Im Alter von acht Jahren veröffentlichte ich meine erste kleine, selbergeschriebene Zeitung. Niemand hatte sie lektoriert. Und das war gut so.

Die kleine Zeitschrift, die ich im Alter von 8 Jahren zu schreiben begann und bis zum 16. Lebensjahr einmal pro Monat herausgab, hiess zunächst „Famo-Cini“ – keine Ahnung, wie ich auf diesen Namen gekommen war. Später benannte ich sie in „Ihr Lesekameraden“ um. Da ich die Hefte bis heute aufbewahrt habe und gelegentlich mal jemandem zeige, ist mir kürzlich aufgefallen, dass ich den Titel im Alter von neun Jahren korrekt schrieb: „Ihr Lesekameraden“. Aus irgendwelchen, mir unerfindlichen Gründen hiess sie dann aber etwa ein halbes Jahr später plötzlich „Ihr Lesekamerate“. Und ein paar weitere Monate später sogar: „Ihr Lessekameratte“ – nicht wie man erwarten könnte, hatte sich in diesem Zeitraum meine Rechtschreibung verbessert, im Gegenteil, sie hatte sich massiv verschlechtert, es waren immer mehr Fehler dazu gekommen.

Es brauchte fast ein weiteres halbes Jahr, bis meine Zeitschrift dann wieder korrekt „Ihr Lesekameraden“ hiess. Seither habe ich das Wort nie mehr „falsch“ geschrieben. Natürliche Lernprozesse brauchen Zeit, aber früher oder später setzt sich das Richtige durch, wie bei den kleinen Kindern, die im Alter von zwei oder drei Jahren ein Wort zuerst tausendmal „falsch“ sagen, bis es dann eines Tages plötzlich richtig ist. So entsteht die Perfektion nach und nach auf natürliche Weise. Die erste Ausgabe meiner Zeitung im Alter von acht Jahren war voller Fehler, in der letzten Ausgabe, die ich im Alter von 16 Jahren schrieb, findet sich kein einziger Fehler mehr. Learning by Doing. Lernen durch Versuch und Irrtum. Niemand hatte jemals meine kleine Zeitschrift lektoriert, im Gegenteil, die meisten Leserinnen und Leser fanden die Fehler geradezu amüsant. Auch heute noch, wenn ich die frühen Ausgaben meiner Zeitschrift lese, sind die „Fehler“ das Lustigste, das, worüber ich am meisten schmunzeln muss – das Salz in der Suppe, die sonst fad und eintönig wäre. Fehler sollte man möglichst lange machen dürfen und nicht so früh wie möglich auszumerzen versuchen. Und schon gar nicht bekämpfen. Und erst recht nicht Kinder dafür bestrafen, wenn sie Fehler machen. Denn, wie ein uraltes afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Ich bin fast ganz sicher: Würden wir diese Geduld, diese Gelassenheit und die Zuversicht, dass es am Ende schon gut herauskommt, in genügendem Masse aufbringen, dann würde kein Erwachsener jemals auch nur noch einen einzigen Rechtschreibefehler machen, ebenso wenig, wie er auch beim Sprechen und in der mündlichen Kommunikation irgendwelche „Fehler“ macht, ganz einfach deshalb, weil er genug lange so viele Fehler wie nur möglich machen durfte, um dann eines Tages zur höchsten Perfektion zu gelangen.

Sprunghaft zunehmender Schulabsentismus: Die Schule muss nicht allzu weit gehen, um die Ursache zu finden…

Für den in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Schulabsentismus – unentschuldigtes Fernbleiben von der Schule – sieht René Donzé in der „NZZ am Sonntag“ vom 5. Mai 2024 vor allem zwei Ursachen: Ängste und Mobbing. Weiter werden erwähnt: Sozialphobie, Kriegsangst, Spätfolgen von Corona, Schnelllebigkeit der Gesellschaft, soziale Medien, häufiger Wohnortswechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Verweichlichung. Nur am Rande ist die Rede davon, dass auch die Schule selber eine Ursache sein könnte.

Befragt man aber Kinder und Jugendliche, wird schnell deutlich, dass sie selber in erster Linie unter dem wachsenden schulischen Prüfungs- und Leistungsdruck leiden. Dazu kommt die Fremdbestimmung schulischen Lernens: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nicht selber entscheiden, was und wie sie lernen möchten, die Lerninhalte werden ihnen weitgehend vorgeschrieben. Zudem werden sie durch das Prüfungs- und Notensystem permanent in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf gezwungen, aus dem die einen immer wieder als vermeintliche „Gewinner“ und die anderen als „Verlierer“ hervorgehen, was bei diesen zu einer endlosen Kette von Misserfolgserlebnissen bis hin zum Verlust jeglichen Selbstvertrauens führen kann, der eigentlichen Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen schwierig sein, oft auch die Familienverhältnisse, die soziale Situation, der Einfluss der sozialen Medien, möglicherweise auch die Folgen der Coronakrise. Wäre die Schule aber ein Ort des Wohlbefindens und der Lebensfreude, wo alle Kinder ausnahmslos erfahren dürften, wie wertvoll sie sind und über was für wunderbare Begabungen ein jedes von ihnen verfügt, dann würden wohl kaum so viele Kinder so ungern zur Schule gehen. Vermutlich wäre wohl eher das Gegenteil der Fall.

„Keine Schonhaltung für Schulschwänzer“, fordert René Donzé. Er spricht von einer „erodierenden psychischen Gesundheit der Jugend“, ohne die Wechselwirkung zwischen dieser „psychischen Gesundheit“ und einer Schule zu erwähnen, die viel zu wenig sorgsam auf die eigentlichen Lern- und Lebensbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht. Nicht zuletzt wirft er den Eltern vor, zu „lasch“ zu reagieren – so müsse man sich nicht wundern, wenn die Absenzen weiter zunähmen. Eine „Schonhaltung“ schade den Jungen bloss. Doch ist wohl zu bezweifeln, dass weniger „Schonhaltung“ und mehr Härte den Schulabsentismus verhindern könnten. Viel eher wäre wohl das Gegenteil der Fall: Der Widerwillen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Schule würde dadurch wahrscheinlich eher noch zunehmen.

Vielleicht müsste man bei dieser Gelegenheit nur wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen, den eigentlichen „Vater unserer Volksschule“. Dieser sagte nämlich: Wenn etwas im Unterricht nicht funktioniere, dann müsse der Lehrer stets zuallererst die Ursache bei sich selber suchen. Und erst, wenn er sie, was höchst selten sei, nicht bei sich selber finde, könne er sich ja überlegen, wo sie vielleicht sonst noch irgendwo sein könnte…

Ein B, das Flügel bekam und sich in eine Biene verwandelte: Wie Star lesen und schreiben lernte…

Meine Enkelin Star war viereinhalb Jahre alt, als sie mir eines Tages ganz aufgeregt etwas zeigte. „Schau, Opa“, sagte sie, „das ist ein X!“ Es war tatsächlich der Buchstabe X, den sie in einem Wort gefunden hatte, welches ihre sechs Jahre ältere Schwester Leonie auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. „Und das hier kenne ich auch“, sagte sie und zeigte auf die Buchstaben N, O und A. „Aber die hier“, sie zeigte auf die anderen Buchstaben im Wort, „die weiss ich noch nicht.“ Und dann bat sie mich, in ihr Zimmer zu kommen. Voller Stolz nahm sie eine kleine, bunte Blechdose von ihrem Nachttischchen und öffnete sie: „Schau, hier sind sie!“ In der Blechdose lagen, in verschiedenen Farben auf kleine Zettel geschrieben, tatsächlich die Buchstaben X, N, O und A. Mila, ihre zwei Jahre ältere Schwester, hatte sie auf die Zettelchen geschrieben und ihr versprochen, jeden Tag ein weiteres mit einem neuen Buchstaben hinzuzufügen.

Doch nach sieben Tagen hatte Star genug. „Das reicht“, sagte sie. Auch während der folgenden zwei Wochen zeigte sie kein Interesse mehr an den Buchstaben. Wäre das alles zwei Jahre später geschehen, mitten in der Schule, hätte die klassische Lehrerin wahrscheinlich schon von einer Lernverzögerung oder gar von einer Lernverweigerung gesprochen. Doch Star hatte jetzt ganz einfach ihr Interesse vorübergehend auf anderes ausgerichtet, zum Beispiel auf die Farben des Regenbogens, mit denen sie verschiedene Tiere malte, oder auf eine Kartonschachtel, aus der sie eine Öffnung herausgeschnitten hatte und die sie sich nun über den Kopf stülpte, um einen Hasen zu spielen. Die nächsten Buchstaben konnten noch etwas warten…

Auch auf dem Nachttischchen ihres Zwillingsbruders Bosni lag eine kleine, bunte Blechdose. Aber die war noch leer. Dafür hatte er jetzt noch keine Zeit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, alles Erdenkliche, was sich auseinandernehmen liess, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Oder mithilfe von Google-Street die Häuser der Grosseltern, den Bahnhof oder den Migros-Supermarkt aufzusuchen, so zielsicher und in einem so horrenden Tempo, dass ich mit meinen Augen seiner Fahrt schon gar nicht mehr zu folgen vermochte. Aber die Blechdose hatte er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Und wahrscheinlich wusste er bereits, dass auch er sie eines Tages zu füllen beginnen würde.

Kurz darauf begann Star, in Bilderbüchern jene Buchstaben zu suchen, die sie schon kannte. Dabei fiel ihr auf, dass einige Wörter mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wurden und andere mit kleinen. Mila wusste auch nicht genau weshalb, aber Leonie konnte die Angelegenheit klären. Nun begann Star, zum ersten Mal selber kleine Wörter zu schreiben. Und eines Nachts sah sie im Traum vor sich den Buchstaben B. Der war plötzlich ganz gross angeschwollen und war zur Seite gekippt, so dass unten die gerade Seitenlinie lag und oben die zwei Bögen wie kleine Buckel. Diese begannen sich auf einmal in zwei Flügel zu verwandeln und plötzlich flog der zu einer Biene gewordene Buchstabe B fort, in unsichtbare Ferne. Überhaupt, die Träume. Wären sie sichtbar gewesen, dann hätten sie wahrscheinlich einem grossen See geglichen, in den oben immer wieder neue, kleine, grosse, bunte, glitzernde, bekannte und unbekannte Buchstaben hineinfielen, um sich dann, im Wasser hin und her schaukelnd, langsam auf den Grund des Sees hinab zu senken. Das waren dann wohl jene Augenblicke, in denen Star wieder etwas Neues „gelernt“ hatte.

Und so ging das weiter, über Wochen und Monate, mal schneller, mal langsamer, mal gar nicht. Eine Reise voller Abenteuer und Entdeckungen. Die Blechdose füllte sich nach und nach, alles bewegte sich in Richtung Vollkommenheit, denn das ist das Wesen des Lernens: Es gibt nichts Perfektionistischeres als ein Kind. Es will ALLES und es will alles so GUT wie nur irgend möglich. Wir könnten uns untrüglich darauf verlassen: Eines Tages würde Star ebenso perfekt lesen und schreiben können, wie sie auch mündlich ihre Muttersprache so perfekt und in allen nur erdenklichen Variationen beherrschte – vorausgesetzt, es wäre stets alles von guten Gefühlen begleitet, von unbändiger Entdeckungslust, vom Triumph, plötzlich Dinge zu können, die eben noch völlig unbekannt gewesen waren. Ja, es müsste funktionieren, aber nur, wenn sich die Erwachsenen nicht zu früh in dieses wundervolle Geschehen einmischen, nicht leichtfertig die Sache der Kinder zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf einmal das Erlernen von Buchstaben mit schlechten Gefühlen verbinden würden, mit Ängsten, Über- oder Unterforderungen, mit übertriebenen Erwartungen, unnötigem Belehren, langweiligen Übungsblättern ohne jegliche Glücksgefühle und viel zu vielen weiteren künstlichen Eingriffen, die wie Giftpfeile das Lernen der Kinder, dieses heilige Wunder, nur zu schnell und unbedacht zu stören, zu verletzen, zu blockieren und zu zerstören drohen. Denn es ist eben ganz genau so, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget einst so treffend sagte: „Alles, was den Kindern beigebracht wird, können sie selber nicht mehr lernen.“

Ein genialer Schachzug: Wie meine dreieinhalbjährige Enkelin bewiesen hat, dass die künstliche Intelligenz niemals die natürliche Intelligenz wird ersetzen können…

„Wie KI zur Kränkung der Menschheit wird“, lese ich in der „NZZ am Sonntag“ vom 24. März 2024. Und: „Jetzt ist diese Technologie dabei, unser Selbstverständnis zu zerstören.“

Ich hätte da möglicherweise eine Gegenthese. Und zwar kam das so: Unlängst wollten meine dreieinhalbjährigen Zwillingsenkelkinder, ein Bub und ein Mädchen, Schach spielen. Sie hatten es bei der älteren Schwester gesehen und wollten es nun unbedingt auch ausprobieren. Sie kannten natürlich die genauen Regeln noch nicht, wussten aber, dass man die Figuren in zwei gegnerischen Linien aufstellt und diese sich nun gegenseitig „fressen“ müssen. So führten sie die Figuren nun kreuz und quer übers Feld und warfen sich gegenseitig vom Spielfeld. Bis das Mädchen auf einmal sagte, das sei doch langweilig, sie hätte eine bessere Idee: Statt sich gegenseitig zu „fressen“, sollten sich die Figuren, sobald sie aufeinander trafen, ineinander verlieben. Der Bub war einverstanden. Und so änderte sich alles schlagartig. Die Figuren, die sich ineinander verliebt hatten, standen am Ende des Spiels friedlich paarweise am Rande des Spielfelds. Und die beiden Kinder waren überglücklich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass KI das geschafft hätte, was die dreieinhalbjährigen Zwillinge geschafft haben, nämlich, eine seit etwa 2000 Jahren geltende Regel einfach so über Bord zu werfen. Damit, hoffe ich, ist die Frage für immer beantwortet.

Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich auf der zweiten Oberstufe im November 2023: In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Nach den Schuljahren 2007/08, 2012/13 und 2017/18 fand im Schuljahr 2022/23 in der Stadt Zürich zum vierten Mal eine vom Gesundheitsdienst durchgeführte Befragung der rund 2000 Schülerinnen und Schülern der zweiten Oberstufe statt. Die Resultate können zweifellos, allenfalls mit gewissen Abweichungen, auf die gesamte schweizerische Schulsituation übertragen werden.

Auffallend sind die Unterschiede zwischen den Rückmeldungen von Mädchen und Knaben. Mädchen äussern sich in Bezug auf ihre schulische Situation weitaus negativer. 52% der Mädchen – 14% mehr als vor fünf Jahren – fühlen sich durch Prüfungen, Druck in der Schule und Noten stark belastet, bei den Knaben sind es deutlich weniger. Nur 23% der Mädchen sind mit ihrer Schulsituation sehr zufrieden, der tiefste Wert seit Beginn der Befragungen. 57% Prozent der Mädchen und 42% der Knaben äussern Traurigkeit und Zweifel an sich selbst. 55% der Mädchen und 47% der Knaben geben an, sich in schwierigen Situationen nicht auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können. Nur die Hälfte der Mädchen haben Vertrauen in die eigenen Lehrkräfte, vor fünf Jahren waren es noch 67%, bei den Knaben ging der entsprechende Anteil von 71% auf 67% zurück. Das Gefühl, zur Schule zu gehören, hat innerhalb der vergangenen fünf Jahre bei den Mädchen von 82% auf 72% abgenommen, bei den Knaben von 84% auf 78%. 21% der Mädchen und 13% der Knaben fügen sich Selbstverletzungen zu. Zugenommen haben – um insgesamt 5 bis 9 Prozent – sowohl bei den Mädchen wie bei den Knaben Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen sowie Angststörungen und Depressionen. 51% der Mädchen und 37% der Knaben nehmen regelmässig Medikamente gegen Schmerzen. 23% der Mädchen und 10% der Knaben haben schon ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Von diesen 23% sämtlicher Mädchen haben wiederum 29% schon mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, bei den Knaben sind es 24%. Gemessen am Total aller Befragten, inklusive derjenigen, welche auf diese Frage keine Antwort gaben, sind es 4,5%, die schon einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen.

Fehlende positive Gefühle, mangelnde Erfolgserlebnisse und der steigende Leistungsdruck sind wohl Ursachen dafür, dass sich viele Jugendliche irgendwelche «Ersatzbefriedigungen» suchen, so etwa, indem sie sich in ferne Phantasie- und Traumwelten flüchten, welche ihnen in den sozialen Medien vorgegaukelt werden. Nur zu oft unterliegen sie dabei der Gier, sich eine möglichst grosse Zahl von «Freundinnen» und «Freunden» im Internet zu ergattern, so etwa durch gegenseitiges Wetteifern um Schönheit und gutes Aussehen – um meist früher oder später gänzlich desillusioniert festzustellen, dass auch in diesen auf den ersten Blick so verheissungsvollen Welten am Ende genau das gleiche Prinzip gilt, nämlich, dass nur wenige wirklich erfolgreich sein können auf Kosten vieler anderer.

Wieder andere werden aggressiv, gegen Eltern oder Lehrkräfte, oder sie geben den Druck in Form von «Mobbing» an Mitschülerinnen und Mitschüler weiter. Wie die «Sonntagszeitung» vom 12. Februar 2023 berichtete, ist gemäss einer Auswertung im Rahmen der Pisa-Studie jedes zehnte Kind in der Schweiz im Laufe seiner Schulzeit ein Opfer von Mobbing, was einen europäischen Spitzenwert bedeutet. Und obwohl viele Schulen versuchen, das Problem mit Sozialarbeit oder präventiven Workshops zu bekämpfen, steigen die Zahlen weiter an. Die «Sonntagszeitung» vom 21. Mai 2023 spricht sogar von einem «alltäglichen Hass im Klassenzimmer»: In einer Umfrage bei über 1000 Zürcher Lehrpersonen berichtete jede zweite von körperlichen Angriffen unter Schülerinnen und Schülern, noch häufiger seien Demütigungen und Bedrohungen.

Auch der steigende Konsum von Suchtmitteln durch Kinder und Jugendliche könnte sich, zumindest teilweise, mit Lebenssituationen erklären lassen, die entweder als besonders belastend empfunden werden oder aber dem Urbedürfnis nach Wohlbefinden, geselligem und fröhlichem Zusammensein und lustvollen Erlebnissen zu wenig Rechnung tragen. «Wenn es einer Person nicht gut geht», so Markus Meury von der unabhängigen Stiftung «Sucht Schweiz» im «Tagesanzeiger» vom 21. März 2024, «ist das Risiko grösser, dass sie nach Substanzen greift, von denen sie sich eine Besserung verspricht». Entsprechend alarmierend sind die Zahlen: Gemäss einem Ende 2023 veröffentlichten Bericht von «Sucht Schweiz» rauchen von den 15Jährigen fast 28 Prozent der Jungen und fast 29 Prozent der Mädchen Zigaretten, entweder konventionelle oder E-Zigaretten oder beides. Der häufige Konsum von E-Zigaretten – an mindestens zehn Tagen pro Monat – nahm bei den 15jährigen Mädchen von 1,2 Prozent im Jahre 2018 auf 8 Prozent im Jahre 2022 zu. Besonders beliebt ist auch der sogenannte «Lutschtabak», etwa in Form von «Snus», wo sich bei den 15Jährigen der Konsum im Vergleich zu 2018 auf 13 Prozent geradezu verdoppelt hat. Auch der Alkoholkonsum weist steigende Zahlen auf: So gaben 43 Prozent der 15Jährigen bei der erwähnten Befragung an, im Verlauf der vorangegangenen 30 Tage mindestens einmal Alkohol getrunken zu haben. Rauschtrinken, also der gleichzeitige Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Getränken, kommt bei einem Viertel der 15Jährigen regelmässig vor.

Auch «Jugendgewalt», «Jugendkriminalität» oder die Instrumentalisierung durch extremistische Gruppierungen politischer oder religiöser Ausrichtung könnten – zusätzlich zu ungünstigen familiären oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – eine wesentliche Ursache in einem Schulsystem haben, dem es offensichtlich nicht gelingt, Menschen genug gross und stark werden zu lassen, damit sie es nicht nötig haben, sich ihre Erfolgserlebnisse, ihre Selbstbestätigung und die Anerkennung durch Gleichaltrige oder Erwachsene auf anderen, gefährlicheren oder wenn nötig auch «illegalen» Wegen zu suchen. Denn nichts ist für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen so wichtig, als sich anerkannt und geliebt zu fühlen und mit seinen Stärken wahrgenommen zu werden. Wenn ihm der tägliche Schulunterricht diese Nahrung nicht bietet, sucht er sie dann halt möglicherweise ganz anderswo.

Gleichwohl würde man wohl zu weit gehen, wenn man alle diese Probleme allein der Schule in die Schuhe schieben wollte. Dennoch kann es wohl kaum ein Zufall sein, dass sämtliche der beschriebenen Symptome und «Fehlentwicklungen» parallel miteinander in Zunahme begriffen sind. Der allgemeine Leistungsdruck in Gesellschaft und Arbeitswelt wie auch in den Schulen scheint sich gegenseitig zu verstärken und die meisten Schulen sind alles andere als ein Ort, wo die Kinder und Jugendlichen eine so dringend nötige, angenehme, Wohlbefinden, Selbstvertrauen und gegenseitige Wertschätzung fördernde «Gegenwelt» vorfinden.

Zusätzlich manifestiert sich der steigende Leistungsdruck in einer immer höheren Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich schlicht und einfach verweigern, zur Schule zu gehen. Gemäss der bereits zitierten Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 kamen innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate 57% der Mädchen und 61% der Knaben mindestens einmal zu spät zur Schule, eine deutliche Zunahme gegenüber 2017/18, bei den Mädchen gar eine Verdoppelung. Mindestens einen ganzen Tag lang fehlten ohne Begründung 15% der Mädchen und 12% der Knaben. Mehrere Tage fehlten 7% der Mädchen und 5% der Knaben.

Als Hauptgrund für das «Schuleschwänzen» wurde in der Befragung die «Unlust, zur Schule zu gehen» angegeben, dann weiter auch «Unter- oder Überforderung», «Kritik an der Unterrichtsgestaltung», «Desinteresse an einem bestimmten Fach», «Langeweile im Unterricht» und «Angst vor einer Prüfung». Ernüchtert kommt der Gesundheitsbericht in diesem Zusammenhang unter anderem zum Schluss, dass von der vielbeschworenen Figur des «Klassenlehrers» und der «Klassenlehrerin» mit ihrem ganz besonderen, persönlichen Vertrauensverhältnis zu den Schülerinnen und Schülern ganz offensichtlich nicht allzu viel übrig geblieben ist: «Auffallend ist, wie selten Lehrpersonen aufgesucht werden, wenn Betroffene nach Unterstützung suchen. Da sie nicht nur eine Förder-, sondern auch eine Bewertungsfunktion einnehmen, zum Beispiel in den Prüfungen, und damit Autoritätspersonen sind, lässt sich leicht nachvollziehen, dass sie für diese Schülerinnen und Schüler nicht Anlaufstelle der ersten Wahl sind.»

«Schuleschwänzen» bzw. Schulabsentismus ist vielleicht die «gesündeste» Art und Weise, wie ein Kind auf eine Situation, die es in Bezug auf seine Lebensqualität dermassen tief beschneidet, reagieren kann. Allerdings steht das Kind, welches diesen Weg gewählt hat, ganz alleine da – ganz alleine gegen Lehrkräfte, Erziehungsinstitutionen, Behörden und meist auch gegen die eigenen Eltern. Zunehmend aber, so ein weiterer Befund der Zürcher Gesundheitsbefragung, reagieren Eltern, Lehrkräfte und Behörden nur noch zurückhaltend auf dieses Phänomen, man überlässt es den Kindern, man nimmt ihre Verweigerung in Kauf – statt sie als das wahrzunehmen, was sie tatsächlich ist, nämlich ein gewaltiger Notschrei darüber, was alles in unseren Schulen schiefläuft, waren doch alle diese «Schulverweigerinnen» und «Schulverweigerer», die ohne jeglichen Zweifel in der Zukunft immer zahlreicher sein werden, vor noch nicht allzu langer Zeit fünf- oder sechsjährige Kinder, die sich mit leuchtenden Augen auf nichts sehnlicher gefreut hatten als auf ihren allerersten Schultag.

Wie man auch ganz allgemein gegenüber all diesen Notschreien der Kinder und Jugendlichen taub zu sein scheint. Nähme man die Resultate der Zürcher Gesundheitsbefragung vom November 2023 wirklich ernst, so müsste man augenblicklich eine Riesendiskussion lostreten über den Sinn und Unsinn von Noten, Lehrplänen, Jahrgangsklassen und Prüfungen, die keinen Sinn für das Leben haben, sondern nur dazu dienen, Kinder und Jugendliche in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen. Man müsste wieder einmal die Schriften Johann Heinrich Pestalozzis hervorklauben und dort lesen, dass kein Kind mit dem andern verglichen werden dürfe, sondern nur jedes mit sich selber, und dass Lernen ohne Freude keinen Heller wert sei. Und man müsste endlich all die wunderbaren Erfahrungen jener Schulen ernstnehmen, die schon längst ohne Noten und mit individuellen Lernplänen arbeiten und gerade dadurch den Lernerfolg und die Lernfreude ihrer Schülerinnen und Schüler so unglaublich wieder zum Blühen gebracht haben.

Doch nichts dergleichen geschieht. Lesen wir die «Schlussfolgerungen» dieses Gesundheitsberichts, so finden wir nur dies: «Es ist deshalb wichtig, dass in der schulischen Doppellektion des Präventionsprogramms HEB SORG weiterhin gezielt gearbeitet wird und mit praktischen Übungen sozial herausfordernde Situationen nachgestellt und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Wichtig ist auch, dass anlässlich der Elternabende im Rahmen dieses Projekts weiterhin nicht nur theoretische, sondern auch praktische Hilfeleistungen angeboten werden. Was Depressionen betrifft, drängt sich in Anbetracht der Tatsache, dass davon betroffene Schülerinnen und Schüler in deutlich höherem Masse über erfolgte Suizidversuche berichten, eine Ausweitung des Projekts HEB SORG auf. Hierzu bedarf es der sorgfältigen Planung und Vorbereitung und der vertieften Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten. Der Schulpsychologische Dienst bietet schon heute in verschiedenen Schulkreisen Beratungsstunden für Jugendliche an. Dort können individuelle Probleme angesprochen werden und es können erste konkrete Hilfeleistungen erfolgen. Wichtig ist vor allem eine gute Triage, damit Schülerinnen und Schüler, welche einen grösseren Unterstützungsbedarf haben, nicht zu lange alleine gelassen werden. Wichtig für eine gute Abstimmung und Zusammenarbeit ist die Schulsozialarbeit. Die Tatsache, dass mehr als vier Prozent der Schülerinnen und Schüler mindestens einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen, und diese anschliessend mit niemandem darüber reden konnten, weist auf einen Nachholbedarf in der öffentlichen Thematisierung hin.»

Hätte eine Bäckerei bei ihrer Kundschaft so katastrophale Umfragewerte, wie sie die Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich vom November 2023 auf der zweiten Oberstufe aufgezeigt hat, dann würde man vermutlich auf der Stelle das ganze Personal entlassen oder gleich die ganze Bäckerei dicht machen. Doch bei dieser Befragung ging es eben nicht um Brot, sondern nur um junge Menschen in einer der wichtigsten Phasen ihres Lebens. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Aufnahmeprüfung ans Gymnasium: Wenn vor lauter Lernen die Freude am Lernen verlorengeht…

„Wie viel sie büffeln, ist an der Prüfung egal“ – so der Titel eines Artikels im „Tagesanzeiger“ vom 24. Februar 2024 zum Thema der Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium im Kanton Zürich. Und der Titel nimmt schon die ganze Absurdität dieses „Auswahlverfahrens“ vorweg: Tatsächlich könnten die Prüfungskandidatinnen und Prüfungskandidaten so viel Wissensstoff in sich hineinstopfen wie nur irgend menschenmöglich, sie könnten noch so teure Vorbereitungskurse für Tausende von Franken besuchen, sie könnten über Wochen bis um zwei Uhr nachts über den Büchern sitzen, ihren Schlaf auch mithilfe von Medikamenten oder Aufputschmitteln auf das absolute Minimum reduzieren oder überhaupt nicht mehr schlafen und auch noch die letzte geliebte Freizeitbeschäftigung aufgeben – am Ende kommt es immer auf das Gleiche heraus: Die Hälfte der Kandidatinnen und Kandidaten wird die Prüfung bestehen, die andere Hälfte nicht. Und weil das gegenseitige Gerangel naturgemäss immer heftiger wird, indem alle gezwungen sind, sich dem Tempo jener ganz vorne an der Spitze anzupassen bzw. dieses noch zu übertreffen, und sich dadurch immer alles mehr beschleunigt und der gegenseitige Konkurrenzkampf immer härter wird, nehmen auch alle damit verbundenen Leiden Abertausender Jugendlicher, die dadurch ausgerechnet in einer Lebensphase höchster Sensibilität dem vielleicht schlimmsten Härtetest ihres Lebens ausgeliefert sind, immer weiter und weiter zu.

Und dies mit den schlimmsten nur vorstellbaren Folgen für die betroffenen Jugendlichen: In Zeiten solcher Überbelastungen über viele Wochen oder gar Monate hinweg nehmen erfahrungsgemäss psychische Leiden und Erkrankungen massiv zu, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen, Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, Verlust jeglicher Lebensfreude, Abbruch sozialer Kontakte, Isolation, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken. Sämtliche Studien, Befragungen und Statistiken belegen es und es wird von Jahr zu Jahr immer schlimmer. Schon gibt es erste Fälle von Suiziden, 14- oder 15Jährige, die sich aus lauter Angst vor der Aufnahmeprüfung ans Gymnasium das Leben genommen haben. Aber nicht einmal das scheint zu genügen, um all jene, die Jahr für Jahr diesen Wahnsinn organisieren und mitmachen, zur Besinnung zu bringen – nicht die Eltern, die zu einem überwiegenden Teil den gesellschaftlichen Druck unabgefedert an ihre Kinder weitergeben, nicht die Lehrkräfte, die das zerstörerische Spiel mitmachen, nicht die privaten Lerninstitute, die immer höhere Gewinne verbuchen, und nicht einmal die unzähligen Beratungsstellen, Schulpsychologinnen und psychiatrischen Einrichtungen, welche sogar indirekt noch davon profitieren, indem sie eine wachsende Zahl von Arbeitsplätzen ausschliesslich für diesen Zweck anbieten und finanzieren können. Das herrschende System einer so gnadenlosen „Selektion“ auf dem Buckel von Kindern und Jugendlichen scheint ihnen allen so heilig zu sein, dass selbst Todesopfer, und dies aller Voraussicht nach in wachsender Zahl, in Kauf genommen werden. Im Gegenteil: Auf eine kritische Anfrage aus der Partei der Grünen im Zürcher Kantonsrat in Bezug auf das herrschende Übertrittsverfahren ans Gymnasium gab der zuständige Regierungsrat zur Antwort, das Zürcher Verfahren habe sich „wissenschaftlich gesehen als besonders effizient und fair erwiesen“.

Wie eine Krake hat sich dieser Wahnsinn mittlerweile schon über den ganzen Erdball ausgebreitet. Je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirken sich dann Selektionsverfahren an höhere Schulen unterschiedlich verheerend auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen aus. Ein besonders krasses Beispiel ist die indische Stadt Kota, auch „Stadt der Lerntoten“ genannt. In Kota bereiten sich 16- bis 18Jährige, oft an sieben Tagen pro Woche und während bis zu 18 Stunden täglich, auf Prüfungen vor, die darüber entscheiden, ob sie an eine der Eliteuniversitäten zugelassen werden, die ein kostenloses Medizinstudium anbieten. Die Teenager, die hierherkommen, haben ihr gesamtes bisheriges Leben aufgegeben, die reguläre Schule geschmissen und büffeln nun in jeder wachen Stunde für die knallharten Aufnahmeprüfungen der Elite-Universitäten. Um einen solchen Ausbildungsplatz zu ergattern, geben die Eltern bis zu zwölf Prozent ihres Budgets aus. Jedoch stehen die Chancen der Kandidatinnen und Kandidaten, die in Kota pauken, von Anfang an schlecht: Rund 300‘000 Schülerinnen und Schülern stehen nur etwa 700 Plätze an den Eliteuniversitäten gegenüber, was einer Aufnahmequote von 0,25 Prozent entspricht. Diejenigen, die es nicht schaffen, stehen mit 18 Jahren vor den Scherben ihrer Träume und kehren völlig entmutigt, verzweifelt und ohne jegliches Selbstwertgefühl nach Hause zurück. Oft werden sie von ihren Eltern beschimpft, nicht selten auch brutal verprügelt, sind die Eltern doch mit der Tatsache konfrontiert, das viele Geld vergebens zum Fenster hinausgeworfen zu haben und haben ihre Kinder in Kota nichts gelernt, was ihnen in anderen, nicht akademischen Berufen von Nutzen sein könnte. Der Druck auf die Jugendlichen in Kota ist so gross, dass fast alle von ihnen unter Isolation, Magersucht und Depressionen leiden und sich allein im Verlaufe der vergangenen fünf Jahre 77 von ihnen das Leben genommen haben.

Wer behauptet, dies alles hätte auch nur im Entferntesten etwas mit Pädagogik, Bildung oder sinnvollem Lernen zu tun, muss schon sehr blind sein. Wenn Kinder gezwungen werden, gegenseitig so erbittert um ihre Zukunftschancen zu kämpfen, ist dies so ziemlich das extremste Gegenteil jenes zutiefst pädagogischen Anspruchs, jedes Kind und alle Jugendlichen auf ihren Wegen selbstbestimmten Lernens und individueller Persönlichkeitsentwicklung möglichst hilfreich zu unterstützen, so wie es der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren gefordert hat: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“ Es widerspricht auch jeglicher lernpsychologischer Erkenntnis, wenn man von so etwas wie einem unbegrenzten Speichervermögen des menschlichen Gehirns ausgeht. Wenn ein Akku voll ist, kann man ihn auch nicht überladen. Wer schon am Limit ist, kann nicht mehr darüber hinauswachsen, im Gegenteil, wenn er dies versucht, erschöpfen sich seine Kräfte mit der Zeit dermassen, dass selbst das zuvor Gelernte und Gespeicherte wieder brüchig zu werden droht. Dies erklärt auch, weshalb auf Grund von vergleichenden Studien festgestellt werden konnte, dass Jugendliche, die sich zum Beispiel ausschliesslich zuhause mit einem älteren Bruder auf die Prüfung vorbereitet hatten, an der Prüfung in etwa gleich erfolgreich waren wie jene aus den Paukerkursen. Fast das Schlimmste aber ist, dass 99 Prozent dieser Prüfungsstoffe mit den Anforderungen der Lebenswelt und den Kompetenzen in Bezug auf eine spätere Berufsausbildung auch nicht das Geringste zu tun haben, sondern einzig und allein dem Zweck der Selektion im Hinblick auf den Übertritt an die höheren Schulen dienen, was nichts anderes heisst, als dass das auswendiggelernte Wissen mangels praktischer Anwendung sehr bald, wenn die Prüfung vorüber ist, auch schon wieder vergessen wird und somit all die dafür aufgebrachte Zeit und Energie sozusagen verschwendete und vergeudete, einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung geraubte Zeit und Energie gewesen war.

Besonders schlimm ist es für jene Hälfte aller Kandidatinnen und Kandidaten, welche die Prüfung nicht bestehen. Wie die Jugendlichen in Kota, die es nicht geschafft haben, stehen auch sie von einem Tag auf den andern vor einem riesigen Scherbenhaufen. All die Zeit, all die schlaflosen Nächte, all die Ängste, all die Hoffnungen – alles war vergebens gewesen, ein halbes Jahr oder länger, das nichts gebracht hat, das man geradezu auch hätte auslöschen können. Zwar werden die gescheiterten Jugendlichen in Zürich, Basel oder Genf, wenn sie wieder nachhause kommen, nicht so wie die Jugendlichen in Bombay oder Kalkutta von ihren Eltern verprügelt, aber die meisten der betroffenen Eltern werden doch mit ernsten Gesichtern ihre Enttäuschung kaum gänzlich verbergen können und auch das wird sich auf das Selbstwertgefühl und die Voraussetzungen im Hinblick auf möglichst erfolgreiches zukünftiges Lernen kaum sehr positiv auswirken. Und auch für die anderen, die „Erfolgreichen“, ist der Leidensweg ja noch längst nicht am Ende. Kaum ist die Prüfung bestanden, beginnt schon die Probezeit, erneut viele Prüfungen jede Woche, erneut stundenlange Hausaufgaben, erneut eine Unmenge an Wissensstoff, der mit dem Leben nur wenig zu tun hat, erneut der tägliche Kampf ums Überleben.

Eigentlich erstaunlich, dass sich sämtliche Anstrengungen, die Jugendlichen vor allzu grossen Belastungen im Hinblick auf die Übertrittsverfahren an höhere Schulen zu verschonen, trotz aller dieser negativen Erfahrungen bisher fast ausschliesslich auf reine Symptombekämpfung beschränkt und nicht das System als Ganzes radikal in Frage gestellt wird. Denn heute kann ja bereits jeder beliebige Beruf auch über den Weg einer Berufslehre mit entsprechender Weiterbildung erlernt werden – mit dem grossen Vorteil, dass eine Berufslehre im Gegensatz zum Gymnasium praktisches und theoretisches Lernen permanent sinnvoll miteinander verknüpft -, wodurch das klassische Gymnasium eigentlich schon längst überflüssig geworden und nur noch ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert ist, mit dem die Oberschicht ein Instrument in der Hand hatte, ihre eigenen Privilegien an die nächste Generation weiterzugeben. Dass dies heute immer noch so funktioniert, zeigt sich etwa darin, dass die Chance eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie auf einen späteren akademischen Berufsweg nach wie vor sieben Mal kleiner ist als jene eines Kindes aus einer Akademikerfamilie. So ist nachvollziehbar, dass eine immer noch weitgehend privilegierte Oberschicht mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Einflussmöglichen und Machtmittel durchaus kein Interesse hat, dass sich am bestehenden, auf Selektion ausgerichteten Schulsystem grundsätzlich etwas ändert. Lieber setzen sie ihre Kinder einem brutalen gegenseitigen Konkurrenzkampf um Prüfungen, Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen aus, selbst wenn sie dabei ihre Gesundheit und im äussersten Falle sogar ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, statt sie einer Welt anzuvertrauen, in der alle Kinder und alle Jugendlichen die gleichen Chancen haben und alle mit der gleichen Freude und Begeisterung erfolgreich lernen können.

Zu behaupten, dass man in einer so einseitig auf Selektion und gesellschaftliche Auslese ausgerichteten Schule nichts lerne, wäre falsch. Aber entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, Kinder und Jugendliche lernten in der Schule vor allem rechnen, schreiben, lesen, viele weitere nützliche Fertigkeiten und ein grosses Wissen über die Geschichte, die Natur und viele andere Geheimnisse der Welt, lernen sie tatsächlich in erster Linie, dass man, um selber erfolgreich zu sein, vor allem hart und rücksichtslos gegen andere kämpfen und sich nicht allzu sehr um jene kümmern darf, die dabei auf der Strecke bleiben. Sie lernen, dass Egoismus belohnt wird. Sie lernen, dass es für jeden, der sich an die Spitze kämpft, einen anderen braucht, dessen Zukunftsträume früher oder später zerbrechen. Und so wächst nach und nach jede Generation in die Fussstapfen der vorangegangenen und alles bleibt so, wie es immer schon so war…

Wollen wir eine Zukunft, in der es statt echter Kinder nur noch liebe kleine KI-Kinder gibt, die alle gleich aussehen und keine unbequemen Fragen mehr stellen?

Von zwei bis sechs Uhr nachts arbeitet sie in einer Bäckerei, tagsüber kümmert sie sich um den Haushalt und die beiden noch nicht schulpflichtigen Kinder. Ihr Mann ist Schichtarbeiter in einer Fabrik. Zusammen verdienen sie zu wenig, um sich einen Kitaplatz für die Kinder leisten zu können. Doch auch Alleinerziehende oder Eltern, denen es materiell etwas besser geht, treibt der Spagat zwischen dem Job – bzw. mehreren Jobs, wenn einer allein zum Leben nicht ausreicht -, der Hausarbeit und der Kinderbetreuung häufig bis an die Grenze ihrer körperlichen und psychischen Kräfte, oft zusätzlich belastet durch finanzielle Sorgen und Zukunftsängste. Über 150’000 Menschen in der Schweiz verdienen trotz voller Erwerbsarbeit zu wenig, um eine Familie ernähren zu können. Kein Wunder, überlegen sich immer mehr Menschen, ob sie überhaupt noch Kinder in die Welt setzen möchten.

Gleichzeitig werden Unmengen von Geld und Energie in technologische Innovationen investiert, in die zunehmende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche, in die Entwicklung selbstfahrender Autos, in die Forschung und Perfektionierung der „Künstlichen Intelligenz“ und in die wahnwitzige Idee, Menschen könnten eines Tages durch eben diese „Künstliche Intelligenz“ überflüssig geworden sein. Doch damit längst nicht genug. Auch neue sechsspurige Autobahnen werden geplant, obwohl schon jedes Kind weiss, dass immer mehr Strassen zwangsläufig immer mehr Verkehr zur Folge haben. Und es werden ohne Unterlass, nur damit die Wirtschaft nicht zu wachsen aufhört, beständig neue Produkte erfunden, neue Bedürfnisse geschaffen und es wird mit immer aggressiveren Werbemethoden den Konsumentinnen und Konsumenten aufgeschwatzt, auch noch ihr letztes verbliebenes Geld zusammenzukratzen, um möglichst viele Dinge zu kaufen, die sie für ein gutes Leben gar nicht wirklich brauchen. Neuerdings gibt es schon sogenannte „Kältekammern“, in denen man sich drei Minuten lang bei minus 110 Grad fast zu Tode frieren kann – und man bekommt dafür kein Geld, sondern muss dafür sogar noch bezahlen, bis zu 200 Franken für eben diese drei Minuten.

Doch erstaunlicherweise regt sich nur wenig Widerstand gegen dies alles. Obwohl es nur schon in ökologischer Hinsicht der helle Wahnsinn ist. Allein die überall aus dem Boden schiessenden Rechenzentren, die es braucht, um die explosionsartig wachsenden Datenmengen zu speichern und zu verarbeiten, und die am weltweiten CO2-Ausstoss einen weitaus grösseren Anteil ausmachen als der gesamte Flugverkehr. Aber auch all der in immer grösserer Menge anfallende Elektroschrott und die Verschwendung von Wasser, Rohstoffen und weiteren natürlichen Ressourcen, die alle eines Tages unwiederbringlich aufgebraucht sein werden und deren rücksichtsloser Abbau heute schon überall verseuchte, verwüstete und unbewohnbar gewordene Landschaften hinterlässt. Aber lieber streitet man sich darüber, wo noch weitere Windräder, Solaranlagen oder Atomkraftwerke gebaut werden könnten, statt darüber, welche technischen Innovationen im Hinblick auf echte Lebensqualität, auf die Schonung natürlicher Ressourcen und auf die Erhaltung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen überhaupt Sinn machen und gesamtgesellschaftlich zu verantworten sind und welche nicht.

Doch alles halb so schlimm. Wahrscheinlich werden wir sowieso schon bald keine echten Kinder mehr haben, die Wasser, Nahrung, frische Luft und Platz zum Spielen brauchen. Sondern nur noch ganze viele liebe kleine KI-Kinder, weltweit alle mit dem gleichen hübschen Gesicht, dem genau gleichen Lachen, den genau gleichen blauen Augen, den genau gleichen blonden Haaren, lauter liebe kleine KI-Kinder, die nicht mehr unseren Schlaf stören, nicht mehr mitten in der Nacht gewickelt werden müssen und gewiss auch nie mehr irgendeine unbequeme Frage stellen werden. Schöne neue Welt…

Gesellschaftliche Werte vermitteln im Klassenzimmer: Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was ihnen vorgelebt wird

„Das moralische Klassenzimmer“ – so der Titel eines Artikels in der „NZZ am Sonntag“ vom 14. Januar 2024, in dem auf aktuelle Tendenzen hingewiesen wird, Kinder und Jugendliche in den Schulen von klein auf zu möglichst „politisch korrektem Verhalten“ zu erziehen, was unter anderem dazu führen könne, dass sich – je nach Umfrage – etwa ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler „ausgegrenzt“ und „benachteiligt“ fühlten, weil sie sozusagen eine „falsche Werthaltung“ an den Tag legten.

Diese Kritik ist, wenn sie oft auch weit übers Ziel hinausschiesst, im Grunde doch nicht gänzlich unberechtigt. Denn zu frühes Moralisieren im Klassenzimmer kann das Gegenteil der guten Absicht bewirken. Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was man ihnen vorlebt. Statt über alle möglichen Themen vom Konsumverzicht über Rassismus bis zum Klimawandel zu debattieren, sollte sich die Schule vielmehr zum Ziel setzen, Kindern und Jugendlichen eine Umgebung voller Lebensfreude, Humor und gegenseitiger Wertschätzung zu bieten, in der sich ein jedes Kind geliebt und verstanden fühlt, ganz unabhängig von seiner „Werthaltung“, die sich ja in diesem Alter ohnehin noch in stetiger Entwicklung und Veränderung befindet. Denn geliebte, in ihrer individuellen Einzigartigkeit wahrgenommene Kinder werden in aller Regel zu Erwachsenen, die ihren Mitmenschen und ihrer ganzen Lebensumgebung den gleichen Respekt und die gleiche Sorgfalt entgegen bringen, welche sie selber als Kinder erfahren durften.

Leider bewirkt das traditionelle Schulsystem, in dem die Kinder bei ihrem Lernen stets miteinander verglichen und bewertet werden und viele von ihnen dadurch ihr ursprüngliches Selbstvertrauen verlieren, genau das Gegenteil jener Grundhaltung der Liebe, auf die alle Kinder das gleiche Recht haben. Deshalb müsste man eigentlich viel eher die Lehrkräfte, die Eltern und am besten auch das ganze Bildungssystem in die Schule schicken, den Kindern selber aber bei ihrem Lernen und bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit so viel Freiheit und Selbstbestimmung zugestehen als nur irgend möglich. Schon Johann Heinrich Pestalozzi warnte vor über 250 Jahren davor, im Umgang mit Kindern zu früh mit den „Wörtern“, diesen „gefährlichen Zeichen des Guten und des Bösen“, die geistige Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, obwohl die hierfür notwendige Lebenserfahrung des Kindes auf der Ebene des Erlebens und des Emotionalen noch gar nicht vorhanden sei.

Der Pisa-Ländervergleich: Die Absurdität von Ranglisten und ihre verheerenden Auswirkungen

Am 5. Dezember 2023 war es wieder einmal so weit: Die Ergebnisse der regelmässig weltweit durchgeführten „Pisastudie“ wurden präsentiert. Nun weiss jedes Land wieder auf den Rangplatz genau, wo es im Vergleich zu den anderen Ländern steht und ob es zu den „Siegern“ oder den „Verlierern“ gehört.

Doch der Pisa-Ländervergleich ist ebenso absurd wie das schulische Notensystem. Man könnte selbst aus Menschen mit dem exakt gleichen IQ eine Rangliste erstellen, weil es immer noch winzigste Unterschiede gibt zwischen den „Besseren“ und den „Schlechteren“. Ranglisten sagen nichts aus über tatsächlich vorhandene Kompetenzen, sondern nur darüber, um wie viel besser oder schlechter diese sind im Vergleich mit anderen. Doch so absurd solche Ranglisten sind, so fatal sind ihre Auswirkungen. Sie befeuern einen Konkurrenzkampf aller gegen alle, bei dem es schon längst nicht mehr um das Wohl von Kindern und Jugendlichen geht, sondern nur noch darum, welches Land die besten Resultate erzielt und sich gegenüber den anderen als „Sieger“ fühlen kann. Wohin das führt, sehen wir am besten am Beispiel von Singapur, das regelmässig auf Platz eins oder zwei des Pisa-Ländervergleichs anzutreffen ist. Und das ist der Preis, den die Kinder und die Jugendlichen dafür zu bezahlen haben: Unerbittlicher Drill im Schulunterricht, der Verlust jeglicher ursprünglicher Lernfreude, privater Nachhilfeunterricht schon für Grundschulkinder nicht selten bis 23 Uhr, keine Zeit für Erholung und lustvolle Freizeitbetätigung, massive Zunahme von Depressionen, die weitaus höchste Suizidrate bei Jugendlichen seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahre 2000. Kann es allen Ernstes im Interesse unseres Bildungssystems liegen, solchen „Vorbildern“ nachzueifern?

Dramatische Zunahme von Schulstress insbesondere bei weiblichen Teenagern: Ursachen bekämpfen statt Symptome

Gemäss „Tagesanzeiger“ vom 29. November 2023 leiden – aufgrund einer umfassenden Befragung aller 14Jährigen in der Stadt Zürich – mehr als die Hälfte der Mädchen „ziemlich“ bis „sehr“ unter dem Druck in der Schule, 2017 waren es noch halb so viele. Jedes dritte Mädchen zeigt Hinweise auf eine Angststörung, knapp die Hälfte der Mädchen hat mindestens einmal pro Woche Kopfschmerzen, zugenommen haben auch Bauch- und Rückenschmerzen, rund vier Prozent haben auch schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Für Erholung und ausgleichende Freizeitaktivitäten bleibt kaum Zeit: Zwei Fünftel der Mädchen geben an, täglich zwei Stunden oder mehr für die Hausaufgaben aufwenden zu müssen. Auch die Knaben leiden, wenngleich in etwas geringerem Ausmass, zunehmend unter dem steigenden schulischen Leistungsdruck. Wenn nun der oberste kantonale Schulpsychologe postuliert, die Mädchen müssten mehr Eigenverantwortung übernehmen und lernen, etwa durch Ablenkung, Sport und Medienpausen einen Weg aus der Abwärtsspirale zu finden, so ist das nur zynisch. Auch ein grösseres Angebot an schulpsychologischen Sprechstunden oder Präventionsbotschaften in Form von Karten für die Hosentasche sind reine Symptombekämpfung.

Statt der Symptome müssten vielmehr die Ursachen bekämpft werden. Lernen könnte so schön sein und es wäre so einfach. Man müsste nur dort weitermachen, wo es in den ersten Lebensjahren begonnen hatte: lustvoll, voller Begeisterung, aus eigener Motivation, selbstbestimmt, ohne Zwang und zugleich so überaus erfolgreich. Und man müsste sich endlich von der unseligen Idee verabschieden, Kinder und Jugendliche bei ihrem Lernen miteinander zu vergleichen, zu bewerten, zu messen und sie damit in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen, der so viele Leiden verursacht und letztlich die ganze ursprüngliche Lernfreude zerstört. Man müsste nur endlich das verwirklichen, was Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren gefordert hat: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“