Archiv des Autors: Peter Sutter

Das Corona-Virus: Wenn alle davon sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen

Selten war die Diskrepanz zwischen einem realen Ereignis und seiner medialen Präsenz so gross wie beim Corona-Virus. Wer heute die Zeitung aufschlägt oder sich die Nachrichten am Fernsehen oder im Internet anschaut, muss schon fast den Eindruck haben, es habe bald das letzte Stündchen der Menschheit geschlagen. Dabei hat das Corona-Virus bis heute gerade mal 2619 Menschenleben gefordert, rund 40 Mal weniger, als im gleichen Zeitraum an der normalen Grippe gestorben sind. Ebenfalls im gleichen Zeitraum haben weltweit rund 300’000 Menschen ihr Leben durch einen Verkehrsunfall verloren – Stimmen, die vor den tödlichen Folgen des motorisierten Privatverkehrs warnen oder gar dessen Abschaffung fordern, sucht man indessen vergebens. Und ebenfalls im gleichen Zeitraum, da das Corona-Virus 2619 Menschenleben gefordert hat, sind weltweit rund 600’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres gestorben, weil sie zu wenig zu essen hatten, kein sauberes Trinkwasser oder keine Medikamente gegen tödliche Krankheiten. Würde man noch den täglichen weltweiten CO2-Ausstoss, die Klimaerwärmung, das Schmelzen des Polareises und die Unsummen, die täglich für militärische Aufrüstung verschleudert werden, erwähnen, dann würde wohl der Corona-Virus nur noch als kleine Randnotiz der medialen Berichterstattung erscheinen. Aber vielleicht ist es ja gerade das: Wenn alle vom Corona-Virus sprechen, braucht man von allem anderen nicht mehr zu sprechen…

Der Terroranschlag in Hanau DE: die tieferliegenden Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

Die Empörung über den Terroranschlag eines Rechtsextremisten gegen elf Menschen ausländischer Herkunft im hessischen Hanau ist riesig. Politiker und Politikerinnen landauf landab verurteilen die Tat aufs schärfste, überall werden Mahnwachen abgehalten, Tausende gehen auf die Strasse. Der Ruf nach einem härteren Vorgehen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ist unüberhörbar. Und doch ist das alles nicht anderes als reine Symptombekämpfung. Denn das Grundproblem ist nicht der wachsende Fremdenhass und die zunehmende Gewalt gegen Ausländerinnen und Ausländer. Das Grundproblem ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. Dieses kapitalistische Wirtschaftssystem hat nämlich eine wachsende soziale Ungleichheit zur Folge, sowohl in jedem einzelnen Land, wie auch weltweit, wo sich in immer weniger Händen immer grösserer Reichtum ansammelt, während sich gleichzeitig die Zonen von Elend, Armut und sozialer Ausgrenzung immer weiter ausdehnen. Auch in Deutschland sind immer mehr Menschen von den Schattenseiten jenes Wohlstands, in dem sich die Reichen und Reichsten sonnen, existenziell betroffen: Sie kommen finanziell kaum über die Runde, haben vielleicht ihren Job verloren, leiden unter sozialer Ausgrenzung. Dies alles führt zu Ohnmacht, Verzweiflung, Wut und Hass. Und an wem soll man diese Wut auslassen, wenn nicht an jenen, die sich erfrechen, von dem Kuchen, der immer kleiner wird, auch noch ein Stück abzuschneiden, Menschen, die von weit her gekommen sind, viele von ihnen „illegal“, und so tun, als wären sie hier zuhause. Armut und soziale Ausgrenzung sind der eigentliche Nährboden für Fremdenhass und Gewalt gegen Ausländer und Ausländerinnen. Das war schon in den Dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht anders, als die Juden und Jüdinnen zur Projektionsfläche jenes Hasses wurden, der durch die miserable Wirtschaftslage Deutschlands verursacht war. Gegen Rechtsextremismus polizeilich härter vorzugehen, mag ein probates kurzfristiges Mittel sein, um weitere Bluttaten wie jene von Hanau zu verhindern. Gleichzeitig aber, auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, ist alles daran zu setzen, das kapitalistische, auf soziale Ungleichheit ausgerichtete Wirtschaftssystem durch eine neue globale Ordnung zu ersetzen, in der jeder Mensch unabhängig von dem Ort, wo er geboren wurde, ein gutes Leben führen kann. Dann würden Fremdenhass und Rassismus endgültig der Vergangenheit angehören. Und die Ausländerinnen und Ausländer – als Projektionsfläche von Hass und Gewalt – wären gar nicht mehr da, weil sie nämlich alle in ihren Heimatländern, wo sie geboren wurden, ein gutes Leben führen könnten und nicht mehr gezwungen wären, in ein fernes, unbekanntes Land auszuwandern.

US-Vorwahlkampf der Demokraten: Wem die Argumente ausgehen, der greift zu den alten Feindbildern

Am „Super Tuesday“, dem 3. März, wird in rund einem Drittel der US-Bundesstaaten gewählt; und mit einem Sieg in den bevölkerungsreichsten Staaten Kalifornien und Texas würde der selbsternannte demokratische Sozialist Bernie Sanders zum klaren Spitzenreiter der Demokraten aufsteigen.

(W&O, 22. Februar 2020)

Immer wieder diese Etikette des „selbsternannten Sozialisten“, und dies sogar in einer Schweizer Tageszeitung und ohne Anführungszeichen. Die andere Etikette, die Bernie Sanders immer wieder angeheftet wird, ist die des „Kommunisten“. Und dies alles nur, weil er sich für ein staatliches Gesundheitssystem, für höhere Stipendien und für eine stärkere Besteuerung der Reichen und Reichsten ausspricht. Offenbar fehlen seinen Gegnern die guten Argumente und so greifen sie eben zum altbekannten Mittel des Feindbilds. Mit den Begriffen „Sozialismus“ und „Kommunismus“ soll die Assoziation an die frühere Sowjetunion geweckt werden, die in den Köpfen zahlloser Amerikaner und Amerikaner als das Böse schlechthin eingebrannt ist. Und dann sogar noch „selbsternannt“. Als wäre es nicht das Normalste in der Welt, dass ein Politiker seine Ziele ganz alleine aufgrund seiner eigenen, persönlichen Präferenzen definiert. Von wem soll er denn ernannt sein, wenn nicht von sich selber? Dann müsste man konsequenterweise Donald Trump und Mike Bloomberg als „selbsternannte Kapitalisten“ bezeichnen. Doch offensichtlich weckt der Begriff „Kapitalismus“ trotz aller Verbrechen und Ungerechtigkeiten, die in seinem Namen begangen wurden und weiterhin begangen werden, immer noch weniger Aversionen als der Begriff des „Sozialismus“. Doch vielleicht ist es nur noch eine Frage kurzer Zeit, bis sich das ändern könnte. Dass Bernie Sanders trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Etikette des „Sozialisten“ vor allem bei jüngeren Wählerinnen und Wählern punktet, gibt Anlass zu viel Hoffnung auf einen Zeitenwandel, der, wenn er in den USA tatsächlich geschähe, wohl unabsehbare Folgen für die ganze Welt hätte…

Ohne Zeitungen können wir endlich wieder mit gutem Gewissen rund um die Welt fliegen

„Um den Treibstoffverbrauch der Flugzeuge zu senken, brauchen wir vor allem leichtere Flugzeuge. Auch die Innenausstattung spielt eine wichtige Rolle. Das geht weiter bis in jeglichen Kleinkram hinein. Wir überlegen uns zum Beispiel, ob wir noch Zeitungen an Bord bringen sollen, denn schliesslich hat jede Zeitung ihr Gewicht.“

(Thomas Frick, Leiter Flugbetrieb Swiss, in der Nachrichtensendung „10vor10“ des Schweizer Fernsehens SRF1 am 20. Februar)

Offensichtlich sind Zeitungen an Bord des Flugzeugs das grössere Problem als die Einführung neuer, leichterer Flugzeuge. Und dies, obwohl die Herstellung dieser neuen Flugzeuge ja keineswegs klimaneutral erfolgt, sondern hierfür eine Unmenge an Rohstoffen, Energie und Geld verschlungen wird – ganz abgesehen von all dem Schrott und von den Kosten, welche dadurch entstehen, dass die alten, noch voll funktionsfähigen, aber zu schweren Flugzeuge ausrangiert werden müssen. Aber ja, ohne Zeitungen können wir ja dann getrost und ohne schlechtes Gewissen wieder weiterhin um die ganze Welt fliegen, in Flugzeugen, die viel viel leichter sind als die alten und viel viel weniger Treibstoff brauchen…

Ein neues Zeitalter, in dem der Mensch überflüssig geworden ist?

„Das Silicon-Valley ist fasziniert vom sogenannten Transhumanismus: Diese Ideologie, die besagt, der Mensch müsse seine Fähigkeiten – intellektuell, physisch oder psychisch – durch den Einsatz von Technik erweitern und fortentwickeln; in einer Art technisierter Evolution. Ich war letzthin an eine Diskussionsrunde eingeladen, an der ein Transhumanist darüber dozierte, dass die Menschen endlich die Fackel an die Technologie weitergeben müssen. Die Technologie trete die Nachfolge der Menschheit an, die Menschen müssten sich selbst überwinden. Als ich mich dann für den Menschen einsetzen wollte, erwiderte der Transhumanist, diese Frage würde ich nur deshalb stellen, weil ich ein Mensch sei.“

(Douglas Rushkoff, Autor und Musiker, in: Sonntagszeitung 16. Februar 2020)

Das Plädoyer für den Menschen schien den Transhumanisten zu irritieren. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, seinen Vortrag vor einer Gruppe von Robotern zu halten, die dann allesamt Fragen gestellt hätten, die ihm sympathischer gewesen wären. Denn genau das schwebt ihm ja vor: Eine Welt, in der sich der Mensch „überwindet“ und nach und nach von der Technologie überflüssig gemacht wird. Sind wir nicht bereits auf dem besten Weg dorthin? In Japan gibt es Hotels, in denen man an der Reception nicht mehr von einem Menschen, sondern von einem Roboter empfangen wird. In den USA gibt es Schulen, wo sich ein Kind, das Probleme hat, nicht mehr an seine Lehrerin, einen Schulsozialarbeiter oder eine Schulpsychologin aus Fleisch und Blut wenden kann, sondern mit einem Roboter Vorlieb nehmen muss, der mit sämtlichen Problemen, die ein Kind in einem bestimmten Alter haben kann, gefüttert ist. In vielen Alters- und Pflegeheimen kommen bereits heute Roboter zum Einsatz, welche die Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen, die zuvor vom Pflegepersonal geleistet wurde. Selbst Operationen werden immer öfters von Robotern ausgeführt, der Arzt oder die Ärztin sitzt am Bildschirm, von wo aus alles gesteuert wird. Ganze Häuser werden schon nicht mehr von Maurern, Zimmerleuten und Gipsern gebaut, sondern von ferngesteuerten Robotern. Und selbst die Kunst ist für die Künstliche Intelligenz kein Tabu mehr: Roboter malen Bilder, schreiben Bücher und komponieren ganze Musikwerke. Geht die Entwicklung im gleichen Tempo weiter wie in den vergangenen zehn Jahren, dann könnten die Transhumanisten tatsächlich Recht bekommen und der Mensch wäre eines Tages gänzlich überflüssig geworden. Doch wer und was treibt diese ganze Entwicklung überhaupt an? Wer und wann und weshalb hat uns Menschen den Auftrag gegeben, uns selber überflüssig zu machen? Die Antwort ist einfach: Alles hat damit angefangen, dass es ein Ziel gibt, mit dem alle einverstanden sind, das Ziel nämlich, alle Produktions- und Arbeitsläufe permanent zu „optimieren“, das heisst: immer schneller und billiger zu machen. Und sobald auch nur eine einzelne Firma, ein einziges Unternehmen damit angefangen hat, sind alle anderen gezwungen, es ihm gleich zu tun oder noch besser: es zu überflügeln, was wiederum dazu führt, dass das erste Unternehmen, das damit angefangen hat, sich noch etwas Raffinierteres als alle anderen einfallen lassen muss, um nicht auf der Strecke zu bleiben – das kapitalistische Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Widersacher des anderen ist, ein Karussell, das sich naturgemäss immer schneller dreht und dabei nicht bloss eine endlos wachsende Menge an zunehmend überflüssigen Produkten herstellt, sondern auch eine zunehmende Zahl an Opfern, die das immer schneller werdende Tempo nicht mehr mitzuhalten vermögen. Und weil der arbeitende Mensch der grösste Kostenfaktor ist, geht es eben darum, mit immer weniger Menschen eine immer grössere Arbeitsleistung zu schaffen bzw. immer mehr Tätigkeiten, die bisher von Menschen erbracht wurden, an Roboter, Computer und Maschinen zu delegieren. Und so geht das immer weiter: Wenn Firma A ihre Häuser nur noch mithilfe von Robotern baut, müssen auch alle anderen Firmen ihre Häuser mit der Zeit mithilfe von Robotern bauen lassen, wenn nicht, wird ihr Konkurrenznachteil früher oder später so gross, dass sie auf der Strecke bleiben. Wenn wir daher diese Entwicklung, diesen „Transhumanismus“ nicht einfach widerspruchslos über uns hinwegrollen lassen und uns, als Menschen, überflüssig machen wollen, dann genügt es nicht, den Mahnfinger gegenüber dem einen oder anderen Exzess zu erheben. Es geht um etwas viel Grundlegenderes: Es geht darum, Arbeit, Produktion und Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen und das bisherige Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Feind des anderen ist, durch das Prinzip der Kooperation und des Gemeinwohls zu ersetzen, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Unternehmen zu Unternehmen, von Land zu Land. Das schliesst technische Fortschritte ganz und gar nicht aus. Aber nicht in Form einer Dampfwalze, die ungefragt über uns Menschen hinwegrollt und uns in letzter Konsequenz überflüssig zu machen droht. Sondern in Form nützlicher Werkzeuge, die ein gutes Leben ermöglichen, und zwar weltweit. Um diese Transformation zu schaffen, braucht es nicht die Überwindung des Menschen, sondern, ganz im Gegenteil, seine ganze Phantasie, seine Kreativität, seine Sensibilität, seine soziale und praktische Intelligenz – genau all das, was niemals eine Maschine, ein Computer oder ein Roboter zu leisten vermögen!

Klimawandel und Politik: Damit endlich nichts mehr so weitergeht, wie es immer schon weitergegangen ist

„Ich will höher, schneller, weiter“, sagt Martin Neukom, der grüne Zürcher Regierungsrat und Baudirektor, in den die Klimabewegung so grosse Hoffnung gesetzt hatte. „Aber ich muss akzeptieren, dass es nicht so läuft. Vorlagen zu erarbeiten, dauert. Alles muss von zahlreichen Juristen und Fachleuten geprüft werden. Ein Chefbeamter sagte zu mir: ‚Bitte keine neuen Ideen mehr. Es kann nicht alles gleichzeitig gehen.'“ Und der frühere Regierungsrat Markus Notter meint dazu: „Man braucht zwei Jahre, bis man voll im Amt drin ist. Die Maschine läuft von selber. Neu ist nur der Mensch an der Spitze. Und die Maschine tut so, als ob der Neue schon hundert Jahre da wäre. Alles geht weiter, wie es immer schon weitergegangen ist.“

(Tages-Anzeiger, 19. Februar 2020)

Was wohl all die Familien in Australien, die durch die verheerenden Brände der letzten Monate all ihr Hab und Gut verloren haben, dazu sagen würden, wenn sie das wüssten? Und all die Bewohnerinnen und Bewohner zahlloser Südseeinseln, deren Wohngebiete schon in wenigen Jahren unwiederbringlich überflutet sein könnten? Und der Eisbär, der irgendwo im hohen Norden einsam auf einer winzigen Eisscholle herumtreibt, weil die grosse Eismasse, auf der er lebte, immer mehr in einzelne Stücke zerbröckelt? Haben wir wirklich noch die Zeit, neue Ideen auf die lange Bank zu schieben, Projekte gegen den Klimawandel jahrelang von einem Amt zum andern, von einem Juristen zum nächsten zu schieben, alles durch Vernehmlassungen hindurchzusieben, bis nichts mehr vom  ursprünglichen Inhalt übrig bleibt? Fast ist man versucht zu sagen, dass man eine solche „Maschine, die von selber läuft“, wohl doch eher als Diktatur denn als Demokratie bezeichnen müsste, eine sehr raffinierte Form von Diktatur freilich, die sich das Gesicht einer Demokratie zu geben versucht, in der aber in Tat und Wahrheit unerbittlich die Interessen der Wirtschaft und des Kapitals stets Vorrang haben vor den Interessen der Menschen. Da zeigt sich wieder, wie aktuell die Forderung nach einem „System Change“ ist, welche die jungen Menschen bei den Klimastreiks auf ihren Transparenten vor sich her tragen. Damit endlich, es ist allerhöchste Zeit, nichts mehr einfach so weitergeht, „wie es schon immer weitergegangen ist.“

Mattea Meyer und Cédric Wermuth: „Linker Aufbruch“ oder Anpassung ans kapitalistische Macht- und Denksystem?

Einen „linken Aufbruch“ versprechen Mattea Meyer und Cédric Wermuth, das Kandidatenduo für das SP-Parteipräsidium zur Nachfolge von Christian Levrat, in einem soeben publizierten Positionspapier. Die Ziele: die Verleihung des Schweizer Bürgerrechts für Ausländerinnen und Ausländer ab der Geburt, Abgaben auf Milliardenvermögen zur Finanzierung der Massnahmen gegen den Klimawandel, Begrenzung der Mieten durch einen Renditedeckel, einheitliche und höhere Besteuerung der Firmen, Lohnerhöhungen für Pflegeberufe, Lancierung einer neuen, linken Informationsplattform.

(Tages-Anzeiger, 18. Februar 2020)

Die von Mattea Meyer und Cédric Wermuth präsentierten Ziele sind zwar sehr begrüssenswert, offenbaren aber zugleich das Dilemma zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Anspruch: die Überwindung des Kapitalismus – nicht nur eine Kernbotschaft der Juso, sondern auch offizieller Bestandteil des aktuellen SP-Parteiprogramms. Die Wirklichkeit: eben dieser Kapitalismus, der uns zwingt, in kleinen Schritten zu denken und Veränderungen nur so weit zu fordern, als sie sich innerhalb des kapitalistischen Denk- und Machtsystems verwirklichen lassen und dieses nicht in Frage stellen. Ich hoffe, dass sich Mattea Meyer und Cédric Wermuth nicht von ihrer Vision einer Überwindung des Kapitalismus verabschiedet haben. Kleine Schritte in der politischen Tagesrealität mögen hilfreich sein und den betroffenen Menschen viel Leid ersparen. Dennoch sollten die darüber hinaus weisenden Visionen und Träume von einer neuen, gerechteren und friedlicheren Welt jenseits des Kapitalismus nicht verloren gehen. „Im Jugendidealismus“, so der bekannte Urwaldarzt Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den er gegen nichts in der Welt austauschen darf.“

Kostenloser ÖV: Keine Option für die Schweiz?

Jährlich fliessen fast zwei Milliarden Kantons- und Bundesgelder in den regionalen öffentlichen Verkehr. Auf diese Weise werden Angebote mit Bussen, Zügen, Schiffen, aber auch Seilbahnen in der ganzen Schweiz unterstützt. Das eingeschossene Geld ist bitter nötig: Von über 1400 Strecken, welche 2019 unterstützt wurden, rentieren gerade mal 18. Auf fast 500 Strecken decken die Einnahmen nicht einmal ein Drittel der Kosten. Die teilweise tiefen Kostendeckungsgrade führen nun dazu, dass der Bund 33 Verbindungen überprüft. Die Folge: Der Bund könnte aus der Finanzierung aussteigen. Im schlimmsten Fall droht gar die Einstellung von Strecken, falls Kantone das wegfallende Geld nicht selber einschiessen wollen.

(Tages-Anzeiger, 17. Februar 2020)

In Zeiten des Klimawandels und der Diskussion über die Zukunftstauglichkeit des privaten Automobils über Abstriche beim öffentlichen Verkehr nachzudenken, ist ein Anachronismus besonderer Art. Eigentlich müsste die Diskussion genau in die entgegengesetzte Richtung gehen: Die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs müsste nicht geschmälert, sondern im Gegenteil gesteigert werden, am besten durch einen generellen Nulltarif und einen Verzicht auf jegliches Renditedenken. In Luxemburg ist die Benützung des öffentlichen Verkehrs seit diesem Jahr kostenlos. Weshalb sollte sich das, was sich Luxemburg leistet, nicht die viel reichere Schweiz nicht ebenso leisten können?

SRF im Sparmodus: Das geht früher oder später an die Grundsubstanz der Demokratie

SRF steht 2020 unter Spardruck und reduziert die Auslagen seiner Mitarbeiter drastisch. Für die Sportredaktion kommt dies in einem pikanten Moment: im Jahr von logistisch teuren Sommerspielen in Japan, der Fussball-EM mit Schweizer Auftritten im fernen Aserbaidschan und Heim-Weltmeisterschaften im Eishockey und Rad. Mehr und mehr reisen die Mitarbeiter nicht mehr den Schweizer Sportstars hinterher. Es kommt das Unternehmen schlicht zu teuer. Zu einer Zäsur kommt es ausgerechnet auch im Spätherbst von Roger Federers Karriere: Erstmals überhaupt wird das prämierte Kommentatoren-Duo Stefan Bürer und Heinz Günthardt vom US Open nicht aus New York berichten – sondern aus Zürich. Das sorgt nicht nur bei den Tennisfans für Irritationen, sondern auch intern. Im Fall von Günthardt geht SRF sogar noch weiter: Eine Vielzahl der Einsätze des Tennis-Experten werden gestrichen.

(www.20minuten.ch)

Zuerst Aeschbacher. Dann Schawinski. Und jetzt also auch noch Heinz Günthardt. SRF zieht seine Sparschraube spürbar immer härter an. Und dies, obwohl die Schweizer Bevölkerung in der Abstimmung zur Beibehaltung der Billag-Gebühren mit ihrem deutlichen Ja dem öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen ihr volles Vertrauen ausgesprochen hat. Sind Abstimmungen nichts mehr wert? Funktioniert Demokratie neuerdings so? Ist eine Sendung wie jene der „Rundschau“ vergangene Woche zum Thema Crypto-Leaks, für die drei Mitarbeiterinnen ein halbes Jahr lang recherchierten, in einem oder zwei Jahren auch noch möglich? Fragen über Fragen, die nichts Gutes erahnen lassen. Dafür, so wird man uns beschwichtigen, können wir ja neuerdings rund um die Uhr aus über 200 Fernsehsendern auswählen. Was für ein Trost…

60 Billionen Dollar: Kein gutes Argument gegen Bernie Sanders politisches Programm

Es ist schwer vorstellbar, dass die Amerikaner Bernie Sanders zum Präsidenten wählen würden. Sanders schwebt ein totaler Umbau Amerikas vor. Er möchte das Gesundheitswesen verstaatlichen, die Studiengebühren abschaffen sowie Studentendarlehen von 1,6 Billionen Dollar erlassen, er will allen Bürgern einen Job garantieren, bei grossen Firmen einen Fünftel des Aktienkapitals der Belegschaft übergeben und das Fracking verbieten. Fachleute schätzen die Kosten seiner Revolution auf 60 Billionen Dollar für das kommende Jahrzehnt. Zahlen sollen dafür Konzerne und Reiche.

(NZZ am Sonntag, 16. Februar 2020)

Wenn die Kosten das einzige Argument gegen das politische Programm von Bernie Sanders sind, dann lässt sich dieses leicht entkräften. Ist doch alles, was wir heute an Kosten „einsparen“, ein blosses Hinausschieben in eine immer gefährlicher und unsicher werdende Zukunft. Beispiel Klimawandel: Schon in fünf oder zehn Jahren könnten die durch die Klimaerwärmung, durch Dürren, Unwetter und den ansteigenden Meeresspiegel verursachten Kosten jene 60 Billionen Dollar, die Bernie Sanders Programm angeblich verursachen werden, um ein Mehrfaches übersteigen. Beispiel Finanzsystem: Ein höchst zerbrechliches Gebilde, das schon in wenigen Jahren in sich zusammenbrechen und ganze Volkswirtschaften in den Abgrund reissen könnte. Beispiel soziale Kluft zwischen Arm und Reich: Volksaufstände wie im Irak, in Chile oder Argentinien sind wohl erst der Anfang, früher oder später werden auch in den USA und in vielen weiteren Ländern des Nordens die von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffenen Menschen auf die Strassen gehen, ungeahnte soziale Erschütterungen könnten die Folge sein. Beispiel militärische Rüstung: Immer höhere Summen werden weltweit für sinnlose militärische Aufrüstung verschleudert, wobei die USA beinahe so viel Geld ausgeben wie alle anderen Länder zusammen. Doch das Produzieren der Waffen ist nur das eine – das andere ist die Horrorvorstellung, dass diese Waffen eines Tages auch tatsächlich zum Einsatz kommen könnten und dann höchstwahrscheinlich Kosten verursachen würden, die man sich gar nicht mehr vorzustellen vermag. Ein US-Präsident, der für eine Politik des sozialen Ausgleichs, für griffige Massnahmen gegen den Klimawandel und für internationale Dialogbereitschaft anstelle gegenseitiger Drohungen und eines immer massloseren Wettrüstens einsteht, ein solcher US-Präsident würde uns zukünftige gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und menschliche Kosten ersparen, die jene 60 Billionen Dollar, die sein politisches Programm erfordern würde, um ein Vielfaches übersteigen würden.