Archiv des Autors: Peter Sutter

Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Klimakrise, Digitalisierung: die Büchse der Pandora nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals geöffnet

„Diese Art von Schock, den wir jetzt erleben, hat es noch nie gegeben. Deshalb lässt sich kaum voraussagen, wie es sich entwickeln wird. Es könnte eine V-Rezession geben, d.h. steil hinunter und wieder steil hinauf. Es ist aber auch denkbar, dass es länger unten bleibt und wir ein U haben. Oder ein W – es geht im Sommer wieder runter, dann wieder hinauf. Oder das Schlimmste: ein L – es geht runter und bleibt unten. Man hat keine Ahnung, welches Szenario eintreten wird.“

(Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor Universität Bern, im Wirtschaftsmagazin „Eco“ am Schweizer Fernsehen SRF1 vom 9. März 2020)

Nicht nur mit dem globalen Finanzsystem, den Börsen und den Aktienmärkten, sondern auch mit dem Klimawandel, der Digitalisierung, den globalen Warenströmen und der atomaren Aufrüstung hat der Mensch gleich mehrfach die Büchse der Pandora geöffnet. Nichts mehr hat er im Griff. Selbst Ökonomen können nicht mehr voraussagen, wie sich alles weiterentwickeln wird. Wie wenn wir einer Naturkatastrophe ausgeliefert wären, die wir nicht mehr steuern, der wir nur noch gebannt entgegenschauen und hoffen können, dass uns nicht alles früher oder später in einen Strudel hinunterzieht, aus dem es keine Rückkehr mehr gibt. Wo ist das Selbstbewusstsein des Menschen? Was ist los mit der „Krone der Schöpfung“? Wäre es nicht an der Zeit, das Steuer wieder in die Hand zu nehmen? Wir brauchen dringendst so etwas wie eine „Weltregierung“, ein demokratisch gewähltes Weltparlament und das Primat der Politik und des Gesellschaftlichen über die Narrenfreiheit jener Finanz- und Wirtschaftsmächte, die schon längst nicht mehr den Interessen der Menschen dienen, sondern nur noch ihren eigenen Interessen endloser Macht- und Profitvermehrung.

Der Skandal des Tages: Forschung für einen Impfstoff gegen das Corona-Virus ohne Schweizer Beteiligung

Im Moment treiben Universitäten, öffentliche Institute und Pharma- und Biotechfirmen die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Corona-Virus voran. Sie tun das mit neuen Methoden und so schnell wie nie zuvor. Bloss: Schweizer Pharmafirmen sucht man in ihren Reihen vergebens. Der Grund: Dieses Geschäft ist ihnen zu wenig lukrativ.

(www.srf.ch)

Da ist ein Land, das wohl – gemessen an seiner Bevölkerungszahl – mit Pharmaprodukten die weltweit höchsten Profite erzielt. Und da ist eine Welt, die mit immer grösserer Verzweiflung darauf wartet, endlich einen Impfstoff gegen ein tödliches Virus zu bekommen, von dem immer mehr Menschen betroffen sind. Alles spräche dafür, dass dieses Land mit seinen weltgrössten und renommiertesten Pharmakonzernen an vorderster Front an der Entwicklung eines solchen Impfstoffes beteiligt wäre. Doch weit gefehlt: Ein solches Engagement wäre zu wenig lukrativ. Doch worum geht es eigentlich: um den schnellen Profit oder um das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen? Höchste Zeit, die Pharmaindustrie nicht nur hierzulande, sondern auch weltweit zu verstaatlichen und sie somit in den Dienst der Menschen statt in den Dienst des Profits zu stellen. Denn die Gesundheit der Menschen ist ein zu kostbares Gut, als dass man sie den Profitinteressen sich gegenseitig konkurrenzierender kapitalistischer Wachstumsmaschinen überlassen darf…

Steckt Greta Thunberg hinter dem Corona-Virus?

Endlich wieder frische Luft über den chinesischen Millionenstädten. Drastische Bremsung des weltweiten Wirtschaftswachstums und aller damit verbundener Emissionen. Reduktion der globalen Erdölfördermengen, Streichung tausender Flüge quer über alle Kontinente. Absage internationaler Automobilsalons. Was die Klimabewegung in mehr als einem Jahr nicht geschafft hat, haben mikroskopisch winzige Lebewesen in knapp zwei Monaten geschafft. Ein Wunder, hat noch niemand die These aufgestellt, Greta Thunberg höchstpersönlich habe das Corona-Virus entwickeln lassen und dann auf die Menschheit losgelassen.

 

Flüchtlingskrise an der griechisch-türkischen Grenze: Europa in der Schockstarre

Die Inszenierung war perfekt. Sorgenvolle Blicke von EU-Kommissionschefin Ursula van der Leyen aus dem Helikopter nahe der Grenze, per Kurznachrichtendienst Twitter geliefert. Geschlossener Aufmarsch der EU-Spitze bei der Vorortbesichtigung, die Herren leger gekleidet. Zum Abschluss die gemeinsame Pressekonferenz unter der Ägide des griechischen Regierungschefs Kyriakos Mitsotakis. Und der gab gleich den Ton vor. Es sei seine Pflicht, die Souveränität Griechenlands zu verteidigen, sagte er. Die griechischen Sicherheitskräfte leisteten dabei auch Europa einen Dienst, schützten seine Aussengrenze. Ursula van der Leyen ihrerseits äusserte zwar Mitgefühl für die Migranten, sagte aber, Griechenland sei Europas „Schild“. Die Kommissionschefin stellte der Regierung in Athen zusätzliche finanzielle Unterstützung zur Abwehr der Flüchtlinge in Aussicht. Auch die EU-Grenzagentur Frontex solle mit mehr Flugzeugen und Personal helfen.

(Tages-Anzeiger, 4.März 2020)

Man kann dem türkischen Präsidenten Erdogan vorwerfen, er instrumentalisiere die syrischen Flüchtlinge, um von der EU weitere finanzielle Mittel abzufordern. Tatsache aber ist, dass bereits jetzt rund 4 Millionen Flüchtlinge in der Türkei Zuflucht gefunden haben und infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen rund um Idlib Abertausende weitere folgen werden. Tatsache ist ebenfalls, dass Deutschland bis jetzt gerade mal etwas mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat, in den übrigen europäischen Ländern sind es noch weit weniger. Doch das mutige „Wir schaffen das!“ der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Anbetracht der Flüchtlingskrise von 2015 hören wir heute nicht mehr. An ihrer Stelle spricht die EU-Kommissionschefin Van der Leyen von Griechenland als dem europäischen „Schild“, dem Ort also, wo Europa seine Souveränität zu verteidigen habe – im Kampf gegen hungrige, kranke und verzweifelte Väter und Mütter und gegen Kinder, von denen Nacht für Nacht niemand weiss, ob sie infolge der eisigen Temperaturen am nächsten Morgen überhaupt noch erwachen werden. Europa scheint im Schockzustand zu sein. Zu gross ist die Angst der etablierten Parteien, im Falle einer umfangreichen Aufnahme neuer Flüchtlinge den rechtspopulistischen Kräften in die Hand zu spielen und diesen zusätzlichen Auftrieb zu geben. Doch was ist eine Demokratie wert, wenn es nur noch um Macht und Machterhaltung politischer Parteien und Regierungsverantwortlicher geht? Eine Demokratie braucht doch eine ethische Basis, eine Wertegrundlage, die durch nichts, auch nicht durch noch so extreme politische Kräfte, verletzt werden darf. Diese Wertegrundlage, das ist genau jenes „Wir schaffen das!“, von dem sich Angela Merkel offensichtlich inzwischen verabschiedet hat. Diese Wertegrundlage, das ist die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Fürsorge, die Liebe. Ja, die Liebe. Ohne Liebe ist Demokratie nichts wert. Denn ohne Liebe könnten auch 51 Prozent der Bevölkerung beschliessen, die übrigen 49 Prozent umzubringen. Was für ein Hoffnungszeichen, dass nun immer mehr Städte, dem Beispiel Berlins folgend, erklärt haben, zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit zu sein. Bleibt zu hoffen, dass viele weitere ihnen folgen werden. Und dass Angela Merkel ihre Stimme wieder erhebt. Und Ursula von der Leyen nie mehr von einem „Schild“ spricht, wenn sie damit Griechenland meint. Und dass allenthalben darüber diskutiert, gestritten und gerungen wird, was Liebe und Politik miteinander zu tun haben sollten…

Das Corona-Virus und die Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze

Stacheldrahtzäune an der griechisch-türkischen Grenze, um rund 1300 Flüchtlinge, vorab aus Syrien, vom Zutritt in die EU abzuhalten. Wasserwerfer, Blendgranaten und Tränengas, selbst gegen kleinste Kinder. Improvisierte Schlaflager im Freien, bei eisigen Temperaturen. Ein Schlauchboot mit 48 Personen, das in der Ägäis in Seenot geriet, und ein Kleinkind, das dabei ums Leben gekommen ist. Eine unbeschreibliche Verzweiflung in den Augen von Menschen, die noch immer unter dem Schock von Krieg und Zerstörung stehen, all ihr Hab und Gut sowie zahlreiche Freunde und Verwandte im Krieg oder auf der Flucht verloren haben, entbehrungsreichste Fussmärsche durch gefährlichstes Gebiet auf sich nehmen mussten und denen nur noch eine einzige Hoffnung geblieben ist, nämlich, irgendwo in Europa Schutz, Sicherheit und eine feste Bleibe zu finden. Man wünschte sich, dass auch nur ein winziger Teil jenes Aktivismus, welcher die Menschen Europas im Zusammenhang mit dem Corona-Virus erfasst hat, und nur ein winziger Teil des öffentlichen Interesses, welches gegenwärtig dem Corona-Virus zukommt, den Geschehnissen an der türkisch-griechischen Grenze zuteil würde. Oder ist das Leben eines syrischen Kindes oder eines afghanischen Vaters so viel weniger wert als das Leben eines Franzosen oder einer Schweizerin?

Das Coronavirus klüger als der Mensch?

Medikamente und Wirkstoffe der Grundversorgung kommen zu 80 Prozent aus China in die Schweiz. Nun droht infolge des Corona-Virus ein Engpass: Gegenwärtig fehlen in der Schweiz fast 1000 Medikamente. Der Containerumschlagplatz in Shanghai, dem grössten Hafen der Welt, steht seit Wochen praktisch still. Das Problem: Aus Kostengründen haben immer mehr europäische Firmen die Herstellung von Medikamenten und Wirkstoffen in den vergangenen Jahrzehnten nach China ausgelagert. „Wir alle sind schuld“, sagt Axel Müller vom Verband der Schweizer Generikahersteller, „denn Arzneimittel für die Grundversorgung dürfen nichts mehr kosten. Jetzt haben wir das Problem. Wir haben eine Monopolsituation, dass China 80 Prozent der Wirkstoffe liefert. Und wir sind zu 100 Prozent von China abhängig.“

(www.srf.ch)

Es sind ja nicht nur Medikamente. Es sind auch Textilien, Elektrogeräte, Autobestandteile und Spielwaren. Wie konnten wir nur so blind sein und uns darauf verlassen, dass sich Produktions- und Handelsketten beliebig global auslagern lassen und nicht irgendeines Tages ein unvorhersehbares Ereignis – im Falle von China könnten es zum Beispiel auch politische Umwälzungen sein – dies alles in Frage stellen würde? Doch scheint die Maxime „So billig wie möglich, alles andere ist Nebensache“ buchstäblich blind zu machen für alles andere. Wäre der winzige Coronavirus etwa klüger als der Mensch? Immerhin hat er uns etwas vor Augen geführt, was bisher kein Mensch geschafft hat: dass es nämlich höchste Zeit geworden ist, Produktion, Handel und Verkauf von Waren nicht in möglichst grossen, sondern in möglichst kleinen Räumen zu organisieren.

Michael Bloomberg: Jeden Tag um 107 Millionen Dollar reicher

US-Präsidentschaftskandidat Michael Bloomberg,78, Unternehmer, ist laut „Forbes“ der achtreichste Mann der Welt. Er hat ein Vermögen von 62 Milliarden Dollar und jeden einzelnen Tag vermehrt sich sein Vermögen um 107 Millionen Dollar.

(TAM, 29. Februar 2020)

Jeden Tag 107 Millionen Dollar geschenkt – ohne dafür auch nur den kleinsten Finger krumm machen zu müssen. Weshalb fragt niemand nach, woher dieses Geld kommt? Es gibt kein Geld, das vom Himmel fällt. Es gibt nur Geld, das durch harte Arbeit erwirtschaftet wird. Wenn Michael Bloomberg täglich 107 Millionen Dollar geschenkt bekommt, dann müssen genau diese 107 Millionen Dollar von unzähligen Fabrikarbeitern, Bäckern, Buschauffeuren, Krankenpflegerinnen und Putzfrauen erwirtschaftet worden sein, die für ihre Arbeit viel weniger Lohn bekommen als ihre Arbeit eigentlich Wert gewesen wäre. Die unaufhörliche kapitalistische Umverteilung von unten nach oben im Dienste der Reichen und Mächtigen. Kein Bankräuber und kein Ladendieb könnte seinem Land jemals so grossen materiellen Schaden zufügen, wie dies all jene Millionäre und Milliardäre tun, die, wie Michael Bloomberg, auf ganz „legale“ Weise Tag für Tag ein wenig reicher werden. Entpuppt sich auf diese Weise der Kapitalismus nicht schlicht und einfach als immense Legalisierung von Diebstahl und Bereicherung auf Kosten anderer?  Eigentlich müssten in den USA zwei voneinander getrennte Abstimmungen stattfinden: Zuerst müsste man über die Beibehaltung oder die Abschaffung des Kapitalismus abstimmen. Und erst dann müsste man den neuen Präsidenten oder die neue Präsidentin wählen.

Wohnen unter der Erdoberfläche – und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?

Antonia Cornaro ist Expertin für Untergrund-Projekte und Co-Komitee-Chefin der Nichtregierungsorganisation International Tunneling and Underground Space Association ITA mit Sitz in Genf. Die studierte Stadtplanerin propagiert als Antwort auf den Klimawandel die Erforschung und den Ausbau von Flächen in der Erde in Form von Tunnels, Shoppingcentern, Datencentern – und Wohnunterkünften: „Ich bin überzeugt, dass in Zukunft der Untergrund für einen Teil der Menschheit eine Alternative zum Leben an der Erdoberfläche sein kann.“ Auch die australische Soziologin Marilu Melo glaubt an die wachsende Bedeutung der Beherbergung im Untergrund. Melo recht damit, dass es auch unter der Erde beides geben wird – Flächen für die Reichen, die mit der besten Technologie und Swimmingpools ausgerüstet sind, und solche für die ärmeren, mit entsprechend weniger Komfort.

(Tagblatt, 29. Februar 2020)

Wenn es um technologische Phantasien geht, scheint es für die zuständigen Forscher und Expertinnen keine Grenzen zu geben. Sehen die einen eine Zukunft der Menschheit in unterirdischen Wohnanlagen, träumen andere wiederum davon, dass sich die Menschen, wenn die Erde unbewohnbar geworden ist, auf anderen Planeten ansiedeln könnten, und dann gibt es sogar noch diejenigen, die das Ende der Menschheit voraussagen und als Ersatz für den Menschen eine Gesellschaft aus Robotern und Künstlicher Intelligenz propagieren. Nur auf einem Gebiet scheint das Denken hingegen noch in der Steinzeit steckengeblieben zu sein, auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit. So hartnäckig scheint sich die Tatsache der haarsträubenden weltweiten sozialen Ungleichheit – die sich zudem täglich weiter vergrössert – in unseren Köpfen eingebrannt zu haben, dass selbst bei so hochfliegenden Phantasien wie dem Wohnen unter der Erdoberfläche oder auf anderen Planeten niemand auf die Idee zu kommen scheint, entsprechende geistige Höhenflüge in Bezug auf die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse anzustellen und vielleicht sogar die Vision weltweiter sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln. Ob man wohl bei der Idee, auf andere Planeten auszuwandern, auch schon Planeten für die Reichen und Planeten für die Armen ausgesucht hat? Und ob man wohl bei der Idee, Menschen durch Roboter ersetzen, auch damit liebäugelt, Roboter zu entwickeln, die besondere Privilegien geniessen, und andere, die ihnen zu dienen und sich von ihnen beherrschen zu lassen haben?

2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall – dabei wäre die Lösung so einfach

2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in der Schweiz jährlich weggeworfen, das ist fast die Hälfte der auf den Feldern geernteten Früchte und Gemüse. Und das, während weltweit 850 Millionen Menschen hungern. „Es ist eben schon so“, sagt Patrick Stöpper vom Migros Genossenschaftsbund, „dass das Auge nicht nur mitisst, sondern auch mitkauft. Wenn wir die Kundschaft sensibilisieren wollten, auch Produkte zu kaufen, die nicht der Idealnorm entsprechen, dann müsste die ganze Branche am gleichen Strick ziehen. Man müsste gemeinsam ein Ziel definieren und alle, von den Verbänden über die Grossisten bis zu den Detaillisten, müssten dann gemeinsam auf dieses Ziel hinarbeiten.“

(Schweizer Fernsehen SRF1, DOK, 27. Februar 2020)

Weshalb haben sich die Verantwortlichen nicht schon längst an einen Tisch gesetzt, um dieser unsäglichen Verschwendung einen Riegel zu schieben? Zumal es ja auch eine Entwürdigung sämtlicher Produzenten und Produzentinnen bedeutet, wenn sozusagen die Hälfte ihrer Arbeit vergebens gewesen ist, indem die Hälfte von dem, was sie aus dem Boden herausholen, einfach fortgeworfen wird. Dass dieser Wahnsinn – man kann es wohl kaum anders bezeichnen – immer noch ungebrochen weitergeht oder sich sogar noch verschärft, dies hat einmal mehr mit dem „heiligen Freien Markt“ zu tun, der wie ein Gott über allem schwebt und dem auch noch die grössten menschlichen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Opfer dargebracht werden. Wäre es nicht an der Zeit, dass sich endlich, wie der junge Migros-Mitarbeiter es so überzeugend auf den Punkt gebracht hat, alle, von den Produzenten über die Detailhändler bis zu den Konsumenten und Konsumentinnen, an einen Tisch setzen und versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen? Denn, wie schon der bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Der Hass im Internet und seine gesellschaftlichen Ursachen

„Es geht darum“, so die Psychotherapeutin Regula Schwager im „Club“ vom 25. Februar 2020 auf SRF 1, „dass man sich mithilfe des Cybermobbings ein Machtgefühl holt. Wer sich ohnmächtig fühlt und bei wem es im Leben nicht so richtig funktioniert, der hat nun über das anonyme Internet die Möglichkeit, seine Phantasien loszulassen gegen eine andere Person, die dann sozusagen zu seiner Projektionsfläche wird. Wer gegen einen anderen Menschen einen Shitstorm loslässt, fühlt sich nachher stark.“

Wie viele Angestellte werden von ihren Vorgesetzten schikaniert, nicht weil diese besonders „böse“ Menschen wären, sondern weil auch sie von ihren eigenen Vorgesetzten wiederum schikaniert werden und alle miteinander gegenseitig unter immer grösserem Zeit- und Leistungsdruck arbeiten müssen. Wie viele Menschen fühlen sich gedemütigt, weil sie viel weniger verdienen als andere, obwohl sie mindestens so lange und so hart arbeiten. Wie viele Menschen erfahren für ihre tägliche Arbeit, die sie mit grossem Einsatz leisten, nur wenig Wertschätzung, Dankbarkeit und Anerkennung. Wie viele Menschen haben eine Riesenwut im Bauch, weil sie, nachdem sie viele Jahre treu ihrer Firma gedient haben, plötzlich von einem Tag auf den andern ihren Job verloren haben. Und wie viele Menschen empfinden es als höchst erniedrigend, auf Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld angewiesen zu sein. Ist es da ein Wunder, wenn sie alle, die Frustrierten und Gedemütigten, sich dann nachts an ihre Computer setzen und ihren ganzen Frust, ihre Wut, ihre Verzweiflung und ihre Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle an anderen Menschen auslassen, um damit ihr kaputtes Selbstwertgefühl aufzumöbeln? Es greift zu kurz, diese „Internettäter“ als skrupellose, seelenlose Bösewichte abzustempeln. Böse sind nicht die Verbreiter von Beleidigungen und Hasstiraden im Internet. Böse ist die kapitalistische Leistungsgesellschaft, welche überhaupt erst dazu führt, dass sich so viele Menschen als nutzlos, minderwertig und ohnmächtig fühlen…