Und wieder – wie schon dutzendfach in den vergangenen rund zehn Jahren, zunächst vor allem in den USA, nach und nach auch in anderen Ländern und nun auch im österreichischen Graz – ist es exakt das gleiche Schema: Ein Schüler, der aus seiner Schule hinausgeworfen wurde bzw. sie aufgrund extremer Belastungen wie Mobbing, Prüfungsangst oder ungenügenden Leistungen frühzeitig verlassen musste, kehrt Jahre später an eben diese Schule zurück und nimmt skrupellos Rache an Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften, von denen die meisten nicht die geringste Schuld an dem tragen, was ihm Jahre zuvor widerfahren war. Nach getaner Tat richtet er sich selbst.
Aus psychologischer Sicht ist längst sonnenklar, was da abläuft. Schulamokläufe, so der Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein, würden oft von jungen Männern begangen, die an ihrer Schule oder in deren Umfeld Demütigungen erlitten hätten. Sie seien zuerst voller Ärger und Wut, dass ihnen niemand helfe, und diese Gefühle würden dann später irgendwann in Hass umschlagen und in das Bedürfnis, sich zu rächen, und zwar genau an dem Ort, wo die Demütigung erfolgt sei. „Solche Taten“, sagt auch die österreichische Verhaltensanalystin Patricia Staniek, „sind das Resultat mehrerer Faktoren, die über längere Zeit auf eine Person einwirken. Täter berichten oft von Ausgrenzung und Demütigung. Solche Erfahrungen graben sich über Jahre tief in die Psyche ein. Einsamkeit und schwache soziale Bindungen können dazu führen, dass die Täter ein eigenes Narrativ entwickeln und sich einer feindlichen Welt gegenüber sehen. Täter kehren deshalb oft an jenen Ort zurück, wo sie ihr Leid erlebt haben. Solche Taten reifen oft über längere Zeit. Und irgendwann reichen dann die inneren Kompensationen einfach nicht mehr aus und die Tat erscheint als der letzte Ausweg. Es ist eine Form von Selbstradikalisierung: Die Täter glauben, auf diese Weise Bedeutung zu erlangen. Sie wollen sich sozusagen in die Gesellschaft, welche sie ausgestossen hat, auf möglichst wirkungsvolle und öffentlichkeitswirksame Weise einbrennen.“
Ebenso sonnenklar wie dieser Befund müsste dann logischerweise auch die Schlussfolgerung sein, die man daraus ziehen müsste, nämlich, nie ein Kind oder einen Jugendlichen gegen seinen Willen aus einer Gemeinschaft oder einem sozialen Netz herauszureissen, das ihn trägt und ihm in Form einer geregelten Alltagsstruktur insbesondere in schwierigen oder unsicheren Lebensphasen trotz allem eine gewisse Stabilität verleiht. Scheitern an zu hohen schulischen Anforderungen oder gar der gewaltsame Schulausschluss gegen den eigenen Willen sind so ziemlich das Schlimmste, Verhängnisvollste und Gefährlichste, was man einem jungen Menschen antun kann. Eigentlich müsste man ganz im Gegenteil jungen Menschen in einer besonders schwierigen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung umso mehr Wertschätzung, Zuneigung und Vertrauen entgegenbringen und alles daran setzen, dass sie genau an einem solchen Punkt ihres Lebens, wo sie auf Anerkennung mehr als je zuvor angewiesen werden, nicht mit einem Gefühl totalen Scheiterns und einem möglicherweise daraus resultierenden Verlust ihres gänzlichen Selbstvertrauens konfrontiert werden. Das oberste Prinzip einer jeglichen pädagogischen Institution, die auf Menschenliebe gründet – und worauf sonst sollte sie gründen? – müsste darin bestehen, nie und unter gar keinen Umständen einen jungen Menschen fallen zu lassen, ihn auszusondern, „abzuschreiben“ oder aufzugeben. Denn tut sie das, ist das nicht weniger grausam, als wenn man jemandem, der sich mit letzter Kraft an einer schmalen Felskante festzuklammern versucht, so lange und so brutal auf den Händen herumtrampeln würde, bis er loslassen muss und in einen Abgrund stürzt. Es ist, könnte man sagen, nichts weniger als Seelenmord.
Doch weit davon entfernt, dass diese Schlussfolgerung von den zuständigen Politikern, Schulbehörden, Lehrkräften, Schulleitern und pädagogischen Fachpersonen endlich gezogen wird, sucht man tausend andere Gründe und stellt tausend andere Forderungen in den Vordergrund, bloss um vom eigentlichen Grundproblem abzulenken. So wurde bereits einen Tag nach der Tat fast die gesamte öffentliche Diskussion auf die Frage fokussiert, woher der Täter die beiden von ihm benutzten Waffen beschafft haben könnte. „Nach dem Amoklauf“, so das „St. Galler Tagblatt“ vom 12. Juni 2025, „dominiert vor allem aber eine Frage: Wie konnte der Mann die Waffen beschaffen?“ Die Bürgermeisterin von Graf forderte umgehend ein breites Waffenverkaufsverbot. Die selbe Forderung erhoben auch Parlamentsabgeordnete der Grünen. Selbst ein bekannter Wiener Waffenhändler sagte: „Wir haben viel zu viele illegale Waffen.“ Die Leichtigkeit, mit der eine Privatperson in den Besitz einer Waffe gelangen könne, sei „absurd und weltfremd“.
Auch die Schlagzeilen und Titel der Zeitungsberichte zeigen, wie einseitig das Vorgefallene ausschliesslich auf seine Wirkung nach aussen reduziert wird und die dahinter liegenden Ursachen gar nicht erst Raum bekommen, um auch nur einigermassen ernsthaft diskutiert zu werden: „Elf Tote bei Amoklauf an einer Schule“, „Der Attentäter besass legal zwei Waffen“, „Siebzehn Minuten, die eine Stadt verändern“, „Wie gross ist das Risiko für ein Schusswaffendelikt?“, „Die 17 längsten Minuten von Graz“, „Wie sicher sind unsere Schulen?“, „Österreichs Waffenrecht wird hinterfragt“, „Der Schock in Österreich sitzt tief“, „Österreich ist erschüttert“ oder „Die halbe Welt schaut auf Graz“. Eine Schlagzeile wie „Zeit für eine radikale Schulreform“ oder „Wenn Opfer zu Tätern werden“ sucht man vergebens. Auch die Reaktion der staatlichen Behörden ist weit davon entfernt, eine dringend nötige Diskussion darüber anzustossen, wie eine Gesellschaft mit Menschen, die aus dem System zu fallen drohen, umgehen müsste, sondern manifestiert sich beinahe ausschliesslich auf die Inszenierung emotionaler Betroffenheit und Empörung: Während sich der österreichische Innenminister Karner auf die Frage eines Reporters nach den möglichen Motiven des Täters äusserst wortkarg zeigte und sich bloss auf die Aussage beschränkte, darüber zu werweissen sei sowieso alles nur „Spekulation“, sprach Bundespräsident Van der Bellen von einem „nicht in Worte zu fassenden Horror“, der „unser ganzes Land mitten ins Herz trifft“. Und Bundeskanzler Stocker sagte: „Unser Land steht in diesem Moment des Entsetzens still“ und ordnete unverzüglich eine dreitätige Staatstrauer an, liess sämtliche Veranstaltungen der nächsten Tage absagen und alle Flaggen und Fahnen in ganz Österreich auf Halbmast setzen, zudem wurde angekündigt, dass genau 24 Stunden nach der Tat im ganzen Land eine Schweigeminute stattfinden, alle öffentlichen Verkehrsmittel still stehen und alle Kirchenglocken im ganzen Land läuten würden. Im Interview mit einer grossen Tageszeitung sprach Stocker von einem „dunklen Tag in der Geschichte unseres Landes“ und meinte: „Eine Schule ist mehr als nur ein Ort des Lernens. Sie ist ein Raum des Vertrauens, der Geborgenheit und der Zukunft. Unsere Schulen müssen Orte des Friedens bleiben.“ Was er damit wohl sagen wollte? Dass man Schulen künftig besser vor „bösen“ Menschen wie einem solchen Amokläufer schützen müsste? Oder vielmehr, dass Schulen wieder ganz und gar Stätten von Vertrauen, Geborgenheit und Frieden sein müssten, um Schreckenstaten wie jener an der Grazer Schule schon von Anfang an den Boden unter den Füssen zu entziehen?
Die Bilder, die man jetzt überall sieht – Blumengebinde im Gedenken an die Opfer, Meere brennender Kerzen, sich gegenseitig aneinanderklammernde weinende Kinder, Jugendliche und Erwachsene, viele von ihnen schwarz gekleidet, Hunderte, die sich spontan gemeldet haben, um Blut zu spenden – erinnern mich an den Aufschrei bei jedem Autounfall mit Verletzten und Toten, als wäre das nicht die ganz logische Folge einer Verkehrspolitik, die viel zu einseitig auf das private Automobil setzt und schon längstens flächendeckende Alternativen dazu hätte entwickeln müssen. Ebenso erinnern sie mich an den Aufschrei der Zuschauerinnen und Zuschauer bei Skirennen, die sich jedes Mal, wenn eine Fahrerin oder ein Fahrer nach einem schweren Sturz bewegungslos auf der Piste liegen bleibt, die Hände über die Augen schlagen und eben das nicht sehen wollen, was sie mit ihrer eigenen Sensationslust und ihrer Vermarktung durch die unzähligen Profiteure solcher Anlässe selber verursacht haben. Oder an die tränenerstickten Worte eines Radprofis, der in einem dieser fürchterlichen und immer brutaler werdenden Strassenrennen seinen besten Freund verloren hat – statt dass man endlich in aller Ernsthaftigkeit, Offenheit und Selbstkritik über den Sinn oder Unsinn eines Spitzensports diskutieren würde, der infolge einer Eigendynamik zunehmender Brutalisierung immer mehr menschliche Opfer fordert.
Bezeichnend für dieses Verdrängen und Verschweigen der Ursachen all dessen, was im Nachhinein dann so tränenreich bedauert wird, ist auch die Tatsache, dass, wenn wieder einmal etwas ganz Schlimmes passiert ist, wie aus dem Nichts unzählige Fachleute auf der Bildfläche erscheinen, um sich um die Opfer des angerichteten Schadens zu kümmern: Unmittelbar nach der Tat waren Dutzende Spezialisten von Kriseninterventionsteams vor Ort, um geschockte und verzweifelte Eltern sowie Schülerinnen und Schüler zu betreuen. Fachleute betonen, dass solche Amoktaten eine extreme Langzeitwirkung hätten und bei vielen Menschen Schlafstörungen, Albträume oder Flashbacks auslösen würden. „Die denken“, so der Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein, „sie würden verrückt oder seien gar nicht mehr in der Lage, den Strom der Erinnerungen zu durchbrechen.“ Oft würden auch Ehen nach dem Tod von Kindern zerbrechen, Eltern könnten berufsunfähig werden und ganze Orte könnten von solchen Ereignissen über Jahre gekennzeichnet bleiben. Um die Menschen vor Ort zu beruhigen, liess sogar das kroatische Fernsehen einen Franziskanerpater auftreten, welcher seinen Landsleuten in ihrer Muttersprache erklären sollte, was geschehen sei. Würden all die Spezialisten und Fachleute, die jetzt von allen Seiten herbeieilen, um den Scherbenhäufen aufzuräumen, ihr Fachwissen nicht viel gescheiter dafür einsetzen, dass solche Scherbenhaufen gar nicht mehr erst entstehen?
Auch in der Schweiz wird im Zusammenhang mit dem Grazer Amoklauf beinahe ausschliesslich nur darüber diskutiert, wie die Sicherheitslage an den Schulen weiter verbessert werden könnte. So etwa schlägt der „Tagesanzeiger“ in einem Artikel unter dem Titel „Wie gross ist das Risiko für ein Schusswaffendelikt?“ unter anderem „definierte Abläufe für den Ereignisfall“, „geeignete Alarmsysteme“ und „von innen verschliessbare Türen in möglichst allen Räumen“ vor. Auch der „Blick“ fordert mit einer fetten Schlagzeile „möglichst hohe Sicherheit“ und schlägt hierzu ein „Notfallkonzept“ vor, das folgende Punkte beinhalten müsste: Sofortiges Ernstnehmen jeglicher Amokdrohungen, rascher Beizug der Spezialisten der zuständigen Kantonspolizei, unmittelbare Übergabe der Einsatzleitung an die Behörden, Regelung der Kommunikation mit den Eltern, wenn nötig Evakuierung des betroffenen Schulhauses. Als eine weitere mögliche Massnahme wird die Anstellung von Schulpolizisten vorgeschlagen, wie dies in den USA bereits an vielen Schulen erfolgt sei. Angesprochen darauf, dass es in der Schweiz bisher noch keinen vergleichbaren Amoklauf gegeben habe, weist Beat A. Schwendimann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz darauf hin, dass in den letzten Jahren die „Präventionsarbeit gegen Gewalt und Amoklagen“ in vielen Schulen „verstärkt worden“ sei, wobei der Fokus „vermehrt auf Krisenintervention“ gelegt werde. Zu diesem Zweck würden „Kriseninterventionsteams“ eingerichtet, die „im Notfall sofort aktiviert werden“ könnten. Der Kanton Zürich beschäftige sogar extra einen „Beauftragten für Gewalt im schulischen Umfeld“ und stelle den Schulen „verschiedene Werkzeuge zur Verfügung“, zu denen unter anderem auch eine speziell zu diesem Zweck entwickelte „Notfall-App“ gehöre, die zur „Alarmierung und Kommunikation“ genutzt werden könne. Punktuell gäbe es zu diesem Thema auch spezifische Weiterbildungskurse für Lehrkräfte, wo auch „Merkblätter mit den wichtigsten Verhaltensregeln“ abgegeben würden. Bei alledem stünden die Schweizer Polizeikorps „in ständigem engem Austausch mit Schulen und Behörden“. Ein besonderes Augenmerk gelte dabei den sozialen Medien, denn dort nähmen „Cybermobbing, Drohungen oder die Nachahmung gefährlicher Trends und Challenges kontinuierlich zu.“
Doch sämtliche dieser Forderungen nach mehr Sicherheit können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Grundproblem nicht der zu leichte Zugang zu Waffen ist, auch nicht das Fehlen umfassender Sicherheitskonzepte, auch nicht das mangelnde Wissen über die Reihenfolge von Massnahmen in Notfallszenarien, auch nicht der Mangel an Alarmsystemen oder Überwachungskameras und auch nicht die zu lückenhafte Zusammenarbeit zwischen Behörden, Polizei und Schulen, sondern einzig und allein die Tatsache, dass mit jedem jungen Menschen, der gegen seinen Willen aus der Schule geworfen wird oder sie aufgrund von Mobbing. Ängsten oder Überbelastung selber freiwillig frühzeitig verlässt, in Form des Zusammenbruchs aller seiner Zukunftshoffnungen ein Seelenmord begangen wird, für den er sich früher oder auf die eine oder andere Art rächen wird, entweder mit Gewalt gegen andere in Form eines Amoklaufs oder mit Gewalt gegen sich selber in Form von Depressionen, Süchten oder dem lebenslang verbleibenden Gefühl des Scheitern, des Ungenügens und der Minderwertigkeit.
Es kann kaum etwas Widersprüchlicheres geben als ein Schulsystem, das Kinder und Jugendliche tagein tagaus dazu zwingt, Dinge zu lernen, die sie gar nicht lernen wollen, sie von früh bis spät dazu anhält, aus gemachten Fehlern zu lernen, und die gesamten damit verbundenen, oft viel zu hohen Anforderungen an die Kinder damit begründet, wie wichtig Selbsterkenntnis und Lernen für das ganze spätere Leben seien – selber aber in unbegreiflicher und höchst unprofessioneller „Renitenz“, ja geradezu „Lernverweigerung“ nicht bereit ist, aus gemachten Fehlern wie dem vorzeitigen Ausschluss „schwieriger“, „renitenter“ oder „untragbarer“ Schülerinnen und Schülern die simpelsten Lern- und Erfahrungserkenntnisse zu gewinnen, um so schreckliche Vorfälle wie Amokläufe an Schulen für immer zu verunmöglichen. Denn das psychologische Wissen, wie man so etwas wie einen Amoklauf präventiv verhindern kann, nämlich indem man keinen Menschen aus einem ihn tragenden Netz herausreissen und ins Nichts fallen lassen darf, ist längstens vorhanden, wie die oben beschriebenen Analysen von Fachleute beweisen – das Tragische ist bloss, dass ausgerechnet diese Analysen, die zur Lösung des Problems führen und sich nicht auf reine Symptombekämpfung reduzieren würden, stets wieder im Getöse des lautstarken, polternden und wahlpolitisch wirkungsvollen Rufs nach härteren Regeln, mehr Kontrollen, mehr Sicherheitsmassnahmen und dergleichen untergehen und gänzlich aus dem Blickfeld verschwinden. So werden laufend neue tickende Zeitbomben produziert – in der Schweiz jedes Jahr mehrere tausende, in Deutschland, wo es hierzu im Gegensatz zur Schweiz genauere Statistiken gibt, sind es rund 50’000 pro Jahr, welche die Schule frühzeitig verlassen und meistens ohne jegliche Zukunftsperspektive im Nichts verschwinden.
Doch es sind nicht nur die Amokläufe. Diese bilden bloss die ganz seltene und winzige allerhöchste Spitze eines Eisbergs, unter der sich in zahllosen „harmloseren“ und meist viel weniger sichtbaren Formen unendliches Leiden von Kindern und Jugendlichen unter einem Schulsystem manifestiert, dem es offensichtlich viel mehr um seinen eigenen Überlebenskampf geht als um das Überleben noch zutiefst verletzlicher, in ihrer Persönlichkeit noch viel zu wenig gefestigter und einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzter Heranwachsender, die gerade in ihren schwierigsten Lebensphasen auf nichts so sehnlich angewiesen wären als auf Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Liebe, den Grundvoraussetzungen dafür, dass gesundes und selbstbewusstes Leben wachsen kann.
Viele Jahre früher, bevor dann ein paar ganz wenige von ihnen im allerschlimmsten Fall vielleicht einmal zu Amokläufern werden, signalisieren die meisten Kinder ihr Unbehagen an einer Schule, die der Entfaltung ihrer innersten Lern- und Lebensbedürfnisse viel zu wenig gerecht wird oder dieser sogar diametral im Wege steht, auf meist ganz feine, kaum wahrnehmbare Weise, so wie allerfeinste Seismographen, die ein zukünftiges Erdbeben schon früh ankündigen. Eines dieser Signale sind Bauchschmerzen – wohl kein Zufall, ist doch der Bauch – ganz sicher ist sich auch die gesamte Fachwelt bis heute noch nicht – möglicherweise der Sitz der menschlichen Seele. „Tatsächlich“, so Carsten Posovsky vom Universitäts-Kinderspital Zürich in einem Interview mit dem „St. Galler Tagblatt“ vom 11. Juni 2025, „sind Bauchschmerzen bei Kindern, vor allem chronische, ein häufiges Problem, am zweithäufigsten nach den Kopfschmerzen. Etwa jedes zehnte Kind ist davon betroffen. Als Gründe dafür vermutet man psychosoziale Belastungen wie Stress, etwa durch die Schule.“ Aber nicht einmal dieses erste, äusserlich zwar noch „harmlose“, für die betroffenen Kinder und auch ihre Eltern aber mit unermesslich viel Leiden verbundene Signal wird folgerichtig wahrgenommen – kaum jemand hinterfragt das herrschende Schulsystem und all die mit ihm künstlich aufgebauten Zwänge, Belastungen und Hindernisse, die einem freien, selbstbestimmten Lernen in den Weg gestellt werden. Hinterfragt wird nicht das System, dafür umso mehr das scheinbar „überforderte“ Kind selber. Dementsprechend wird auch gehandelt: Meist werden zunächst Medikamente verschrieben, dann werden, weil diese logischerweise nichts nützen und die Ursachen des Problems bloss zu überdecken versuchen, zum Beispiel „kognitive Verhaltenstherapien“ oder gar eine „darmzentrierte Hypnotherapie“ empfohlen. Wenn das alles immer noch nichts nützt, kommt dann – von vielen Fachleuten empfohlen, weil scheinbar mit „wissenschaftlich belegtem“ Nutzen – unter anderem der Einsatz von Pfefferminzöl zum Zug, welches eine „krampflösende Wirkung“ haben soll, „schmerzlindernd“ sei und zudem die Darmtätigkeit anrege. Zeigt das immer noch keine Wirkung, greift man sodann unter anderem nach „Probiotika“, besonders angezeigt beim sogenannten „Reizdarmsyndrom“. Schliesslich verbleiben dann noch die mögliche Verschreibung einer Psychotherapie mit dem Schwerpunkt „Stressabbau“, „Atemübungen“, „progressive Muskelentspannung“ oder „Traumreisen“. Es gibt sogar Fachleute, die allen Ernstes den „Verzicht auf jegliche Schonhaltung“ als das probateste Mittel gegen chronische Bauchschmerzen vorschlagen. Wer nach all dem Aufwand, den vielen Arztterminen, all den damit verbundenen Spannungen und Konflikten in den Familien, all den Frustrationen, den nicht erfüllten Hoffnungen und dem riesigen zeitlichen und finanziellen Aufwand dann immer noch nicht „geheilt“ ist – und das sind vermutlich weitaus die meisten -, gilt dann halt als „untherapierbar“ und geht weiterhin jeden Tag mit Bauch- oder Kopfschmerzen zur Schule. Und kein Mensch hinterfragt, warum denn alle diese Phänomene erst in der Schule entstanden sind und nicht schon in den ersten Lebensjahren, in denen die Kinder in kürzester Zeit, vollkommen lustvoll, beschwerdelos und schmerzfrei, weitaus mehr gelernt haben als in ihrem gesamten späteren Leben.
Ein weiteres Signal, mit dem Kinder ihr Unbehagen mit dem herrschenden Schulsystem bekunden, ist der Schulabsentismus. „Kinder“, so ein Artikel im „Tagesanzeiger“ vom 2. Juni 2025, „können so starke innere Blockaden entwickeln, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollen.“ Die Ursachen, so der an der Universität Leipzig zu Schulabsentismus forschende Heinrich Ricking, seien oft in der Schule selbst zu finden, etwa „beim Leistungsdruck, bei der Angst vor einem Versagen oder bei Mobbing“. Aber wie bei den Amokläufen und den Bauch- und Kopfschmerzen, ist es genau dasselbe auch beim Schulabsentismus: Bekämpft werden nur die Symptome, nicht die Ursachen. Therapiert werden nur die einzelnen Kinder und Jugendlichen, nie da System als solches. Stets versucht man die Kinder dem System anzupassen, statt das System den Kindern anzupassen, um jedem einzelnen von ihnen einen erfolgreichen Weg des Lernens, des Entdeckens und Förderns der individuellen Begabungen und einer positiven Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich zu machen. Eine im Herbst 2023 im Kanton Zürich durchgeführte Befragung aller Vierzehnjährigen, welche eine erschreckende Zunahme von Depressionen, Süchten, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken und Suizidversuchen im Zusammenhang mit schulischer Überbelastung zutage gebracht hatte, wurde selbst vom Hauptverantwortlichen sämtlicher kantonaler Jugendberatungsstellen bloss mit der Empfehlung kommentiert, die Jugendlichen müssten sich halt eine „dickere Haut“ zulegen, zum Ausgleich „mehr Sport treiben“ und die Schule nicht als ihren hauptsächlichen Lebensinhalt betrachten – einfach gesagt, wohl aber schwer umzusetzen, wenn man gezwungen ist, an sieben oder acht Stunden pro Tag in der Schule zu sitzen, zudem zuhause noch Hausaufgaben erledigen und jede Woche zwei oder drei Prüfungen absolvieren zu müssen, die allesamt auf die zukünftigen Berufs- und Lebenschancen einen zutiefst umfassenden Einfluss haben und deren Resultate, falls sie nicht den erhofften Erwartungen genügen, später kaum wieder rückgängig gemacht werden können.
Trotzdem zum Abschluss noch ein Lichtblick. Rolf (Name geändert) ist einer dieser paar tausend Jugendlichen in der Schweiz, die jährlich vor dem Abschluss der obligatorischen Schulpflicht die Schule verlassen müssen, weil sie nicht mehr länger „beschulbar“ sind. Auch bei Rolf war es eine Kette disziplinarischer Vorfälle, welche schliesslich eines Tages das Fass zum Überlaufen brachten, worauf die Schulleitung in Absprache mit den zuständigen Behörden und involvierten Fachpersonen den definitiven Schulausschluss verfügte. Für Rolf und seine Eltern brach eine Welt zusammen. Es war drei Monate vor dem Ende des neunten Schuljahrs, läppische drei Monate also von insgesamt neun Jahren fehlten ihm nun also, um nach abgeschlossener Schulpflicht eine Berufslehre antreten zu können. Dabei wäre seine Traumlehrstelle als Chemielaborant bereits in Griffnähe gelegen, und zwar aufgrund einer Schnupperwoche, bei der Rolf einen tadellosen Eindruck hinterlassen hatte, nicht nur was Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, sondern vor allem auch was seine immense Wissbegierde bei naturwissenschaftlichen Themen betraf. Einer seiner früheren Lehrer, an die er sich heute noch gerne erinnert, hatte einmal gesagt, bei allem, was Rolf interessiere, zeige er enormes Interesse und erreiche dann auch in kürzester Zeit höchst erstaunliche Lernfortschritte – wenn ihn hingegen etwas nicht interessiere, dann könne man noch so lange auf ihn einreden, sein Widerstand bis hin zu Aggressivität und Gewalttätigkeit werde dadurch nur immer noch grösser. Nun also sass Rolf zuhause und sowohl er wie auch seine Eltern wussten weder ein noch aus, seine ganze Zukunft bestand nur noch aus einem unendlichen schwarzen Loch ohne jeden Ausweg. Bis eine Bekannte der Familie eine geniale Idee hatte. Ich sei doch pensionierter Oberstufenlehrer, meinte sie. Und siehe da: Zwei Wochen später erteilte mir der Leiter jener Schule, die ihn eben noch auf die Strasse gestellt hatte, den Auftrag, Rolf an drei Halbtagen pro Woche privat zu unterrichten, um ihm auf diese Weise zu einem Abschluss seiner obligatorischen Schulpflicht zu verhelfen – während der übrigen Zeit würde man ihm eine Arbeitsstelle auf einem therapeutischen Bauernhof verschaffen, in unmittelbarer Nähe seines Wohnorts. Nun kommt er also zu mir, drei Mal die Woche, und wir sausen im Eilzugstempo durch den restlichen Fächerkanon der 3. Oberstufe, kann er sich nun doch ohne jegliche Ablenkung von aussen und haargenau in dem für seinen Lernrhythmus stimmenden Tempo vorwärtsbewegen. Ich staune über seine Intelligenz, seinen Wissensdurst und sein Begabungspotenzial. Meine Vermutung, dass es keine schwierigen Schüler gibt, sondern nur eine schwierige Schule, die es jungen Menschen verunmöglicht, so zu lernen, wie sie das von Natur aus am liebsten und am erfolgreichsten täten, hat sich einmal mehr bestätigt. Der Junge, an dem sich das gesamte Schulsystem so schwer getan und sich zuletzt völlig erfolglos die Zähne ausgebissen hatte, sitzt nun da, in meiner Stube, und ist kein bisschen „schwieriger“ als irgendein anderer meiner ganz „normalen“ Schüler, denen ich nebst Rolf ebenfalls regelmässig Privatunterricht erteile. Und seine Mutter hat mir vor zwei Tagen sogar ganz begeistert erzählt, Rolf hätte sich innert kürzester Zeit in einen gänzlich anderen Menschen verwandelt. Er trägt jetzt eine neue Frisur, sodass man nun dort, wo vorher nur ein Riesenwuschel Haare gewesen war, endlich wieder seine Augen sehen kann, er hat sich neue Kleider gekauft und zum ersten Mal nach fast einem halben Jahr kann er auch endlich wieder richtig aus vollem Herzen lachen. Immerhin eine von den paar tausend tickenden Zeitbomben weniger…
(Ergänzung am 25. Juni 2025: Am 11. Mai 205 wurde im zürcherischen Berikon ein 15jähriges Mädchen von ihrer 14jährigen Freundin erstochen. Und genauso wie bei den Amokläufen reagiert die Öffentlichkeit mit blankem Entsetzen und Fassungslosigkeit. „Niemand versteht, wie dies geschehen konnte. Sie waren zwei grossartige Freundinnen“, so der Präsident des Portugiesischen Vereins Zürich. Doch genauso wie bei den Amokläufen muss man nur ein bisschen genauer hinschauen, um es zu verstehen. Es scheint nämlich, so wie in einem Artikel des „St. Galler Tagblatts“ vom 24. Juni zu lesen ist, bei beiden „unfassbaren“ Taten im Grunde um genau das Gleiche zu gehen. Um das, was man, um es auf ein einziges Wort zu reduzieren, als „Demütigung“ bezeichnen könnte. Vieles deutet darauf hin, dass die Täterin seit längerer Zeit unter einer starken psychischen Belastung litt, weil sie sich als minderwertig fühlte und ihre Selbstzweifel immer stärker geworden waren, unter anderem deshalb, weil sie sich aufgrund schlechter Noten schuldig fühlte, ihre Eltern enttäuscht zu haben. Dazu der Forensiker Josef Sachs, der sich seit Jahrzehnten mit Gewalttaten und deren Ursachen und Auslösern beschäftigt: „Enttäuschung über die eigene Lebenssituation, die im Vergleich mit Kolleginnen schlechter erscheint, kann der Auslöser für eine solche Gewalttat sein. Das Gefühl, nicht zu genügen oder nicht respektiert zu werden, kann Teil des Motivgefüges sein. Offenbar war das Opfer sehr fröhlich, kam bei Kolleginnen und in der Schule gut an – ein grosser Unterschied zur Beschreibung der 14jährigen Täterin, die fast der Gegenentwurf ihrer Freundin ist, sauer auf sich selbst und unzufrieden mit ihrem Leben. Dieser Gegensatz scheint so stark gewesen zu sein, dass die Täterin ihr eigenes Elend umso stärker spürte. Es könnte auch sein, dass die glückliche Freundin ihr nicht helfen konnte und sich die Enttäuschung somit noch zusätzlich verstärkte.“ Wie bei den Amokläufen also letztlich nichts anderes als ein Hilfeschrei in höchster Verzweiflung, ein von unvorstellbaren seelischen Schmerzen erfüllter Ruf nach Aufmerksamkeit. Denn, so Josef Sachs: „Es gibt Menschen, für die es schlimmer ist, gar keine Aufmerksamkeit zu erhalten, als eine negative Aufmerksamkeit.“ Die öffentliche Debatte für die Tat von Berikon kreist derzeit aber ausschliesslich darum, welches Strafmass für die Täterin angemessen sei – vergleichbar mit den Diskussionen rund um den Amoklauf von Graz, wo ebenfalls reine Symptombekämpfung im Vordergrund steht anstelle eines vertieften Eingehens auf die tatsächlichen Ursachen und der daraus zu ziehenden Konsequenzen. Debattieren müsste man, anstelle von Schutz- oder Strafmassnahmen, endlich über die Folgen eines Erziehungs- und Gesellschaftssystems, das junge Menschen dazu zwingt, permanent gegenseitig um Erfolg und Anerkennung zu kämpfen, ein Kampf, aus dem junge Menschen, noch mitten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung viel zu wenig gefestigt, entweder, mit allen damit verbundenen Konsequenzen, als gefeierte „Sieger“ oder aber als gedemütigte „Verlierer“ hervorgehen, ein Kampf, der immer erbitterter geführt wird und zweifellos, so lange nicht radikal neue Wege gegenseitiger Solidarität und Gemeinschaftsdenkens gesucht und im Alltag umgesetzt werden werden, zu einer immer höheren Zahl von Opfern führen wird. Denn, wie Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren sagte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“)