Friedenskundgebung für Palästina in Bern: In Trümmern liegt nicht nur der Gazastreifen, sondern auch die internationale Solidarität…

Bern, 6. April 2024, Bundeshausplatz. Ein sonniger Frühlingstag in der Hauptstadt der Schweiz. Allmählich eintrudelnde kleinere und grössere Menschengruppen. Peace-Fahnen. Auf einem grossen Plakat sind die Forderungen der heutigen Kundgebung zu lesen: Sofortiger Stopp des Aushungerns der Menschen in Gaza. Sofortiger Waffenstillstand. Sofortige Freilassung der israelischen Geiseln und von willkürlich inhaftierten palästinensischen Gefangenen. Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Weiterführung der Finanzierung des UNO-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA). Kurz nach 16 Uhr die Begrüssung durch ein Mitglied der GSoA, die diesen Anlass zusammen mit Amnesty International Schweiz, der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina und der Palästina-Solidarität Schweiz organisiert hat. Dann mehrere Ansprachen, von denen jede mehr unter die Haut geht als die andern, von der jungen jüdischen Friedensaktivistin bis zum palästinensischen Kinderarzt. Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit darüber, dass alle Friedensbemühungen seit Monaten im Sand stecken, während das unfassbare Leiden der Menschen im Gazastreifen mit bisher über 30’000 Toten, davon rund 13’000 Kindern, der Zerstörung von rund 70 Prozent sämtlicher Häuser und einer immer bedrohlicher sich abzeichnenden Hungersnot unvermindert Tag für Tag weitergeht, auch in bitterkalten Nächten pausenlos, wenn die Schreie der noch lebenden, unter den Trümmern verschütteten Kinder, nach denen ihre Eltern mit blossen Händen graben, besonders laut und anklagend zu hören sind – bis sie dann, wieder und wieder, auf einmal für immer verstummen…

Mein Blick schweift über den Platz. Gerade mal ein paar hundert Menschen sind gekommen, einzelne Medien werden von 500 Personen sprechen, andere von allerhöchstens 1000, mehr nicht. Unter ihnen Pia Hollenstein, ehemalige Nationalrätin der Grünen, und Ruth Dreifuss, frühere SP-Bundesrätin. Zwei Einzelfiguren, wie Relikte aus einer anderen Zeit, als der Einsatz für eine friedlichere Welt noch das Normale war und Abseitsstehen die Ausnahme, während es heute offensichtlich genau das Gegenteil ist. Ruth Dreifuss braucht Hilfe, um die Rednertribüne zu erklimmen, eine ganz grosse Kämpferin der alten Schule, anklagend, kein Blatt vor den Mund nehmend, und doch gleichzeitig liegt eine Heiterkeit auf ihrem Gesicht, inmitten aller tiefsten Betroffenheit die Zuversicht verbreitend, dass alles doch noch eines Tages zu einem guten Ende kommen wird.

Rückblende: März 2003, kurz vor dem Ausbruch des Kriegs der USA gegen den Irak. Ich erinnere mich noch gut. Schon in der Unterführung des Berner Hauptbahnhofs eine Menschenmasse, die sich wie ein unaufhaltsamer Strom so weit dahin wälzte, wie das Auge kaum hinzureichen vermochte. Rund 40’000 waren gekommen, aus allen Ecken und Enden das Landes. Ein Meer von Fahnen und von winzigen bis ganz grossen Schildern und Plakaten voller origineller Parolen und Zeichnungen, viele von ihnen von Kindern gemalt. Und heute? Fahnen – ausser die Peace-Fahnen – sind verboten, Pappschilder, Transparente und Parolen jeglicher Art ebenfalls. Das einzige Plakat, das trotz des Verbots mitgeführt wird und auf dem „Stoppt den Völkermord in Gaza!“ zu lesen ist, erregt sogleich die Aufmerksamkeit von zwei Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsdienstes, welche die Plakatträgerin ansprechen, sie dann aber nach einem kurzen Disput „grosszügerweise“ gewähren lassen.

Was ist im Verlaufe dieser 21 Jahre passiert? Weshalb konnte sich die Welt so dramatisch verändern? Wo sind die Herzen geblieben, die damals für die Menschen im Irak schlugen, und denen das heutige Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser so gänzlich gleichgültig zu sein scheint? Wer, wo, wann und mit welchen Mitteln wurden all jene Fäden zerrissen, die es, über alle Grenzen hinweg, damals noch gab und von denen heute kaum mehr etwas zu sehen ist? Haben wir unsere Herzen verloren? Wo ist die Parteikollegin, fünf Tramminuten vom Bundeshausplatz entfernt wohnend, mit der ich in jüngeren Jahren noch stundenlang über die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren ursprünglichen Lebensgebieten diskutierte, voller Mitgefühl für dieses geplagte Volk, hätte sie nicht wenigstens heute nur für ein einziges Mal ihren samstäglichen Saunatermin absagen können, und wäre es bloss gewesen, um der von ihr einst so bewunderten und geliebten Bundesrätin Ruth Dreifuss die Ehre zu erweisen?

Irgendetwas ganz Fürchterliches muss geschehen sein. Denn heute liegt nicht nur der Gazastreifen in Trümmern. Nein, auch die internationale Solidarität scheint in Trümmern zu liegen. Es ist wohl so ganz schleichend gekommen, wie oft bei grossen Katastrophen. Man nimmt es nicht so deutlich wahr wie ein Erdbeben oder einen Wirbelsturm. Aber es kann, in ganz kleinen, winzigen Portionen am Ende zum gleichen Ergebnis führen und genauso verheerend sein. Denn dass heute auf dem Bundesplatz in Bern nur etwa 500 bis 1000 Leute stehen und nicht 40’000 oder 100’000, hat buchstäblich tödliche Folgen. Denn es kann denen, die an einem Ende dieses unsäglichen Blutvergiessens kein Interesse haben und schon gar nicht an einem Ende aller Kriege und aller Aufrüstung, als bester Vorwand dafür dienen, den herrschenden Wahnsinn als das „Normale“ ohne Widerstand unvermindert weiterzuführen, sind es doch nicht einmal 1000 von 9 Millionen Menschen in diesem Lande, die das nicht gut finden. Es ist sogar so, dass sie es nicht einmal zur Kenntnis nehmen müssen und es buchstäblich totschweigen können. In der Tat. Nicht einmal eine Sekunde ist es ihnen wert, die Öffentlichkeit darüber zu informieren: Als ich mir am Abend nach der Kundgebung die Tagesschau am Schweizer Fernsehen anschaue, muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass mit keinem einzigen Wort und keinem einzigen Bild über diese Kundgebung berichtet wird. Stattdessen ein ausführlicher Bericht, wie „die Schweiz“ diesen wunderbaren Frühlingstag genossen hätte: Leute im Badekostüm in der Sonne brutzelnd, Würste auf dem Grill, fröhliche Gesichter allenthalben. Aber wenigstens, denke ich, wird doch wohl in der Spätausgabe etwas zu sehen sein. Fehlanzeige! Wieder nichts, einfach nichts. Dafür noch einmal die Menschen im Badekostüm, Menschen, die ins Wasser springen, Würste auf dem Grill. Alles scheint wichtiger zu sein als der Auftritt einer ehemaligen, von der ganzen Schweiz so tief verehrten Bundesrätin und ihrer so unglaublich wichtigen und buchstäblich lebensnotwendigen Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Badeplausch, Menschen mit Sonnenbrille und Würste auf dem Grill: Wichtiger als die Tränen einer jungen Jüdin, die offensichtlich so sehr leidet, dass im Namen ihres Landes und ihrer Religion so unglaubliche Verbrechen begangen werden, mit denen sie am liebsten nicht das Geringste zu tun haben möchte. Badefreuden und Grillwürste wichtiger als die gebrochene Stimme eines palästinensischen Kinderarztes, der über den Tod seines besten Freundes erzählt, der die schwerverletzten Kinder in dem Spital, wo er gearbeitet hatte, um nichts in der Welt verlassen wollte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, dieser so liebenswürdige, bescheidene und zutiefst menschliche palästinensische Kinderarzt, der das erzählt und dabei die Tränen kaum zurückhalten kann und so ein zutiefst anderes Bild eines palästinensischen Mannes vermitteln würde als jenes, das in Form eines schwerbewaffneten Hamaskämpfers in den Köpfen wohl der meisten Menschen hierzulande festsitzt, die in jedem Palästinenser einen potenziellen Terroristen vermuten und deshalb auch so unglaublich grosses Verständnis aufbringen für die Politik der derzeitigen israelischen Regierung, all dieses „Böse“ so schnell wie möglich auszulöschen, selbst unter Hinnahme des Todes zehntausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

Auch im „Tagesanzeiger“ suche ich vergeblich einen Bericht über die Kundgebung in Bern…

Doch die Frage nach den zerrissenen Fäden früherer Solidarität ist noch nicht beantwortet. Ein Schlüssel hierzu könnte jene inzwischen schon fast legendäre Aussage der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher sein, die im Jahre 1987 Folgendes zum Besten gab: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.“ Seither ist der Geist des „Neoliberalismus“ – der im Grunde nichts anderes ist als der noch weiter als je zuvor auf die Spitze getriebene Kapitalismus – wie ein Tsunami in winzigen Portionen ins Land gezogen und ist auf dem besten Wege, alles, was die Menschen mitfühlend und mitleidend miteinander verbindet, nach und nach auszulöschen. Es ist die Lehre, dass jeder nur für sich selber verantwortlich sei, seines eigenen Glückes Schmied sei und sich daher auch nicht um das Leiden und das Schicksal anderer zu kümmern brauche, da diese ja in aller Regel an ihrem Elend selber schuld seien und deshalb auch nichts anderes verdient hätten. Es ist die Lehre, dass es den „Kapitalismus“ und alle seine Mechanismen von Ausbeutung, Unterdrückung und Bereicherung der einen auf Kosten der anderen gar nicht wirklich gäbe, sondern wir alle sozusagen in einer völlig wertefreien und der glücklichsten aller möglicher Welten leben würden, in der es den Menschen besser gehe als je zuvor. Alles andere, selbst der tägliche Tod Abertausender von Kindern durch Armut, Hunger und Kriege, seien bloss „Kollateralschäden“ und hätten nicht das Geringste mit der Art und Weise zu tun, wie die Glücklichen dieser Welt mit Badeplausch, Sauna und Grillwürsten weiterhin ohne schlechtes Gewissen ihr Glück geniessen könnten…

Gegen Ende der Kundgebung zieht eine Gruppe von japanischen Touristinnen und Touristen hinter dem Rednerpult vorbei, wo gerade der palästinensische Kinderarzt unter Tränen vom Tod seines besten Freundes erzählt. Skurriler könnte das Bild nicht sein. Die Japanerinnen und Japaner bleiben erstaunt stehen, kichern und zücken ihre Handys. Das Bild von der Kundgebung mit den Peace-Fahnen wird für sie neben dem Matterhorn und der Kappelbrücke in Luzern eines von vielen Erinnerungsbildern an Europa sein, eine Touristenattraktion wie so viele andere. Ja, die Globalisierung hat buchstäblich alle Grenzen gesprengt, Informationen sausten noch nie so schnell und in solcher Fülle um den ganzen Erdball. Auch im Strassencafé, wo ich anschliessend ein Bier trinke, gucken alle wie gebannt in ihre Handys. Was sehen sie? Was suchen sie? Werden wir unser Herz, unsere Fähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen, mitzufühlen, das Bewusstsein, dass alles miteinander zusammenhängt und jeder Einzelne und jede Einzelne für alles mitverantwortlich ist, was in jeder Sekunde hier auf dieser Erde irgendwo geschieht, werden wir das alles je in unseren Herzen wieder finden?

(Nachtrag am 8. April 2024. Meine Anfrage an SRF, weshalb über diesen Anlass in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens nicht berichtet worden sei, wurde wie folgt beantwortet: „In der Schweiz und auf der Welt passieren täglich unzählig viele Sachen. Leider ist es uns nicht möglich, über jedes Ereignis zu berichten. In den News-Sendungen, die zeitlich beschränkt sind und meist über Tagesaktualitäten berichten, ringen wir tagtäglich um die richtigen Prioritäten und das richtige Mass – es ist verständlich, dass diese Aufgabe eine schwierige ist und man immer darüber diskutieren könnte, ob dieses oder jenes in unserer Berichterstattung noch hätte Platz finden sollen. Bei der Themenauswahl orientieren wir uns stets an den publizistischen Leitlinien von SRF. Bei SRF wird die Themenwahl von den Kriterien Relevanz und Publikumsinteresse bestimmt. In jeder Publikation muss sich diese Gewichtung spiegeln.“– Interessant, Grillwürste in der Schweiz haben also eine höhere Priorität als der drohende Hungertod von Abertausenden palästinensischer Kinder. Bisher war ich strikt gegen eine Senkung der SRG-Gebühren. Jetzt muss ich mir das noch einmal gut überlegen.)

(Nachtrag am 15. April 2024: Auch an die Redaktion des „Tagesanzeigers“ habe ich geschrieben, bis heute, mehr als eine Woche später, noch keine Antwort bekommen. So also geht demokratische Berichterstattung in einem demokratischen Land in dieser Zeit.)

Jesus und Ostern: Die von den Mächtigen tausendfach umgeschriebene Geschichte des ersten grossen Revolutionärs…

Jesus, so wird gepredigt, sei am Kreuz gestorben, um uns Menschen von unseren Sünden zu befreien. Ohne diesen Opfertod wären wir zu ewiger Verdammnis verurteilt. Und daher könnten wir vom Bösen nur erlöst werden, wenn wir die Gnade Gottes bedingungslos annehmen. Jesus sei in die Welt gekommen, um alle, die an ihn glauben, mit Gott zu versöhnen. Sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung dienten dazu, den Riss zwischen Gott und seinen Geschöpfen zu heilen.

Schon als Kind empfand ich, wenn ich solche Worte hörte, einen tiefen inneren Widerstand. Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Weshalb soll dieses grausame Martyrium und der Tod dieses wunderbaren Menschen notwendig gewesen sein, bloss um uns Menschen mit Gott „auszusöhnen“? Und was ist das für ein Gott, der seinen eigenen, angeblich so geliebten Sohn opfert, um die Welt zu „retten“? Und weshalb soll der Mensch von Natur aus sündig sein, wenn doch ausgerechnet Jesus selber die Erwachsenen stets ermahnte, so zu werden wie die Kinder, ansonsten sie nicht ins „Himmelreich“ kämen? Und was ist mit all den andern, den Moslems, den Buddhisten, den Hindus, den Angehörigen anderer Religionen und all den sogenannt „Nichtgläubigen“, welche nicht das Glück haben, von Jesus erlöst worden zu seien, schmoren die nun für immer in der Hölle? Und wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet unzählige Anhänger und Verfechter dieser christlichen Religion, deren wichtigstes Fundament angeblich das Gebot der der von Jesus gepredigten Nächstenliebe ist, mit der Bibel in der Hand fast die ganze Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht und bei der Versklavung von rund 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner an vorderster Front eifrig mitgemacht haben?

Und so wuchsen in mir im Laufe der Zeit immer grössere Zweifel, ob uns mit der offiziellen Geschichte von Ostern, von Jesus und von der „Erlösung“ der Menschheit nicht über Jahrtausende ein gigantisches Märchen aufgetischt worden ist, das mit der eigentlichen Realität von Jesus, seinem Leben, seinem Wirken, seiner Botschaft und seinem unerschütterlichen Einstehen für eine friedlichere und gerechtere nur sehr wenig zu tun hat, dafür umso mehr mit den Macht- und Profitinteressen all jener, welche die christliche „Lehre“ dafür missbrauchten, um ihre Macht immer noch weiter und weiter auszudehnen und dabei auch von den schlimmsten jemals in der Geschichte der Menschheit begangenen Verbrechen nicht zurückzuschrecken.

Heute bin ich überzeugt: Jesus wurde nicht getötet, damit die Welt „gerettet“ werden konnte. Jesus wurde schlicht und einfach nur deshalb getötet, weil er den Mächtigen seiner Zeit viel zu gefährlich geworden war. Denn es war ja kein anderer als der Statthalter Pontius Pilatus, der auf Druck der römischen Machthaber Jesus verhaften und zum Tode verurteilen liess, weil, wie es in der Überlieferung heisst, diese sich über die zunehmende „Beliebtheit“ und die „neuen Ansichten“ von Jesus geärgert hätten. Seltsamerweise wird diese Geschichte – die machtpolitische – viel weniger häufig erzählt als die „theologische“, eben jene von der Erlösung der Menschen durch den Opfertod von Jesus. Stellen wir hingegen die machtpolitische Begründung seines Todes in den Vordergrund, dann ist die Tötung von Jesus im Grunde gar nichts anderes als das, was über viele weitere Jahrhunderte hinweg zahllosen anderen Menschen aus dem genau gleichen Grunde ebenfalls widerfuhr, von Abraham Lincoln, John F. Kennedy, Martin Luther King über Mahatma Gandhi, Patrice Lumumba, Bischof Romero, Salvador Allende bis zu Sophie Scholl, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Olaf Palme, Jitzchak Rabin und vielen, vielen anderen, deren Namen längst vergessen sind, oder deren Geschichte ebenso wie jene von Jesus von den Mächtigen tausendfach umgeschrieben wurde: Tausende zu Tode gefolterte und verbrannte „Hexen“ zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Europa, drei Millionen tatsächliche oder vermeintliche „Kommunisten“ 1965 in Indonesien, Hunderttausende Regimekritikerinnen und Regimekritiker in Südamerika in den 1970er und 1980er Jahren…

Es scheint ganz so, als sei die Geschichte von Jesus und seinen unbequemen „neuen Ansichten“ nach seinem Tod so schnell wie möglich umgedeutet und umgeschrieben worden, wiederum von anderen, neuen Machthabern, für welche die Ideen von Jesus genau so gefährlich hätten werden können wie für die damaligen Machthaber des römischen Reiches. Endgültig umgeschrieben wurde die Geschichte von Jesu im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Fortan marschierten christliche Machthaber und Würdenträger Seite an Seite mit staatlichen Machthabern und Würdenträgern, eroberten Seite an Seite neue Länder, plünderten sie Seite an Seite miteinander aus und begingen Seite an Seite die grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit – mit den ursprünglichen Ideen von Jesus hatte dies alles nichts mehr, aber auch nicht das Geringste mehr zu tun. Und das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben. Und auch heute noch haben die Reichen und Mächtigen nicht das Geringste Interesse daran, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die im Laufe von Jahrhunderten aufgetürmten Lügen aufzudecken und all das Wirklichkeit werden zu lassen, wovon dieser Jesus vor über 2000 Jahren geträumt, von dem er erzählt und was er sich erhofft hatte, nämlich nichts Geringeres, als die Welt auf den Kopf zu stellen. Nähme man seine Visionen ernst, würde man sie in Taten umsetzen, ja, es würde tatsächlich die Welt auf den Kopf stellen…

Eine einzige Aussage von Jesus würde schon genügen, um alles umzudrehen: „Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Reichtum.“ Auf den ersten Blick mag an dieser Stelle das Wort „Gott“ zwar abschreckend wirken, veraltet, aus der Zeit gefallen, nicht mehr aktuell. Wenn man aber bedenkt, dass Jesus das „Göttliche“ stets mit dem Begriff der „Liebe“ verband und auch sagte „Gott ist die Liebe“, dann würde es schon ganz anders klingen: Man kann nicht gleichzeitig der Liebe und dem Reichtum bzw. dem Geld dienen – ein radikaler Gegenentwurf zur heutigen kapitalistischen Welt, in der Reichtum als das höchste aller Ziele geht, selbst auf Kosten von Armut und Ausbeutung jener, die von diesem Reichtum ausgeschlossen sind. Da ist Jesus durch und durch konsequent: „Geben ist seliger als nehmen“, sagt er, immer wieder plädiert er für „Besitzlosigkeit“, für das „Teilen“ und sagt unmissverständlich: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt“, anders gesagt: Wer Reichtum auf Kosten anderer anhäuft, versündigt sich, lebt nicht so, wie es eigentlich von Gott bzw. einem „Schöpfungsplan“ der Liebe und der Gerechtigkeit „gedacht“ war. Und Jesus geht noch weiter: „Selig sind die, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“, es ist die konkrete Aufforderung zum politischen Widerstand gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, und weiter: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Jesus ist auf der Seite all jener, die so leidenschaftlich wie er für die Gerechtigkeit kämpfen, dass sie sogar ihren Tod dafür in Kauf nehmen, so wie jene Abertausenden von kommunistischen Widerstandskämpfern, die in den 70er Jahren in den unterirdischen Gefängnissen der südamerikanischen Militärdiktaturen von Argentinien bis Honduras zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes über dem Meer aus Flugzeugen abgeworfen wurden.

Auch seine Botschaft einer radikalen Nächstenliebe, ja sogar Feindesliebe, würde alles Bisherige aus den Angeln reissen. Hätte man zu seinen Lebzeiten, statt ihn zu töten, dieses Gebot verstanden und ernst genommen, dann hätten schon damals alle Kriege bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zu all den fürchterlichen Kriegen, die selbst heute noch, und erst noch in wachsender Zahl, weltweit wüten, verhindert werden können und es hätten Abermillionen von Menschenleben gerettet werden können. Doch statt die Idee einer konsequenten Feindesliebe überhaupt erst einmal auszuprobieren, wird sie aller Vernunft und allem gesunden Menschenverstand zum Trotz selbst heute noch und mehr denn je in ihr pures Gegenteil verdreht und es wird den Menschen mit allen Mitteln der Verführung und der Propaganda in den Kopf gehämmert, so etwas wie Pazifismus sei es „aus der Zeit gefallen“ und der US-Aussenminister muss es nicht einmal verheimlichen, sondern kann es öffentlich in die Welt hinausposaunen, dass es doch auch seine guten Seiten hätte, wenn der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, weil dadurch die Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie gesichert werden könnten. Alles, woran Jesus glaubte, wurde ins Gegenteil verdreht. Denn so, wie man nicht gleichzeitig der Liebe und dem Geld dienen kann, so kann man auch nicht gleichzeitig dem Krieg und dem Frieden dienen. Es gibt nur den radikalen Gegenentwurf, nicht nur im Grossen, sondern auch im Allerkleinsten: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.“ Eine solche Haltung ist nicht Schwäche, es ist die grösstmögliche Stärke, ganz simpel: Eine Faust, die auf eine andere Faust trifft, wird dadurch nur stärker, eine Faust, die ins Leere saust, ist sinnlos und verliert all ihre Kraft.

Als Jesus am Brunnen eine Frau aus dem Volk der Samariter trifft, diesem Volk, das von den Juden verachtet wurde, sodass kein Jude, der etwas von sich hielt, jemals mit einer solchen Frau gesprochen geschweige ihr in die Augen geblickt hätte, als Jesus diese Frau trifft, erkundigt er sich nach ihrem Wohlergehen, ist es doch aussergewöhnlich, dass eine Frau ganz alleine, und erst noch um die Mittagszeit, an einem Brunnen Wasser holt. So erfährt er, dass sie wegen Ehebruch aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Jesus geht zu den Menschen, zu denen sonst niemand hingeht, zu den Aussätzigen, den Ehebrechern, den Betrügern, den verhassten Zöllnern, spricht mit ihnen, grenzt niemanden aus und ist auch in diesem Sinne ein Vorbild für alle kommenden Generationen, ist doch das gegenseitige Ausgrenzen, gegenseitige Verachtung, Herabwürdigung, Diskriminierung, Rassismus das Grundübel fast aller Formen von Gewalt bis hin zum Krieg. „Alle Menschen“, sagt Jesus, „sind meine Mütter und meine Brüder“. Wo die Menschen sich voneinander verabschieden, versöhnt und verbindet er sie mit dem Band der Liebe. Daher auch seine grosse Bewunderung für die Kinder, welche alle diese Formen von Ausgrenzung, die ihnen immer erst im Verlaufe des Älterwerdens anerzogen werden, noch nicht kennen: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen“. Was für revolutionäre Worte in einer so patriarchalen Zeit. Und immer wieder verbringt Jesus auch Zeit mit Frauen, spricht, wie seine Jünger übereinstimmend berichten, einfühlsam und auf Augenhöhe mit ihnen. Er reist mit ihnen. Und während gewöhnliche Rabbiner nur junge Männer unterrichten, unterrichtet Jesus auch Frauen. Es trifft zwar zu – und wird von patriarchal eingestellten Christen auch heute noch gerne betont -, dass Jesus auch zahlreiche gegenteilige Äusserungen machte wie etwa jene, dass die Frau dem Manne untertänig sein und ihm dienen solle, doch darf man die Zeitumstände nicht ausser Acht lassen. Auch Jesus – und das zeigt eben, dass er auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war – konnte sich nicht gänzlich von allen damaligen Wertvorstellungen lösen, war vielleicht sogar selber oft hin- und hergerissen. Seine Einstellung gegenüber Frauen war aber für die damalige Zeit zweifellos durchaus revolutionär.

Ganz und gar nicht gut zu sprechen ist Jesus auf Scheinheiligkeit und Vortäuschung von Werten, die nicht echt sind und nicht gelebt werden: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.“ Die „Geldwechsler“ möchte er am liebten „aus dem Tempel jagen“: „Haut ihre Tische um. Schafft das alles fort. Macht aus dem Haus meines Vaters keinen Marktplatz!“ Hatte Jesus 2000 Jahre in die Zukunft blicken können? Sah er schon die globalen Börsenmärkte, die Aktienkurse, die auf purer Ausbeutung beruhende globale Marktwirtschaft, die Broker und die „Geldwechsler“ des modernen Kapitalismus? Schon klar, dass die alle keine Freude hätten, würde man das, was Jesus sagte, nur richtig so verstehen, wie er es gemeint hatte.

Die offizielle christliche Lehre beruht ja auf der Annahme, dass der „Himmel“ bzw. das „Paradies“ auf der Erde nicht zu verwirklichen sei, sondern erst im „Jenseits“ jenen Menschen eröffnet werde, die sich in ihrem irdischen Leben wohl verhalten hätten. Mit dieser „Lehre“ wurden die Menschen über Jahrhunderte geknechtet und ihnen sogar gesagt, je mehr sie in ihrem irdischen Leben leiden müssten, umso besser würde es ihnen dann nach ihrem Tode gehen – zynischerweise wendeten jene, die das propagierten, genau dies aber bei sich selber meistens ganz und gar nicht an, sondern lebten in aller Regel in Saus und Braus und erst noch auf Kosten jener, denen das Leiden als Heilmittel für ihr späteres Glück verschrieben worden war.

Alles sähe ganz anders aus, wenn man davon ausginge, dass das Paradies nicht erst in irgendeinem erfundenen Jenseits verwirklicht werden kann, sondern hier und heute mitten auf dieser Erde. Wenn Jesus vom „Himmel“ spricht, so könnte man das ja auch durchaus als so etwas verstehen wie eine zweite, spirituelle Ebene, die stets auch das irdische Leben durchdringt. Es würde ja auch Sinn machen. Weshalb sonst hätte Jesus die Menschen aufgefordert, die Feinde zu lieben, dem Krieg abzuschwören, so zu werden wie die Kinder, Reichtum nicht zu raffen, sondern zu teilen. Damit wäre ja, wenn die Menschen dem allem nachgelebt hätten, das Paradies auf Erden verwirklicht worden. Es wäre ja nicht logisch gewesen, dies alles von den Menschen zu fordern, wenn Jesus nicht zugleich daran geglaubt hätte, dass sie das auch tatsächlich schaffen könnten und sich dann die Idee irgendeines jenseitigen Paradieses ohne Gewissheit, ob es das überhaupt gibt, ganz und gar erübrigen würde.

Diese Blumen in meinem Garten, jede einzelne mit einer Blüte so unbeschreiblicher Vollkommenheit. Der Nebel über den Bergen. Ein tanzendes, singendes und lachendes Kind. Der Gesang der Vögel. Die Musik, die aus den Bäumen klingt, wenn der Wind durch sie hindurchweht. Wir sind doch mitten im Paradies. Was suchen wir denn noch, wenn es doch so nahe ist? Wäre es nicht viel gescheiter, dafür zu sorgen, dass das Paradies auf Erden, wo es noch vorhanden ist, für immer erhalten bleibt, und wir alle Phantasie, Liebe und Leidenschaft dafür aufbringen, es dort, wo es inzwischen verloren gegangen ist, wieder aufzubauen? Ein Blick in die vorchristliche Zeit zeigt uns, dass die Idee eines Paradieses auf Erden durchaus nichts Aussergewöhnliches ist. Der Garten Eden, der Inbegriff des Paradieses, war nicht erfunden, sondern real. Es war das sagenhafte Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, Mesopotamien, dieses Stück Erde, das 2000 Jahre später ausgerechnet von einem US-Präsidenten in Schutt und Asche gelegt wurde, der sich als bekennenden Christen bezeichnet und vermutlich, bevor er den Befehl zum ersten Bombenschlag gab, noch sein Morgengebet aufgesagt und sich gewiss heftig bekreuzigt hatte…

Die letzten Tage wurde wieder einmal Ostern gefeiert. Aber nur mit den „Lippen“, nicht mit dem „Herzen“. Gefeiert haben wir nämlich nicht wirklich die „Auferstehung“ von Jesu und die Botschaft, die uns dieser erste ganz grosse Revolutionär der Geschichte hinterlassen hat. Gefeiert haben wir tatsächlich etwas ganz anderes: Nämlich, dass diese Geschichte im Verlaufe von fast 2000 Jahren in ihr pures Gegenteil umgeschrieben worden ist. Sonst hätten wir nämlich diese Ostertage nicht vor allem damit verbracht, wieder einmal länger und weiter in alle Welt zu verreisen, mehr Fleisch aus Tierfabriken, mehr Eier und mehr aus kolonialer Ausbeutung gewonnene Schokolade zu verzehren und fast noch systematischer als ohnehin schon die Augen vor Hunger, Armut, sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Krieg und der Zerstörung unserer zukünftigen Lebensgrundlagen zu verschliessen.

Am Friedensostermarsch in Bern haben gerade mal ein paar hundert Menschen teilgenommen. Ein paar hundert von neun Millionen. Als eine palästinensische Menschenrechtsaktivistin in eindringlichen Worten die heutige Lage in Westjordanien und im Gazastreifen beschrieb, wo man oft tagelang noch das Schreien der Kinder aus den Trümmern der zerbombten Häuser hört, bis es irgendwann verstummt, stand auch für mich einen Augenblick die Welt still. Eine unendliche Traurigkeit. Und zugleich eine unendliche Hoffnung. Dass wir doch noch eines Tages verstehen werden, was uns Jesus vor über 2000 Jahren sagen wollte. Und dass diese Geschichte, die so systematisch umgeschrieben und in ihr Gegenteil verkehrt wurde, doch auch wieder in die andere Richtung zurückgeschrieben werden kann. Wenn nur genug Menschen dies wollen.

Asylsuchende aus Afrika in Europa: Welches sind die Täter, welches die Opfer?

Wie das „Tagblatt“ am 21. März 2024 berichtete, hat der neue schweizerische Justizminister Beat Jans das Bundesasylzentrum Boudry im Kanton Neuenburg besucht. Dieses schweizweit grösste Asylzentrum mit Verfahrensfunktion hatte in letzter Zeit in der öffentlichen Debatte und in den Medien viel zu reden gegeben, weil es, wie es der Neuenburger Sicherheitsdirektor Alain Ribaux ausdrückte, mit einem „Tsunami der Kriminalität“ konfrontiert sei. Landesweit hatten Polizeikorps seit Wochen von einer Zunahme von Diebstählen und Einbrüchen durch junge Männer aus den Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko berichtet. Auch bei den „renitenten“ Asylsuchenden in Boudry handelt es sich laut Polizeiangaben mehrheitlich um dieses „Täterprofil“. „Die Akzeptanz des Asylsystems“, so Karin Kayser-Frutschi, Co-Präsidentin der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, „droht in der Bevölkerung zu erodieren. Wir stehen kurz vor dem Kipppunkt.“ Bereits hat die Neuenburger Regierung Ende Februar die Weiterführung des Asylzentrums in Boudry grundsätzlich in Frage gestellt.

Nun also hat Bundesrat Beat Jans das Asylzentrum in Boudry besucht. Er konnte gar nicht anders, so gross war der Druck in der Öffentlichkeit. Vor den Medien erklärte Jans, die Situation für die Bevölkerung sei „herausfordernd“, auch die Vorfälle in anderen Asylzentren hätten ihn „geschockt“ und die Bevölkerung hätte das „Recht, in Sicherheit zu leben“. Deshalb solle bis Ende April 2024 schweizweit ein neues „24-Stunden-Verfahren“ eingeführt werden, und zwar für sämtliche Asylsuchende aus Ländern mit einer Asylgewährungsquote von weniger als einem Prozent. Dies betrifft vor allem Asylsuchende aus Marokko, Tunesien und Algerien.

Die asylpolitischen Hardliner sind begeistert. Jans, so Patrik Müller im „Tagblatt“ vom 21. März, zeige sich „resistent gegen den linken Reflex, Missstände kleinzureden“. Er benenne die Probleme, insbesondere die „Kriminalität von Asylsuchenden aus Nordafrika, die für einen Grossteil der Einbrüche verantwortlich sind“. Er „fackelt nicht lange und ergreift Massnahmen“. Und er lasse sich „nicht durch einen drohenden Liebesentzug durch die SP beirren“, auch nicht durch den „Protest von Flüchtlingsorganisationen gegen die neuen Massnahmen“. Jans halte „Kurs“. Auch wenn sein Herz bisweilen „rebellieren“ möge, aber schliesslich regiere man nicht mit dem Herzen, sondern „mit dem Kopf“. Jans‘ Politik sei die helvetische Antwort auf die Aussage des US-Politologen Bret Stephens, wonach Politiker wie Trump, Le Pen oder die AfD davon profitierten, dass „etablierte Parteien das Migrationsproblem ignorieren.“

Starker Tubak. Aber bitte schön alles der Reihe nach. Ein „Tsunami der Kriminalität“ in Boudry? Tatsache ist, dass gerade mal zwei Prozent sämtlicher Asylsuchender in der Schweiz Straftaten begehen, zumeist erst noch ziemlich harmlose wie etwa Diebstähle oder Einbrüche mit meist ziemlich bescheidenem Diebesgut. Wenn das ein „Tsunami“ ist, was sind denn da die von Schweizern begangenen Straftaten, im Bereich von einem Prozent der Bevölkerung, wobei da auch massivste Verbrechen mit tödlichen Folgen in nicht geringer Anzahl dabei sind und etwa die Steuerhinterziehung im Bereich von jährlich 15 Milliarden Franken, die man ja wohl kaum anders nennen kann als Diebstahl in grossem Ausmass, noch nicht einmal mitgerechnet ist. Wenn also die Vorkommnisse in Boudry und anderen Asylzentren ein „Tsunami der Kriminalität“ sein sollen, was sind dann die von Schweizern begangenen Straftaten? Nur ein Orkan? Oder vielleicht doch etwas zwischen einem Tsunami und einem Orkan? Und ist nicht, ganz abgesehen davon, nur schon die Verwendung des Begriffs „Tsunami“ eine jegliches Augenmass sprengende Verzerrung der Realität? Wenn wir uns die Bilder des Tsunami in Erinnerung rufen, der im Dezember 2004 die Meeresküsten von Sri Lanka, Thailand, Indien, Indonesien, Malaysia, Somalia und der Malediven verwüstete, die haushohen Fluten, die wie Streichholschachteln zersplitternden Häuser, ganze bis auf den Erdboden ausradierte Dörfer, über 230’000 Todesopfer, und das mit den Einbrüchen rund um schweizerische Asylzentren vergleichen, wo bisher unter der betroffenen Schweizer Bevölkerung noch kein einziges Todesopfer zu beklagen war – was hat das eine mit dem anderen auch nur im Entferntesten zu tun? Sind die von Asylsuchenden begangenen Delikte etwa so banal, dass man sie mit dermassen weit hergeholten und jeglicher Verhältnismässigkeit spottenden Begriffen aufladen muss, um damit auch garantiert die gewünschte politische Wirkung zu erzielen?

Selbst die Statistik, wonach zwei Prozent der Asylsuchenden „straffällig“ seien, muss kritisch hinterfragt werden, denn es handelt sich dabei nur um die Anzahl der Anzeigen, nicht um jene der tatsächlich begangenen und verurteilten Straftaten. Untersuchungen haben gezeigt, dass Ausländerinnen und Ausländer pro Kopf gut dreimal häufiger für Straftaten beschuldigt werden als Schweizerinnen und Schweizer. Dies gilt für die gesamte ausländische Wohnbevölkerung, insbesondere aber für Asylsuchende, die offensichtlich geradezu unter dem Generalverdacht stehen, potenziell kriminell zu sein. Dies zeigt sich auch im Begriff der sogenannten „Ausländerkriminalität“, die auf völlig unzulässige und menschenverachtende Weise zwei Begriffe miteinander verbindet, die nichts miteinander zu tun haben. Denn wenn Ausländerinnen und Ausländer „kriminell“ werden, dann nicht deshalb, weil sie „Ausländerinnen“ und „Ausländer“ sind, sondern weil sie, wie Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, zu bedenken gibt, „soziale und persönliche Umstände“ erfahren haben oder diesen ausgesetzt sind, welche „Kriminalität verursachen“. Unter vergleichbaren Umständen – Armut, Verfolgung, Diskriminierung, Folter, Krieg, Verlust von Familienangehörigen, usw. – würden Schweizerinnen und Schweizer in genau gleichem Ausmass straffällig, ohne dass jemand auch nur im Entferntesten auf die Idee käme, von einer „Inländerkriminalität“ zu sprechen.

Und damit kommen wir zur eigentlichen Kernfrage, nämlich zur Frage, wer denn – unabhängig von allen diesen einseitigen und künstlich aufgebauschten Schuldzuweisungen und Vorurteilen – die eigentlichen Täter und die eigentlichen Opfer sind. Um diese Frage zu beantworten, genügt schon ein kurzer Blick in die Geschichte…

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Afrika noch einer der reichsten Kontinente, gesegnet mit fruchtbarster Erde und einem Klima, in dem sozusagen alles nur Erdenkliche, was das Herz begehrte, gedieh. Die Menschen lebten einfach, aber niemand musste hungern, alle hatten reichlich Arbeit. Zur gleichen Zeit war Europa einer der ärmsten Kontinente, so arm, dass Abertausende, um nur einigermassen überleben zu können, in fremde Länder auszuwandern begannen, nach Amerika, nach Australien und anderswohin. Dann begann der grosse Raubzug. Wie Heuschrecken überfielen die europäischen Kolonialmächte von Spanien bis England, von Italien bis Belgien, von Holland bis Deutschland den afrikanischen Kontinent, rafften alles zusammen, was zusammenzuraffen war. Auf den fruchtbaren Böden, die zuvor der Eigenversorgung der einheimischen Bevölkerung gedient hatten, liessen die Eindringlinge aus dem Norden Kakao, Kaffee, Bananen, Ananas, Mango, Palmöl, Baumwolle, Datteln, Erdnüsse und vieles mehr produzieren, in die Länder des Nordens verschiffen und dort möglichst gewinnbringend verkaufen. Die Brutalität, mit der die afrikanischen Menschen gezwungen wurden, sich bis zum Tode für die Luxus- und Profitinteressen des Nordens abzurackern, kannte keine Grenzen. Im Gebiet der heutigen Republik Kongo liess der belgische König Leopold II allen Arbeiterinnen und Arbeitern, die bei der Gewinnung von Kautschuk das jeweilige Tagessoll nicht zu erfüllen vermochten, die Hände abhacken. Schon kleinste Kinder wurden gezwungen, unter Lebensgefahr in glühendheisse Schächte hinabzusteigen, um dort nach Diamanten und anderen Kostbarkeiten zu schürfen. Auf endlosen Plantagen mussten Männer und Frauen, die kaum genug zu essen hatten, unter glühender Hitze von frühmorgens bis spät in der Nacht arbeiten, nachdem schon 15 Millionen ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren im Verlaufe von 300 Jahren unter grausamsten Bedingungen als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika verfrachtet worden waren, um dort das gleiche Schicksal zu erleiden und infolge der unmenschlichen Arbeitsbedingungen meist schon nach wenigen Jahren zu sterben. Und so verwandelte sich innert kürzester Zeit einer der ärmsten in einen der reichsten und einer der reichsten in einen der ärmsten Kontinente. Wenn man etwas als Tsunami bezeichnen könnte, dann dies. Es war nicht nur einer, es waren Tausende von Tsunamis.

Und das war ja noch längst nicht das Ende. Die Ausbeutung Afrikas durch die industrialisierten Länder des Nordens geht bis zum heutigen Tag gnadenlos weiter. Und die Schweiz ist da nicht irgendeine Trittbrettfahrerin, nein, sie ist an vorderster Front mit dabei. Obwohl auf schweizerischem Boden noch nie eine Kaffee- oder Kakaobohne wuchs und in schweizerischer Erde noch nie auch nur ein einziger Tropfen Öl gefunden wurde, kein Staubkorn Gold und kein einziger Diamant, gibt es dennoch kein anderes Land, wo mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte so viel Geld verdient wird wie in der Schweiz. Die Schweiz rühmt sich zwar, in Sachen „Entwicklungshilfe“ besonders grosszügig zu sein, aber die Profite, welche sie im Handel mit den Ländern des Südens erwirtschaftet, übertreffen diese sogenannte „Entwicklungshilfe“ um nicht weniger als das Fünfzigfache!

Seit Jahrhunderten gilt die eiserne Regel, erfunden und bis zum heutigen Tag weiterbetrieben durch die reichen und mächtigen Länder des Nordens, dass der echte Wert einer Ware erst dann entsteht, wenn sie industriell verarbeitet wird. So gilt noch immer als selbstverständlich, dass der Lohn einer Landarbeiterin, die auf einer afrikanischen Kaffeeplantage schuftet, nur einen winzigen Bruchteil jenes Profits ausmacht, mit dem dann der aus den Kaffeebohnen gewonnene Cappuccino in einem Starbucks-Café irgendwo in Zürich, Genf oder Chur verkauft wird. Dabei müsste es doch genau umgekehrt sein, bilden die Kaffeebohne und die Leistung der Kaffeearbeiterin doch die eigentliche, unverzichtbare und durch nichts zu ersetzende Basis dafür, dass überhaupt irgendwer irgendwo damit zusätzliches Geld verdienen kann. Die – bei vielen Produkten sogar oft noch weiter wachsende – Kluft zwischen den Rohstoffpreisen und den mit den Fertigprodukten erzielten Milliardengewinnen hat zudem zur Folge, dass sich die rohstoffreichen, aber wenig industrialisierten Länder laufend mehr verschulden müssen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gewähren ihnen dann zwar „grosszügige“ Kredite, aber nur unter knallharten Auflagen, indem etwa sogenannte „Wirtschaftsreformen“ umgesetzt werden müssen, bei denen zuallererst meist Nahrungsmittelsubventionen sowie Sozial- und Bildungsprogramme zusammengestrichen werden. Auch sind die gewährten Kredite stets mit der Verpflichtung verbunden, dass sie, zusammen mit horrender Zinsbelastung, wieder zurückzuzahlen sind. Wie Daumenschrauben, die jedes Mal, wenn der Finger ein wenig dünner ist, um eine weitere Drehung angezogen werden.

Und damit sind wir wieder bei den sogenannten Maghrebstaaten Tunesien, Marokko und Algerien, aus denen die besonders „gefährlichen“, „renitenten“ und „kriminellen“ Asylsuchenden stammen, von denen sich die schweizerische Bevölkerung zurzeit so bedroht fühlt. Auch Marokko, Tunesien und Algerien sind gezwungen, landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe wie Zitrusfrüchte, Obst, Getreide, Gemüse, Meeresfrüchte, Fisch, Rohöl, Phosphate und andere Chemikalien zu Billigstpreisen zu verschachern, um vergleichsweise viel teurere Geräte, Maschinen und andere industrielle Produkte kaufen zu können. Auch sie leiden unter der Daumenschraube des IWF und der Weltbank. Auch in ihren Ländern mussten Nahrungsmittelsubventionen und dringend nötige Sozialprogramme gestrichen werden. Die mit dem „Arabischen Frühling“ zwischen 2010 und 2012 verbundenen Hoffnungen auf bessere Zeiten liegen schon in weiter Vergangenheit, seither ist alles noch schlimmer geworden und die Menschen sind mittlerweile so erschöpft, verzweifelt und ohne jede Hoffnung, dass sie schon gar nicht mehr die Kraft aufzubringen vermöchten, einen zweiten „Arabischen Frühling“ ins Leben zu rufen.

Welches sind die Täter, welches sind die Opfer? Ein kurzer Blick in die Vergangenheit genügt, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass all die „unliebsamen“ Asylsuchenden aus diesen Ländern, die uns Schweizerinnen und Schweizern angeblich das Leben so schwer machen, eigentlich nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen, kaum nennenswerten Teil jenes Raubgutes zurückzuholen, das wir ihnen so gnadenlos und systematisch im Verlaufe weniger hundert Jahre entrissen haben. Wenn sich nun Schweizerinnen und Schweizer über das Verhalten dieser Menschen aufregen und sie so schnell wie möglich wieder loshaben möchten, so ist dies nur möglich, wenn wir vor jeglicher Realität die Augen verschliessen. Denn in Tat und Wahrheit sind all jene Menschen, die auch in den reichen Ländern des Nordens und auch in der Schweiz zunehmend unter Armut leiden, die Opfer des genau gleichen weltweiten kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems, unter dem auch die Menschen in Afrika und letztlich allen anderen Ländern mehr oder weniger stark leiden. Würde sich diese Erkenntnis weltweit durchsetzen, dann würden nicht mehr Menschen gegen andere Menschen ankämpfen und sie zum Verschwinden bringen wollen, sondern sie würden sich, ganz im Gegenteil, mit diesen Menschen verbünden und gemeinsam mit ihnen für eine Zukunft kämpfen, in der die Profitmaximierung und die Bereicherung einer Minderheit auf Kosten einer Mehrheit für immer der Vergangenheit angehören sollten. Dass die Reichen und Mächtigen, die vom heutigen kapitalistischen Weltwirtschaftssystem so unverschämt und immer noch unverschämter profitieren, dies nicht wollen, ist klar. Und so werden sie alles daran setzen, dass die Wahrheit darüber, welches die Täter sind und welches die Opfer, nur ja nie ans Licht kommt. Am besten im Bunde mit Politikern wie Bundesrat Beat Jans und vielen anderen, die sich, statt endlich alle diese verheerenden Lügen aufzudecken, mehr oder weniger nahtlos dem allgemeinen Zeitgeist anschliessen.

Doch wir können die Mauern zwischen der Armut und dem Reichtum, zwischen den Opfern und den Tätern, zwischen der Ausbeutung und dem Luxus noch so weit in die Höhe bauen und noch so sehr alles Unangenehme, Störende und Bedrohliche unsichtbar machen wollen – in den Herzen all jener Menschen, die schon bald, abgefertigt in den 24-Stunden-Schnellverfahren, wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen, wird die Wahrheit dennoch nicht erlöschen, auch nicht die Erinnerungen, auch nicht die Sehnsucht. Und eines Tages, früher oder später, wird die Wahrheit ans Licht gelangen.

Medien als Propagandainstrumente: Was ist erfunden, was ist echt? Was wird aufgebauscht, was wird verschwiegen? Was bleibt in den Köpfen, was nicht? Wer hat welche Interessen?

„Unter Putins Knute regiert die Gewalt“ – so der Titel eines Artikels über einen soeben veröffentlichten UNO-Bericht zur Lage in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten, veröffentlicht im schweizerischen „Tagblatt“ vom 21. März 2024. Ermittler der Vereinten Nationen hätten in diesem neuen Bericht ein „düsteres Bild“ gezeichnet. Die russischen Truppen hätten von Anfang an „schwere Vorstösse gegen das humanitäre Völkerrecht verübt“, unter anderem „aussergerichtliche Tötungen, Folter, gewaltsames Verschwinden und willkürliche Inhaftierungen“. Verschiedene Arten von Gewalt würden gegen Inhaftierte angewendet: „Schwere Schläge, Tritte, Schnitte, das Anbringen scharfer Gegenstände unter den Fingernägeln, Waterboarding, Scheinhinrichtungen und Elektroschocks“. Einige der befragten Gefangenen seien „konfliktbedingter sexueller Gewalt“ ausgesetzt gewesen, darunter „Vergewaltigung oder Androhung davon, Schläge und auch Elektroschocks auf Genitalien, Brüste, Verstümmelung, erzwungene Nacktheit, ungerechtfertigte Leibesvisitationen, sexuelle Berührungen oder Androhung von Kastration.“ Der Tod von neun gefangenen Männern durch Folter sei durch Inspektoren bestätigt. Der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell zufolge handle es sich dabei nicht um „zufällige oder beiläufige Taten“, sondern diese seien „Bestandteil der Politik der Russischen Föderation, um Angst einzuflössen, einzuschüchtern, zu bestrafen oder Informationen und Geständnisse zu erpressen.“

Bereits am 15. März hatte auch der deutsche „Spiegel“ über die Resultate dieses neuen UNO-Berichts informiert. Ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft seien „monatelang gefoltert worden“, die Misshandlungen seien „entsetzlich, systematisch und weitverbreitet“ gewesen. Die UNO-Kommission hätte unter anderem den Fall eines Mannes geschildert, dem in der Gefangenschaft „Steissbein, Schlüsselbein und Zähne gebrochen worden“ seien und der so stark geschlagen worden sei, dass er „aus dem Anus blutete“. In seiner Verzweiflung hätte der Mann versucht, Suizid zu verüben. Seit seiner Entlassung sei er 36 Mal operiert worden. „Die Schilderungen der Opfer zeigen“, so der „Spiegel“, „dass gefangenen Ukrainern brutal und unablässig schwere Schmerzen und schweres Leid während nahezu der gesamten Haftzeit zugefügt werden“, Gefangene würden auch an Hunger leiden und deshalb in ihrer Not Würmer, Seife, Papier und Hundefutter essen. Laut der Kommission handle es sich bei der Folter durch russische Armeeangehörige und Gefängnisbeamte um Kriegsverbrechen. Der Bericht schildere auch Folter und sexuelle Verbrechen an ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten. In einem Fall sei eine 42jährige schwangere Frau und die 17jährige Freundin ihres Sohnes von zwei russischen Soldaten vergewaltigt worden.

Tatsächlich enthält der in diesen Artikeln zitierte UNO-Menschenrechtsbericht über die Situation in der Ukraine auch im originalen Wortlaut die erwähnten Aussagen. Allerdings, und das ist doch bemerkenswert, findet man im Bericht auch den Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die von ukrainischer Seite begangen worden seien. Diese fehlen in den beiden von mir untersuchten Zeitungsartikeln zur Gänze. Auch ob beispielsweise die Schilderung jenes Mannes, der 36 Mal operiert worden sei, durch mehrere voneinander unabhängige Quellen verifiziert werden konnte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Besonders tendenziös aber erscheint mir die Aussage der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell, wonach es sich bei den geschilderten Verbrechen nicht um Einzeltaten gehandelt habe, sondern diese „Bestandteil der Politik der Russischen Föderation“ bilden würden. Genau umgekehrt nämlich wurde im Falle des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Irakkriegs argumentiert: Die in den berüchtigten US-Militärgefängnissen gegen irakische Gefangene angewendeten Foltermethoden glichen nämlich wie ein Ei dem andern den in diesem UNO-Bericht geschilderten Praktiken, allerdings mit dem grossen Unterschied, dass für jene Verbrechen stets nur Einzeltäter verantwortlich gemacht wurden, nie behauptet wurde, diese bildeten einen „Bestandteil der US-Politik zu Einschüchterung, Bestrafung und dem Erpressen von Geständnissen“ und meines Wissens damals auch nie ein Artikel mit dem Titel „Unter US-Präsident Bushs Knute regiert die Gewalt“ in der westlichen Presse gelesen werden konnte. Im Gegenteil: Julian Assange, der diese von den USA begangenen Kriegsverbrechen ans Licht der Weltöffentlichkeit brachte, wurde von den USA wegen Spionage angeklagt und es drohen ihm bei einer allfälligen Auslieferung an die USA 175 Jahre Haft.

Keine Frage: Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sollen jederzeit und überall in aller Schonungslosigkeit aufgedeckt werden. Wenn dabei aber sozusagen zwischen „guten“ und „bösen“ Mächten unterschieden wird, auf der einen Seite von „Einzeltätern“ gesprochen wird, auf der anderen die genau gleichen Missetaten aber als Ausdruck eines verbrecherischen „Gesamtsystems“ dargestellt werden und ungeliebte Machthaber wie Putin als Inbegriff des Bösen oder gar als Teufel bezeichnet werden, während Kriegsverbrecher wie der frühere US-Präsident George W. Bush, der eine weit grössere Anzahl von Menschenleben auf dem Gewissen hat, immer noch frei herumläuft und in seiner Heimat immer noch grösstes Ansehen geniesst, dann befindet sich die öffentliche Meinung in diesem angeblich so „wertebasierten“ und „demokratischen“ Westen ganz gehörig in Schieflage. In einer Schieflage, die nicht dazu verhilft, ganz grundsätzlich den Wahnsinn jeglicher Macht- und Kriegslogik zu überwinden, sondern sich bloss immer wieder auf die traditionellen Feindbilder fixiert und die Verbrechen, welche von der einen Seite begangen werden, in ebenso grossem Ausmass verurteilt, wie sie die gleichen, aber von der anderen Seite begangenen Verbrechen verharmlost oder gar noch glorifiziert.

Der Aufrechterhaltung dieser einseitigen Optik und der festgefahrenen, auf der Blindheit gegenüber den eigenen Verbrechen beruhenden Feindbilder dient eine völlig einseitige und verzerrte Berichterstattung, wie es die beiden oben zitierten Zeitungsberichte exemplarisch aufzeigen. Ohne jeden Zweifel ist die Vergewaltigung einer 42jährigen schwangeren Ukrainerin und der 17jährigen Freundin ihres Sohnes durch russische Soldaten ohne jede Einschränkung, Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verurteilen. Aber tagtäglich werden Frauen nicht nur im Krieg, sondern auch mitten im Frieden weltweit auf bestialische Weise vergewaltigt, ohne dass jemals darüber in irgendeiner Zeitung berichtet oder gar irgendein übergeordnetes „Machtsystem“ dafür verantwortlich gemacht wird. Keine einzige der westlichen Zeitungen berichtet über die Qualen, unter denen jene rund 10’000 Kinder leiden, die weltweit jeden Tag schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel jener Lebensmittel, die zu einem grossen Teil aus den Hungergebieten des Südens importiert wurden, im Müll landen. Mediale Berichterstattung ist fast ausschliesslich zum Instrument der Reichen und Mächtigen verkommen, mit dem sie ihre ureigenen Profit- und Herrschaftsinteressen auf geradezu skrupellose Weise vorantreiben und rechtfertigen, statt ein Mittel dafür zu sein, möglichst umfassend, unvoreingenommen und objektiv zu informieren. Bestes Beispiel dafür ist die von der israelischen Regierung kurz nach dem 7. Oktober 2023 verbreitete Behauptung, die Hamaskämpfer hätten bei ihrer Terrorattacke gegen jüdische Siedlungen Babys geköpft, was sich später als reine Lüge entpuppte. Gleichwohl gibt es wohl heute noch Menschen, die das immer noch glauben, haben doch solche grausame, alle Vorstellungskraft übersteigende Bilder in unseren Köpfen, sind sie erst einmal etabliert, eine ungleich viel stärkere Wirkung als jede noch so eifrige Entschuldigung oder Relativierung, die ihnen später nachgeschoben wird. Ein anderes Beispiel ist die ebenfalls rund um den Globus gegangene Nachricht, wonach auf einem bei den russischen Präsidentschaftswahlen von Mitte März eingeworfenen Wahlzettel „Putin = Mörder“ zu lesen gewesen sei. Wie wenn nicht ohne allen Zweifel bei jeder Präsidentschaftswahl in Frankreich, Deutschland oder den USA zahllose ähnliche Vergleiche oder Beleidigungen zu lesen sein könnten, ohne dass jemals irgendeine Zeitung auf die Idee käme, dies zu publizieren. Diese in höchstem Masse einseitige und manipulative, stets im Augenblick auf Tränendrüsen oder Angstreflexe zielende Meinungsmache führt nicht im Entferntesten dazu, dass die Menschen zu denken anfangen, sondern im Gegenteil dazu, dass sie mit dem Denken aufhören und immer mehr zum Spielball jener Machtinteressen werden, die sich aller dieser Propagandainstrumente bedienen.

Welche Geschichten werden weitererzählt, welche nicht? Was macht Schlagzeilen, was nicht? Wer hat welches Interesse, diese oder jene Meldung weiterzuverbreiten oder zu unterdrücken? Was ist erfunden, was ist echt, was wird verschwiegen, was wird verharmlost und was wird bis zum Gehtnichtmehr aufgebauscht? Welche Wörter üben welche Wirkung aus, was bleibt in den Köpfen hängen und was nicht? Wollen wir die grossen Fragen der Zukunft anpacken und konstruktiven Lösungen entgegenführen, dann wird nicht zuletzt entscheidend sein, was für Antworten wir auf diese Fragen finden werden…

1991 bis 2024: Wie es dem Westen gelang, Russland in den Krieg zu treiben…

Immer häufiger wird von westlichen Politikern und Medien die drohende Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschworen. Schuld daran wäre dann, wie könnte es anders sein, einzig und allein der russische Präsident Wladimir Putin, der soeben Alexej Nawalny, seinen schärfsten Widersacher, „umgebracht“ habe und sich kurz darauf durch manipulierte „Scheinwahlen“ unter Missachtung sämtlicher demokratischer Spielregel sowohl innerhalb Russlands wie auch international die nötige Legitimation seiner „verbrecherischen“ Politik geholt hätte. Da braucht es doch immer wieder mal einen kurzen, nüchternen Blick in die Vergangenheit, um die Dinge einigermassen ins richtige Licht zu rücken…

1991. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versichern führende westliche Politiker vom amerikanischen Aussenminister Jim Baker bis zum deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher Russland, die NATO „um keinen Inch“ nach Osten auszudehnen.

1997. George F. Kennan, US-Historiker: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns eines Tages entschieden missfallen wird.“

1997. Joe Biden, US-Senator und derzeitiger US-Präsident: „Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.“

1999. NATO-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.

2000. Der neu gewählte russische Präsident Wladimir Putin schlägt dem Westen ein endgültiges Ende des Kalten Kriegs und die Errichtung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsstruktur vor. Die Idee wird vom Westen zurückgewiesen.

2004. NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

2008. Der Westen stellt der Ukraine einen NATO-Beitritt in Aussicht. Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin: „Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann wird dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung bedeuten.“

2009. NATO-Beitritt von Albanien und Kroatien.

2015. Henry Kissinger, ehemaliger US-Aussenminister: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“

2017. NATO-Beitritt von Montenegro.

2019. Gemäss dem neu erlassenen ukrainischen Sprachengesetz gilt das Ukrainische zukünftig als einzige offizielle Amtssprache, trotz einem russischsprachigen Bevölkerungsanteil von rund 40 Prozent. Werke russischer Autorinnen und Autoren werden aus den Bibliotheken entfernt, die Aufführung musikalischer Werke russischer Komponistinnen und Komponisten verboten, ebenso mehrere russischsprachige TV-Sender und Zeitungen. Vlad Omelyan, ukrainischer Minister für Infrastruktur: „Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.“

2020. NATO-Beitritt von Nordmazedonien.

Dezember 2021. Putin schlägt der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts auf der Basis des von Henry Kissinger postulierten neutralen Status der Ukraine vor. Der Vorschlag wird kommentarlos zurückgewiesen.

2022. Nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine beschliessen die meisten NATO-Staaten eine massive Aufstockung ihrer Militärbudgets. Das Militärbudget der NATO übersteigt nun jenes von Russland um mehr als das Zehnfache. Diese finanziellen Mittel dienen unter anderem auch dem Unterhalt der weltweit rund 2000 US-amerikanischen Militärbasen, denen etwa 20 russische Militärstützpunkte entgegenstehen. Robert F. Kennedy Junior: „Wir haben Russland mit Raketen und Militärbasen umzingelt, was wir niemals tolerieren würden, wenn sie es mit uns genauso machen würden.“

2022. Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin: „Die westlichen Sanktionen werden Russland ruinieren.“

2023. Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau: „Statt sich der NATO anzunähern, hätte die Ukraine eine neutrale Rolle finden sollen: als Brücke zwischen Osten und Westen, was sie auch in der Vergangenheit war.“

2023. Die „Budapester Zeitung“ am 7. April 2023: „Aus moralischer und völkerrechtlicher Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs auf sich geladen. Russland ist der Täter, der Westen aber ist der Verursacher.“

2023. Tausende russischsprachige Lettinnen und Letten werden ausgebürgert, weil sie sich weigern, die lettische Sprache zu erlernen. Auch in den anderen baltischen Staaten wächst der Druck auf die russischsprachige Bevölkerung.

2024. NATO-Beitritt von Schweden und Finnland. Während vier Monaten wird mit 90’000 Soldatinnen und Soldaten in Nordeuropa das mit Abstand grösste NATO-Manöver aller Zeiten durchgeführt.

2024. Boris Pistorius, deutscher Verteidigungsminister: „Wir müssen uns insgesamt als der Westen wieder darauf einstellen, dass Abschreckung und Verteidigung Voraussetzungen dafür sind, dass man Frieden sichern kann, solange es Aggressoren wie Putin gibt.“

Die Präsidentschaftswahlen in Russland seien bloss „Scheinwahlen“, es fehle an jeglicher „echter Demokratie“: Täten wir nicht gut daran, zuerst den eigenen Stall auszumisten?

„Warum Putin eine Wahl abhält“, fragt der „Tagesanzeiger“ vom 16. März 2024 im Titel eines Artikels über die an diesem Wochenende stattfindenden russischen Präsidentschaftswahlen, das Resultat sei doch „jetzt schon klar“ und die Wahlen seien sowieso „weder frei noch fair“, „echte Oppositionspolitiker“ gäbe es ja gar keine. Die Wahlen seien „so fern von sämtlichen demokratischen Standards“, dass man eigentlich nur von „Scheinwahlen“ sprechen könne. Auch die „Sonntagszeitung“ schreibt, diese Wahlen seien „so intransparent wie nie zuvor“ und eine „echte Opposition“ gäbe es in Russland „längst nicht mehr“. Ähnlich äussert sich die „NZZ am Sonntag“: „Der Führer lässt wählen, das Volk gehorcht“, Putins Gegenkandidaten seien nur „Statisten“ und: „Was mehr kann sich ein Diktator wünschen, als die Volksherrschaft auf den Kopf zu stellen?“ Der „Blick“ spricht von einer „Scheinwahl“ und einem „verrückten Spektakel“ und das Gratisblatt „20minuten“ meint, „Beobachter“ würden nicht mit „freien und fairen“ Wahlen rechnen. „Wie in Russland Wahlen gefälscht werden“, titelt die deutsche „FAZ“, die ARD-Tagesschau spricht von einer „orchestrierten Wiederwahl“, die „weder frei noch fair“ sei, und auf „Zeit online“ lesen wir: „Noch nie ist eine russische Wahl so repressiv und manipuliert gewesen.“

Nun gut, man sollte nichts beschönigen. Wahrscheinlich entsprechen die russischen Präsidentschaftswahlen tatsächlich nicht den allgemeinen Vorstellungen von einer lupenreinen Demokratie. Doch Hand aufs Herz: Wie eigentlich ist es um unsere eigene, um die westliche Demokratie bestellt?

Nehmen wir die Präsidentschaftswahlen in den USA. Gewiss, man hat die Auswahl zwischen zwei Kandidaten. Doch was für eine echte Auswahl ist das? Beide sind doch, von marginalen Differenzen abgesehen, durch und durch lupenreine Abbilder und Repräsentanten des US-kapitalistischen Machtsystems, in dem vermutlich weit mehr als 99 Prozent der Bevölkerung infolge fehlender finanzieller Mittel von einer Kandidatur für das höchste Amt des Landes schon zum vornherein ganz und gar ausgeschlossen sind. Das Wahlsystem ist so ausgeklügelt und gnadenlos darauf ausgerichtet, dass jegliche echte Opposition, selbst wenn es sie gäbe, kaum je eine Chance hat, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Die grundlegendsten, für das Wohl der Bevölkerung am wesentlichsten entscheidenden Fragen, Alternativen zur unaufhörlichen kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen, in erschreckendem Ausmass wieder gesetzlich eingeführte Kinderarbeit, Zwölfjährige, die bis um Mitternacht in Imbissbuden arbeiten müssen, weil sonst ihre Familien nicht überleben könnten – all dies sind keine Themen im Wahlkampf, wo dafür umso ausgiebiger über die Frisur von Trump diskutiert wird oder darüber, wie oft Biden schon vom Fahrrad gefallen ist oder welche Präsidenten anderer Länder er schon wieder miteinander verwechselt hat. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Am 16. März 2024 berichtete der „Tagesanzeiger“ über den Widerstand der betroffenen Bevölkerung in der Gegend des Kiefernwaldes von Grünheide südöstlich von Berlin gegen den dort geplanten Bau einer „Gigafactory“ des Autobauers Tesla, mit der längerfristig die Produktion von derzeit 500’000 Fahrzeugen auf eine Million hochgefahren werden soll. „Wasser ist ein Menschenrecht“ steht auf einem Plakat der vor Ort gegen das Projekt opponierenden Menschen, darauf hinweisend, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Umgebung bereits heute mit Wasserrationierungen leben müssten. Auch weisen sie darauf hin, dass die Produktion von E-Autos nur möglich sei dank Kinderarbeit beim Abbau des erforderlichen Kobalts im Kongo, einer massiven Form „neokolonialer Ausbeutung“. Gemäss einer Einwohnerbefragung haben sich 60 Prozent der rund 9000 Einwohnerinnen und Einwohner von Grünheide gegen Teslas Ausbaupläne ausgesprochen. Dessen ungeachtet hat der Gemeinderat von Grünewald entschieden, den Wald an Tesla zu verkaufen. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung haben sich gemäss einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Kiew für Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen. Gleichzeitig hat Präsident Selenski per Dekret jegliche Verhandlungen mit Russland verboten und auf etwaige Versuche in dieser Richtung mit Höchststrafen gedroht. Nicht nur das: Das Ergebnis dieser Umfrage fand auch nie Zugang zur Berichterstattung in den Mainstreammedien, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in allen anderen westlichen Ländern, ebenso wenig wie sämtliche Fakten über die Hintergründe des Maidanputsches, des Anschlags auf die Nordstream-Pipelines, der vom britischen Präsidenten Boris Johnson abgeblockten Friedensverhandlungen, kurz: all dem, was nicht in das Bild der offiziell verbreiteten Täter-Opfer-Logik hineinpasst und dieses all seiner Verzerrungen, Verfälschungen und Lügen entlarven könnte. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Doch wir Schweizerinnen und Schweizer müssen gar nicht so weit über unsere Landesgrenzen hinausschauen. Am 28. November 2021, also vor über zwei Jahren, wurde die sogenannte „Pflegeinitiative“ mit 61 Prozent Zustimmung von der Schweizer Bevölkerung angenommen. Sie hat zum Ziel, die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung des Pflegepersonals zu verbessern, um der zunehmenden Arbeitsbelastung und einem drohenden Fachkräftemangel in diesem für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung so wichtigen und unentbehrlichen Berufssegment entgegenzuwirken. Im Januar 2017 (!) war die Initiative lanciert worden. Während Monaten, ja Jahren investierten Pflegefachleute, unterstützt von einzelnen Parteien und Gewerkschaften, einen grossen Teil ihrer Freizeit in das Sammeln von Unterschriften, mussten starke Überzeugungsarbeit leisten, traten in Podiumsdiskussionen auf, schrieben unzählige Zeitungsartikel und Leserinnenbriefe. Und heute, sieben Jahre später? An der Situation des Pflegepersonals hat sich nichts geändert, im Gegenteil, alles ist noch schlimmer geworden. Der Jubel über den Abstimmungserfolg vom November 2021 ist längst verrauscht, von der Pflegeinitiative und ihren Forderungen ist kaum mehr etwas zu hören. Wenn man nachfragt, heisst es, die Umsetzung sei schwierig. Die Kantone und der Bund schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Umsetzung zu. Die hauptsächliche „Schwierigkeit“ liegt indessen schlicht und einfach in der Tatsache, dass Löhne im kapitalistischen Kosten-Nutzen-Kalkül und dem Dogma des betriebswirtschaftlichen Renditezwangs nie Ausdruck tatsächlich erbrachter Arbeitsleistungen sind, sondern bloss in dem bestehen, was übrigbleibt, wenn der Betrieb alle seine Einnahmen und Aufgaben abgerechnet hat. Immer mehr Pflegefachpersonen hängen heute nach immer kürzerer Zeit ihren meist mit viel Idealismus und Begeisterung begonnenen Job wieder an den Nagel. Es ist, nach allem, nur allzu verständlich, dass sich jene Energie und jene Hoffnung auf bessere Zeiten, die im Jahre 2017 bei der Lancierung der Initiative noch vorhanden waren, im Laufe dieser sieben Jahre in pure Resignation und Hoffnungslosigkeit verwandelt haben. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Die bekannte SP-Politikerin Jacqueline Badran erinnert in der „Sonntagszeitung“ vom 17. März 2024 an weitere demokratisch abgestützte politische Vorstösse, die im Nachhinein entweder gar nicht umgesetzt oder teilweise verwässert worden sind. So etwa wurde das vom Schweizer Volk im März 2015 angenommene Zweitwohnungsgesetz zur Eindämmung der horrend steigenden Wohnungsmieten in Tourismuszentren zugunsten der Immobilienbesitzer und zu Lasten der Mehrheit der ortsansässigen Bevölkerung gegenüber dem ursprünglichen Gesetzestext weitgehend umgekrempelt. Die im Jahre 2021 im Abstimmungskampf zur Trinkwasser- und Pestizidinitiative versprochenen Massnahmen – dank denen man die Initiative erfolgreich bodigen konnte -, wurden anschliessend an die Abstimmung kurzerhand gestrichen, obwohl in diesem Bereich nach wie vor akuter Handlungsbedarf besteht. Auch die in einzelnen Kantonen im Verlaufe der letzten Jahre durch Volksabstimmungen beschlossenen Mindestlöhne sind auf Druck seitens der Arbeitgeberorganisationen inzwischen durch entsprechende Beschlüsse auf Bundesebene im Nachhinein teilweise wieder ausgehebelt worden. Und im ebenfalls demokratisch beschlossenen CO2-Gesetz wurde durch Intervention der Wirtschaftsverbände die Reduktion der Treibhausgasse in Missachtung des Gesetzestextes deutlich verlangsamt. „Ich fasse zusammen“, schreibt Jacqueline Badran, „unsere Verfassung und unsere Demokratie werden mit Füssen getreten. Volksabstimmungen, die den jeweiligen Interessenverbänden nicht passen, werden einfach übersteuert. Fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats werden verhöhnt.“ Unlängst hätte sie einen der bürgerlichen Politiker gefragt, warum dies so geschehen könne. Seine Antwort sei ganz einfach gewesen: Weil sie, die bürgerlichen Parteien zusammen mit den Wirtschaftsverbänden, hierzu eben in der Lage seien, es nicht bemerkt und skandalisiert werde und die, welche es tun, nie zur Rechenschaft gezogen würden. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Nicht einmal vor der vor über 175 Jahren vom Schweizer Volk in Kraft gesetzten Bundesverfassung macht das Umbiegen und Missachten demokratischer Beschlüsse und gesamtgesellschaftlich verankerter Prinzipien Halt. So etwa wird in der schweizerischen Bundesverfassung festgehalten, dass ein Vollzeitlohn für den Lebensunterhalt einer Familie ausreichen müsse, dass jede Familie das Recht auf bezahlbaren Wohnraum haben müsse und dass die Altersrenten zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens im Altern ausreichen müssten. Wie wir alle wissen, ist – mit derzeit rund 160’000 Erwerbstätigen, die trotz Vollzeitarbeit nicht genug für die Deckung der Lebenskosten verdienen, mit einer wachsenden Zahl von Menschen, die kaum noch eine für sie erschwingliche Wohnung finden, und mit Abertausenden betagter Menschen, die aufgrund zu niedriger Altersrenten auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind – bis heute keiner dieser vor 175 Jahren beschlossenen Grund- bzw. Menschenrechte erfüllt, im Gegenteil: Die Anzahl derer, die von diesen Grundrechten ausgeschlossen sind, wird immer grösser. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Auch Regierungen und Parlamente sind alles andere als demokratische Abbilder der Gesamtbevölkerung. Während es vor Akademikern, Juristinnen und Unternehmensberatern nur so wimmelt, wird man einen Hilfsarbeiter, eine Putzfrau oder gar eine Prostituierte wohl kaum je in einer Regierung oder einem Parlament antreffen. Entsprechend orientieren sich Mehrheitsbeschlüsse viel häufiger an den Interessen jener, die ohnehin schon privilegiert sind, als an den Interessen und Bedürfnissen der weniger Privilegierten. Geht es um die Erhöhung von Sitzungsgeldern oder Spesenentschädigungen für Politikerinnen und Politiker, zeigt man sich in der Regel ungleich viel grosszügiger, als wenn es um die Verbesserung von Sozialleistungen für Minderbemittelte geht. Das kostenlose Erstklassabonnement für den öffentlichen Verkehr, opulente Festlichkeiten und Empfänge, kostenlose Skiabonnemente und grosszügige lebenslange Renten für Regierungsmitglieder sind geradezu Selbstverständlichkeiten, während ein wachsender Teil der Bevölkerung von sämtlichen solchen Annehmlichkeiten ebenso selbstverständlich ausgeschlossen sind. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Wenn ich auf der Strasse für eine Initiative zwecks grösserer sozialer Gerechtigkeit Unterschriften sammle, so ist das häufigste Argument jener, die ihre Unterschrift nicht geben möchten: „Es nützt eh nichts, die machen sowieso, was sie wollen.“ Dem zu widersprechen, fällt in der Tat nicht leicht. Leute, die so argumentieren, sind weder zu gleichgültig noch zu faul oder zu passiv, sie haben nur durchschaut, wie das politische Geschäft tatsächlich in aller Regel funktioniert.

Den vielgeschmähten Diktator brauchen wir nicht. Der Kapitalismus erledigt das auch ohne ihn. Dass letztlich ökonomisch bedingtes Profitdenken, Gewinnmaximierung und die egoistischen Interessen der Reichen und Mächtigen, wenn es drauf und dran kommt, stets das letzte Wort haben gegenüber den existenziellen Grundbedürfnissen der Gesamtbevölkerung, daran haben wir uns offensichtlich schon so sehr gewöhnt, dass es uns gar nicht mehr besonders auffällt. Dass unser „Diktator“ in Gestalt des kapitalistischen Ausbeutungssystems zugunsten der Reichen und Mächtigen eben kein einzelner Mensch ist, auf den man mit dem Finger zeigen könnte, macht diesen unsichtbaren Diktator nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil: Unter dem Deckmantel der Demokratie kann er sich sozusagen jede Unverschämtheit leisten. Denn während wir immer noch unsere „Demokratie“ stolz zur Schau tragen, zappeln wir in Tat und Wahrheit doch schon längst an Tausenden unsichtbaren Fäden, die uns von jener ursprünglichen Idealvorstellung einer zutiefst gerechten, demokratischen, menschenwürdigen und friedlichen Welt immer weiter entfernen.

Sich für eine globale Durchsetzung von Menschenrechten stark zu machen, mag ja löblich sein. Aber wenn der Westen, so wie die „NZZ am Sonntag“, Putin zum Vorwurff macht, was sich denn ein Diktator Besseres wünschen könnte, als „die Volksherrschaft auf den Kopf zu stellen“, dann müsste sich dieser gleiche Westen schon ehrlicherweise die Frage gefallen lassen, ob man nicht auch ihm den genau gleichen Vorwurf machen müsste. Bevor wir die russischen „Scheinwahlen“ und das „Fehlen jeglicher echter Demokratie“ unter Putin an den Pranger stellen, täten wir wohl gut daran, zuallererst den eigenen Stall auszumisten…

Versailles, 7. Mai 1664: Vom Sonnenkönig bis zur „Icon of the Seas“…

Dies ist das 5. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Um sechs Uhr abends ging es mit einer Reiterparade los. Ein Herold und drei Pagen, zwölf Trompeter und vier kostbar gekleidete Paukenschläger kamen die grosse Allee vom Schloss zum Apollobassin herunter, gefolgt von Ludwig dem Vierzehnten höchstpersönlich. Er trug ein antikes griechisches Kostüm, das Zaumzeug seines Pferdes starrte nur so vor Gold und Edelsteinen. Es folgte ein riesiger vergoldeter Triumphwagen, auf dem der Sonnengott Apoll thronte. 600 Gäste waren zu diesem Fest eingeladen worden. Nach einem Reiterspiel, bei dem der Bruder von Louise aus den Händen der Königin einen goldenen Degen mit diamantenbesetztem Griff entgegennehmen durfte, folgte ein Ballett. Schliesslich kündigten die vier Jahreszeiten in Gestalt prächtig gekleideter Jünglinge  im Licht von 4000 Fackeln das üppige Souper an, der Frühling auf einem Vollblüter, der Sommer auf einem Elefanten, der Herbst auf einem Kamel und der Winter auf einem Bären. Am Abend des zweiten Tages, den die Gäste mit allerlei Gesellschafts- und Ritterspielen, Spazierfahrten durch die Gartenanlagen und einem Imbiss im Grünen verbracht hatten, führten Ludwigs Hofkomponist Lully und sein Hofdichter Molière zum Ergötzen der Anwesenden vier von musikalischen Einlagen begleitete, eigens für dieses Fest geschaffene Komödien auf…

Dieses grösste jemals am Hof von Versailles gefeierte Spektakel hatte am 7. Mai 1664 begonnen und endete erst sechs Tage später. Es war das erste Fest, das der 26jährige Ludwig der Vierzehnte selber organisiert hatte. Es legte sozusagen den Grundstein für Ludwigs späteren Ruhm als «Sonnenkönig», der als das herausragendste Symbol für das Zeitalter des Absolutismus in die Geschichte Europas und damit auch in die Geschichte des europäischen Kapitalismus eingehen sollte.

Denn während der Sonnenkönig und seine Höflinge in Versailles in Saus und Braus feierten und prassten und das im Übermass Gegessene und Erbrochene von den Dienstmägden laufend wieder weggeputzt werden musste, herrschte im übrigen Frankreich bitterste Armut. Die Menschen auf dem Lande lebten in schäbigen Hütten, litten oft unter Hunger und verfügten kaum über genügend warme Kleider, um sich gegen Unwetter und Kälte zu schützen. Viele hatten nicht einmal eine eigene Behausung und mussten die Nächte in einem Heustall verbringen.

Die meisten Bauersfamilien bewirtschafteten kleine Grundstücke, die aber nicht ihnen selber gehörten, sondern einem Fürsten, einem Grafen oder einem Herzog, der in der betreffenden Region, zumeist in einem prunkvollen Schloss, residierte. Die Bauersfamilien arbeiteten nicht nur auf dem kleinen Grundstück für ihre Eigenversorgung, sondern mussten, in der Regel ohne jegliche Bezahlung, zusätzlich die Felder ihres Grundherrn bestellen. Um die immense Arbeit zu bewältigen, mussten oft schon elfjährige oder noch jüngere Kinder mithelfen, bis zu 14 Stunden pro Tag. Auch konnten die Bauersfamilien von ihrem Landesherrn jederzeit zu zusätzlichen Arbeiten verpflichtet werden, so etwa mussten sie während der Nacht mit Stöcken auf den Fischteich ihres Grundherrn schlagen, um die Frösche, die sonst mit ihrem Gequake den Schlaf der adligen Leute auf dem Schloss gestört hätten, zu vertreiben – um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen. Jagen und Fischen waren ihnen verboten, wer einen Apfel vom Baum seines Grundherrn nahm, musste mit bis zu 30 Stockhieben rechnen.

Von der zur Eigenversorgung dienenden Ernte musste ein Zehntel an den Grundherrn abgegeben werden, zudem ein willkürlich festgelegter Teil an die Geistlichen, nebst einer zusätzlichen Steuer, die an den König zu entrichten war. Viele waren hilflos überschuldet und damit erst recht der Willkür ihrer Herren ausgeliefert. Konnten Schulden nicht bezahlt werden oder machten Gerüchte über einen «schlechten Lebenswandel» von Bauersleuten die Runde, erfolgte zur Strafe nicht selten eine Verbannung, Strafarbeit auf einer Insel oder Versklavung auf einer Galeere, wo die Verurteilten an die Ruder angekettet wurden, mit welchen sie das Schiff bis zur Erschöpfung auf Fahrt halten mussten – Strafen, die alle in reiner Willkür und ohne jegliche Gerichtsverhandlung vom König ausgesprochen worden waren.

Zahlreiche Landesherren verdienten zusätzliches Geld, indem sie Soldaten in die amerikanischen Kolonien verkauften. Weil sich kaum irgendwer hierfür freiwillig zur Verfügung stellte, wurden zu diesem Zwecke eigentliche Menschenfänger eingesetzt, welche geflohene Männer im Wald oder in anderen Verstecken aufzuspüren hatten. Aber nicht nur für den Einsatz in Übersee, sondern auch für die in Europa in grosser Zahl kämpfenden französischen Truppen brauchte es immer wieder Nachwuchs. Wer sich gegen den Kriegsdienst weigerte, wurde oft mit Alkohol willenlos gemacht und zwangsweise in eine Kaserne verschleppt. Wer desertierte, wurde zum Tode verurteilt. Einmal der Truppe zugeteilt, wurden schon kleinste Vergehen wie «Unordnung», «Unpünktlichkeit» oder «Ungehorsam» grausam bestraft. Die Betroffenen mussten mit nacktem Rücken durch die Reihen ihrer Kameraden laufen, welche mit Stöcken auf sie einschlugen, so fest sie konnten, immer wieder kam es dabei zu Todesfällen. (Renate Gerner, Absolutismus & Französische Revolution, 2017, AOL-Verlag)

Das war die «göttliche Ordnung» der absolutistischen Herrschaftsideologie des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich: Für den absolutistischen Herrscher, der seine absolute, uneingeschränkte Machtfülle aus einem gottgegebenen Auftrag ableitete, waren alle Menschen ausser ihm Untertanen. Diese wiederum waren in mit je unterschiedlichen Privilegien ausgestattete «Stände» unterteilt. Der erste Stand war der Klerus, die Geistlichen, etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung. Den zweiten Stand bildete der Adel, etwa eineinhalb Prozent der Bevölkerung. Zum dritten Stand zählten Bürgerfamilien, reiche Kaufleute, Beamte, Rechtsanwälte, Ärzte, Handwerker und Soldaten. Keinem dieser drei Stände gehörte der Rest der Bevölkerung an, also zum Beispiel Tagelöhner, Mägde, Prostituierte und Behinderte. Das Privileg des ersten und des zweiten Standes bestand darin, keine Steuern zahlen zu müssen. Hohe Posten in der Kirche und in der Armee waren ihnen vorbehalten und sie wurden von den Gerichten bevorzugt behandelt. Aufstiegsmöglichkeiten gab es nicht, dem Stand, in den man hineingeboren wurde, gehörte man lebenslang an.

Diese «göttliche Ordnung» begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings zunehmend ins Wanken zu geraten. Insbesondere in akademischen Kreisen wurde immer häufiger die Gerechtigkeitsfrage diskutiert, an manchen Orten entstanden eigentliche philosophische Debattierclubs und die schon bis ins Jahr 1700 zurückgehende geistige Bewegung  der «Aufklärung» orientierte sich zunehmend an der Vernunft und am Hinterfragen bisher allgemein gültiger Glaubenssätze. Dazu kamen immer grössere Finanzprobleme des französischen Staates, vor allem infolge der Ausgaben für den Kolonialkrieg in Nordamerika, und das wachsende Unverständnis darüber, dass dennoch weiterhin rund sechs Prozent der Staatsausgaben für das königliche Hofleben in Versailles aufgewendet wurden und, vor allem, dass der erste und zweite Stand gänzlich von Steuerabgaben befreit waren. Das Fass endgültig zum Überlaufen brachte aber ein Anstieg des Brotpreises bis um das Dreifache im Jahre 1788 infolge einer verheerenden Missernte. Es kam zu ersten Massenprotesten in Paris, Vertreter des dritten Standes forderten gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle und eine Aufhebung der bisherigen Praxis, wonach jeder der drei Stände in der Nationalversammlung über je einen Drittel der gesamten Stimmkraft verfügte und somit der erste und der zweite Stand jederzeit den dritten überstimmen konnten, obwohl dieser 95 Prozent der gesamten Bevölkerung repräsentierte. Die Forderungen der revolutionären Bewegung gipfelten in den Parolen «Liberté», Freiheit, «Égalité», Gleichheit, und «Fraternité», was sich wohl am treffendsten mit «Solidarität» oder «Geschwisterlichkeit» übersetzen lässt.

Der Unmut wurde so gross, dass Vertreter des dritten Standes Bürgermilizen zu organisieren begannen. Es kam zu Plünderungen von Waffenlagern in Paris und am 4. Juli 1789 zum Sturm auf die Bastille, dem ganz besonders verhassten, als Hauptsymbol der absolutistischen Herrschaft geltenden französischen Staatsgefängnis in Paris. Die Ereignisse überschlugen sich in der Folge und die Unruhen griffen nach und nach auf das ganze Land über.

Am 26. August verabschiedete die Nationalversammlung schliesslich die «Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte»: Alle Menschen sind frei und gleich geboren, jede Herrschaft muss vom Volk ausgehen, alle Bürger dürfen frei ihre Meinung sagen, Fronarbeit, Abgaben und die Abhängigkeit der Bauern werden abgeschafft. Am 14. September 1791 wurden die Menschen- und Bürgerrechte mit folgenden Punkten ergänzt und zur französischen Verfassung zusammengefasst: Alle Bürger dürfen alle Ämter und Stellen bekleiden, alle Steuern werden gleichmässig nach dem Vermögen aufgeteilt, für gleiches Vergehen gelten ohne Rücksicht auf den Stand die gleichen Strafen, alle über 25Jährige dürfen wählen, wenn sie eine bestimmte Summe an Steuern bezahlen. Dass hier alles nur in der männlichen Fehler geschrieben steht, ist kein Fehler. Tatsächlich galten alle diese Rechte nur für Männer. Nur die Rechtsphilosophin und Schriftstellerin Olympe de Gouges war so mutig, eine «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» zu veröffentlichen, in der sie die völlig Gleichstellung der Frau mit dem Mann forderte, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Es war in der Tat, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, ein Aufbruch in ein neues Zeitalter. Nicht einmal die Bezeichnungen für die Wochentage und Monate und auch nicht die Aufteilung des Tages in 24 Stunden blieben unangetastet. Man begann sogar mit einer neuen Zeitrechnung: 1792 war nun das «Jahr eins der Gleichheit». Nichts durfte mehr an das Zeitalter des Absolutismus erinnern, vor allem natürlich auch nicht der König: Louis XVI, der zweite Nachfolger des Sonnenkönigs, wurde zum Tode verurteilt und am 21. Januar 1793 öffentlich hingerichtet, es folgte seine Gemahlin Marie-Antoinette am 16. Oktober des gleichen Jahres.

Doch offensichtlich war die Zeit für einen so tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Wandel noch nicht reif genug. Bald brachen unter den unterschiedlichen revolutionären Strömungen heftige Machtkämpfe aus, neue Despoten traten auf: Maximilien de Robespierre, Georges Danton, bald auch schon Napoleon Bonaparte. Innerhalb von nur zwei Jahren kam es zu insgesamt rund 20‘000 Hinrichtungen. «Die Revolution ist wie der römische Gott Saturn», schrieb Pierre Victurnien Vergniaud, einer der führenden Politiker jener Tage, «sie frisst ihre eigenen Kinder.»

Blicken wir im Jahre 2024 auf den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts und die Französische Revolution von 1798 zurück, dann können wir wohl kaum zu einem anderen Schluss kommen, als dass von den Idealen dieser Revolution nicht sehr viel übrig geblieben ist, vom Absolutismus dafür umso mehr. Die «Fraternité», die gegenseitige Solidarität und Geschwisterlichkeit zwischen den Menschen, ist dem Kapitalismus, welcher den Menschen schon von klein auf einbläut, selbst auf Kosten und ohne Rücksicht auf andere für sein persönliches Fortkommen zu kämpfen, geradezu ein Dorn im Auge. Die «Liberté», die Freiheit, ist in einer Welt so grosser sozialer Gegensätze nur noch eine Farce und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nichts anderes denn als Privilegien, welche von den einen nur deshalb genossen werden können, weil sie den anderen vorenthalten sind. Und von echter «Égalité», Gleichheit, sind wir in einer Welt, in der zwischen 2000 und 2023 sämtliche Milliardäre der Welt ihr Vermögen um 3,3, Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden Ärmsten im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben (Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam im Januar 2024), sowieso schon unvergleichlich viel weiter entfernt denn je.

Der Wahnsinn ist, dass man sich offenbar, wenn man nur genug lange nichts anderes kennt, selbst auch noch an das Absurdeste ganz und gar zu gewöhnen vermag. So würde heute wahrscheinlich eher jemand, der sich, im Sinne von «Égalité», für die Einführung eines weltweiten Einheitslohns aussprechen würde, für verrückt erklärt, als jemand, der selbst mit den absurdesten Argumenten so hohe Löhne rechtfertigen würde wie den eines Plantagenbesitzers um 1925 in El Salvador, der etwa 3000 Mal mehr verdiente als einer seiner Landarbeiter, oder den des bestbezahlten CEOs im Schweizer Pharmaunternehmen Roche, der im Jahre 2023 mehr als 300 Mal mehr verdiente als der am schlechtesten Bezahlte in der gleichen Firma.

Doch während die Ideale der Französischen Revolution längst zu Staub zerfallen sind oder im besten Falle noch als wohlklingende Worthülsen in Sonntagspredigten und  Wahlkampfreden von Politikerinnen und Politikern vorkommen, feiern die «Ideale» des Absolutismus aus der Zeit der Sonnenkönige mehr Hochkonjunktur denn je. Im Dezember 2018 organisierte Mukesh Ambani, mit einem geschätzten Vermögen von 49 Milliarden Dollar der reichste Inder, für seine Tochter Isha das grossartigste Hochzeitsfest in der Geschichte seines Landes. Die private Grossveranstaltung schlug alle Rekorde, angefangen beim Verkehr auf dem Flughafen Mumbai: Innerhalb von 24 Stunden gab es 1007 Flugbewegungen, so viele wie nie zuvor in der Geschichte des Flughafens. Darunter befanden sich zahllose Privatflüge des indischen und internationalen Geldadels von und nach Udaipur, wo die Vorhochzeitsparty stattfand. Dort trat nebst anderen Berühmtheiten auch Superstar Beyoncé auf, für eine Gage von geschätzten zwei Millionen Dollar und im Beisein von Hillary Clinton, einer alten Bekannten der Ambani-Familie. Ausserdem befanden sich unter den Gästen zahlreiche Bollywood-Stars und Mitglieder des Bollygarchen-Establishments, die im Zuge der «wirtschaftlichen» Öffnung des Landes märchenhaft reich geworden waren. Kostenpunkt der Hochzeitsfeier: 100 Millionen Dollar. (Tagesanzeiger, 11.12.2018) Und das in einem Land, wo fast ein Fünftel der Bevölkerung unterernährt sind, ein Drittel mit weniger als 1,9 Dollar Einkommen pro Tag auskommen muss und es mehr arme Menschen gibt als in jedem anderen Land der Welt.

Mit Berichten über die weltweiten Ausschweifungen der Reichen und Superreichen liessen sich ganze Bibliotheken füllen: Milliardäre wie Richard Brenson machen mit der eigenen Privatrakete Wochenendausflüge ins Weltall, reiche Europäer und Nordamerikaner kaufen sich ganze Wildpärke in Südafrika mit Zebras, Löwen und Elefanten sowie Dutzenden von Bediensteten rund um die Uhr und an Jubiläumsanlässen von Grosskonzernen werden den Aktionärinnen und Aktionären auf nackten Frauenkörpern ausgelegte, erlesenste Häppchen aus aller Welt dargeboten. Besonders viele Nachkommen der Sonnenkönige sind jeweils am alljährlich in Davos stattfindenden, sogenannten «World Economic Forum» anzutreffen, einige von ihnen lassen sich noch um zwei Uhr nachts von ihren Angestellten zwanzig Hemden bügeln, andere rufen den privaten Butler, um sich von ihm die Schuhe binden zu lassen, fast so wie Ludwig der Vierzehnte, der sich jeden Morgen von etwa sieben Bediensteten einkleiden liess, jeder und jede für ein bestimmtes Kleidungsstück zuständig. Dennoch erscheinen, wenn wir im Internet den Suchbegriff «Absolutismus in der Gegenwart» eingeben, nur folgende Namen: Sultan Hassanat Bulkiah von Brunei, König Mswati der Dritte von Eswatini, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani von Katar, Sultan Haitham ibn Tariq von Oman, König Salman ibn Abd al-Aziz von Saudi-Arabien und Papst Franziskus. Ganz so, als gäbe es nicht weltweit Abermillionen von Geschäftsleuten, Besitzern von Rohstoffkonzernen, Drogenbossen, Börsenspekulanten und Regierungschefs von ganz gewöhnlichen, «demokratischen» Staaten, die ein weit «absolutistischeres» Leben führen, als sich das der Sonnenkönig von Versailles jemals hätte erträumen lassen. Selbst gerade zurzeit in der Ukraine, die sich nach aussen als ein «demokratisches» Land gibt, in dem angeblich alle Bürgerinnen und Bürger füreinander einstehen und sich gemeinsam und solidarisch gegen den russischen «Eindringling» zur Wehr setzen, werden nur die Männer und Frauen aus den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten für den Kriegsdienst rekrutiert, wo viele von ihnen schon ihr Leben verloren haben, andere selbst nach schwersten Verletzungen, kaum sind sie genesen, wieder an die Front geschickt werden und wieder schon seit zwei Jahren pausenlos, bis zur totalen Erschöpfung, im Einsatz sind – während die jungen Männer und Frauen aus der ukrainischen Oberschicht in Mallorca ihre protzigen Autos zur Schau stellen und in den Nachtclubs an den Meeressträngen die ausgelassensten Partys feiern.

Im Sommer 2023 stach die «Icon of the Seas» in See, mit einer Länge von 365 Metern und einer Breite von 50 Metern das grösste je gebaute Kreuzfahrtschiff der Welt, fünfmal so gross wie die am 14. April 1912 infolge des Zusammenpralls mit einem Eisberg südlich von Neufundland untergegangene «Titanic», die ebenfalls das grösste Kreuzfahrtschiff ihrer Zeit gewesen war. Auf dem Oberdeck der «Icon of the Seas» befindet sich mit sechs Wasserrutschen, einer offenen Freifallrutsche sowie einer Flossrutsche, auf der vier Personen gleichzeitig fahren können, der grösste schwimmende Wasserpark der Welt. Mit einem Fassungsvermögen von 150‘000 Litern gibt es hier, nebst 15 etwas kleineren, auch den grössten Pool an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. In einer riesigen Glaskuppel, «Aquadome» genannt, finden Akrobatik- und Tauchshows statt. Zudem gibt es einen künstlichen Wasserfall, ein Dutzend Restaurants und Cafés sowie einen Minigolfplatz und einen Kletterpark. Für Naturbegeisterte bietet die «Icon of the Seas» sogar etwas, was es noch nie auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff gegeben hat: Eine Grünanlage, genannt «Central Park», in der 20‘000 Pflanzen und sogar etliche richtige Bäume wachsen. 2000 Franken kostet ein Platz in einer der Kabinen auf der siebentägigen Rundfahrt von Miami über die karibischen Inseln und Mexiko bis Honduras, eine Suite kann schon mal bis 10‘000 Franken pro Person kosten, Essen und Getränke nicht inbegriffen. (NZZ, 20.7.2023). Ob wohl die Menschen, die sich an Bord der «Icon of the Seas» vergnügen, auch gelegentlich einen Gedanken verschwenden an die Köche im heissen Bauch des Schiffes, die für ihr tägliches leibliches Wohl sorgen, an die Angestellten, die ihre Kabinen rund um die Uhr sauber machen, und an all jene Menschen, welche dieses Schiff gebaut haben?

Gut möglich, dass einige der Reisenden an Bord der «Icon of the Seas» bald auch schon mal ihre Ferien in Frankreich verbringen werden, um dort, wie dereinst der Sonnenkönig, durch die prächtigen Gärten von Versailles zu lustwandeln und anschliessend Dutzende von Gemälden zu bewundern, auf denen der Sonnenkönig in jeglichen Varianten abgebildet ist, aber keine einzige der Mägde, die ihm jeden Morgen die Zähne putzten, und kein einziger der Gärtner, die all die wunderbaren Blumen pflanzten, deren Duft die königlichen Gäste stets so betörte und der auch die heutigen Reisefreudigen immer wieder in Bann zu ziehen vermag. Gut möglich, dass einige der Reisenden auch irgendwann in Peru anzutreffen sein und dort in der Hauptstadt Lima die weltberühmte «Kathedralbasilika St. Johannes» bestaunen werden – ob ihnen die Reiseführerin wohl erzählen wird, dass diese Kathedrale niemals hätte gebaut werden können ohne das Geld, welches aus unzähligen namenlosen Indios, die sich zu Tode quälen mussten, herausgeschunden worden war? Und höchstwahrscheinlich sogar werden einige der Reisenden irgendwann auch in New York von sich und der Freiheitsstatue glückstrahlend Selfies schiessen, vermutlich ohne je an die ursprüngliche Bevölkerung dieses Landes zu denken, deren allerletzten Gesänge freilich schon seit über hundert Jahren in den Weiten der leergefegten Prärien verklungen sind…

Lieber tot mit einer ukrainischen Flagge in der Hand als lebendig mit einer weissen Flagge in der Hand: Wenn man sich neuerdings nicht mehr für den Krieg rechtfertigen muss, sondern für den Frieden…

10. März 2024, 19.30 Uhr, Tagesschau am Schweizer Fernsehen SRF1: „Ein Interview des schweizerischen Senders RSI mit Papst Franziskus“, so wird berichtet, „sorgt international für Aufsehen und Empörung.“ Gezeigt wird ein Ausschnitt des Interviews, in dem der Journalist dem Papst die Frage stellt, ob man seinen Vorschlag für Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt so verstehen könnte, dass die Ukraine die weisse Fahne hissen und damit ihre Kapitulation erklären müsste. Das könne man so nicht beantworten, sagt Papst Franziskus, Stärke läge aber darin, das Leiden des eigenen Volkes wahrzunehmen. Wenn man sähe, dass es nicht gut laufe, dann müsse man halt den Mut aufbringen, Verhandlungen aufzunehmen. „Verhandlungen“, so stellt Papst Franziskus klar, „sind nie Kapitulation.“ Die Ausführungen des Papstes, so wiederholt der Tagesschausprecher, hätten „international für Empörung gesorgt“. Nun wird uns der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba eingeblendet, der, so der Kommentar, „trotzig“ folgende Aussage gemacht habe: „UNSERE FAHNE IST GELB UND BLAU. DAS IST DIE FAHNE, MIT DER WIR LEBEN, STERBEN UND DURCHHALTEN. WIR WERDEN NIE EINE ANDERE FAHNE HISSEN.“ Im Klartext: Lieber mit einer ukrainischen Flagge in der Hand sterben als mit einer weissen Flagge in der Hand überleben. Als nächstes sehen wir die deutsche FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die, so wird vom Tagesschausprecher erklärt, mit folgenden Worten „erzürnt“ zu den Aussagen des Papstes Stellung bezogen habe: „ICH SCHÄME MICH ALS KATHOLIKIN. BEVOR DIE UKRAINISCHEN OPFER DIE WEISSE FLAGGE HISSEN, SOLLTE DER PAPST LAUT UND UNÜBERHÖRBAR DIE BRUTALEN RUSSISCHEN TÄTER AUFFORDERN, IHRE PIRATENFAHNE, DAS SYMBOL FÜR DEN TOD UND DEN SATAN, EINZUHOLEN.“ Am Schluss sieht man den 87jährigen Papst im Rollstuhl, er macht einen schwächlichen Eindruck. Dazu der Kommentar des Sprechers: Das sei nicht das erste Mal, dass sich der Papst zu Friedensfragen geäussert habe, aber normalerweise vermeide er es, die Länder beim Namen zu nennen.

20.00 Uhr. Zum ersten Mal an diesem Abend beginnt sich in meinem Kopf alles zu drehen. Dass Papst Franziskus der Ukraine Friedensverhandlungen vorschlägt, soll allen Ernstes „weltweit für Empörung sorgen“? Hätte er also besser vorschlagen sollen, den Krieg weiterzuführen und weitere Tausende Todesopfer in Kauf zu nehmen? Haben all jene, die ihm nun vorwerfen, die Ukraine zur Kapitulation aufzufordern, denn nicht hingehört? Hat er nicht in aller Deutlichkeit gesagt, Verhandlungen seien „nie eine Kapitulation“, sondern, im Gegenteil, ein „Zeichen von Stärke“? Und war es nicht der Moderator von RSI, der als erster den Begriff der „weissen Flagge“ in den Mund nahm? Und wie kommt die Tagesschauredaktion dazu, mit Kuleba und Strack-Zimmermann ausschliesslich zwei Stimmen Gehör zu verschaffen, welche die Aussagen des Papstes verurteilen, ohne auch nur eine einzige Politikerin oder einen einzigen Politiker zu Wort kommen zu lassen, welche eine gegensätzliche Meinung vertreten? Und weshalb muss den Worten von Kuleba und Strack-Zimmermann sogar noch zusätzlich Gewicht verschafft werden, indem man von „erzürnten“ und „trotzigen“ Worten spricht? Und weshalb gibt es nicht so etwas wie einen neutralen Kommentar seitens des Fernsehens, um etwa die Ungeheuerlichkeit von Kulebas Aussage kritisch zu hinterfragen, wonach ein Toter mit einer ukrainischen Fahne in der Hand einem Lebendigen mit einer weissen Fahne in der Hand vorzuziehen sei? Und weshalb lässt man die Aussage von Strack-Zimmermann über eine angebliche russische „Piratenfahne, Symbol für den Tod und den Satan“ unhinterfragt im Raum stehen? Und weshalb wird nicht auch erwähnt, dass sich gemäss Meinungsumfragen 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung und 67 Prozent der deutschen Bevölkerung für Friedensverhandlungen der Ukraine mit Russland aussprechen?

20.10 Uhr. Meine Internetrecherche beginnt. In der Tat sind Kuleba und Strack-Zimmermann nicht die einzigen „Empörten“. Auch Edgars Rinkevics, der Präsident Lettlands, lässt verlauten: „Man darf vor dem Bösen nicht kapitulieren, man muss es bekämpfen und besiegen.“ Die ukrainische Sicherheitsexpertin Maria Avdeeva sagt: „Unsere Fahne weht in zwei Farben. Weiss gehört nicht zu uns.“ Die deutsche Bundestagsvizepräsidentin Katrin Görig-Eckardt findet: „Wer von der Ukraine verlangt, sich zu ergeben, gibt dem Aggressor, was er sich widerrechtlich geholt hat, und akzeptiert damit die Auslöschung der Ukraine.“ Die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock äussert „grosses Unverständnis“ gegenüber den Aussagen des Papstes, zumal „in diesen Zeiten“. Und der deutsche CDU-Aussenpolitiker Roderich Kiesewetter meint: „Unglaublich, das Oberhaupt der katholischen Kirche stellt sich auf die Seite des Aggressors und liefert damit Putin eine Blaupause für sein weiteres Vorgehen.“ Eine der wenigen Ausnahmen ist Sachsens Ministerpräsident Kretschmer: Er teile den Aufruf von Papst Franziskus, der für ihn ein „besonnener“ Mann sei. Unfassbar, was Papst Franziskus von fast allen Politikern und Politikerinnen, die sich öffentlich zum Thema äussern, in den Mund gelegt wird, was er so nie gesagt und so auch nie gemeint hat. Deutlich hat er zwischen Friedensverhandlungen und Kapitulation unterschieden. Stets hat er auch den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt und immer wieder darauf hingewiesen, dass es für einen Konflikt meistens nicht nur einen einzigen, sondern mehrere Schuldige gäbe. Nie hat er von einer „Auslöschung“ der Ukraine gesprochen. Und obwohl da alles missverstanden wird, was sich nur missverstehen lässt, kommt von fast nirgendwo her eine Gegenstimme, die alles wieder ins Lot bringen und die Diskussion auf eine sachliche Ebene zurückführen könnte.

20.20 Uhr. Ein Blick in die internationale Medienlandschaft bestätigt das Bild. Die ORF-News vermelden: „Papst sorgt für Empörung in der Ukraine.“ In der ARD-Tagesschau verweist die Sprecherin auf eine Aussage des ukrainischen Aussenministers Kuleba, der eine Parallele gezogen hätte zwischen der Sichtweise von Papst Franziskus und der Haltung des Vatikans zur Zeit des Nationalsozialismus. Die „Baslerzeitung“ schreibt, der Papst hätte ein „fragwürdiges Bild“ verwendet, das „seinem Ansinnen schadet“, das Wort „Verhandlungen“ sei ein „mutiges Wort“ und die „weisse Fahne“ sei ein Ausdruck, der „zu Recht Empörung auslöst.“ Die schweizerische Internetzeitung „Watson“ meint, der Papst hätte eine sehr „unglückliche Formulierung“ gewählt. Das schweizerische „Tagblatt“ schreibt: „Papst Franziskus brüskiert die Ukraine.“ Die deutsche „Bild“ spricht von einem „Ratschlag des Papstes“, mit dem sich dieser „blamiert“ habe, ein „dickes Ei drei Wochen vor Ostern.“ Und im schweizerischen Gratisblatt „20minuten“ liest man, Papst Franziskus sei mit seinen Aussagen „in Teufels Küche geraten“. Schlagzeilen wie „Papst beweist Mut“, „Papst spricht Klartext“ oder „Endlich ein klares Bekenntnis zum Frieden“ suche ich vergeblich. Mir schwirrt der Kopf. In was für Zeiten leben wir eigentlich? Für den Krieg muss sich schon längst niemand mehr rechtfertigen, wer Wörter wie „Frieden“, „Verhandlungen“ oder „weisse Flaggen“ in den Mund nimmt, wird dagegen schon fast wie ein Aussätziger behandelt. Am weitesten treibt es die „taz“, gemäss Google-Recherche ein „gutes Beispiel für kritischen und unabhängigen Journalismus“: „Und schon wieder knallen die Champagnerkorken im Kreml. Für den blutrünstigen russischen Diktator läuft es gerade besonders gut. Nun spielt ihm sogar noch der Papst in die Karten. Doch im freien Westen und auch im Vatikan sollten erst wieder die Korken knallen, wenn der Mörder im Kreml aufgibt oder um Verhandlungen fleht.“

20.45 Uhr. Mehr als eine halbe Million Mal wurde ein auf X gezeigter Cartoon geklickt, auf dem der Papst in eine Soutane gekleidet ist, welche oben die Farbe Weiss trägt und unten die Farben Blau und Rot, die Farben der russischen Nationalflagge, der Wolf im Schafspelz sozusagen. Die Angst vor einem Frieden muss schon unermesslich gross sein, wenn so gewaltiges, aus allen Ecken und Enden hervorgezogenes Geschütz dagegen aufgefahren werden muss. Irgendwo zwischen meinen Notizblättern finde ich einen Zettel mit einem Zitat von Herodot, dem bekannten griechischen Geschichtsschreiber aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert: „Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor.“ Mussten 2500 Jahre vergehen und wir sind trotzdem immer noch kein bisschen gescheiter geworden?

21.00 Uhr. Doch endlich, nach all der Kälte, nach all den Paukenschlägen, nach all den Verdrehungen und all den knallenden Champagnerkorken, wird es auf einmal wieder wärmer. Ich schaue mir Onlinekommentare von Leserinnen und Lesern an. Und langsam beginne ich doch wieder an das Gute im Menschen zu glauben. Natürlich treffe ich auch hier auf alle möglichen und noch so absurden Begründungen, weshalb ein Sieg der Ukraine gegen Russland einer Friedenslösung mit gegenseitigen Kompromissen vorzuziehen sei. Aber, ehrlich gesagt, diese Seite interessiert mich gerade jetzt nicht mehr allzu sehr, ich habe sie in zu vielen Fernsehdiskussionen und in zu vielen Zeitungsartikeln und Kommentaren schon über mich ergehen lassen müssen. Ich will jetzt endlich die andere Seite kennenlernen…

Es tut gut, diese Kommentare zu lesen. Wenn etwa AM schreibt: „Der Papst hat dahingehend Recht, dass es Zeit zum Reden ist.“ Und SS: „Er ist der oberste Christ und tut nur das, was sein Glaube von ihm verlangt, nämlich auf direktem Weg die Waffen zum Schweigen zu bringen und das menschliche Leid zu beenden. Er hat nichts mit Geostrategie und Grossmachtpolitik am Hut.“ MH: „Soll er etwa sagen, bitte noch mehr Tote? Die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen, also müssen Verhandlungen eingeleitet werden.“ RH: „Ich sehe in den Aussagen von Papst Franziskus nichts Fragwürdiges. Eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist für keine der Kriegsparteien realistisch, also bleibt doch nur die Verhandlung.“ DF: „Dass dies den Exponenten im Westen nicht gefällt, ist klar. Aber wo er Recht hat, hat er Recht. Er denkt primär an das Leid, das tagtäglich weitergeht, solange Waffen nachgeliefert werden und solange gekämpft wird.“ AS: „Auch wenn es vielen nicht passt, er hat Recht.“ MG: „Schön, dass der Papst als Kirchenmann an den Frieden glaubt. Das wäre der richtige Weg. Die Kirchen sollten vermitteln und nicht die Kriegsfanfaren blasen.“ SA: „Wenn er so weitermacht, bleibe ich noch eine Weile Katholikin.“ MB: „Diese Meinung des Papstes teilen sehr viele Menschen. Doch eine Meinung zum Frieden, zu Kompromissen und zum Mut, dies auszusprechen, ist anscheinend nicht erwünscht. Ich vermute, dass die Mehrheit der Menschen im Krieg diesen Wunsch haben, aber das soll ja nicht die Runde machen. So scheint es mir jedenfalls.“ PH: „Papst Franziskus ist ein sehr weiser Mann. Dass man in den westlichen Medien liest, dass er kein gelernter Diplomat sei bzw. ihm zum Vorwurf gemacht wird, zu Verhandlungen aufzurufen, ist schon sehr dicke Post. Dabei ist es doch Selenski, der per Dekret Verhandlungen verboten hat, was in den westlichen Medien mit eindrücklicher Konstanz ignoriert wird, immer mit dem Verweis, dass man mit Putin nicht verhandeln könne.“ MB: „Ich glaube, der Papst darf seine eigene Meinung haben. Man kann es hinterfragen. Aber zu urteilen, dass er damit schade, finde ich jetzt abgehoben und passend zum Zeitgeist.“ AM: „Was ich so oder so begrüsse: Dass Bruder Franziskus Verhandlungen im Gespräch behält, geschickt oder weniger geschickt, finde ich unwesentlich. Der Krieg muss enden.“ HL: „Vielen Dank, die meisten Menschen weltweit möchten endlich Frieden.“ DW: „Ich finde es sehr gut, dass der Papst offen spricht und kein Blatt vor den Mund nimmt und vor allem zu seiner Meinung steht.“ MB: „Das ist der Papst, was erwarten Sie? Sollte er etwa zur Ausweitung des Krieges aufrufen? Er möchte den Krieg beenden und weitere Tote verhindern, ein legitimes Anliegen. Vielleicht hat er ja noch eine Ahnung von den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und möchte, dass es nicht wieder soweit kommt.“ RS: „Der Papst hat voll Recht. Das Leid, das wir tagtäglich sehen, muss beendet werden und auf dem Schlachtfeld wird das nie passieren. Es ist gut, dass der Papst eben nicht schweigt.“ KS: „Er hat einfach Recht. Reden statt Waffen.“ MK: „Recht hat er.“ HB: „Seine Aussage ist korrekt.“ FB: „Bin kein Fan von diesem Papst, aber diesmal hat er Recht.“ CS: „Das ist sein gutes Recht, seine Meinung zu verkünden. Nicht jeder muss sie teilen. Bei diesem Krieg wird es keinen Gewinner geben. Das sollte langsam mal verstanden werden.“ BB: „Er hat Recht, ohne Verhandlungen wird das für beide Parteien nichts bringen.“ DZ: „Krieg ist Wahnsinn. Er bringt nur Tote und Elend. Gewinnen tun nur die Waffenhändler.“ NG: „Der Papst weiss, dass es immer zwei braucht – sowohl für den Krieg als auch für den Frieden.“ TP: „Der Krieg muss enden. Ob durch die weisse Fahne oder am Tisch. Er muss enden.“ OA: „Der Papst hat diesmal Recht.“ LA: „Das Oberhaupt hat Recht, auch wenn es die Ukraine und viele westliche Regierungen nicht hören wollen. Die Lösung ist nicht ein jahrelanges gegenseitiges Bombardieren, sondern Friedensverhandlungen. Der Krieg ist auf beiden Seiten nicht zu gewinnen.“ UK: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde: Der Papst hat Recht, alles andere ist weltfremd und fordert nur noch mehr Menschenleben.“ CS: „Richtige Botschaft des Papstes. Endlich beginnt ein dringend nötiges Umdenken. Wind of Change sozusagen.“ EI: „Recht hat er.“ DP: „Es gab schon mal einen Papst, der schwieg, dieser aber sagt jetzt mal was und es ist auch wieder nicht recht.“ MS: „Recht hat er, der Pontifex. Sein Aufruf ist das rechte Wort zur rechten Zeit, damit die Kriegstreiber beider Seiten endlich zur Einsicht kommen, nicht nur die Russen und Ukrainer, sondern auch viele kalte Krieger in den USA und Europa.“ ES: „Recht hat der Papst! Der Westen soll endlich einsehen, dass die Ukraine verblutet und ihr Führer sein Volk in den Ruin führt.“ HL: „Vielen Dank, Papst Franziskus. Die meisten Menschen weltweit möchten endlich Frieden.“ AM: „Was Papst Franziskus meint, ist, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Etwas, was die Ukraine derzeit per Dekret noch ausschliesst. Diese Haltung wäre wohl nach zwei Jahren zu überdenken. Ich bin mit Bruder Franziskus völlig einig, dass endlich verhandelt werden sollte. Das würde die Einsicht beider Seiten voraussetzen, dass keiner diese Auseinandersetzung gewinnen kann und das Leid auf beiden Seiten nur weiter zunimmt.“ AS: „Obwohl ich selber kein Fan der katholischen Kirche bin, hat der heilige Vater diesmal nicht ganz unrecht. Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen.“ KB: „Papst Franziskus hat explizit von Verhandlungen gesprochen, nicht von Kapitulation, er wurde also mutwillig falsch verstanden. Und das offensichtlich, weil er sich nicht wortwörtlich an die offizielle westliche Erzählung halten will, die den Menschen suggeriert, dass ein Frieden durch Waffen erreicht werden könnte.“ KS: „Der Westen sollte aufhören, den Krieg zu verlängern, und diese Waffenlieferungen einstellen.“ SP: „Wenn man, wie Papst Franziskus, kurz vor Ostern für Frieden einsteht, kriegt man heutzutage heftige Kritik. Die Menschen sollten wieder mal über die Bücher.“ ML: „Endlich mal was Gutes vom Papst!“ JH: „Bravo. Der Papst sagt es richtig.“ BJ: „Was der Papst sagt, hat was, denn ansonsten bringen die Friedensgespräche im Sommer rein gar nichts.“ WK: „In diesem Fall hat sogar ein Papst einmal Recht.“ FS: „Der Papst hat das gut und richtig gesagt. Jeder vernünftige Mensch versteht, was er sagen will.“ RS: „Zum Glück gibt es immer noch Menschen wie Papst Franziskus, die gegen den Krieg sind.“ EG: „Papst Franziskus hat absolut Recht. Wenn nur auch die Politiker so schlau und weise wären.“ AE: „Verhandlungen sind der einzig richtige und gangbare Weg in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist. Warum noch mehr Menschenleben opfern, es ist den Preis nicht wert.“ ND: „Was ist denn nun falsch an seiner Aussage? Er hat nur gesagt, was sich keiner getraut.“ SS: „Ich kann diese Kritik nicht verstehen. Er meint doch nur, dass man sich an den Tisch setzt, um sich zu einigen.“ EG: „Seine Aussage ist nicht falsch und wahrscheinlich für alle das Beste. Eine Lösung auszuhandeln ist sicher besser als das, was jetzt abgeht. Beide Seiten sind nicht unschuldig an der jetzigen Situation, das gibt es keine Guten und Bösen.“ RP: „Papst Franziskus hat Recht. Die Ukraine und Russland müssen miteinander verhandeln, so dass es eine Win-Win-Situation gibt. Es bringt nichts, wenn man sich aus dem Weg geht. Im Gegenteil, man verliert nur.“ MS: „Wer gesunden Menschenverstand hat, weiss genau, was er gemeint hat.“ DF: „Endlich mal einer, der nicht nur Geld und Waffen liefern will, sondern einen konkreten Weg zu Verhandlungen aufzeigt.“ MH: „Er hat doch komplett Recht. Versucht, einen Frieden auszuhandeln.“ DG: „Er hat Recht. Langsam reicht es.“ ET: „Sonst wird der Papst immer gelobt. Sagt er aber einmal unbequeme Wahrheiten, hagelt es sofort Kritik.“ RE: „Ein Christ, der das Gemetzel beendet sehen will und für Frieden ist. Unerhört.“ RP: „Der Papst hat Recht, und das wissen Sie auch.“ MS: „Er ist eben kein Kriegstreiber. In dieser Hinsicht verhält sich das Oberhaupt der Kirche sehr christlich und richtig.“ PZ: „Der Papst kann nur für Frieden sein. Sein Boss ist Jesus Christus, Friedensfürst – habt ihr das vergessen?“ GS: „Seit Langem kann ich der Meinung der Kirche mal etwas Gutes abgewinnen.“ EE: „Ein Christ tritt für Frieden ein – unfassbar!“ AR: „Danke diesem Papst für seine Worte.“ GP: „Respekt vor dem Papst. Es ist ja wohl seine Aufgabe, für den Frieden zu sein. Kirchendiener, die Waffen tragen, sind fehl am Platz.“ FH: „Sehr oft bin ich mit dem Papst nicht einer Meinung, hier aber hat er Recht. Es ist ein sinnloses Blutvergiessen.“ EB: „Der Papst setzt sich für Frieden ein, was ist denn so schlecht? Lesen Sie die Bibel. Allein die zehn Gebote sollen reichen.“ MB: „Der Papst tut genau das Richtige. Er denkt an die Menschen und das Leid für die Familien der getöteten Zivilisten und Soldaten.“

22.30 Uhr. Selten habe ich die Kluft zwischen „oben“ und „unten“ so krass erlebt. Haben die „hohe Politik“ und die mit ihnen weitgehend gleichgeschalteten Medien so sehr alle Bodenhaftung zu den ganz „normalen“ Menschen in den Fabriken, in den Schulen, am Familientisch, in den Krankenhäusern, all der wohl überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, schon so gänzlich verloren? Oder gibt es da so etwa wie unsichtbare Strippenzieher, die im Hintergrund alles steuern und Menschen, die früher noch selbständig zu denken vermochten, nach und nach in Marionetten verwandelt haben, die nur noch willfährig an ihren Fäden zappeln? Oder ist das Ganze so etwas wie ein Massenphänomen, bei dem alle denken, dass es, wenn alle anderen auch so denken, höchstwahrscheinlich das Richtige sein muss?

23 Uhr. Ich schreibe an die Redaktion der SRF-Tagesschau, verleihe meinem Unmut über eine derart einseitige Berichterstattung in der heutigen Hauptausgabe der Tagesschau Ausdruck und werfe die Frage auf, ob nur hohe Politikerinnen und Politiker und vor allem solche, die man als Hardliner bezeichnen könnte, „wichtige“ Menschen sind, die ihre Meinungen in den Medien kundtun dürfen, oder ob nicht jeder Fabrikarbeiter, jede Blumenverkäuferin, jeder Krankenpfleger, jede Universitätsstudentin und jedes Kind genau so „wichtige“ Menschen sind, deren „einfache“ Wahrheiten es ebenso verdient haben, in der Öffentlichkeit angemessen wahrgenommen zu werden. Ich bin gespannt, was für eine Antwort, wenn überhaupt, ich wohl bekommen werde…

Nachtrag am 14. März: Heute habe ich von SRF eine Antwort auf meine Anfrage bekommen. Sie lautet wie folgt: Wir danken Ihnen für Ihre kritischen Worte. Es freut uns immer, wenn man sich mit unserer Berichterstattung auseinandersetzt.
Um auf Ihre Zuschrift antworten zu können, leiteten wir Ihre Anfrage an Oliver Bono, Koordination TV-News SRF, weiter. Er antwortet Ihnen wie folgt: «Sie haben recht, wenn Sie schreiben, dass Papst Franziskus mit seinen Äusserungen zum Krieg in der Ukraine Mut bewies und Hoffnung verbreiten wollte. Und als Katholik gehe ich mit Ihnen einig, dass genau das eine wichtige Aufgabe des Pontifex Maximus ist. Dennoch ist es unsere Aufgabe, auch Aussagen des Heiligen Vaters kritisch zu hinterfragen – und zwar aus weltlich-politischer und nicht aus religiöser Sicht. Und in dieser Hinsicht gibt es sehr wohl Argumente, die Aussagen des Papstes zu hinterfragen, was wir in der Tagesschau auch getan haben.

Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit

7. März 2024, ausgerechnet am Vorabend des Internationalen Frauentags: Ein diplomatischer Kurier aus Budapest liefert in Washington ein Dokument ab. Es ist die Urkunde, die Ungarns Zustimmung zur Aufnahme Schwedens in die NATO beglaubigt. So wie seit einigen Monaten bereits Finnland, gehört nun also auch Schweden zur nordatlantischen Allianz. Damit wird die Nordostflanke der Allianz massiv verstärkt und die NATO gewinnt deutlich an Kampfkraft, verfügt Schweden doch über eine ausserordentliche militärisch-industrielle Kapazität, so etwa mit dem Schützenpanzer CV90, der als besonders effizient gilt und auch von der Schweizer Armee verwendet wird, mit dem Stridsvagn 122, dem wohl besten Kampfpanzer der Welt, mit den von der eigenen Rüstungsindustrie entwickelten 100 Gripen-Kampfflugzeugen, mit einer ebenfalls in Eigenregie gebauten Flotte hochmoderner U-Boote, die auch in weniger tiefen Wassern agieren können, sowie einem Riesenarsenal an Kleinwaffen und schultergestützten Panzerabwehrwaffen, wo Schweden ebenfalls zur technologischen Weltspitze gehört. Und dieses jetzt schon die meisten anderen NATO-Staaten weit übertreffende militärische Potenzial soll sogar noch weiter ausgebaut werden: Vorausschauend auf den NATO-Beitritt hat die schwedische Regierung ihr Verteidigungsbudget für das Jahr 2024 um 2,2 Milliarden Euro auf über 10 Milliarden Dollar erhöht. Und wie wenn das nicht alles schon mehr als genug wäre, läuft gerade jetzt auch noch mit „Steadfast Defender“ („standhafter Verteidiger“) unter Beteiligung von 90’000 Soldaten im Norden Norwegens, Finnlands und Schwedens das grösste NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Kriegs.

Ein „strategisches Debakel für Putin“ und ein „für einmal wirklich historischer Entscheid“ frohlockt das schweizerische „Tagblatt“ vom 8. März. Mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens werde die Ostsee praktisch zum NATO-Meer. Die NATO sei nun „ein gutes Stück näher vor die Haustüre Russlands gerückt“. Und auch Hubert Wetzel schreibt im „Tagesanzeiger“ vom 8. März voller Begeisterung: „Ein demütigender Tag für Wladimir Putin“, ein „strategisches Desaster“. Putin, der stets von Russlands Stärke schwafle, habe Russland damit erheblich geschwächt und in der kurzen Zeit von zwei Jahren der „ach so bedrohlichen westlichen Allianz“ zwei neue Mitglieder „in die Arme getrieben“. „Erlauben Sie bitte, Wladimir Wladimirowitsch“, schreibt Wetzel, „Ihnen alleruntertänigst zu diesem grossartigen Erfolg gratulieren zu dürfen!“ Und weiter: „Wladimir der Geniale“ sei wohl in Wirklichkeit nur ein „banaler, brutaler Strassenschläger, der gerade so weit denken kann, wie seine Faust reicht.“ Am folgenden Tag lautet die Schlagzeile im „Tagblatt“: „Die Nato lehrt Russland das Fürchten“, es folgt ein eineinhalb Seiten langer Überblick über den „Kräftevergleich“ zwischen NATO und Russland. Aktive Soldaten: NATO 3,4 Millionen, Russland: 1,3 Millionen; Atomwaffen: beide ca. 5800; Kampfjets und Bomber: NATO 4500, Russland 1500; Kampfhubschrauber: NATO 1440, Russland 560; Kampfpanzer: beide ca. 12’500; U-Boote: NATO 143, Russland 65; Zerstörer: NATO 112, Russland 14; Flugzeugträger: NATO 16, Russland 1. Männliche Muskelspiele wie eh und je.

Was eine ganz gewöhnliche Russin, ein ganz gewöhnlicher Russe wohl denken und empfinden wird, wenn sie heute, an diesem 9. März 2024, diese beiden Artikel im schweizerischen „Tagblatt“ oder im „Tagesanzeiger“ lesen würden? Die NATO ist wieder ein gewaltiges Stück näher an uns herangerückt, steht jetzt schon an der längsten Grenze zwischen ihr und uns, fühlt sich bereits als „Sieger“, freut sich, uns „gedemütigt“ zu haben, uns ein „Desaster“ zugefügt zu haben, brüstet sich mit ihrer militärischen Überlegenheit, treibt ihre militärische Aufrüstung – obwohl sie bereits heute über ein 14 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland – dennoch immer weiter in die Höhe, hat rund um unser Land 2000 Militärstützpunkte aufgebaut und überall Raketen aufgestellt, die alle gegen unser Land gerichtet sind, während wir selber gerade mal über weltweit läppische 25 Militärbasen ausserhalb unseres Landes verfügen. Und wenn sich dann der ganz gewöhnliche Russe und die ganz gewöhnliche Russin vielleicht sogar noch daran erinnern, was für Aussagen führende US-Politiker seit Jahrzehnten immer wieder in Bezug auf Russland gemacht haben, wenn sie zum Beispiel davon sprachen, Russlands Wirtschaft „ruinieren“ und das Land „zerstückeln“ zu wollen, dann braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie, um sich vorzustellen, was für Gefühle, was für Gedanken und was für Zukunftsängste dies alles in ihnen auslösen muss. Da braucht ihnen Putin nicht allzu viel zu erklären – darauf kommen sie ganz von selber.

Doch wie ist es möglich, dass die westliche Propagandamaschinerie immer noch so gut funktioniert? Dass fast alle NATO-Länder bei der weiteren Aufrüstungswelle mitmachen und die jeweilige Bevölkerung sogar bereit ist, hierfür massivste Kürzungen bei den Sozialausgaben, bei der Bildung, der Kultur oder bei Massnahmen gegen Klimawandel und Umweltzerstörungen hinzunehmen? Und wie ist zu erklären, dass – im Gegensatz etwa zu 2003 vor dem drohenden Angriff der USA gegen den Irak – kaum irgendwo eine grössere Friedensdemonstration stattfindet und fast an keinem Haus eine Peace-Fahne hängt? Zu erklären ist das wohl nur damit, dass es den westlichen Regierungen und den mit ihr weitgehend gleich geschalteten Medien offensichtlich gelungen ist, ein so hassenswertes Feindbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzubauen, dass jegliches Denken in Kategorien von Vernunft und Differenzierung nach und nach verloren gegangen ist und schon fast niemandem mehr in den Sinn zu kommen scheint, dass man, wenn man Putin als „Mörder“ und „Kriegsverbrecher“ bezeichnet oder ihn gar mit Hitler vergleicht, noch viel bessere Argumente dafür hätte, den früheren US-Präsidenten George W. Bush, der mit dem völkerrechtswidrigen Kriege gegen den Irak eine halbe Million Menschenleben auf dem Gewissen hat, oder den für den gegenwärtigen Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern hauptverantwortlichen israelischen Regierungschef Netanyahu als Mörder und Kriegsverbrecher zu bezeichnen oder sie mit Hitler zu vergleichen.

Das zweite Instrument zur Verhinderung eines kritischen Widerstands ist die Unterdrückung der Wahrheit. Die westlichen Kriegstreiber und Scharfmacher wissen genau, weshalb sie nie an vorderster Stelle erwähnen, wie hoch und heilig führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Russland versprochen hatten, die NATO um „keinen Inch“ weiter nach Osten auszudehnen – um in den folgenden Jahrzehnten genau dieses Versprechen dutzendfach zu brechen. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die Tatsache, dass Putin nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen erfolglos eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur vorschlug, auf keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit gelangen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie daran erinnern, wie vehement sich die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO wehrte, weil dies Russland zu sehr „provozieren“ würde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie sich nach wie vor mit Händen und Füssen gegen eine Aufklärung und höchstwahrscheinliche Mitbeteiligung des Westens mithilfe der CIA am Umsturz der ukrainischen Regierung anfangs 2014 wehren. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie davon sprechen, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorgeschlagen hatte, was diese ohne jegliche Begründung zurückgewiesen hatten. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die kürzlich bekannt gewordene, seit 2014 betriebene Installation von zwölf geheimen CIA-Spionagebasen an der ukrainisch-russischen Grenze auf keinen Fall zu viel Raum in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb möglichst wenige Menschen erfahren sollen, dass eine im März 2022 zwischen der Ukraine und Russland vereinbarte Friedenslösung vom damaligen britischen Premier Boris Johnson vereitelt wurde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb alles daran zu setzen ist, dass die wahren Hintergründe des Anschlags vom September 2022 auf die Nordstream-Pipelines in der Nordsee möglichst nie aufgedeckt werden. Auch wissen sie ganz genau, dass die Meldung, wonach Selenski Friedensverhandlungen mit Russland per Dekret verboten hat, auf keinen Fall in der öffentlichen Meinung zu viel Platz einnehmen darf. Sie wissen auch genau genau, weshalb sie nie erwähnen, dass – gemäss einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Kiew – 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Friedensverhandlungen mit Putin befürworten. Und sie wissen ebenfalls ganz genau, weshalb die vor etwa drei Monaten von US-Aussenminister Blinken gemachte Aussage, wonach es in Ordnung sei, den Krieg in der Ukraine in Anbetracht der dadurch gesicherten Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie möglichst lange weiterzuführen, in der öffentlichen Meinungsbildung auf keinen Fall zu viel Gewicht bekommen sollte. Kämen nämlich alle diese Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit, könnte die öffentliche Meinung rasch umkippen und die bisher aufgebauten Strategien und Feindbilder augenblicklich in sich zusammenbrechen. Das zutiefst Widersprüchliche bei alledem besteht darin, dass westliche Regierungen und Medien ihre Parteinahme für die Ukraine ja nicht zuletzt immer wieder als Parteinahme im Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen begründen, gleichzeitig aber das Recht auf freie Meinungsäusserung und vorurteilsfreie Akzeptanz kontroverser Standpunkte in ihren eigenen Ländern massiv unterbinden oder zumindest erschweren.

Aber selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass tatsächlich Putin alles daran setzen würde, nun ein europäisches Land nach dem andern zu erobern, selbst dann würden die derzeitigen Strategien westlicher Regierungen und Medien keinerlei Sinn machen. Denn heutzutage weiss schon jedes Kind, dass man einen anderen Menschen nur genug lange demütigen, herabwürdigen, kleinmachen und ihn als Bösewicht oder Versager hinstellen muss, um damit nichts anderes zu bewirken, als dass der so Gedemütigte früher oder später zurückschlagen wird, um sich wieder „Recht“ zu verschaffen. Wie zwei Buben auf dem Schulhausplatz: Der eine stichelt und provoziert den anderen so lange, bis dieser „ausrastet“ und seine Faust sausen lässt – worauf das blutende „Opfer“ zum Lehrer rennt und den „Schläger“ der alleinigen Schuld bezichtigt. Die heutige und sich offensichtlich immer mehr verschärfende Logik der westlichen Seite unter dem Vorwand, sich gegen einen zukünftigen Krieg zu wappnen, folgt genau dieser simplen Logik, ein höchst gefährlicher Weg mit grössten Risiken. Denn die tatsächliche Gefahr einer drohenden grossflächigen militärischen Auseinandersetzung wird durch eine Aufrüstung nie da gewesenen Ausmasses, durch die grössten Militärmanöver aller Zeiten und die Verhöhnung und Demütigung des vermeintlich Schwächeren nicht kleiner, sondern, im Gegenteil, viel grösser. „Russland“, schreibt das „Tagblatt“, „schaut dem Treiben aufmerksam zu. Für den Fall, dass NATO-Truppen und -Waffen permanent nach Schweden verlegt würden, kündigte Moskau Gegenmassnahmen politischer und technischer Art an. Was genau das bedeutet, bleibt offen.“ Ja, haben denn die NATO-Verantwortlichen nicht schon vorher überlegt, was passieren könnte? Die kommen mir vor wie ein potenzieller Brandstifter, der zunächst eines, dann immer mehr brennende Streichhölzer hinhält und dann gespannt zuschaut, ob das Haus nun zu brennen beginnt oder nicht.

Gestern wurde der internationale Frauentag begangen. Echt verstandener Feminismus, der sich nicht damit zufrieden gibt, dass Frauen bloss vermehrt in die Fussstapfen eines von Männern bestimmten patriarchalen Machtsystems treten, sondern sich zum Ziel setzen, diese patriarchalen Machtverhältnisse radikal zu überwinden, ist zweifellos die wichtigste politische Bewegung unserer Zeit. Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit.

Zürich, 2. März 2024: Töten ist verboten, deshalb werden Mörder verurteilt. Es sei denn, sie töten in grossen Mengen und zum Klang von Trompeten…

Samstagabend, 2. März 2024, Zürich: Ein 50jähriger Jude wird auf offener Strasse von einem 15Jährigen brutal attackiert und mit einem Messer lebensbedrohlich verletzt. Beim Täter handelt es sich um einen Schweizer mit tunesischen Wurzeln, der offensichtlich islamistisch radikalisiert wurde. Laut des jüdischen Wochenmagazins „Tachles“ soll er geschrien haben: „Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.“ Das schwerverletzte Opfer wird ins Spital eingeliefert, befindet sich aber glücklicherweise bereits am folgenden Tag ausser Lebensgefahr.

Die Tat löst nicht nur in der Schweiz, sondern auch weltweit riesige Empörung aus. Die deutsche „Zeit“ schreibt: „Jetzt muss sich die Schweiz endlich ihrem Antisemitismusproblem stellen.“ Der „Südwestrundfunk“ meldet, auch in Südbaden sei man entsetzt und hätte einen solchen Vorfall in der Schweiz bisher nicht für möglich gehalten. Der deutsche „Stern“ spricht von einem „Fall neuer Dimension“. Und der „Deutschlandfunk“ zitiert eine Presseerklärung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, wonach der „Anstieg des Antisemitismus“ in den vergangenen Monaten eine „erschreckende Eskalationsstufe“ erreicht hätte. „In der ganzen Welt“, so das schweizerische „Tagblatt“, „sorgt diese brutale Tat für Schlagzeilen“, diese Messerattacke sei der „traurige Höhepunkt einer antisemitischen Welle“, von welcher die jüdische Gemeinschaft auch in der Schweiz „überrollt“ werde. Im „Tagesanzeiger“ ist zu lesen: „Dieser Mordversuch muss ein Weckruf sein“ und „eine Zäsur für das ganze Land“, es folgt ein Zitat von Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, mit den Worten, dieses „antisemitische Hassverbrechen“ sei auch ein „Angriff auf die freiheitliche Ordnung der Schweiz“. Auch die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch zeigt sich „absolut schockiert“. Und der Zürcher Sicherheitsdirektor Marion Fehr spricht von einem „feigen und absolut grässlichen Gewaltakt“ und einem „Terroranschlag“.

Zweifellos ist nichts dagegen einzuwenden, wenn eine solche Tat, deren einzige Motivation im Hass auf eine andere Religion oder ein anderes Volk besteht, in aller Deutlichkeit verurteilt und entsprechend bestraft wird. Aber ist diese grosse Empörung und sind Begriffe wie „neue Dimension“, „Zäsur für ein ganzes Land“ oder „Angriff auf die freiheitliche Ordnung“ tatsächlich glaubwürdig, wenn man es mit anderen Bedrohungen, Verbrechen und den hierzu geäusserten Kommentaren und Schlussfolgerungen vergleicht?

Seit dem 7. Oktober 2023 wurden über 30’000 Menschen im Gazastreifen infolge israelischer Bombardierungen getötet, die allermeisten von ihnen, ohne sich auch nur eines geringsten Verbrechens schuldig gemacht zu haben, zwei Drittel der Todesopfer sind Frauen und Kinder, über 70’000 Menschen wurden bisher schon verletzt, rund drei Fünftel aller Häuser sind zerstört, selbst Schulen, Moscheen, Flüchtlingslager und Krankenhäuser werden bombardiert, es fehlt an Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Elektrizität, bereits erreichen uns die ersten Meldungen von Kindern, die verhungert sind. Und unter den Trümmern der zerstörten Häuser werden weitere Abertausende von Todesopfern vermutet. Ja, auch die westlichen Medien kommen nicht daran vorbei, über diese unvorstellbaren Brutalitäten und Verbrechen zu berichten, über diese, man kann es nicht anders sagen, Hölle auf Erden. Aber die Empörung darüber hält sich, wenn man sie mit der Empörung über die Messerattacke eines 15jährigen Islamisten auf einen 50jährigen Juden in Zürich vergleicht, auf nahezu unfassbare Weise in Grenzen. In den am meisten verbreiteten Medien, Zeitungen, Radio, Fernsehen und Onlineportalen des Westens, und ganz besonders auch inmitten der angeblich so friedliebenden und „neutralen“ Schweiz, habe ich jedenfalls, im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern, kaum je etwas von „neuen Dimensionen“, „Weckrufen“, „Zäsuren“ oder „Hassverbrechen“ gelesen, nichts von „Extremismus“ und schon gar nicht von „Terrorismus“. Als wäre dieser Begriff sozusagen reserviert ausschliesslich für Taten von Menschen klar definierter Volks- oder Religionszugehörigkeit, während andere Menschen noch so schlimme Verbrechen begehen können, ohne jemals befürchten zu müssen, als „Terroristen“ bezeichnet zu werden. Wenn ein 15jähriger, aus Tunesien stammender Islamist einen 50jährigen Juden zu töten versucht, ist er ein „Terrorist“. Benjamin Netanyahu und sein Kriegskabinett können Zehntausende von Palästinenserinnen und Palästinensern umbringen, aber weder im „Tagesanzeiger“, in der „NZZ“ oder im „Tagblatt“, noch in der abendlichen Tagesschau am Schweizer Fernsehen oder in irgendeiner Nachrichten- oder Dokumentationssendung im Radio habe ich jemals gehört oder gelesen, dass Netanyahu und seine Kumpanen als „Terroristen“ bezeichnet worden wären. Offensichtlich hat dies nicht einmal nur mit der Tatsache zu tun, dass, vermutlich so ganz unbewusst und unterschwellig, das eine unsere „Freunde“ sind und das andere unsere „Feinde“, sondern höchstwahrscheinlich auch damit, dass Töten im Krieg und das Töten eines einzelnen Menschen in einem „friedlichen“ Land auf völlig unbegreifliche und irrationale Weise als zwei ganz grundsätzlich verschiedene Dinge angeschaut werden. So, wie es der bekannte Philosoph Voltaire schon vor dreihundert Jahren festgestellt hatte: „Töten ist verboten, deshalb werden Mörder verurteilt. Es sei denn, sie töten in grossen Mengen und zum Klang von Trompeten.“

Wir können uns aber auch noch ganz andere Beispiele vor Augen führen, die sich jeglicher Logik und Verhältnismässigkeit voll und ganz entziehen. Auf der einen Seite der Aufschrei über die Tat vom 2. März in Zürich. Auf ganze drei (!) vergleichbare Fälle kommen wir, wenn wir auf die vergangenen 13 Jahre zurückschauen: Nebst der Messerattacke vom 2. März 2024 kam es im November 2020 zu einem Vorfall in Lugano, wo sich eine Frau in einer Manor-Filiale ein Messer schnappte und zwei andere Frauen verletzte. Der dritte Vorfall datiert aus dem Jahre 2001, als der Rabbiner Abraham Grünbaum auf dem Weg zum Abendgebet in der Synagoge des Zürcher Stadtteils Aussersihl mit zwei Schüssen aus nächster Nähe von einem Unbekannten niedergestreckt wurde, der Täter und die Tatgründe konnten allerdings bis heute nicht ermittelt werden. Gleichzeitig werden jeden Monat in der Schweiz durchschnittlich zwei Frauen von ihren eigenen Männern umgebracht – sogenannte „Femizide“, die auch nicht ansatzweise eine so grosse Empörung und Betroffenheit auslösen wie der antisemitische Vorfall vom 2. März 2024. Hier kommt vermutlich noch ein weiterer Mechanismus ins Spiel: Was häufig geschieht und woran man sich mit der Zeit immer mehr gewöhnt, führt praktisch nie zu einem medialen Aufschrei und damit auch nie zu einer vergleichbaren Empörung der Öffentlichkeit. Das heisst nichts anderes, als dass in der Schweiz begangene antisemitische Gewalttätigkeiten eben gerade deshalb ein so grosses mediales Echo auslösen, weil sie so selten sind, und nicht deshalb, weil sie besonders häufig wären. Während auf der anderen Seite kaum je über die Gewaltdelikte all jener jüdischen Siedler im Westjordanland berichtet wird, welche die palästinensische Zivilbevölkerung seit Jahrzehnten systematisch aus ihren angestammten Wohngebieten vertreiben. Und auch nur höchst selten eine Schlagzeile oder ein Zeitungsartikel daran erinnern, dass jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Wollten die Medien darüber berichten, dann müssten sie nämlich auch darüber informieren, weshalb diese vielen Kinder tagtäglich eines qualvollen Todes sterben, nämlich ganz einfach deshalb, weil das kapitalistische, auf reine Profitmaximierung ausgerichtete Weltwirtschaftssystem dazu führt, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen lässt, sodass die Menschen in den reichen Ländern in Hülle und Fülle Lebensmittel essen, welche auf jenen Böden angebaut wurden, die ursprünglich der Selbstversorgung der dortigen Bevölkerung dienten. Und sie müssten sich dann wohl auch damit auseinandersetzen, ob all jene, die über diese Zusammenhänge Bescheid wissen – und wer sollte in einer Zeit absoluter globaler Wissenszugänglichkeit darüber nicht Bescheid wissen – und sich dennoch nicht für notwendige politische Veränderungen einsetzen, nicht auch am täglichen Tod dieser 10’000 Kinder mitschuldig sind. Und auf einmal wäre dann die Frage, welche nun die tatsächlichen „Terroristen“ sind und welche nicht, möglicherweise nicht mehr ganz so eindeutig zu beantworten.

Auffallend ist auch, wie unterschiedlich die beiden Konfliktparteien – israelische Regierungspolitik auf der einen, palästinensische Zivilbevölkerung auf der anderen Seite – in der Öffentlichkeit zu Wort kommen. Während schon bald jedes Kind das Gesicht von Jonathan Kreutner, dem Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, kennt, der in gefühlt jedem zweiten „Club“ am Schweizer Fernsehen einen Auftritt hat, bei jedem Vorfall und zu jedem Thema stets als Erster interviewt wird, selbstverständlich immer an den betreffenden Medienkonferenzen teilnimmt und immer wieder neben Zeitungsartikeln ein eigenes Kästchen mit Bild bekommt, um dort seine Meinung kundzutun, fehlt auf der palästinensischen Seite eine entsprechende Gegenstimme und ein eigener offizieller Repräsentant ganz und gar, und dies in einem Land, das sich „demokratisch“ nennt und für die individuelle Gedanken- und Meinungsfreiheit besonders bekannt sein will. Man kommt um den Verdacht nicht herum, dass es, um in der Öffentlichkeit möglichst viel Gewicht zu haben, irgendwo im Hintergrund eine besonders starke Lobby braucht.

„Man muss thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen“ – dies eine der am deutlichsten mit grossen Lettern hervorgehobenen Schlagzeilen, die ich im Verlaufe der letzten Tage im „Tagesanzeiger“ gefunden habe, dazu ein Interview mit dem sogenannten „Extremismusexperten“ Dirk Baier von der Universität Zürich. Nur schon der Titel suggeriert einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Islam als Religion und den von Islamisten verübten Terrorattacken. Das Allermindeste an journalistischer Sorgfalt würde darin bestehen, präzise zu unterscheiden zwischen einer Religion als Ganzer und Extremisten, welche unter dem Deckmantel einer Religion Verbrechen begehen. Es würde doch wohl auch niemandem einfallen, das Christentum als Ganzes als Verbrechen zu bezeichnen, nur weil Extremisten im Laufe der Geschichte in seinem Namen Verbrechen wie die Kreuzzüge, die gewaltsame Christianisierung der amerikanischen Urbevölkerung, die Inquisition oder die Hexenverbrennungen begingen. Nur beim Islam scheint es salonfähig zu sein, moderate und extremistische Strömungen unbesehen in den gleichen Topf zu werfen. Und dies, obwohl aufgrund einer Umfrage im Jahre 2018 festgestellt werden konnte, dass nicht einmal drei Prozent aller 17- bis 18jährigen Muslime in der Schweiz islamistisches Gedankengut teilen. Selbst wenn es heute doppelt so viele wären, es wäre immer noch eine verschwindend kleine Minderheit. Wer eine solche Aussage wie im Titel des erwähnten Artikels im „Tagesanzeiger“ macht, handelt grobfahrlässig. Statt zu differenzieren und zu mässigen, werden Ängste und Feindbilder geschürt. Und alle Muslime, die sich um ein friedliches Zusammenleben und um Toleranz bemühen, müssen sich zutiefst verletzt fühlen, wenn sie mit einer solchen Tat, wie sie am 2. März in Zürich begangen wurde, in Verbindung gebracht werden, so als wäre jeder Muslim ein potenzieller Verbrecher bzw. Terrorist. Und wenn jetzt sogar noch vom „Extremismusexperten“ Dirk Baier gefordert wird, „solche Vorfälle“ seien eine „Aufforderung an die muslimischen Gemeinschaften, sich kritisch zu hinterfragen“ und es sei abzuklären, ob der Täter jemals in einer Moschee hier in der Schweiz gewesen sei, ob er einen „Bezug zur muslimischen Gemeinschaft“ gehabt hätte und wie die „muslimische Religionsausbildung“ funktioniere, so schlägt dies dem Fass erst recht den Boden aus. Denn es käme wohl auch niemandem in den Sinn, vom Bümplizer Kegelverein oder vom Stanser Jodelclub eine Erklärung bzw. Distanzierung von den zahllosen von Männern begangenen Femiziden zu fordern, nur weil die Mitglieder dieser Gruppierungen ausschliesslich Männer sind und jeder Mann ein potenzieller Frauenmörder sei. Mit solchen pauschalen Schuldzuweisungen wird paradoxerweise der Rassismus, den man angeblich bekämpfen will, selber in einem fast noch höheren Ausmass betrieben als von jenen, denen man ihn zum Vorwurf macht.

„Der 7. Oktober, der Angriff der Hamas, hat ganz klar eine Tür geöffnet“, schreibt der „Tagesanzeiger“. Und in der Gratiszeitung „20minuten“ ist zu lesen: „Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat sich die Sicherheitslage auch für die in der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden verschlechtert.“ Völlig realitätsverzerrend sind auch solche Aussagen, würde dies im Klartext doch bedeuten, die von der Hamas verübte Gewalt hätte sozusagen auch andere Muslime dazu inspiriert, ihrerseits Gewalt gegen Jüdinnen und Juden anzuwenden. Tatsächlich ist doch genau das Gegenteil der Fall: Wenn antisemitische Tendenzen seitens von Muslimen zugenommen haben, dann nicht wegen der Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober 2023, sondern vielmehr wegen des israelischen Rachefeldzugs gegen das palästinensische Volk und das erklärte Ziel der heutigen israelischen Regierung, die Palästinenserinnen und Palästinenser gewaltsam aus ihren angestammten Wohngebieten zu vertreiben.

„Je mehr man sich darin einig ist, wer der Feind ist, desto eher ist man auch bereit, ihn abzuwerten, zu entmenschlichen und anzugreifen“ – was der „Extremismusexperte“ Dirk Baier hier zum Besten gibt und damit natürlich einzig und allein die Muslime meint und sie mit diesen Worten sozusagen unter Generalverdacht stellt, trifft freilich auf die Gegenseite genauso und wohl in noch weit höherem Ausmass zu: Würde die israelische Regierung nicht sämtliche Schuld am palästinensisch-israelischen Konflikt zu hundert Prozent den Palästinenserinnen und Palästinensern in die Schuhe schieben und hätte sie nicht sämtliche Palästinenserinnen und Palästinenser, so wie es seitens der israelischen Regierung mehrfach geäussert wurde, als „Tiere“ oder „Hunde“ bezeichnet – und damit buchstäblich „entmenschlicht“ -, gäbe es für die Mehrheit der Bevölkerung Israels wohl kaum die moralische „Rechtfertigung“ für den israelischen Rachefeldzug gegen das palästinensische Volk, dem bisher rund 30 Mal mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als durch die Attacke der Hamas vom 7. Oktober 2023.

„Der Konflikt zwischen Juden und Muslimen wurde durch den Angriff der Hamas wieder präsent“, so Dirk Baier, und dies treffe auch auf die „Vorfälle danach zu, als Israel in Palästina einmarschierte. Solche Ereignisse, die man als gesellschaftliche Missstände deuten kann, sind Teil des Radikalisierungsprozesses bis hin zur Gewaltbereitschaft gegenüber Jüdinnen und Juden.“ Aha. Die Messerattacke eines 15Jährigen mit tunesischen Wurzeln gegen einen 50jährigen Juden ist ein „Terrorakt“ und wird, obwohl das Opfer die Tat überlebte, höchstwahrscheinlich mit der Ausbürgerung des Täters bestraft. Wenn „reinrassige“ Schweizer ihre eigenen Frauen töten, gehört so etwas zum ganz normalen Alltag. Und die planmässige Ermordung von über 30’000 palästinensischen Kindern, Frauen und Männer ist – Gott bewahre! – kein Völkermord, sondern ein „gesellschaftlicher Missstand“. So lehrreich war meine Zeitungslektüre schon lange nicht mehr…