Die unsichtbaren Zimmermädchen von Ibiza: Am untersten Rand der kapitalistischen Machtpyramide

„Wir Zimmermädchen sind unsichtbar. Dagegen kämpfe ich. Als ich vor fünf Jahren von der Gastronomie in die Hotelreinigung wechselte, glaubte ich nicht, was über die Branche erzählt wurde. Die übertreiben alle, dachte ich. Doch der Alltag war noch viel schlimmer. Wir transportieren Matratzen allein auf den Schultern, manchmal trifft man auf Kot am Boden, und wenn wir ein Zimmer allein putzen, sind wir nicht vor sexuellen Übergriffen geschützt. In vielen Hotels hat man nur 15 Minuten pro Zimmer, egal in welchem Zustand man es vorfindet. Da kann man gar nicht sauber putzen. Und wenn der Hotelmanager am nächsten Morgen eine negative Bewertung auf Tripadvisor findet, fällt das auf das jeweilige Zimmermädchen zurück. Von all dem erzählten wir 2018 dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Wir, das sind Las Kellys, ein Zusammenschluss spanischer Zimmermädchen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Wir verzeigen etwa Arbeitgeber, die sich nicht ans Arbeitsrecht halten, und demonstrieren vor Hotels, die die Zimmerreinigung an Reinigungsunternehmen auslagern. Am Anfang hatte ich Angst vor den Hotelmanagern, jetzt haben sie Angst vor uns. Trotzdem denke ich oft daran auszugeben. Weil es ein Stress ist, in den Medien zu sein, neben oder sogar während der Arbeit Interviews zu geben, das Telefon zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt. Ich habe keine Zeit mehr für mich gehabt, entwickelte eine nervöse Bulimie, machte eine Scheidung durch. Woher ich die Kraft nehme, um weiterzumachen? In der Scheisse zu stecken, das gab mir Kraft. Dabei könnte es ja eine schöne Arbeit sein. Zugang zu einem total intimen Raum zu haben. Das gefällt mir. Doch irgendwann kannst du einfach nicht mehr dreissig Zimmer an einem einzigen Tag putzen.“

Ob all jene Gäste, die nach einem Hotelbesuch im Internet eine negative Wertung abgeben, sich auch schon mal gefragt haben, was sie damit anrichten? Sie könnten, wenn sie mit der Sauberkeit ihres Zimmers nicht zufrieden sind, ja auch das zuständige Zimmermädchen ansprechen und würden dann vielleicht erfahren, dass dieses Zimmer auch mit dem besten Willen in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht besser hätte gereinigt werden können. Sie würden sich dann vielleicht vom Zimmermädchen ein Putztuch geben lassen, den störenden Flecken beseitigen oder zum Hotelmanager gehen, um ihn aufzufordern, die Zeitlimiten für das Reinigen der einzelnen Zimmer heraufzusetzen. Aber nein, lieber schweigen sie, machen ein freundliches Gesicht und gehen, sobald sie zu Hause sind, ins Internet, um ihre Beanstandung loszuwerden. Genau so ist das im Kapitalismus: Statt einander zu helfen und füreinander Sorge zu tragen, drückt jeder den anderen in den Boden hinein. Vielleicht ist ja der Gast, der seine Beanstandungen übers Internet loswird, in seiner eigenen beruflichen Tätigkeit selber ebenfalls permanenter Kontrolle, grossem Stress und häufigen Beanstandungen ausgesetzt, so wie das fast in sämtlichen Berufen immer öfters der Fall ist. Was für eine Verschleuderung menschlicher Ressourcen, was für ein Unding, die eigenen Frustrationen an anderen abzuladen und damit das Ganze immer nur noch schlimmer und schlimmer zu machen. Das Fatalste daran ist, dass ausgerechnet jene Werktätigen, die mit härtester Arbeit und geringster Entlohnung am untersten Rand dieser Machtpyramide stehen, zugleich die geringste Chance haben, sich für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen, weil sie, wie das Beispiel der spanischen Zimmermädchen zeigt, schlicht und einfach von ihrer Arbeit schon so erschöpft und ausgelaugt sind, dass sie gar keine Kraft mehr haben, sich politisch oder gewerkschaftlich zu betätigen. Dem Abhilfe schaffen könnte einzig und allein eine weltweite Einheitsgewerkschaft, in der sich sämtliche Berufstätigen, ob sie nun Bankangestellte, Lehrer, Gärtnerinnen oder Zimmermädchen sind, gegenseitig und füreinander solidarisieren. Gewerkschaften dagegen, die nur eine einzelne Berufsgruppe umfassen, haben mit echter Solidarität wenig zu tun und sind eigentlich nur Interessenvertreter einer bestimmten Gruppe innerhalb der kapitalistischen Machtpyramide.

Der Appell von Auschwitz und was wir daraus lernen können

Überlebende und zahlreiche Staats- und Regierungschefs haben, wie der „Tagesanzeiger“ am 28. Januar 2020 berichtet, am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Opfer gedacht und zum Kampf gegen den wiederauflebenden Antisemitismus aufgerufen. In einem Zelt vor dem Eingang zum ehemaligen Todeslager Auschwitz-Birkenau erinnerte Polens Ministerpräsident Andrzej Duda vor über 200 Überlebenden und Delegationen aus 50 Ländern und rund 1,3 Millionen Ermordete, davon 1,1 Millionen Juden. „Wir verneigen uns“, so Duda, „vor mehr als 6 Millionen Juden, die in anderen Todeslagern, in Ghettos und anderen Orten ermordet wurden.“ Auch die schweizerische Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga war der Einladung nach Auschwitz gefolgt. „Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können“, sagte sie, „wenn damals in Europa mehr Männer und Frauen Nein gesagt hätten zu Antisemitismus und Rassismus.“

Keine Frage: Bei der Ermordung von rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten handelt es sich um eines der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Und nur zu berechtigt ist die Forderung, so etwas dürfe sich nie mehr wiederholen. Dennoch: Gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht auch noch andere Verbrechen, die ebenso schlimm waren, an die sich aber seltsamerweise niemand zu erinnern scheint und aus deren Anlass es auch weit und breit keine Gedenkfeiern und politische Appelle gibt, die man mit dem jüngsten Gedenkanlass von Auschwitz vergleichen könnte? Denken wir etwa an die Deportation von rund 20 Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, 20 Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihrer Heimat entrissen, als Leibeigene verkauft, auf den endlosen Plantagen der Weissen wie Tiere behandelt und, wenn sie nicht gehorchten, zu Tode geprügelt wurden. Oder an den von den USA losgetretenen Vietnamkrieg, dem über fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Oder an jene rund 15’000 Kinder, die noch heute weltweit Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, ihnen kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht oder sie infolge fehlender Medikamente tödlich erkranken. Oder an jene Abertausenden Männer, Frauen und Kinder aus Afrika und Asien, die auf der Flucht nach Europa, voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, dieses Ziel ihrer Lebensträume nie erreichten und heute namenlos irgendwo auf dem weiten Grund des Mittelmeers ihr Grab gefunden haben, wo sie nie mehr irgendwer besuchen und sich an sie erinnern wird.

Die vielgehörte Forderung bei der Gedenkfeier in Auschwitz, solche Verbrechen wie die Jugendvernichtung mögen sich nie mehr wiederholen, ist ja gut und recht. Aber offensichtlich fällt es leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen – in diesem Falle auf die „bösen“ Nationalsozialisten -, als sich bei der eigenen Nase zu nehmen und auch all jene Verbrechen anzuprangern, die im Namen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems begangen wurden und weiterhin werden, in dem wir hier und heute immer noch leben. Höchste Zeit, dass wir endlich auch jene Verbrechen beim Namen nennen, für die wir selber verantwortlich sind, von der unvorstellbaren und stets noch wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich über die sinnlose weltweite militärische Aufrüstung bis hin zum Klimawandel, dessen Folgen selbst die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus um ein Vielfaches in den Schatten stellen könnten. Nur so, wenn wir bei uns selber beginnen, können wir dauerhaft etwas zum Besseren bewegen. Und nur so hätten die Appelle von Auschwitz einen Sinn gehabt, der weit über jene Gedenkfeier hinausgeht, die aus Anlass des 27. Januar 1945 begangen wurde.

Tourismus in Simbabwe: ein kapitalistisches Lehrstück

Der Tourismus ist enorm wichtig für Simbabwe. Er trägt über acht Prozent zum Bruttoinlandprodukt des herabgewirtschafteten Staates im südlichen Afrika bei. Hauptattraktion sind die Victoriafälle. 150 Franken kostet ein Helikopterflug von zwölf Minuten, um aus der Luft ein gutes Foto schiessen zu können. Auch Riverrafting ist sehr beliebt: «Amazing!», schwärmt eine Amerikanerin bei Speck, Würstchen und Cornflakes. Doch nicht nur das reichhaltige Frühstücksbuffet, auch Unterkunft, Swimmingpool, Wellnessangebote und der üppige Park des Luxusresorts lassen dem verwöhnten Publikum aus Amerika und Europa keine Wünsche offen. Schliesslich will man etwas haben für die 250 Franken, welche eine Nacht hier kostet. Derweilen die Kellnerinnen, welche die internationale Gästeschar bedienen, pro Tag zehn Stunden arbeiten müssen, mit zwei Mal fünf Minuten Pause. Und das für gerade mal 20 Franken pro Monat. «Meine Beine und Füsse schmerzen», sagt die 23jährige Nokuthaba, als sie nach getaner Arbeit nach Hause kommt, um für ihre Kinder zu kochen. Die Miete ihres Häuschens kann sie nur dank dem Trinkgeld bezahlen, der Monatslohn würde dafür nicht ausreichen.

Brutaler könnten die reiche Welt des Nordens und die arme Welt des Südens nicht aufeinanderprallen. Die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille, auf deren einer Seite der wohlgenährte Tourist aus den USA oder Europa seine Füsse im Hotelpool baumeln lässt, neben sich eine Platte erlesenster Köstlichkeiten, bevor er sich zur Ganzkörpermassage begibt und anschliessend zu einem opulenten Festmahl. Während die junge Frau, die ihn zehn Stunden lang bedient hat, hungrig und mit schmerzenden Füssen voller Blasen nach Hause humpelt. Doch während die kapitalistischen Ausbeutungsketten in den meisten Fällen weltweit weit auseinandergerissen sind – der Käufer eines Handys irgendwo in Europa ist nie konfrontiert mit den chinesischen Arbeiterinnen, welche das Handy hergestellt haben -, treffen im Tourismus Täter und Opfer unmittelbar aufeinander. Man meint, der Gast aus dem Norden würde es nicht aushalten, sich von einer einheimischen Frau bedienen zu lassen, welche in einem ganzen Monat zwölf Mal weniger verdient, als er für eine einzige Nacht im Hotel zu zahlen bereit ist. Man meint, er müsste aus seiner Rolle ausbrechen, der Frau sein halbes Reisegeld überlassen oder auf einen Helikopterflug verzichten, um der Frau das gesparte Geld zu geben. Man meint, er müsste sich beim Hotelbesitzer über die unsäglichen Arbeitszeiten und die skandalösen Hungerlöhne der Angestellten beschweren, zum Revolutionär werden oder zumindest zu einem fortan überaus kritischen Zeitgenossen, der sich überall und jederzeit für soziale Gerechtigkeit und gegen Ausbeutung einsetzen wird. Doch weit gefehlt. Nichts dergleichen geschieht. So tief hat sich der Kapitalismus in unser Denken eingegraben und das Verrückte zum Normalen gemacht, dass wir das alles wissen, uns an allem beteiligen – und dennoch ruhig und mit gutem Gewissen schlafen können…

Spitzensport: perverseste Form des kapitalistischen Konkurrenzprinzips

Die 20-jährige US-Turnerin Melanie Coleman ist tot. Die Studentin der Krankenpflege war vergangene Woche in New Heaven (US-Bundesstaat Connecticut) während einer Trainingsübung am Stufenbarren vom Gerät gestürzt und hatte sich dabei lebensgefährliche Verletzungen an der Wirbelsäule zugezogen. Coleman, die als eine der besten College-Kunstturnerinnen der USA galt, erlag am Sonntag in der Klinik der massiven Schädigung des Rückenmarks. Das gab ihr Verein, die Southern Connecticut Owls, via Twitter bekannt.

(www.stern.de)

Nur logisch, dass es früher oder später so weit kommen musste. Dieses zerstörerische Konkurrenzprinzip, das sich durch alle Lebensbereiche und durch die gesamte Arbeitswelt des Kapitalismus hindurchzieht und im Spitzensport seine äusserste, perverseste Form erreicht. Wie viel Leiden, wie viele Qualen, wie viel Zerstörung braucht es noch, bis wir erkennen, dass die Menschen nicht dazu geschaffen sind, gegeneinander zu arbeiten, sondern miteinander und füreinander…

Erhöhung des Rentenalters: Das Gegenteil wäre logischer

Die am Montag publizierte jüngste Auflage des OECD-Länderberichts empfiehlt der Schweiz eine «nachhaltige Reform» der Altersvorsorge. Das allgemeine Normrentenalter solle schrittweise auf 67 steigen und dann im Einklang mit der Erhöhung der Lebenserwartung noch weiter zunehmen.

Bald sind alle Häuser, wo es denn überhaupt noch Platz hat, fertiggebaut. Auch die Güter des täglichen Lebens sind in so verschwenderischer Fülle vorhanden, dass man kaum mehr etwas Zusätzliches produzieren muss. Und unzählige Arbeiten, die früher von Hand und mit menschlicher Arbeitskraft verrichtet wurden, werden heute von Computern und Maschinen erledigt. Zeit also, anzuhalten und auf das Erreichte voller Stolz und Zufriedenheit zurückzublicken. Logischerweise, da schon so vieles gemacht wurde, könnte man sich nun etwas Ruhe gönnen, sich mehr Freizeit leisten, längere Pausen machen, nur noch vier statt fünf Tage pro Woche arbeiten, längere Ferien machen, früher in Pension gehen. Doch absurderweise ist in der Realität genau das Gegenteil der Fall: Druck und Hektik am Arbeitsplatz nehmen immer mehr zu, im Büro, auf dem Bau, in den Spitälern, überall. Der Postbeamte hetzt im Sekundentakt von Haus zu Haus, die Kitaangestellte muss zehn statt sieben Kinder betreuen, der Journalist hat kaum mehr Zeit, für seine Artikel sorgfältig zu recherchieren. Und jetzt soll – gemäss Empfehlung der OECD – also auch noch das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben werden. Irgendetwas scheint da schiefgelaufen zu sein. Offensichtlich werden die Früchte nicht an jene verteilt, welche die Arbeit geleistet haben, sondern man presst sie wie Zitronen einfach immer weiter aus – je härter, je mehr und je länger sie schon gearbeitet haben, umso härter, mehr und länger sollen sie auch in Zukunft arbeiten, das Hamsterrad, das sich, je schneller man rennt, umso schneller dreht. Auf dass irgendwo, unsichtbar, die Früchte dann doch noch verzehrt werden, aber eben nicht von denen, die dafür geschuftet haben, sondern von denen, die das alles so eingerichtet haben, die Baustellen, die Fabriken, die Spitäler, die Supermärkte, das Hamsterrad, alles…

Mehrheiten gegen den Kapitalismus

In den USA, dem Heimatland der freien Marktwirtschaft schlechthin, wird der Kapitalismus mittlerweile von einer Mehrheit der unter 30-Jährigen abgelehnt, wie eine Umfrage der Harvard University im Frühjahr 2017 zeigte. Ein Drittel der jungen Amerikaner bekennt sich gar zum Sozialismus. Auch in der Alten Welt genießt die Wirtschaftsform kein besonderes Ansehen. Nach einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Infratest ist jeder Europäer davon überzeugt, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führe. Jeder dritte Befragte gab außerdem an, dass er sich eine wirkliche Demokratie nur ohne Kapitalismus vorstellen könne. Die Wirtschaftsführer selbst sind sogar noch systemkritischer sind als ihre Mitbürger. Während immerhin 20 Prozent der Gesamtbevölkerung daran glauben, dass der globalisierte Kapitalismus die Kluft zwischen Arm und Reich mindern kann, sind die Vorstandschefs von den Segnungen noch weniger überzeugt. Lediglich 13 Prozent sagen, dass der Kapitalismus die soziale Schere schließt. Das hat eine Umfrage des Beratungsunternehmen PwC ergeben, die gleich zu Beginn des Weltwirtschaftsgipfels in Davos vorgestellt wurde. Woher die Kluft rührt? Vielleicht daher, dass die Konzernbosse eine genauere Vorstellung davon haben, was auf die Menschheit zukommt. «In vielen Ländern haben die meisten Menschen bisher ein recht beschauliches Leben mit gutem Lebensstandard führen können. Das wird leider nicht so bleiben», sagt Norbert Winkeljohann, der Deutschlandchef von PwC, mit Blick auf die Umwälzungen, die die digitale Revolution mit sich bringen wird. «Wirtschaftsführer weltweit ahnen, dass die aktuelle Situation vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm ist.»

(www.welt.de)

Was nichts anderes heisst, als dass politische Parteien, die sich klar und unmissverständlich für eine Überwindung des Kapitalismus aussprechen, schnell mal eine Anhängerschaft von mindestens 30 wenn nicht 40 Prozent aller Wählerinnen und Wähler haben müssten…

Eine Demokratie der verzauberten Bäume

Ob auf Wahlpodien, in Abstimmungszeitungen oder in Diskussionssendungen am Fernsehen: Kein Politiker fordert eine öffentliche Einheitskrankenkasse, obwohl sich eine solche auf die Gesundheitskosten ohne Zweifel überaus mässigend auswirken würde. Und keine Politikerin fordert ein generelles Waffenausfuhrverbot, obwohl es auch hierfür mehr als genug gute Gründe gäbe. Und schliesslich gibt es auch weit breit keinen Politiker und keine Politikerin, die eine Abschaffung der Schweizer Armee befürworten würde. Der Grund liegt auf der Hand: Über alle diese und vieleweitere Postulate wurde vor kürzerer oder längerer Zeit abgestimmt, sie fanden an der Urne keine Mehrheit, somit sind sie sozusagen abgehakt, erledigt

Doch das wirft ein paar grundsätzliche Fragen auf: Denn es ist ja nicht so, dass weit und breit niemand den betreffenden Abstimmungsvorlagen Sympathien entgegengebracht hätte. Im Gegenteil: Nicht selten betrug der Ja-Anteil 30 Prozent oder mehr, was nichts anderes heisst, als dass rund eine Million Schweizer und Schweizerinnen der betreffenden Vorlage zugestimmt hatten. So etwa erhielt 1987 die Initiative für eine koordinierte Verkehrspolitik 45,5 Prozent Ja-Stimmen. Der Armeeabschaffungsinitiative von 1989 stimmten 36 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zu. 33,3 Prozent sagten im Jahre 1998 Ja zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation. 2000 erhielt die Initiative für eine Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs – ein aus heutiger Sicht brandaktuelles Begehren – 21,3 Prozent Ja-Stimmen. 2001 würde über Tempo 30 generell innerorts abgestimmt, 20,3 Prozent waren dafür. Der Einführung einer sozialen Einheitskrankenkasse stimmten 2007 28,8 Prozent der Bevölkerung zu. 2007 wurde über eine Initiative gegen Tierquälerei und für einen besseren Rechtschutz der Tiere abgestimmt, 29,5 Prozent sagten ja. 2009 ging es um ein Verbot von Kriegsmaterialexporten, 31,8 Prozent waren dafür. Im gleichen Jahr hatten die Schweizerinnen und Schweizer über die Einführung von sechs Wochen Ferien für alle zu befinden, 33,5 Prozent fanden es eine gute Idee. Um die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken ging es 2012, 23,7 Prozent stimmten dieser Vorlage zu. 2014 kam es zu einer Neuauflage einer Einheitskrankenkassenvorlage, diesmal gab es immerhin bereits 38,1 Prozent Ja-Stimmen. Und schliesslich die Abstimmung über die Vorlage «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln», ebenfalls 2014, mit einem Ja-Anteil von 40,1 Prozent.

Was bedeutet dies? Es ist eine Demokratie der «Sieger», eine Demokratie der mathematischen Mehrheit, die, davon gehen wir offensichtlich aus, immer Recht hat. Die «Verlierer» bleiben auf der Strecke, ihre Argumente verschwinden in nichts, ihre Ideen, Wünsche und Visionen werden, selbst wenn sie einen Stimmenteil von 49,9 Prozent erzielt hätten, im Augenblick der Abstimmung, welche sie verloren haben, pulverisiert. Dabei haben sie sich mit den entsprechenden Vorlagen wohl ebenso gründlich auseinandergesetzt wie ihre politischen «Gegner», nur sind sie zu anderen Schlüssen gelangt. Wäre Demokratie nicht bloss die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, dann müsste man Mittel, Wege und Instrumente entwickeln, mit denen das Gedankengut, das Wissen, die Ideen und der Erfahrungsschatz der «Unterlegenen» in die jeweilige Ausgestaltung neuer gesellschaftlicher Konzepte einfliessen könnten.

Zurück zu unseren Politikern und Politikerinnen, die gewisse Themen gar nicht mehr ansprechen, weil sie bereits irgendwann durch eine entsprechende Volksabstimmung «erledigt» wurden. Das erinnert an Bäume, die verzaubert wurden. Und verzauberte Bäume berührt man nicht mehr. Mit anderen Worten: Man spricht nicht mehr von der Einführung einer Einheitskrankenkasse. Man spricht nicht mehr von der Abschaffung der Armee. Man spricht nicht mehr von einem generellen Ausfuhrverbot von Kriegsmaterial. Man spricht nicht mehr von sechs Wochen Ferien für alle. Man spricht nicht mehr von einem Mindestlohn für alle. Man spricht auch nicht mehr – obwohl dieses Problem dringender denn je einer Lösung bedarf – von einer Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs. Das alles sind Tabus, verzauberte Bäume. Eine fatale Entwicklung, führt sie doch dazu, dass immer mehr Bäume verzaubert sind und der Platz dazwischen, wo noch neue Bäume gepflanzt werden können, immer kleiner wird…

«Renn zur Million» – egal, was für einen Preis du dafür bezahlen musst

Sie war Sportsoldatin bei der Bundeswehr, professionelle Bobfahrerin und Teilnehmerin des diesjährigen Dschungelcamps. Doch so eine Blessur wie bei den Dreharbeiten zur ProSieben-Show «Renn zur Million … wenn Du kannst!» hat sich Sandra Kiriasis in ihrer gesamten Laufbahn nicht zugezogen. Die 44-Jährige stürzte aus drei Metern Höhe von einem Hindernis und rammte sich ihr Knie an das rechte Auge. «Beim Überqueren einer sich drehenden Walze bin ich abgerutscht. Während ich gefallen bin, dachte ich nur: Scheiße …! Leider hat es dann gekracht und ich hatte mein eigenes Knie am Kopf. Und ziemlich schnell bekam ich ein Riesen-Horn über der Augenbraue. Ich wurde direkt vor Ort versorgt und dann ins Krankenhaus gefahren und untersucht. Es war zum Glück nichts gebrochen», sagte Kiriasis.

Kurz nach dem Vorfall beeilte sich der TV-Sender ProSieben mitzuteilen, dass in der abendlichen Ausstrahlung der Sendung der Sturz von Sandra Kiriasis in voller Länge gezeigt würde. Was die Einschaltquoten in die Höhe treibt, ist heilig. Und so wird die 44jährige Dschungelkämpferin in all den Sendungen, bei denen sie mitmachte, den betreffenden TV-Anstalten wohl um einiges mehr an Profit eingebracht haben, als sie jemals an Preisgeld bekommen wird. Schöne kapitalistische Welt. Und Millionen von Menschen schauen zu und haben ihre helle Freude daran…

Zwei Jobs und immer noch nicht genug zum Leben

Wenn andere ihren Feierabend geniessen, geht für E. (35) die Arbeit noch einmal von vorne los. Die Schweiz-Albanerin kümmert sich als Gouvernante um Zimmermädchen in einem Zürcher Nobelhotel, am Abend steht sie bei McDonald’s an der Kasse: «Das Geld reicht sonst nicht aus für unsere vierköpfige Familie. Ich sehe meine Kinder kaum. Wenn ich morgens um fünf Uhr aufstehe und zur Arbeit gehe, schlafen sie noch.» Da auch ihr Mann arbeitet, sind die Kinder oft auf sich alleine gestellt. «Einen betreuten Mittagstisch können wir uns nicht leisten.» Ganz ähnlich wie E. geht es immer mehr Menschen in der Schweiz: Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Im 1.Quartal 2019 hatten 393’000 Beschäftigte zwei oder mehr Jobs. Das sind 8,7 Prozent aller Arbeitnehmenden – so viele wie noch nie. Ihre Zahl steigt seit Jahren: Waren es 1991 noch rund vier Prozent, sind es heute mehr als doppelt so viele. Und: Frauen sind deutlich häufiger mehrfacherwerbstätig als Männer. Mehr als jede zehnte weibliche Berufstätige hat zwei oder mehr Jobs, von den Männern gerade mal jeder Zwanzigste. Am weitesten verbreitet ist Mehrfacharbeit unter Hilfskräften, namentlich in der Reinigungsbranche oder auf dem Bau. Die Gewerkschaften sprechen von «prekären Arbeitsverhältnissen» – prekär bedeutet so viel wie unsicher oder problematisch. Meist verdienen die Betroffenen mit nur einem Einkommen zu wenig zum Leben, sagt Gabriel Fischer von Travailsuisse: «Ein Job alleine reicht ihnen nicht.»

Verrückt. Selbst wenn E. sich in zwei oder mehr Jobs rund um die Uhr abrackert, verdient sie immer noch weniger als andere mit einem einzigen Job. Und während Spitzenlöhne explodieren, Aktienkurse und Dividenden in den Himmel steigen und sich ein wachsender Bevölkerungsteil Reicher und Reichster immer teurere Luxusvergnügungen leisten können, steigt gleichzeitig die Zahl jener, die, wie E., selbst von zwei Jobs ihre Familie kaum ausreichend ernähren können, immer weiter an. Das ist Kapitalismus pur: Je mehr Reichtum und Luxus sich auf den oberen Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide anhäufen, umso mehr fehlt es auf den unteren Rängen selbst am Lebensnotwendigsten. Zustände, die früher oder später eigentlich zu einer Revolution und einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse führen müssten…

Und die Kinder? Das sind dann genau jene, deren Eltern man als «bildungsfern» bezeichnet und denen man vorwirft, sie seien zu wenig präsent und würden sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Auf dass schön alles beim Alten bleibt und diese Kinder, wenn sie dann einmal erwachsen sind, wohl auch wieder in zwei oder drei Jobs arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen…

Mit «Goodies» Lehrlinge ködern

Wer bei Lidl die Lehre macht, bekommt vom Betrieb ein General-Abo geschenkt. Der Detailhändler erhofft sich damit, als attraktiver Ausbildungsbetrieb wahrgenommen werden – der Discounter hat für 2020 knapp 50 Lehrstellen zu besetzen. Doch Lidl ist nicht der einzige Händler, der solche Anreize bietet: Bei Coop gibts unter anderem einen Laptop-Gutschein im Wert von 500 Franken. Die Migros wirbt um Lernende mit zusätzlichen Ferien und finanziellen Vorteilen bei der eigenen Bank. Media-Markt gibt Lehrlingen einen Laptop, den sie nach dem Abschluss behalten dürfen. Manche Firmen locken sogar mit Geldprämien. Der Kleiderhändler Chicorée zahlt für besonders gute Noten Semesterprämien von bis zu 1100 Franken – und 600 Franken beim Lehrabschluss als Detailhandelsfachfrau. Auch bei Ikea Schweiz gibts bei guten schulischen Leistungen ein Geschenk – und Aldi Suisse stellt ausser Erfolgsprämien auch Reisegutscheine in Aussicht. Weshalb sind alle diese Firmen plötzlich so grosszügig? Die Antwort ist einfach: Es wird immer schwieriger, die offenen Lehrstellen im Bereich Detailhandel zu besetzen – derzeit sind schweizweit 7500 Lehrstellen offen und der Markt ist völlig ausgetrocknet.

(www.20minuten.ch)

Vielleicht müsste man sich, statt grosszügig Geschenke zu verteilen, einige grundsätzliche Fragen stellen. Denn der Lehrlingsmangel betrifft ja nicht nur den Detailhandel, sondern vor allem auch Handwerksberufe wie Sanitär, Maurer oder Elektromonteur, Coiffeuse und viele mehr. Drei Massnahmen könnten diesem Missstand Abhilfe schaffen: Erstens die Einführung eines Einheitslohns. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb eine Detailhandelsangestellte weniger verdienen soll als eine Juristin oder eine Kinderärztin – braucht es doch, damit Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes funktionieren, alle beruflichen Tätigkeiten und würde alles wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, wenn die auf den «unteren» Etagen Arbeitenden sich nicht Tag für Tag im Schweisse ihres Angesichts abplagten, um das Leben und Arbeiten auf den «oberen» Etagen überhaupt erst möglich zu machen. Zweitens: Alle beruflichen Tätigkeiten verdienen nicht nur den gleichen Lohn, sondern, damit verknüpft, auch das gleiche gesellschaftliche Ansehen. Es wäre dann nicht mehr eine Frage des «Prestiges», welchen Beruf ein junger Mensch ergreifen würde, ausschlaggebend wären einzig und allein das persönliche Interesse und die vorhandenen Begabungen und Talente. Drittens: Dem Lehrlingsmangel am wirkungsvollsten begegnen würde man mit einer Abschaffung der Gymnasien. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb nicht  jeder junge Mensch nach dem Abschluss der Volksschule eine praktische Berufslehre absolvieren sollte, ein Ausbildungsweg, der auf ideale Weise Praxis und Theorie miteinander verbindet – schon heute können sämtliche Berufe auf diesem Weg, mit entsprechender späterer Fort- und Weiterbildung erlernt werden. Das immense Potenzial arbeitsfähiger junger Menschen im Alter von 16 bis 20 Jahren könnte somit sinnvoll für Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden, statt in einer theoretischen und praxisfernen schulischen «Scheinwelt» zu verpuffen.