Archiv des Autors: Peter Sutter

Technische Lösungen allein bringen uns nicht weiter

Mit einem neuen Computerprogramm der US-Firma Talespin können Arbeitgeber üben, wie sie auf möglichst empathische Weise Mitarbeitende entlassen können. Der Nutzer kann aus verschiedenen Sätzen auswählen, wie er dem Mitarbeiter die Botschaft überbringen will. Wenn man sich geschickt anstellt, akzeptiert Barry, der fiktive Angestellte, sein Schicksal fast klaglos. Wählt man die falschen Formulierungen, fängt er an zu weinen oder wird gar aggressiv. Dabei bewegt Barry seine Gesichtszüge so detailreich, dass er fast wie ein echter Mensch wirkt. Seine Körperhaltung stammt von einem Schauspieler, dessen Bewegungen aufgezeichnet wurden. Psychologen, Verhaltensforscher und Designer haben Barrys emotionale Reaktionen entworfen. Wer die Simulation spielt, kann durchaus das Gefühl entwickeln, er habe es mit einem echten Menschen zu tun. Bei der Verwendung des Programms stellen die Probanden allerdings fest, dass ihre Empathie, wenn sie Barry einige Male gefeuert haben, nach und nach einer gewissen Gleichgültigkeit weicht, was somit dazu führen könnte, dass es ihnen in Zukunft sogar leichter fallen würde, Mitarbeitende zu entlassen.

Ein besonders drastisches Beispiel für den sich immer mehr ausbreitenden Trend, ein gesellschaftliches Problem mit technischen Mitteln lösen zu wollen. Dabei liegt das eigentliche Grundproblem ja nicht daran, wie empathisch oder unempathisch ein Angestellter auf die Strasse gestellt wird. Das eigentliche Grundproblem liegt vielmehr daran, dass Unternehmen überhaupt – aufgrund des gegenseitigen Konkurrenzkampfs und des Zwangs zu laufend steigender Rentabilität – Menschen, die über Jahre hervorragende Leistungen erbracht haben, von einem Tag auf den andern auf die Strasse stellen müssen. Das Computerprogramm gaukelt nun vor, dass Entlassungen in dieser Firma fortan ganz besonders sorgfältig und „menschlich“ vorgenommen werden – und versperrt damit zugleich den Blick auf die grundlegenden Ursachen des Problems sowie möglicher gesellschaftspolitischer Lösungsansätze. Genau das Gleiche beim Automobil: Eifrigst beschäftigt man sich zurzeit mit der Entwicklung von Alternativen zum herkömmlichen Benzinauto. Und auch hier wird durch in Aussicht gestellten technische Lösungen der Blick auf die grundlegenden gesellschaftspolitischen Aspekte verbaut, auf die Frage nämlich, ob es tatsächlich sinnvoll – und ökologisch verantwortbar – ist, dass jeder Mensch auf ein eigenes privates Verkehrsmittel Anspruch hat oder ob es nicht viel sinnvoller wäre, den öffentlichen Verkehr so umfassend auszubauen, dass es das private Automobil gar nicht mehr brauchen würde.

Besonders krass zeigt sich der Trend, sämtliche gesellschaftliche Probleme mit technischen Mitteln lösen zu weisen, auch im Bildungswesen. An einzelnen Schulen, vor allem in den USA, ist die Digitalisierung bereits so weit vorangeschritten, dass die Schülerinnen und Schüler schon die meiste Unterrichtszeit am Computer sitzen und die früheren Lehrkräfte aus Fleisch und Blut weitgehend überflüssig geworden sind – mit der Folge, dass die Schülerinnen und Schüler kaum mehr miteinander reden, sich gegenseitig über Erlebnisse, Ideen, Erfahrungen und Gefühle kaum mehr austauschen und nicht zuletzt auch ihr kritisches Denken auf der Strecke bleibt. Dass allenthalben technische Lösungen verfolgt werden, wo eigentlich grundlegende gesellschaftspolitische Diskussionen gefragt wären, ist freilich kein Zufall: Sowohl mit einem Computerprogramm für Mitarbeiterschulung, wie auch mit Elektromobilen, der Digitalisierung der Schulen und vielem, vielem mehr lassen sich Unsummen von Geld verdienen. Das Fatale daran: Der Kapitalismus, der dies alles überhaupt erst möglich macht, wird durch all das erst recht verfestigt. Wo alle nur noch in ihre Bildschirme starren und sich elektronisch miteinander verkabeln und berauschen lassen, wird nirgendwo mehr zwischen zwei Menschen jener Funken springen, der die Revolution oder wenigstens den ersten Schritt dazu auslösen könnte…

Frank A. Meyer wirft den Grünen eine Verbotsideologie vor: Kann man denn tatsächlich so kurzsichtig sein?

„Nicht nur in Zürich, in der Schweiz, in Europa ist die Grüne Partei eine Bewegung der Verbote. Vom Autoverbot übers Fleischverbot zum Flugverbot ist die anmassende Utopie-Moral der autoritär gestimmten Grünen gespickt mit Verbotsideen.“

(Frank A. Meyer, in: www.blick.ch, 2. Februar 2020)

Kann man so kurzsichtig sein! Wenn die Grünen unser heutiges Konsumverhalten kritisch hinterfragen und allenfalls auch einschränken möchten, so tun sie das ja nicht, weil sie irgendwem etwas nicht gönnen möchten. Im Gegenteil: Lebensqualität hat auch für die Grünen oberste Priorität. Nur möchten die Grünen nicht, dass von dieser Lebensqualität nur die heutige Generation profitiert und blindlings so viel verprasst, dass für zukünftige Generationen nichts mehr übrig bleibt. Damit die Menschen auch in 50 oder 100 Jahren noch etwas Essbares auf dem Teller haben, kommen wir wohl nicht daran vorbei, unseren heutigen Konsum und unsere Freizeitvergnügungen drastisch einzuschränken. Ist, lieber Herr Meyer, dieses bisschen Solidarität mit unseren Kindern und Kindeskindern schon zu viel verlangt? Ich hoffe, Sie kommen in 100 Jahren noch einmal zur Welt. Dann werden sie wohl eine ganz andere Kolumne schreiben als die, welche sie heute geschrieben haben…

Die unsichtbaren Zimmermädchen von Ibiza: Am untersten Rand der kapitalistischen Machtpyramide

„Wir Zimmermädchen sind unsichtbar. Dagegen kämpfe ich. Als ich vor fünf Jahren von der Gastronomie in die Hotelreinigung wechselte, glaubte ich nicht, was über die Branche erzählt wurde. Die übertreiben alle, dachte ich. Doch der Alltag war noch viel schlimmer. Wir transportieren Matratzen allein auf den Schultern, manchmal trifft man auf Kot am Boden, und wenn wir ein Zimmer allein putzen, sind wir nicht vor sexuellen Übergriffen geschützt. In vielen Hotels hat man nur 15 Minuten pro Zimmer, egal in welchem Zustand man es vorfindet. Da kann man gar nicht sauber putzen. Und wenn der Hotelmanager am nächsten Morgen eine negative Bewertung auf Tripadvisor findet, fällt das auf das jeweilige Zimmermädchen zurück. Von all dem erzählten wir 2018 dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Wir, das sind Las Kellys, ein Zusammenschluss spanischer Zimmermädchen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Wir verzeigen etwa Arbeitgeber, die sich nicht ans Arbeitsrecht halten, und demonstrieren vor Hotels, die die Zimmerreinigung an Reinigungsunternehmen auslagern. Am Anfang hatte ich Angst vor den Hotelmanagern, jetzt haben sie Angst vor uns. Trotzdem denke ich oft daran auszugeben. Weil es ein Stress ist, in den Medien zu sein, neben oder sogar während der Arbeit Interviews zu geben, das Telefon zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt. Ich habe keine Zeit mehr für mich gehabt, entwickelte eine nervöse Bulimie, machte eine Scheidung durch. Woher ich die Kraft nehme, um weiterzumachen? In der Scheisse zu stecken, das gab mir Kraft. Dabei könnte es ja eine schöne Arbeit sein. Zugang zu einem total intimen Raum zu haben. Das gefällt mir. Doch irgendwann kannst du einfach nicht mehr dreissig Zimmer an einem einzigen Tag putzen.“

Ob all jene Gäste, die nach einem Hotelbesuch im Internet eine negative Wertung abgeben, sich auch schon mal gefragt haben, was sie damit anrichten? Sie könnten, wenn sie mit der Sauberkeit ihres Zimmers nicht zufrieden sind, ja auch das zuständige Zimmermädchen ansprechen und würden dann vielleicht erfahren, dass dieses Zimmer auch mit dem besten Willen in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht besser hätte gereinigt werden können. Sie würden sich dann vielleicht vom Zimmermädchen ein Putztuch geben lassen, den störenden Flecken beseitigen oder zum Hotelmanager gehen, um ihn aufzufordern, die Zeitlimiten für das Reinigen der einzelnen Zimmer heraufzusetzen. Aber nein, lieber schweigen sie, machen ein freundliches Gesicht und gehen, sobald sie zu Hause sind, ins Internet, um ihre Beanstandung loszuwerden. Genau so ist das im Kapitalismus: Statt einander zu helfen und füreinander Sorge zu tragen, drückt jeder den anderen in den Boden hinein. Vielleicht ist ja der Gast, der seine Beanstandungen übers Internet loswird, in seiner eigenen beruflichen Tätigkeit selber ebenfalls permanenter Kontrolle, grossem Stress und häufigen Beanstandungen ausgesetzt, so wie das fast in sämtlichen Berufen immer öfters der Fall ist. Was für eine Verschleuderung menschlicher Ressourcen, was für ein Unding, die eigenen Frustrationen an anderen abzuladen und damit das Ganze immer nur noch schlimmer und schlimmer zu machen. Das Fatalste daran ist, dass ausgerechnet jene Werktätigen, die mit härtester Arbeit und geringster Entlohnung am untersten Rand dieser Machtpyramide stehen, zugleich die geringste Chance haben, sich für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen, weil sie, wie das Beispiel der spanischen Zimmermädchen zeigt, schlicht und einfach von ihrer Arbeit schon so erschöpft und ausgelaugt sind, dass sie gar keine Kraft mehr haben, sich politisch oder gewerkschaftlich zu betätigen. Dem Abhilfe schaffen könnte einzig und allein eine weltweite Einheitsgewerkschaft, in der sich sämtliche Berufstätigen, ob sie nun Bankangestellte, Lehrer, Gärtnerinnen oder Zimmermädchen sind, gegenseitig und füreinander solidarisieren. Gewerkschaften dagegen, die nur eine einzelne Berufsgruppe umfassen, haben mit echter Solidarität wenig zu tun und sind eigentlich nur Interessenvertreter einer bestimmten Gruppe innerhalb der kapitalistischen Machtpyramide.

Der Kapitalismus: das System in unseren Köpfen

„Wir sind in diesem System geboren“, sagt Maria, 21, aus Taganrog am Asowschen Meer, im TAM vom 1. Februar 2020, „und dieses System ist in unseren Köpfen. Das macht es sehr, sehr schwierig, auch nur daran zu denken, dass man es ändern könnte.“

Was die junge Russin über das „System Putin“ sagt, könnte man mit den genau gleichen Worten auch über das System „Kapitalismus“ sagen. Wir wähnen uns zwar im Reich der Freiheit, der Demokratie und der Selbstbestimmung, schauen selbstgefällig auf autokratisch geführte Staaten wie Russland und China und wehren uns gegen jegliche Form von Bevormundung, Manipulation und Einschränkung unseres Denkens und Handelns durch staatliche Obrigkeiten. Dennoch sind auch wir alle nur Kinder unserer Zeit, hineingeboren in eine Welt, die nicht vom Zufall oder einer Laune der Natur geprägt ist, sondern von ganz spezifischen Gesetzmässigkeiten, die wir sozusagen schon mit unserer Muttermilch in uns aufgesogen und die sich von klein auf in unseren Köpfen eingebrannt haben. So etwa ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass der Mensch von Natur aus ein sehr fürsorgliches, soziales Wesen ist. Dies wird im Kapitalismus ganz gründlich auf den Kopf gestellt. Hier orientiert sich alles einzig und allein auf der individuellen Leistung des Einzelnen: Du sollst schneller, stärker, besser, gescheiter sein als die anderen, dann wirst du Erfolg haben. Ein grösseres Auto zu haben als andere, ein Haus zu besitzen statt bloss eine Wohnung, in den Ferien nach Ibiza zu fliegen statt bloss mit dem Velo um den Bodensee zu fahren, grössere Muskeln zu haben als der Durchschnitt, mehr zu verdienen als dein Arbeitskollege – all dies ist erstrebenswert und führt dazu, dass sich der typisch kapitalistische Mensch zwar fürchterlich darüber aufregt, wenn er für einen Kaffee fünf Franken statt viereinhalb Franken zahlen muss, dass es ihn aber mehr oder weniger kalt lässt, dass gewisse Leute bis zu 300 Mal mehr verdienen als andere oder zahllose Menschen so wenig verdienen, dass sie davon nicht einmal leben können.

Zurück zu Maria aus Tangarog. Sie würde sich wahrscheinlich wünschen, dass man das „System Putin“ gnadenlos kritisch unter die Lupe nehmen, alle seine inneren Widersprüche aufdecken und eine auf menschlichen Grundwerten beruhende Gesellschaftsordnung aufbauen müsste. Und genau dies wäre auch in Bezug auf den Kapitalismus zu fordern: ein schonungsloses Aufdecken seiner Machtstrukturen, seiner Wirkungsweise, seiner inneren Mechanismen, in den Schulen, an den Universitäten, in den Medien, an eigens hierfür zu schaffenden Denkfabriken. So etwas wie eine „Qualitätskontrolle“, wie dies heute schon für jeden noch so kleinen Betrieb, jedes Unternehmen oder jede Schule selbstverständlich ist. Wenn diese Qualitätskontrolle dann ergibt, dass der Kapitalismus die beste aller möglichen Gesellschaftsordnungen ist: umso besser. Wenn nicht, dann wäre es höchste Zeit, etwas Neues, Besseres an dessen Stelle aufzubauen.

Sichtbare und unsichtbare Formen von Gewalt: zweierlei Mass

Revolutionäre Ideen und radikale Systemkritik, verbunden mit einer gefährlichen Nähe zur Gewalt: Das Portal Linksunten.indymedia, über das linke Aktivisten und Globalisierungsgegnerinnen bis zur Antifa kommuniziert hatten, wurde im Sommer 2017 vom damaligen deutschen Innenminister Thomas de Maizière verboten. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Verbot bestätigt.

(Tages-Anzeiger, 31. Januar 2020)

Ich bin auch dafür, dass man Internetportale, die zu Gewalt aufrufen, verbietet. Konsequenterweise müsste man dann aber auch das Internetportal der Crédit Suisse und zahlreicher weiterer Grossbanken verbieten, haben deren Investitionen in die Produktion und den Handel mit Rohstoffen und Bodenschätzen doch nicht nur für die dortige Bevölkerung, sondern auch für Tiere und Pflanzen unabsehbare tödliche Folgen heute und in der Zukunft. Und auch die Internetportale der meisten Anbieter von Elektrogeräten, Textilien und Spielsachen, die in Billiglohnländern hergestellt werden, müsste man schliessen, denn auch Nachtarbeit, 16-Stunden-Arbeitstage, Kinderarbeit, Arbeiten im Akkord und Hungerlöhne sind Formen von Gewalt. Und erst recht müsste man über die Internetportale von Rüstungsfirmen ein Verbot verhängen, werden hier doch Produkte angepriesen, deren einziges Ziel es ist, andere Menschen möglichst treffsicher und kostengünstig umzubringen. Gewalt ist eben nicht Gewalt. Es gibt sichtbare Gewalt und es gibt unsichtbare Gewalt. Sichtbare Gewalt, das sind Demonstranten, die Pflastersteine oder Molotowcocktails werfen, Fassaden verschmieren oder Polizisten in Scharmützel verwickeln. Die unsichtbare Gewalt, deren Folgen weitaus viel gravierender sind, das ist die Gewalt des herrschenden kapitalistischen Machtsystems, das wir alle aber so sehr von klein auf verinnerlicht haben, dass uns seine Gewalttätigkeit schon gar nicht mehr bewusst ist und wir im Gegenteil uns sogar in der Illusion wiegen, es wäre doch alles so schön und friedlich, wenn es bloss nicht ein paar fehlgeleitete Chaoten und Krawallmacher gäbe. Systemgewalt und Individualgewalt – zu diesem Thema müsste es ein neues Internetportal geben, darüber müsste man diskutieren. Dringend nötig wäre es…

Finnland und Neuseeland: Kapitalismus contra Demokratie

Zuerst Neuseeland, dann Finnland: In beiden Staaten sind junge Frauen an die Regierungsspitze gewählt worden, die ihr Land mit neuen Ideen in die Zukunft führen wollen. In Neuseeland hat die 2017 gewählte Premierministerin Jacinda Ardern (39) versprochen, das Bruttoinlandprodukt durch einen Wohlfühlindex zu ersetzen. In Finnland will die im Dezember 2019 eingesetzte Ministerpräsidentin Sanna Marin (34) ebenfalls die Sparbremse lösen und den Wohlfahrtsstaat ausbauen. Nun aber erleiden beide Regierungschefinnen einen Rückschlag. In Neuseeland liegt der Grund bei einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Und in Finnland hat die Finanzratingsagentur Fitch dafür gesorgt, dass der jungen Ministerpräsidentin nun ein eisiger Wind ins Gesicht bläst. Fitch hat nämlich vergangene Woche das 2018 ausgesprochene Versprechen, Finnland von AA+ wieder in die Top-Position AAA anzuheben, zurückgenommen. Jan von Gerich, Chefanalyst beim Finanzinstitut Nordea, kommentiert auf Twitter: «Fitch hat die Aussichten Finnlands aus Gründen wie der lockeren Finanzpolitik der Regierung, der Stagnation der Strukturreform, der Verwässerung des Wettbewerbspakts und der Zunahme der politischen Instabilität herabgestuft.» Man müsse alles unternehmen, um den entgegengesetzten Kurs einzuschlagen. Für die beiden jungen Hoffnungsträgerinnen in Neuseeland und Finnland bedeutet das eine Schlappe. Sie waren gekommen, um mit grossem Enthusiasmus und neuen Ideen das Steuer herumzureissen. Nun werden sie von der Realität eingeholt.

(www.blick.ch, 30. Januar 2020)

Die Beispiele zeigen, wie eng die roten Linien sind, welche der Kapitalismus der Demokratie setzt. Demokratie mag gut und recht sein, so lange man sich an die kapitalistischen Regeln hält und diese nicht verletzt. Kommen durch demokratische Wahlen Volksvertreter oder Volksvertreterinnen an die Macht, deren Ideen und Visionen kapitalistischem Profit- und Gewinndenken diametral widersprechen, dann schlägt der Kapitalismus gnadenlos zu und lässt die unliebsamen Politiker und Politikerinnen erbarmungslos im Regen stehen. Besonders krass ist es im Fall von Finnland: Die Ratingagentur Fitch verweigerte dem Land eine Aufstufung seiner Kreditwürdigkeit wegen „lockerer Finanzpolitik“, „Stagnation von Strukturreformen“, „Verwässerung des Wettbewerbspakts“ und „Zunahme der politischen Instabilität“. Nicht die finnische Bevölkerung und die von ihr gewählte Regierung bestimmen also den zukünftigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs des Landes, sondern eine private, demokratisch nicht legitimierte Institution in den fernen USA, für die Finnland nichts anderes ist als eines von weltweit rund 200 kapitalistischen Ländern, das bitteschön so wie alle anderen brav zu gehorchen hat. Umso begrüssenswerter der Mut, mit dem diese Frauen an der Spitze von Finnland und Neuseeland offensichtlich nicht so schnell bereit sind, ihre Visionen aufzugeben. Mögen es doch in Bälde schon viele andere ihnen gleichtun – damit sich die über Jahrhunderte gebauten Mauern früher oder später nicht mehr zu wehren vermögen gegen die unzähligen neuen Pflanzen, die an allen Ecken und Enden aus ihnen hervorspriessen, um sie eines Tages endgültig zum Einsturz zu bringen…

 

Kapitalistische Klassenjustiz: Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen

Vier kleinere Diebstähle – 20 Franken aus der Münzkasse einer Waschmaschine, ein Portemonnaie im Wert von 220 Franken sowie Sonnenbrillen im Wert von insgesamt 770 Franken -, drei gescheiterte Diebstahlversuche, Schwarzfahren und das „Entleihen“ eines Velos – dies die Delikte, für die sich ein 28-Jähriger gemäss „St. Galler Tagblatt“ vom 29. Januar 2020, dieser Tage vor dem Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland zu verantworten hatte. Weil Unverbesserliche strenger bestraft werden als Ersttäter, forderte die Anklage für den jungen Mann zehn Monate Haft. Die Verteidigung anderseits forderte Milde, nicht zuletzt in Anbetracht der schwierigen Jugendzeit des Angeklagten – er wurde von seinem Stiefvater, bei dem er lebte, immer wieder brutal verprügelt -, sowie auch, weil die Diebstähle als geringfügig einzuschätzen seien und zwei von ihnen nicht einmal bewiesen werden konnten. Dennoch fiel das Strafmass ganz im Sinne der Anklage aus und der junge Mann wurde zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt.

So etwas muss man schlicht und einfach als „Klassenjustiz“ bezeichnen. Eine Klassenjustiz, die knallhart zwischen „legalem“ und „illegalem“ Diebstahl unterscheidet. Oder ist es etwa kein Diebstahl, wenn Manager und Aktionärinnen Millionengewinne scheffeln einzig und allein dank dem Umstand, dass zahllose Angestellte in den betreffenden Firmen und Konzernen weitaus weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre? Oder ist es etwa kein Diebstahl, wenn Spitzenverdiener und Spitzenverdienerinnen bis zu 300 Mal höhere Löhne einkassieren als jene rund halbe Million Schweizer und Schweizerinnen, die von ihrem Lohn selbst bei voller Erwerbstätigkeit nicht einmal eine Familie ernähren können? Und ist es kein Diebstahl, wenn die Schweiz – obwohl sie über keine eigenen Bodenschätze verfügt – dennoch das reichste Land der Welt ist, während halbe Kontinente im Elend versinken? Nicht die Gerechtigkeit, sondern der Kapitalismus – und damit all jene, die zu den Profiteuren des herrschenden Macht- und Ausbeutungssystems gehören – entscheidet, wer für welches Vergehen ins Gefängnis gehen muss und wer für welches Vergehen in Freiheit bleiben darf oder dafür sogar noch belohnt wird. Dass Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar sind, daran glauben wohl bald nur noch jene, die auch ans Christkind und den Samichlaus glauben. Wie viel hat schon wieder Aktionär D.F. Ende letzten Jahres an Dividenden eingestrichen? Kleine Rechenaufgabe: Wie lange müsste er wohl ins Gefängnis, wenn man ihn genau gleich behandeln würde wie den 28jährigen Sonnenbrillenklauer aus dem St. Galler Rheintal?

Der Appell von Auschwitz und was wir daraus lernen können

Überlebende und zahlreiche Staats- und Regierungschefs haben, wie der „Tagesanzeiger“ am 28. Januar 2020 berichtet, am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Opfer gedacht und zum Kampf gegen den wiederauflebenden Antisemitismus aufgerufen. In einem Zelt vor dem Eingang zum ehemaligen Todeslager Auschwitz-Birkenau erinnerte Polens Ministerpräsident Andrzej Duda vor über 200 Überlebenden und Delegationen aus 50 Ländern und rund 1,3 Millionen Ermordete, davon 1,1 Millionen Juden. „Wir verneigen uns“, so Duda, „vor mehr als 6 Millionen Juden, die in anderen Todeslagern, in Ghettos und anderen Orten ermordet wurden.“ Auch die schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga war der Einladung nach Auschwitz gefolgt. „Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können“, sagte sie, „wenn damals in Europa mehr Männer und Frauen Nein gesagt hätten zu Antisemitismus und Rassismus.“

Keine Frage: Bei der Ermordung von rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten handelt es sich um eines der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Und nur zu berechtigt ist die Forderung, so etwas dürfe sich nie mehr wiederholen. Dennoch: Gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht auch noch andere Verbrechen, die ebenso schlimm waren, an die sich aber seltsamerweise niemand zu erinnern scheint und aus deren Anlass es auch weit und breit keine Gedenkfeiern und politische Appelle gibt, die man mit dem jüngsten Gedenkanlass von Auschwitz vergleichen könnte? Denken wir etwa an die Deportation von rund 20 Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, 20 Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihrer Heimat entrissen, als Leibeigene verkauft, auf den endlosen Plantagen der Weissen wie Tiere behandelt und, wenn sie nicht gehorchten, zu Tode geprügelt wurden. Oder an den von den USA losgetretenen Vietnamkrieg, dem über fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Oder an jene rund 15’000 Kinder, die noch heute weltweit Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, ihnen kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht oder sie infolge fehlender Medikamente tödlich erkranken. Oder an jene Abertausenden Männer, Frauen und Kinder aus Afrika und Asien, die auf der Flucht nach Europa, voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, dieses Ziel ihrer Lebensträume nie erreichten und heute namenlos irgendwo auf dem weiten Grund des Mittelmeers ihr Grab gefunden haben, wo sie nie mehr irgendwer besuchen und sich an sie erinnern wird.

Die vielgehörte Forderung bei der Gedenkfeier in Auschwitz, solche Verbrechen wie die Jugendvernichtung mögen sich nie mehr wiederholen, ist ja gut und recht. Aber offensichtlich fällt es leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen – in diesem Falle auf die „bösen“ Nationalsozialisten -, als sich bei der eigenen Nase zu nehmen und auch all jene Verbrechen anzuprangern, die im Namen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems begangen wurden und weiterhin werden, in dem wir hier und heute immer noch leben. Höchste Zeit, dass wir endlich auch jene Verbrechen beim Namen nennen, für die wir selber verantwortlich sind, von der unvorstellbaren und stets noch wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich über die sinnlose weltweite militärische Aufrüstung bis hin zum Klimawandel, dessen Folgen selbst die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus um ein Vielfaches in den Schatten stellen könnten. Nur so, wenn wir bei uns selber beginnen, können wir dauerhaft etwas zum Besseren bewegen. Und nur so hätten die Appelle von Auschwitz einen Sinn gehabt, der weit über jene Gedenkfeier hinausgeht, die aus Anlass des 27. Januar 1945 begangen wurde.

Steigende Armut trotz florierender Wirtschaft und niedriger Arbeitslosenquote: ein Rätsel?

2017 war jeder zwölfte Einwohner der Schweiz arm und es gibt Anzeichen, dass die Armut seither noch zugenommen hat. Dies ist der Sozialstatistik des Bundes zu entnehmen. Tatsächlich steigt die Armut in der Schweiz – immerhin einem der reichsten Länder der Welt – seit Jahren kontinuierlich an. Einen Grund dafür gibt es auf den ersten Blick nicht. Denn der Wirtschaft geht es besser denn je und auch die Arbeitslosenzahlen sind niedriger als in sämtlichen übrigen europäischen Ländern.

(Daniela Gschweng, www.infosperber.ch, 26. Januar 2020)

Wer sich das Phänomen steigender Armut trotz florierender Wirtschaft und niedriger Arbeitslosenquote nicht erklären kann, dem sei dringendst die Lektüre des „Kapitals“ von Karl Marx empfohlen. Es liegt nämlich ganz und gar in der Natur des Kapitalismus, dass er die Reichen kontinuierlich reicher und die Armen gleichzeitig immer ärmer macht, ganz unabhängig davon, ob die Wirtschaft gerade „floriert“ oder nicht, und auch ganz unabhängig davon, wie hoch die Arbeitslosenrate ist. Der Grund ist die Akkumulation des Reichtums in den Händen der Reichen. Und da dieser Reichtum nicht künstlich geschaffen werden kann, muss er von irgend jemand anderem erwirtschaftet werden – von all jenen nämlich, die weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre, oder, wie Marx es formulierte: die „nicht über die gesellschaftliche Macht verfügen, den echten Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.“ Fatal, dass dieses Grundwissen, dieses ABC des Kapitalismus in unseren Schulen nicht ebenso vermittelt wird wie das Einmaleins, das Schreiben und das Lesen – und dies, obwohl wir mitten im Kapitalismus leben und unser Alltag von früh bis spät von den Prinzipien und Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus geprägt und durchdrungen ist. Doch freilich ist es kein Zufall, dass dieses Wissen an unseren Schulen nicht vermittelt wird, würde dies doch zweifellos dazu führen, dass die herrschenden kapitalistischen Machtverhältnisse wohl nur noch von kurzer Dauer wären…

 

 

Klimabgaben auf Kleidern und Smartphones: Als wäre es so einfach…

Flugreisen schaden der Umwelt. Das weiss heute jeder. Noch kaum ein Thema sind die Emissionen von Produkten. Was verursacht der Kauf einer Jeans oder des neusten Smartphones? Händler werden das ihren Kunden bald aufzeigen und eine Kompensation anbieten. Der grösste Schweizer Onlinehändler Digitec Galaxus arbeitet an einem solchen Angebot. Beim Kauf im Internet kann der Kunde dann anklicken, ob er einen Extrabeitrag fürs Klima leisten will. Auch andere Schweizer Unternehmen prüfen dies.

(Tages-Anzeiger, 27. Januar 2020)

So ziemlich die dümmste Idee. Hatte man beim Kauf einer Jeans, eines Smartphones, tropischer Früchte oder der Buchung einer Flugreise bisher noch wenigstens ein schlechtes Gewissen, so kann man sich nun ganz einfach oder locker davon freikaufen. Die Folge: Man kann weiterhin frisch und fröhlich, ungehemmter und in grösserem Ausmass denn je konsumieren, wiegt man sich doch im Glauben, sämtliche ökologische Belastungen würden an anderen Orten wieder ausgeglichen, so dass es zu keiner unverantwortbaren Klimabelastung käme. Dies freilich ist nichts anderes als eine grandiose Illusion, führt die Klimaabgabe doch im allerbesten – und zugleich kaum wahrscheinlichen – Fall dazu, dass eine weitere Zunahme der CO2-Emissionen durch entsprechende „Gegenprojekte“ aufgefangen wird. Dabei wird gänzlich ausgeklammert, dass schon der gegenwärtige CO2-Ausstoss viel zu hoch ist und es daher nur eine einzige wirklich nachhaltige Lösung des Problems gibt: weniger zu produzieren, Überflüssiges von Lebensnotwendigem zu unterscheiden und den individuellen Konsum von den Kleidern über die elektronischen Vergnügungs- und Kommunikationsmittel bis zur Flugreise so drastisch einzuschränken, bis der persönliche ökologische Fussabdruck der Schweizerin und des Schweizers bei genau einer Erde liegt. Denn wir haben nur diese einzige, Klimaabgaben hin oder her. Jeglicher Konsum, der darüber hinausgeht, erfolgt einzig und allein auf Kosten von Menschen in anderen Ländern oder unserer eigenen nachfolgenden Generationen.