohlenes Geld. Auch die 70 Millionen Franken, die Lonza nun in seine Fabrik zur Produktion eines Coronaimpfstoffs investiert, ist Teil dieses Raubguts, das nun ausgerechnet all jenen, denen es gestohlen wurde und die nun am allermeisten unter der Coronapandemie leiden, vorenthalten wird. Wäre es nicht endlich an der Zeit, wenigstens einen kleinen Teil des Gestohlenen an die Beraubten zurückzugeben?

Coronazahlen: Unnötige Panikmache

 

Wann hören gewisse Medien endlich mit einer Berichterstattung über die Coronakrise auf, die reine Panikmache ist und sich höchstens in höheren Verkaufszahlen niederschlägt, ganz und gar aber nicht im Interesse der Bevölkerung liegt, die ein Anrecht auf sachliche, objektive Berichterstattung hat. So berichtet „20 Minuten“ heute, dass sich während der vergangenen drei Tage 1548 Personen mit dem Coronavirus angesteckt hätten. Dazu ein Bild, auf dem zwei Pfleger in weissen Schutzanzügen einen ebenfalls in einen weissen Schutzanzug gekleideten Patienten in eine Intensivstation schieben, so dass es einem richtig kalt den Rücken hinunterläuft. Schaut man sich dann aber beim BAG nach den konkreten Zahlen um, so erfährt man, dass es während der vergangenen sieben Tage gerade mal zu 8 Spitaleintritten kam, was zehn Prozent weniger sind als in der Vorwoche. Und mit drei Todesfällen im Verlaufe der vergangenen drei Tage ist auch diese Zahl überaus niedrig, wenn man bedenkt, dass beispielsweise die Zahl der Todesfälle infolge Rauchens rund 30 Mal höher ist, ohne dass darüber je in einer Zeitung, im Internet oder am Fernsehen berichtet wird. Das Leben zu Coronazeiten ist schon genug schwer. Dann sollten es einem die Medien nicht noch schwerer machen, als es schon ist.  

Klimabewegung: So ändern sich die Zeiten…

 

„Solange wir Güter konsumieren, die an einem anderen Ort auf der Welt mit sehr viel CO2-Ausstoss produziert wurden, kriegen wir den Klimawandel nicht in den Griff.“ Das sagte nicht etwa ein jugendlicher Aktivist der Klimabewegung, sondern Severin Pflüger, FDP-Präsident der Stadt Zürich. Das Beispiel zeigt, dass die Klimabewegung sehr wohl eine nicht zu unterschätzende Wirkung hat selbst auf Menschen, die ihr gegenüber ablehnend sind oder den Klimawandel gar immer noch in Frage stellen. Wie wenn die jugendlichen Aktivisten und Aktivistinnen sich in einen Dschungel hineinkämpfen würden, um einen Weg zu bahnen, der dann selbst von ihren Gegnern und Gegnerinnen nach und nach begangen wird. Selbst SVP-Nationalrat Roger Köppel hat es in der Arena-Sendung vom 25. September 2020 zum Thema Klimabewegung tunlichst vermieden, die menschlichen Ursachen des Klimawandels explizit in Frage zu stellen. Ähnlich ist es mit der Frauenbewegung: Was über Jahrzehnte hart erkämpft wurden musste, ist heute Allgemeingut und es würde sich wohl und breit niemand mehr finden lassen, der die politischen Rechte von Frauen und ihre Vertretung in Regierungen und Parlamenten in Frage stellen würde. Auch die Verwendung weiblicher Endungen in Ansprachen, öffentlichen Stellungnahmen und Zeitungsartikeln, die anfänglich von nicht wenigen Exponenten des politisch bürgerlichen Lagers geradezu ins Lächerliche gezogen wurde, ist heute selbst in den Voten von SVP-Politikern und SVP-Politikerinnen so selbstverständlich, als hätte es nie etwas anderes gegeben. So ändern sich die Zeiten. Dadurch, dass sich Menschen exponieren, die eine Idee vertreten, die noch lange nicht mehrheitsfähig ist, aber eines Tages mehrheitsfähig sein wird. Man kann all jenen, die auf diese Weise neue Ideen in die Welt bringen, gar nicht genug viel Mut machen und gar nicht genug dankbar sein. Denn, wie schon Arthur Schopenhauer sagte: „Jede grosse Idee wird zuerst belächelt, dann bekämpft und zuletzt dann doch als Standard akzeptiert.“

US-Präsidentschaftswahlen: Traurige Zeiten…

 

Peinlich, peinlich. Statt sachlich ihre jeweiligen unterschiedlichen Regierungsprogramme darzulegen, beleidigen sich Donald Trump und Joe Biden gegenseitig in ihrem ersten grossen Fernsehduell und beschimpfen sich als „Lügner“, „Clown“ und „Versager“. Unwillkürlich fragt man sich: Ist das alles, was die USA an möglichen Kandidaten und Kandidatinnen für das oberste politische Amt ihres Landes hervorzubringen vermochten? Gäbe es nicht Millionen von Amerikanern und Amerikanerinnen, die sich weit besser für dieses Amt eignen würden, weil sie viel charismatischer, viel leidenschaftlicher, viel engagierter und viel kreativer wären und erst noch über viel umfassendere Sachkenntnisse zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökonomischen Themen verfügten? Doch offensichtlich sind das nicht die Fähigkeiten, die zählen, um Präsident oder Präsidentin dieses Landes zu werden. Es scheint vielmehr alles nur eine Frage von Macht, Geld und Prestige zu sein, dieser kapitalistischen Konstrukte, die sich gegenseitig verstärken und zur Folge haben, dass am Ende nicht die Fähigsten auf dem obersten Podest stehen, sondern jene, welche sich auf der Stufenleiter persönlichen Machtstrebens am erfolgreichsten nach oben gekämpft haben. Das alles ist nicht nur höchst bedenklich, sondern vor allem auch höchst gefährlich. Denn die USA sind nicht irgendein Land. Die USA gelten nach wie vor, sowohl wirtschaftlich wie vor allem auch militärisch, als Weltmacht Nummer eins. Dieses Land bräuchte an seiner Spitze eine Persönlichkeit mit den allerhöchsten Qualifikationen, die man sich nur vorstellen kann. Doch selbst ein grosser Teil der Medien, selber gefangen im kapitalistischen Kosten-Nutzen-Denken, wissen nichts Gescheiteres, als immer und immer wieder die gegenseitigen Ausfälligkeiten von Trump und Biden aufzuwärmen, statt auf die grossen Herausforderungen einzugehen, denen sich nicht nur die USA, sondern die ganze Welt gegenübersteht, von der Coronapandemie über die Klimaerwärmung bis hin zu einem möglichen dritten Weltkrieg. Traurige Zeiten… 

Sklavenhandel: eine historisch überwundene Epoche?

Nun ist die weltweite Bewegung gegen Symbole und Statuen früherer Rassisten und Sklavenhändler auch in der Schweiz angekommen. Allein in Zürich, so Stadtpräsidentin Corine Mauch, sollen 80 Denkmäler von Personen, die möglicherweise in den Sklavenhandel verstrickt waren, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Das ist ja alles gut und recht, wird aber kein einziges der begangenen Verbrechen wieder gut machen können. Viel wichtiger, als Statuen früherer Sklavenhändler aus der Öffentlichkeit zu verbannen, wäre es, uns zu vergegenwärtigen, dass ein grosser Teil des historischen Geschäfts mit Sklavenarbeit bis in die heutige Zeit fortgedauert hat. Man nennt sie zwar nicht mehr Sklaven oder Leibeigene, aber wo liegt der Unterschied zwischen einem „richtigen“ Sklaven des 18. Jahrhunderts und der Arbeiterin in einer Textilfabrik irgendwo in Bangladesh, die gezwungen ist, 12 bis 16 Stunden pro Tag zu arbeiten, fast ohne Pausen, unter permanentem Zeitdruck, stets unter den Blicken eines gnadenlosen Aufsehers, der auch schon mal zu physischer Gewalt greift, wenn die Arbeiterin, die er gerade im Auge hat, nicht genug schnell und sorgfältig arbeitet, diese Arbeiterin, die trotz dieser unmenschlichen Anstrengungen, die sie Tag für Tag vollbringen muss, trotzdem so wenig verdient, dass sie davon fast nicht leben kann.

Wir könnten jetzt auch von all jenen Kindern in afrikanischen Minen und Bergwerken sprechen, die schon im frühesten Alter so schwer arbeiten müssen, dass viele von ihnen keine dreissig Jahre alt werden. Wir könnten von den Arbeiterinnen und Arbeitern auf Baumwollplantagen, auf Gemüsefeldern und in Fleischfabriken sprechen, von philippinischen Hausmädchen, die jeden Abend, bevor sie todmüde ins Bett fallen, von ihrer Hausherrin zum Dank für all die geleistete Arbeit blutig geschlagen werden, von rumänischen Prostituierten in europäischen Bordellen, die Nacht für Nacht unsäglicher Gewalt ausgeliefert sind, bloss um sich und ihren Kindern das nackte Überleben zu sichern.

Wo liegt der Unterschied zwischen einem Sklaven, einer Sklavin früherer Zeiten und jener unermesslichen Zahl heute lebender Arbeiterinnen und Arbeiter, die Tag für Tag unmenschliche Leistungen vollbringen und dennoch kaum davon leben können? Eigentlich ist ja nur das Wort selber der Unterschied. Aber weil wir uns in der Illusion wiegen wollen, der Sklavenhandel sei eine historisch überwundene Epoche, sträuben wir uns dagegen, heutige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen als Sklavinnen und Sklaven zu bezeichnen. Und es ist ja nicht nur das. Der frühere Sklavenhandel und seine Verstrickungen mit historischen nordamerikanischen und europäischen Politikern und Geschäftsleuten – auch daran hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Unzählige multinationale Konzerne erzielen auch heute noch ihre Profite aus nichts anderem als aus der Differenz zwischen den Hungerlöhnen auf den Plantagen, in den Bergwerken und Fabriken und den Preisen, welche gutbetuchte Konsumenten und Konsumenten für die dargebotenen Produkte dann bezahlen. Und abertausende Aktionäre und Aktionärinnen beteiligen sich an diesem Weltgeschäft, an dessen oberstem Ende der US-amerikanische Unternehmer und Investor Jeff Bezos mit einem Vermögen von 179 Milliarden Dollar steht und an dessen unterstem Ende das Zimmermädchen in einem griechischen Luxushotel, das soeben vor Erschöpfung gestorben ist.

Nein, die Zeit des Sklavenhandels ist nicht vorbei. Nicht die Verhältnisse haben sich geändert, nur die Worte und die Art und Weise, mit der wir versuchen, alles schönzureden. Es ist gut, in der Stadt Zürich 80 Denkmäler früherer Rassisten und Sklavenhalter kritisch zu überprüfen. Noch viel wichtiger aber wäre es, ein Wirtschaftssystem zu überwinden, das immer noch, wie eh und je, auf gnadenloser Ausbeutung und der Anhäufung exorbitanter Gewinne auf Kosten des Lebens und der Gesundheit von Milliarden von Menschen beruht.

Weltuntergang oder Geburtswehen einer neuen Zeit?

 

Man nennt sie Doomer. Es handelt sich dabei um eine wachsende Zahl junger Menschen, die davon ausgehen, dass der Weltuntergang nicht mehr aufzuhalten sei und die Menschheit sich selber auslöschen werde. Sie stellen traurige Musik, dunkle Kurzfilme und schattenhafte Bilder ins Netz. Ihre bevorzugten Themen sind der Kollaps, die Überbevölkerung, die urbane Hölle, die Dystopie, die Depression und der Suizid. Dies alles ist angesichts der gewaltigen Bedrohungen, mit denen die heutige Menschheit konfrontiert ist – von der Coronapandemie über die Klimaerwärmung bis zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs -, nur zu gut zu verstehen. Und es sind nicht nur die Doomer. Unzählige weitere junge Menschen weltweit haben das Vertrauen in die Zukunft verloren, verspüren eine immense innere Leere, stürzen sich, um sich abzulenken, in Vergnügungen und Aktivitäten aller Art, bloss um darnach noch tiefer abzustürzen. Doch noch ist nichts verloren. Die Klimajugend macht es vor: Wer sich dem Kampf für eine bessere Welt hingibt, schöpft augenblicklich eine Riesenkraft, die jegliche Resignation und Hoffnungslosigkeit zu verscheuchen vermag. Und weshalb sollen den Tausenden, die bis jetzt auf die Strassen gegangen sind, nicht schon bald Millionen folgen? Alles liegt an uns selber. Ob wir es tun oder nicht. Ob wir es wollen oder nicht. Ob wir die heutige Zeit als das Ende der Menschheit betrachten oder als Anfang von etwas Neuem. Ja, es ist eine verrückte Zeit. Aber hat jemals irgendwer geglaubt, ein Zeitalter könnte zu Ende gehen und ein neues könnte beginnen, ohne dass zunächst mal alles ganz gründlich auf den Kopf gestellt würde? Sind das, was wir heute erleben, nicht die zwar äusserst schmerzvollen, zugleich aber auch äusserst hoffnungsvollen Geburtswehen einer neuen Zeit? Doch diese neue Zeit wird uns nicht einfach geschenkt. Sie muss erstritten, erkämpft, es muss um sie gerungen werden, Millimeter um Millimeter, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Bis diese grosse Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit, die jedes Kind schon bei seiner Geburt in sich trägt, für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mindestlohn von 23 Franken im Kanton Genf: erst ein kleiner Schritt in die richtige Richtung

 

Es ist ja schön, gilt nun auch im Kanton Genf seit der Abstimmung vom 27. September 2020 ein Mindestlohn von 23 Franken. Und doch geht das noch viel zu wenig weit. Wenn Herr B., seines Zeichens Vermögensverwalter, am Morgen aufsteht, haben bereits Tausende von Menschen für ihn gearbeitet: der Bäcker, der das Brot gebacken hat, das Herr B. zum Frühstück isst, der Kehrichtmann, der schon frühmorgens den Abfall des Hauses abtransportiert hat, die Maurer, Malerinnen, Zimmermänner und Elektrikerinnen, die das Haus gebaut haben, in dem er wohnt, die Minenarbeiter, welche die seltenen Metalle zu Tage befördert haben, ohne die weder sein Laptop noch sein Smartphone funktionieren würden, die Fabrikarbeiter, die sein Auto zusammengebaut haben, die Textilarbeiterinnen in Bangladesh, die sein Hemd, seine Krawatte und seinen Anzug genäht haben, mit denen er heute zur Arbeit gehen wird. Und dies alles ist erst eine winzige Auswahl jener Arbeiten, die weltweit verrichtet werden müssen, damit Herr B. hier und heute seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen kann, die ihm Monat für Monat ein stattliches Einkommen beschert und ihm jenen luxuriösen Lebensstil ermöglicht, den er und seine Familie so schätzen. Doch obwohl der Bäcker, die Textilarbeiterin, die Minenarbeiter und die Bauarbeiter das schöne Leben von Herrn B. überhaupt erst möglich machen, verdienen sie allesamt doch um ein Vielfaches weniger als er. Eigentlich müsste Herr B. fairerweise seinen Lohn mit all jenen teilen, die dazu beigetragen haben, dass er ihn verdienen konnte. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass alle gleich viel verdienen würden. Ein weltweiter Einheitslohn also. Eine Idee, die auf den ersten Blick als zu utopisch oder geradezu verrückt erscheinen mag, doch wie sagte schon wieder Albert Einstein? „Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd erscheint, gibt es keine Hoffnung für sie.“

Klimabewegung: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie

 

 

Lässt sich der Klimawandel mit den gängigen Instrumenten unserer parlamentarischen Demokratie rechtzeitig stoppen oder nicht? So sehr man sich das wünschen mag: Die Realität zeigt, dass dies aller Voraussicht nach nicht der Fall zu sein scheint. Zu langsam mahlen die Mühlen der politischen Entscheidungsfindung, zu wenig Gewicht haben jene politischen Kräfte, welche die Interessen der Umwelt und unseres gemeinsamen Überlebens vertreten. Die Ungeduld der Klimajugend ist daher nur allzu gut verständlich und selbst wenn diese jungen Menschen an die Grenzen der Legalität gehen, so ist dies bloss ein winziger Tropfen auf jenen riesigen, immer grösser werdenden Stein, der in Form der zunehmenden Klimaerwärmung immer weitere Teile unseres Planeten nach und nach in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Doch was ist die Alternative zu dieser parlamentarischen Demokratie, die offensichtlich zu träge, zu langsam und zu schwerfällig ist, um das drohende Unheil rechtzeitig abzuwenden? Wäre diese Alternative eine Art „Ökodiktatur“, wie manche Gegner der Klimabewegung befürchten? Nein, ganz im Gegenteil. Wir brauchen keine Diktatur. Was wir brauchen, ist im Gegenteil noch viel mehr Demokratie als bisher. Vor allem müsste das heutige Ungleichgewicht zwischen der Politik und der Wirtschaft aufgehoben werden. Entscheide, die unseren Alltag und damit unsere Zukunft bestimmen, werden noch immer und sogar immer mehr nicht in den demokratisch gewählten Parlamenten gefällt, sondern auf den Chefetagen multinationaler Konzerne. Was und wie viel produziert wird, wie und wo die Warenströme laufen, woher die hierfür nötige Energie gewonnen wird – all das liegt in der Macht von Firmen, Unternehmungen und Interessenverbänden, die allesamt noch immer einer kapitalistischen Wachstumslogik verhaftet sind, welche die Hauptursache für die Gefahren der Klimaerwärmung bilden, die uns alle bedrohen. Zusätzlich zu einer solchen Gewichtsverlagerung zwischen Politik und Wirtschaft müsste sich die politische Arbeit über alle Grenzen hinweg öffnen. So wie die Wirtschaft, die Waren- und die Finanzströme global vernetzt sind, so müsste sich auch die Politik global vernetzen, bis hin zu einer weltweiten Demokratisierung, in der sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten die gleichen Rechte haben und in letzter Konsequenz auch die Tiere und Pflanzen, ja selbst das Wasser, die Erde und die Luft eine Stimme haben müssten. Denn anders als zu früheren Zeiten, in denen unsere heutigen demokratischen Strukturen entstanden sind und sich noch voll und ganz auf die Interessen des jeweiligen Nationalstaats beschränkten, leben wir heute in einer Welt, wo wir nur noch alle miteinander untergehen oder aber alle miteinander überleben werden.

Klimastreiks: Auf dem Weg in eine neue Zukunft

 

Nach und nach füllt sich an diesem Freitagnachmittag, den 25. September 2020, der Helvetiaplatz in Bern. Bis zuletzt werden es über 2000 Menschen sein, die sich hier versammelt haben, um sich anschliessend quer durch die Innenstadt bis zum Waisenhausplatz zu bewegen, wo die heutige Demonstration enden wird. Gleichzeitig finden in Deutschland an rund 450 Orten Klimastreiks mit einer Beteiligung von insgesamt über 200’000 Menschen statt. Ich bin beeindruckt. Von der Professionalität, mit der die Berner Demonstration innerhalb von nur zwei Tagen organisiert worden ist. Von der Leidenschaft und der rhetorischen Brillanz sämtlicher Rednerinnen und Redner, viele von ihnen keine zwanzig Jahre alt. Von der Sachlichkeit und Wissenschaftsorientiertheit, an der, allen Anfeindungen und Spekulationen zum Trotz, unerschütterlich festgehalten wird. Von der Ernsthaftigkeit, mit der die Sorge um das Überleben der Menschheit sämtlichen anderen Themen übergeordnet wird. Von der Betroffenheit der Zuhörerinnen und Zuhörer, die den zahllosen Reden und Statements so gebannt und aufmerksam lauschen, dass man auf dem grossen, weiten Platz tatsächlich eine Stecknadel zu Boden fallen hören müsste. Und unwillkürlich sehe ich jene Bilder vor mir, die man jeweils im Fernsehen bei den Übertragungen aus dem Bundeshaus zu sehen bekommt. Dort, wo gerade ein CO2-Gesetz verabschiedet worden ist, das zuvor wohl an die zwei Jahre geradezu lustlos zwischen den Parlamentskammern, den Kommissionen und den verschiedenen Interessenverbänden hin- und hergeschoben wurde und nun keinen Teil jener Massnahmen erfüllt, die ergriffen werden müssten, um die Klimaerwärmung tatsächlich wirksam zu stoppen. Dort, wo, zumindest bei der Mehrheit der Parlamentarier und Parlamentarierinnen, nur wenig Leidenschaft für das gemeinsame Überleben der Menschheit wahrzunehmen ist, sondern man sich lieber im gegenseitigen Hickhack zwischen den Parteien die Köpfe einschlägt. Dort, wo man einander in der Regel nicht zuhört, sondern, während die einen sprechen, die anderen in der Zeitung blättern, auf ihrem Smartphone herumtippen oder mit der Sitznachbarin schwatzen. Als wären es zwei Welten. Die Welt drinnen, im Parlamentsgebäude. Und die Welt draussen, auf der Strasse und auf den Plätzen. Drinnen, da ist man immer noch den alten, fast 200 Jahre alten Gepflogenheiten des Politisierens und der Machtspiele verhaftet, den ewig gleichen Mustern endlosen Schmiedens von Kompromissen, bis auch die letzten Visionen und Träume zu Sand zerrieben sind. Draussen, da hat sich eine neue Generation auf den Weg gemacht, voller Ungeduld und voller Mut, und nicht mehr bereit, sich ihre Träume und Visionen kaputt machen zu lassen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Die drinnen leben immer noch in der Vergangenheit, als wäre die Welt in den letzten 200 Jahren stillgestanden. Die draussen leben in der Zukunft und es gibt nichts dazwischen. Was hätten jene, die noch in der Vergangenheit leben, von denen lernen können, die schon in der Zukunft angekommen sind! Hätte es einen idealeren Ort geben können als den Bundesplatz, wo Jung und Alt, wie dereinst auf dem Forum des antiken Athen, miteinander hätten ins Gespräch kommen können? Aber offensichtlich war die Zeit dafür noch nicht reif. Diejenigen, die noch in der Vergangenheit leben, wurden auf dem falschen Fuss erwischt. Und sie haben die „Störefriede“ fortgejagt, statt die riesige Chance zu nutzen, von ihnen zu lernen und die riesige Herausforderung des gemeinsamen Überlebens gemeinsam anzupacken. Und doch: Der vermeintliche „Misserfolg“ der Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen wird früher oder später zum Erfolg. Weil sie es sich zugetraut haben. Weil ihr Mut und ihre gleichzeitige Gelassenheit und Gewaltlosigkeit vorbildhaft sind. Weil sie sich gewagt haben, in der Gegenwart schon etwas zu verwirklichen, was in der Zukunft ganz selbstverständlich sind wird…