Versailles, 7. Mai 1664: Vom Sonnenkönig bis zur „Icon of the Seas“…

Dies ist das 5. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Um sechs Uhr abends ging es mit einer Reiterparade los. Ein Herold und drei Pagen, zwölf Trompeter und vier kostbar gekleidete Paukenschläger kamen die grosse Allee vom Schloss zum Apollobassin herunter, gefolgt von Ludwig dem Vierzehnten höchstpersönlich. Er trug ein antikes griechisches Kostüm, das Zaumzeug seines Pferdes starrte nur so vor Gold und Edelsteinen. Es folgte ein riesiger vergoldeter Triumphwagen, auf dem der Sonnengott Apoll thronte. 600 Gäste waren zu diesem Fest eingeladen worden. Nach einem Reiterspiel, bei dem der Bruder von Louise aus den Händen der Königin einen goldenen Degen mit diamantenbesetztem Griff entgegennehmen durfte, folgte ein Ballett. Schliesslich kündigten die vier Jahreszeiten in Gestalt prächtig gekleideter Jünglinge  im Licht von 4000 Fackeln das üppige Souper an, der Frühling auf einem Vollblüter, der Sommer auf einem Elefanten, der Herbst auf einem Kamel und der Winter auf einem Bären. Am Abend des zweiten Tages, den die Gäste mit allerlei Gesellschafts- und Ritterspielen, Spazierfahrten durch die Gartenanlagen und einem Imbiss im Grünen verbracht hatten, führten Ludwigs Hofkomponist Lully und sein Hofdichter Molière zum Ergötzen der Anwesenden vier von musikalischen Einlagen begleitete, eigens für dieses Fest geschaffene Komödien auf…

Dieses grösste jemals am Hof von Versailles gefeierte Spektakel hatte am 7. Mai 1664 begonnen und endete erst sechs Tage später. Es war das erste Fest, das der 26jährige Ludwig der Vierzehnte selber organisiert hatte. Es legte sozusagen den Grundstein für Ludwigs späteren Ruhm als «Sonnenkönig», der als das herausragendste Symbol für das Zeitalter des Absolutismus in die Geschichte Europas und damit auch in die Geschichte des europäischen Kapitalismus eingehen sollte.

Denn während der Sonnenkönig und seine Höflinge in Versailles in Saus und Braus feierten und prassten und das im Übermass Gegessene und Erbrochene von den Dienstmägden laufend wieder weggeputzt werden musste, herrschte im übrigen Frankreich bitterste Armut. Die Menschen auf dem Lande lebten in schäbigen Hütten, litten oft unter Hunger und verfügten kaum über genügend warme Kleider, um sich gegen Unwetter und Kälte zu schützen. Viele hatten nicht einmal eine eigene Behausung und mussten die Nächte in einem Heustall verbringen.

Die meisten Bauersfamilien bewirtschafteten kleine Grundstücke, die aber nicht ihnen selber gehörten, sondern einem Fürsten, einem Grafen oder einem Herzog, der in der betreffenden Region, zumeist in einem prunkvollen Schloss, residierte. Die Bauersfamilien arbeiteten nicht nur auf dem kleinen Grundstück für ihre Eigenversorgung, sondern mussten, in der Regel ohne jegliche Bezahlung, zusätzlich die Felder ihres Grundherrn bestellen. Um die immense Arbeit zu bewältigen, mussten oft schon elfjährige oder noch jüngere Kinder mithelfen, bis zu 14 Stunden pro Tag. Auch konnten die Bauersfamilien von ihrem Landesherrn jederzeit zu zusätzlichen Arbeiten verpflichtet werden, so etwa mussten sie während der Nacht mit Stöcken auf den Fischteich ihres Grundherrn schlagen, um die Frösche, die sonst mit ihrem Gequake den Schlaf der adligen Leute auf dem Schloss gestört hätten, zu vertreiben – um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen. Jagen und Fischen waren ihnen verboten, wer einen Apfel vom Baum seines Grundherrn nahm, musste mit bis zu 30 Stockhieben rechnen.

Von der zur Eigenversorgung dienenden Ernte musste ein Zehntel an den Grundherrn abgegeben werden, zudem ein willkürlich festgelegter Teil an die Geistlichen, nebst einer zusätzlichen Steuer, die an den König zu entrichten war. Viele waren hilflos überschuldet und damit erst recht der Willkür ihrer Herren ausgeliefert. Konnten Schulden nicht bezahlt werden oder machten Gerüchte über einen «schlechten Lebenswandel» von Bauersleuten die Runde, erfolgte zur Strafe nicht selten eine Verbannung, Strafarbeit auf einer Insel oder Versklavung auf einer Galeere, wo die Verurteilten an die Ruder angekettet wurden, mit welchen sie das Schiff bis zur Erschöpfung auf Fahrt halten mussten – Strafen, die alle in reiner Willkür und ohne jegliche Gerichtsverhandlung vom König ausgesprochen worden waren.

Zahlreiche Landesherren verdienten zusätzliches Geld, indem sie Soldaten in die amerikanischen Kolonien verkauften. Weil sich kaum irgendwer hierfür freiwillig zur Verfügung stellte, wurden zu diesem Zwecke eigentliche Menschenfänger eingesetzt, welche geflohene Männer im Wald oder in anderen Verstecken aufzuspüren hatten. Aber nicht nur für den Einsatz in Übersee, sondern auch für die in Europa in grosser Zahl kämpfenden französischen Truppen brauchte es immer wieder Nachwuchs. Wer sich gegen den Kriegsdienst weigerte, wurde oft mit Alkohol willenlos gemacht und zwangsweise in eine Kaserne verschleppt. Wer desertierte, wurde zum Tode verurteilt. Einmal der Truppe zugeteilt, wurden schon kleinste Vergehen wie «Unordnung», «Unpünktlichkeit» oder «Ungehorsam» grausam bestraft. Die Betroffenen mussten mit nacktem Rücken durch die Reihen ihrer Kameraden laufen, welche mit Stöcken auf sie einschlugen, so fest sie konnten, immer wieder kam es dabei zu Todesfällen. (Renate Gerner, Absolutismus & Französische Revolution, 2017, AOL-Verlag)

Das war die «göttliche Ordnung» der absolutistischen Herrschaftsideologie des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich: Für den absolutistischen Herrscher, der seine absolute, uneingeschränkte Machtfülle aus einem gottgegebenen Auftrag ableitete, waren alle Menschen ausser ihm Untertanen. Diese wiederum waren in mit je unterschiedlichen Privilegien ausgestattete «Stände» unterteilt. Der erste Stand war der Klerus, die Geistlichen, etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung. Den zweiten Stand bildete der Adel, etwa eineinhalb Prozent der Bevölkerung. Zum dritten Stand zählten Bürgerfamilien, reiche Kaufleute, Beamte, Rechtsanwälte, Ärzte, Handwerker und Soldaten. Keinem dieser drei Stände gehörte der Rest der Bevölkerung an, also zum Beispiel Tagelöhner, Mägde, Prostituierte und Behinderte. Das Privileg des ersten und des zweiten Standes bestand darin, keine Steuern zahlen zu müssen. Hohe Posten in der Kirche und in der Armee waren ihnen vorbehalten und sie wurden von den Gerichten bevorzugt behandelt. Aufstiegsmöglichkeiten gab es nicht, dem Stand, in den man hineingeboren wurde, gehörte man lebenslang an.

Diese «göttliche Ordnung» begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings zunehmend ins Wanken zu geraten. Insbesondere in akademischen Kreisen wurde immer häufiger die Gerechtigkeitsfrage diskutiert, an manchen Orten entstanden eigentliche philosophische Debattierclubs und die schon bis ins Jahr 1700 zurückgehende geistige Bewegung  der «Aufklärung» orientierte sich zunehmend an der Vernunft und am Hinterfragen bisher allgemein gültiger Glaubenssätze. Dazu kamen immer grössere Finanzprobleme des französischen Staates, vor allem infolge der Ausgaben für den Kolonialkrieg in Nordamerika, und das wachsende Unverständnis darüber, dass dennoch weiterhin rund sechs Prozent der Staatsausgaben für das königliche Hofleben in Versailles aufgewendet wurden und, vor allem, dass der erste und zweite Stand gänzlich von Steuerabgaben befreit waren. Das Fass endgültig zum Überlaufen brachte aber ein Anstieg des Brotpreises bis um das Dreifache im Jahre 1788 infolge einer verheerenden Missernte. Es kam zu ersten Massenprotesten in Paris, Vertreter des dritten Standes forderten gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle und eine Aufhebung der bisherigen Praxis, wonach jeder der drei Stände in der Nationalversammlung über je einen Drittel der gesamten Stimmkraft verfügte und somit der erste und der zweite Stand jederzeit den dritten überstimmen konnten, obwohl dieser 95 Prozent der gesamten Bevölkerung repräsentierte. Die Forderungen der revolutionären Bewegung gipfelten in den Parolen «Liberté», Freiheit, «Égalité», Gleichheit, und «Fraternité», was sich wohl am treffendsten mit «Solidarität» oder «Geschwisterlichkeit» übersetzen lässt.

Der Unmut wurde so gross, dass Vertreter des dritten Standes Bürgermilizen zu organisieren begannen. Es kam zu Plünderungen von Waffenlagern in Paris und am 4. Juli 1789 zum Sturm auf die Bastille, dem ganz besonders verhassten, als Hauptsymbol der absolutistischen Herrschaft geltenden französischen Staatsgefängnis in Paris. Die Ereignisse überschlugen sich in der Folge und die Unruhen griffen nach und nach auf das ganze Land über.

Am 26. August verabschiedete die Nationalversammlung schliesslich die «Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte»: Alle Menschen sind frei und gleich geboren, jede Herrschaft muss vom Volk ausgehen, alle Bürger dürfen frei ihre Meinung sagen, Fronarbeit, Abgaben und die Abhängigkeit der Bauern werden abgeschafft. Am 14. September 1791 wurden die Menschen- und Bürgerrechte mit folgenden Punkten ergänzt und zur französischen Verfassung zusammengefasst: Alle Bürger dürfen alle Ämter und Stellen bekleiden, alle Steuern werden gleichmässig nach dem Vermögen aufgeteilt, für gleiches Vergehen gelten ohne Rücksicht auf den Stand die gleichen Strafen, alle über 25Jährige dürfen wählen, wenn sie eine bestimmte Summe an Steuern bezahlen. Dass hier alles nur in der männlichen Fehler geschrieben steht, ist kein Fehler. Tatsächlich galten alle diese Rechte nur für Männer. Nur die Rechtsphilosophin und Schriftstellerin Olympe de Gouges war so mutig, eine «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» zu veröffentlichen, in der sie die völlig Gleichstellung der Frau mit dem Mann forderte, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Es war in der Tat, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, ein Aufbruch in ein neues Zeitalter. Nicht einmal die Bezeichnungen für die Wochentage und Monate und auch nicht die Aufteilung des Tages in 24 Stunden blieben unangetastet. Man begann sogar mit einer neuen Zeitrechnung: 1792 war nun das «Jahr eins der Gleichheit». Nichts durfte mehr an das Zeitalter des Absolutismus erinnern, vor allem natürlich auch nicht der König: Louis XVI, der zweite Nachfolger des Sonnenkönigs, wurde zum Tode verurteilt und am 21. Januar 1793 öffentlich hingerichtet, es folgte seine Gemahlin Marie-Antoinette am 16. Oktober des gleichen Jahres.

Doch offensichtlich war die Zeit für einen so tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Wandel noch nicht reif genug. Bald brachen unter den unterschiedlichen revolutionären Strömungen heftige Machtkämpfe aus, neue Despoten traten auf: Maximilien de Robespierre, Georges Danton, bald auch schon Napoleon Bonaparte. Innerhalb von nur zwei Jahren kam es zu insgesamt rund 20‘000 Hinrichtungen. «Die Revolution ist wie der römische Gott Saturn», schrieb Pierre Victurnien Vergniaud, einer der führenden Politiker jener Tage, «sie frisst ihre eigenen Kinder.»

Blicken wir im Jahre 2024 auf den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts und die Französische Revolution von 1798 zurück, dann können wir wohl kaum zu einem anderen Schluss kommen, als dass von den Idealen dieser Revolution nicht sehr viel übrig geblieben ist, vom Absolutismus dafür umso mehr. Die «Fraternité», die gegenseitige Solidarität und Geschwisterlichkeit zwischen den Menschen, ist dem Kapitalismus, welcher den Menschen schon von klein auf einbläut, selbst auf Kosten und ohne Rücksicht auf andere für sein persönliches Fortkommen zu kämpfen, geradezu ein Dorn im Auge. Die «Liberté», die Freiheit, ist in einer Welt so grosser sozialer Gegensätze nur noch eine Farce und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nichts anderes denn als Privilegien, welche von den einen nur deshalb genossen werden können, weil sie den anderen vorenthalten sind. Und von echter «Égalité», Gleichheit, sind wir in einer Welt, in der zwischen 2000 und 2023 sämtliche Milliardäre der Welt ihr Vermögen um 3,3, Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden Ärmsten im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben (Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam im Januar 2024), sowieso schon unvergleichlich viel weiter entfernt denn je.

Der Wahnsinn ist, dass man sich offenbar, wenn man nur genug lange nichts anderes kennt, selbst auch noch an das Absurdeste ganz und gar zu gewöhnen vermag. So würde heute wahrscheinlich eher jemand, der sich, im Sinne von «Égalité», für die Einführung eines weltweiten Einheitslohns aussprechen würde, für verrückt erklärt, als jemand, der selbst mit den absurdesten Argumenten so hohe Löhne rechtfertigen würde wie den eines Plantagenbesitzers um 1925 in El Salvador, der etwa 3000 Mal mehr verdiente als einer seiner Landarbeiter, oder den des bestbezahlten CEOs im Schweizer Pharmaunternehmen Roche, der im Jahre 2023 mehr als 300 Mal mehr verdiente als der am schlechtesten Bezahlte in der gleichen Firma.

Doch während die Ideale der Französischen Revolution längst zu Staub zerfallen sind oder im besten Falle noch als wohlklingende Worthülsen in Sonntagspredigten und  Wahlkampfreden von Politikerinnen und Politikern vorkommen, feiern die «Ideale» des Absolutismus aus der Zeit der Sonnenkönige mehr Hochkonjunktur denn je. Im Dezember 2018 organisierte Mukesh Ambani, mit einem geschätzten Vermögen von 49 Milliarden Dollar der reichste Inder, für seine Tochter Isha das grossartigste Hochzeitsfest in der Geschichte seines Landes. Die private Grossveranstaltung schlug alle Rekorde, angefangen beim Verkehr auf dem Flughafen Mumbai: Innerhalb von 24 Stunden gab es 1007 Flugbewegungen, so viele wie nie zuvor in der Geschichte des Flughafens. Darunter befanden sich zahllose Privatflüge des indischen und internationalen Geldadels von und nach Udaipur, wo die Vorhochzeitsparty stattfand. Dort trat nebst anderen Berühmtheiten auch Superstar Beyoncé auf, für eine Gage von geschätzten zwei Millionen Dollar und im Beisein von Hillary Clinton, einer alten Bekannten der Ambani-Familie. Ausserdem befanden sich unter den Gästen zahlreiche Bollywood-Stars und Mitglieder des Bollygarchen-Establishments, die im Zuge der «wirtschaftlichen» Öffnung des Landes märchenhaft reich geworden waren. Kostenpunkt der Hochzeitsfeier: 100 Millionen Dollar. (Tagesanzeiger, 11.12.2018) Und das in einem Land, wo fast ein Fünftel der Bevölkerung unterernährt sind, ein Drittel mit weniger als 1,9 Dollar Einkommen pro Tag auskommen muss und es mehr arme Menschen gibt als in jedem anderen Land der Welt.

Mit Berichten über die weltweiten Ausschweifungen der Reichen und Superreichen liessen sich ganze Bibliotheken füllen: Milliardäre wie Richard Brenson machen mit der eigenen Privatrakete Wochenendausflüge ins Weltall, reiche Europäer und Nordamerikaner kaufen sich ganze Wildpärke in Südafrika mit Zebras, Löwen und Elefanten sowie Dutzenden von Bediensteten rund um die Uhr und an Jubiläumsanlässen von Grosskonzernen werden den Aktionärinnen und Aktionären auf nackten Frauenkörpern ausgelegte, erlesenste Häppchen aus aller Welt dargeboten. Besonders viele Nachkommen der Sonnenkönige sind jeweils am alljährlich in Davos stattfindenden, sogenannten «World Economic Forum» anzutreffen, einige von ihnen lassen sich noch um zwei Uhr nachts von ihren Angestellten zwanzig Hemden bügeln, andere rufen den privaten Butler, um sich von ihm die Schuhe binden zu lassen, fast so wie Ludwig der Vierzehnte, der sich jeden Morgen von etwa sieben Bediensteten einkleiden liess, jeder und jede für ein bestimmtes Kleidungsstück zuständig. Dennoch erscheinen, wenn wir im Internet den Suchbegriff «Absolutismus in der Gegenwart» eingeben, nur folgende Namen: Sultan Hassanat Bulkiah von Brunei, König Mswati der Dritte von Eswatini, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani von Katar, Sultan Haitham ibn Tariq von Oman, König Salman ibn Abd al-Aziz von Saudi-Arabien und Papst Franziskus. Ganz so, als gäbe es nicht weltweit Abermillionen von Geschäftsleuten, Besitzern von Rohstoffkonzernen, Drogenbossen, Börsenspekulanten und Regierungschefs von ganz gewöhnlichen, «demokratischen» Staaten, die ein weit «absolutistischeres» Leben führen, als sich das der Sonnenkönig von Versailles jemals hätte erträumen lassen. Selbst gerade zurzeit in der Ukraine, die sich nach aussen als ein «demokratisches» Land gibt, in dem angeblich alle Bürgerinnen und Bürger füreinander einstehen und sich gemeinsam und solidarisch gegen den russischen «Eindringling» zur Wehr setzen, werden nur die Männer und Frauen aus den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten für den Kriegsdienst rekrutiert, wo viele von ihnen schon ihr Leben verloren haben, andere selbst nach schwersten Verletzungen, kaum sind sie genesen, wieder an die Front geschickt werden und wieder schon seit zwei Jahren pausenlos, bis zur totalen Erschöpfung, im Einsatz sind – während die jungen Männer und Frauen aus der ukrainischen Oberschicht in Mallorca ihre protzigen Autos zur Schau stellen und in den Nachtclubs an den Meeressträngen die ausgelassensten Partys feiern.

Im Sommer 2023 stach die «Icon of the Seas» in See, mit einer Länge von 365 Metern und einer Breite von 50 Metern das grösste je gebaute Kreuzfahrtschiff der Welt, fünfmal so gross wie die am 14. April 1912 infolge des Zusammenpralls mit einem Eisberg südlich von Neufundland untergegangene «Titanic», die ebenfalls das grösste Kreuzfahrtschiff ihrer Zeit gewesen war. Auf dem Oberdeck der «Icon of the Seas» befindet sich mit sechs Wasserrutschen, einer offenen Freifallrutsche sowie einer Flossrutsche, auf der vier Personen gleichzeitig fahren können, der grösste schwimmende Wasserpark der Welt. Mit einem Fassungsvermögen von 150‘000 Litern gibt es hier, nebst 15 etwas kleineren, auch den grössten Pool an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. In einer riesigen Glaskuppel, «Aquadome» genannt, finden Akrobatik- und Tauchshows statt. Zudem gibt es einen künstlichen Wasserfall, ein Dutzend Restaurants und Cafés sowie einen Minigolfplatz und einen Kletterpark. Für Naturbegeisterte bietet die «Icon of the Seas» sogar etwas, was es noch nie auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff gegeben hat: Eine Grünanlage, genannt «Central Park», in der 20‘000 Pflanzen und sogar etliche richtige Bäume wachsen. 2000 Franken kostet ein Platz in einer der Kabinen auf der siebentägigen Rundfahrt von Miami über die karibischen Inseln und Mexiko bis Honduras, eine Suite kann schon mal bis 10‘000 Franken pro Person kosten, Essen und Getränke nicht inbegriffen. (NZZ, 20.7.2023). Ob wohl die Menschen, die sich an Bord der «Icon of the Seas» vergnügen, auch gelegentlich einen Gedanken verschwenden an die Köche im heissen Bauch des Schiffes, die für ihr tägliches leibliches Wohl sorgen, an die Angestellten, die ihre Kabinen rund um die Uhr sauber machen, und an all jene Menschen, welche dieses Schiff gebaut haben?

Gut möglich, dass einige der Reisenden an Bord der «Icon of the Seas» bald auch schon mal ihre Ferien in Frankreich verbringen werden, um dort, wie dereinst der Sonnenkönig, durch die prächtigen Gärten von Versailles zu lustwandeln und anschliessend Dutzende von Gemälden zu bewundern, auf denen der Sonnenkönig in jeglichen Varianten abgebildet ist, aber keine einzige der Mägde, die ihm jeden Morgen die Zähne putzten, und kein einziger der Gärtner, die all die wunderbaren Blumen pflanzten, deren Duft die königlichen Gäste stets so betörte und der auch die heutigen Reisefreudigen immer wieder in Bann zu ziehen vermag. Gut möglich, dass einige der Reisenden auch irgendwann in Peru anzutreffen sein und dort in der Hauptstadt Lima die weltberühmte «Kathedralbasilika St. Johannes» bestaunen werden – ob ihnen die Reiseführerin wohl erzählen wird, dass diese Kathedrale niemals hätte gebaut werden können ohne das Geld, welches aus unzähligen namenlosen Indios, die sich zu Tode quälen mussten, herausgeschunden worden war? Und höchstwahrscheinlich sogar werden einige der Reisenden irgendwann auch in New York von sich und der Freiheitsstatue glückstrahlend Selfies schiessen, vermutlich ohne je an die ursprüngliche Bevölkerung dieses Landes zu denken, deren allerletzten Gesänge freilich schon seit über hundert Jahren in den Weiten der leergefegten Prärien verklungen sind…

Lieber tot mit einer ukrainischen Flagge in der Hand als lebendig mit einer weissen Flagge in der Hand: Wenn man sich neuerdings nicht mehr für den Krieg rechtfertigen muss, sondern für den Frieden…

10. März 2024, 19.30 Uhr, Tagesschau am Schweizer Fernsehen SRF1: „Ein Interview des schweizerischen Senders RSI mit Papst Franziskus“, so wird berichtet, „sorgt international für Aufsehen und Empörung.“ Gezeigt wird ein Ausschnitt des Interviews, in dem der Journalist dem Papst die Frage stellt, ob man seinen Vorschlag für Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt so verstehen könnte, dass die Ukraine die weisse Fahne hissen und damit ihre Kapitulation erklären müsste. Das könne man so nicht beantworten, sagt Papst Franziskus, Stärke läge aber darin, das Leiden des eigenen Volkes wahrzunehmen. Wenn man sähe, dass es nicht gut laufe, dann müsse man halt den Mut aufbringen, Verhandlungen aufzunehmen. „Verhandlungen“, so stellt Papst Franziskus klar, „sind nie Kapitulation.“ Die Ausführungen des Papstes, so wiederholt der Tagesschausprecher, hätten „international für Empörung gesorgt“. Nun wird uns der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba eingeblendet, der, so der Kommentar, „trotzig“ folgende Aussage gemacht habe: „UNSERE FAHNE IST GELB UND BLAU. DAS IST DIE FAHNE, MIT DER WIR LEBEN, STERBEN UND DURCHHALTEN. WIR WERDEN NIE EINE ANDERE FAHNE HISSEN.“ Im Klartext: Lieber mit einer ukrainischen Flagge in der Hand sterben als mit einer weissen Flagge in der Hand überleben. Als nächstes sehen wir die deutsche FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die, so wird vom Tagesschausprecher erklärt, mit folgenden Worten „erzürnt“ zu den Aussagen des Papstes Stellung bezogen habe: „ICH SCHÄME MICH ALS KATHOLIKIN. BEVOR DIE UKRAINISCHEN OPFER DIE WEISSE FLAGGE HISSEN, SOLLTE DER PAPST LAUT UND UNÜBERHÖRBAR DIE BRUTALEN RUSSISCHEN TÄTER AUFFORDERN, IHRE PIRATENFAHNE, DAS SYMBOL FÜR DEN TOD UND DEN SATAN, EINZUHOLEN.“ Am Schluss sieht man den 87jährigen Papst im Rollstuhl, er macht einen schwächlichen Eindruck. Dazu der Kommentar des Sprechers: Das sei nicht das erste Mal, dass sich der Papst zu Friedensfragen geäussert habe, aber normalerweise vermeide er es, die Länder beim Namen zu nennen.

20.00 Uhr. Zum ersten Mal an diesem Abend beginnt sich in meinem Kopf alles zu drehen. Dass Papst Franziskus der Ukraine Friedensverhandlungen vorschlägt, soll allen Ernstes „weltweit für Empörung sorgen“? Hätte er also besser vorschlagen sollen, den Krieg weiterzuführen und weitere Tausende Todesopfer in Kauf zu nehmen? Haben all jene, die ihm nun vorwerfen, die Ukraine zur Kapitulation aufzufordern, denn nicht hingehört? Hat er nicht in aller Deutlichkeit gesagt, Verhandlungen seien „nie eine Kapitulation“, sondern, im Gegenteil, ein „Zeichen von Stärke“? Und war es nicht der Moderator von RSI, der als erster den Begriff der „weissen Flagge“ in den Mund nahm? Und wie kommt die Tagesschauredaktion dazu, mit Kuleba und Strack-Zimmermann ausschliesslich zwei Stimmen Gehör zu verschaffen, welche die Aussagen des Papstes verurteilen, ohne auch nur eine einzige Politikerin oder einen einzigen Politiker zu Wort kommen zu lassen, welche eine gegensätzliche Meinung vertreten? Und weshalb muss den Worten von Kuleba und Strack-Zimmermann sogar noch zusätzlich Gewicht verschafft werden, indem man von „erzürnten“ und „trotzigen“ Worten spricht? Und weshalb gibt es nicht so etwas wie einen neutralen Kommentar seitens des Fernsehens, um etwa die Ungeheuerlichkeit von Kulebas Aussage kritisch zu hinterfragen, wonach ein Toter mit einer ukrainischen Fahne in der Hand einem Lebendigen mit einer weissen Fahne in der Hand vorzuziehen sei? Und weshalb lässt man die Aussage von Strack-Zimmermann über eine angebliche russische „Piratenfahne, Symbol für den Tod und den Satan“ unhinterfragt im Raum stehen? Und weshalb wird nicht auch erwähnt, dass sich gemäss Meinungsumfragen 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung und 67 Prozent der deutschen Bevölkerung für Friedensverhandlungen der Ukraine mit Russland aussprechen?

20.10 Uhr. Meine Internetrecherche beginnt. In der Tat sind Kuleba und Strack-Zimmermann nicht die einzigen „Empörten“. Auch Edgars Rinkevics, der Präsident Lettlands, lässt verlauten: „Man darf vor dem Bösen nicht kapitulieren, man muss es bekämpfen und besiegen.“ Die ukrainische Sicherheitsexpertin Maria Avdeeva sagt: „Unsere Fahne weht in zwei Farben. Weiss gehört nicht zu uns.“ Die deutsche Bundestagsvizepräsidentin Katrin Görig-Eckardt findet: „Wer von der Ukraine verlangt, sich zu ergeben, gibt dem Aggressor, was er sich widerrechtlich geholt hat, und akzeptiert damit die Auslöschung der Ukraine.“ Die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock äussert „grosses Unverständnis“ gegenüber den Aussagen des Papstes, zumal „in diesen Zeiten“. Und der deutsche CDU-Aussenpolitiker Roderich Kiesewetter meint: „Unglaublich, das Oberhaupt der katholischen Kirche stellt sich auf die Seite des Aggressors und liefert damit Putin eine Blaupause für sein weiteres Vorgehen.“ Eine der wenigen Ausnahmen ist Sachsens Ministerpräsident Kretschmer: Er teile den Aufruf von Papst Franziskus, der für ihn ein „besonnener“ Mann sei. Unfassbar, was Papst Franziskus von fast allen Politikern und Politikerinnen, die sich öffentlich zum Thema äussern, in den Mund gelegt wird, was er so nie gesagt und so auch nie gemeint hat. Deutlich hat er zwischen Friedensverhandlungen und Kapitulation unterschieden. Stets hat er auch den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt und immer wieder darauf hingewiesen, dass es für einen Konflikt meistens nicht nur einen einzigen, sondern mehrere Schuldige gäbe. Nie hat er von einer „Auslöschung“ der Ukraine gesprochen. Und obwohl da alles missverstanden wird, was sich nur missverstehen lässt, kommt von fast nirgendwo her eine Gegenstimme, die alles wieder ins Lot bringen und die Diskussion auf eine sachliche Ebene zurückführen könnte.

20.20 Uhr. Ein Blick in die internationale Medienlandschaft bestätigt das Bild. Die ORF-News vermelden: „Papst sorgt für Empörung in der Ukraine.“ In der ARD-Tagesschau verweist die Sprecherin auf eine Aussage des ukrainischen Aussenministers Kuleba, der eine Parallele gezogen hätte zwischen der Sichtweise von Papst Franziskus und der Haltung des Vatikans zur Zeit des Nationalsozialismus. Die „Baslerzeitung“ schreibt, der Papst hätte ein „fragwürdiges Bild“ verwendet, das „seinem Ansinnen schadet“, das Wort „Verhandlungen“ sei ein „mutiges Wort“ und die „weisse Fahne“ sei ein Ausdruck, der „zu Recht Empörung auslöst.“ Die schweizerische Internetzeitung „Watson“ meint, der Papst hätte eine sehr „unglückliche Formulierung“ gewählt. Das schweizerische „Tagblatt“ schreibt: „Papst Franziskus brüskiert die Ukraine.“ Die deutsche „Bild“ spricht von einem „Ratschlag des Papstes“, mit dem sich dieser „blamiert“ habe, ein „dickes Ei drei Wochen vor Ostern.“ Und im schweizerischen Gratisblatt „20minuten“ liest man, Papst Franziskus sei mit seinen Aussagen „in Teufels Küche geraten“. Schlagzeilen wie „Papst beweist Mut“, „Papst spricht Klartext“ oder „Endlich ein klares Bekenntnis zum Frieden“ suche ich vergeblich. Mir schwirrt der Kopf. In was für Zeiten leben wir eigentlich? Für den Krieg muss sich schon längst niemand mehr rechtfertigen, wer Wörter wie „Frieden“, „Verhandlungen“ oder „weisse Flaggen“ in den Mund nimmt, wird dagegen schon fast wie ein Aussätziger behandelt. Am weitesten treibt es die „taz“, gemäss Google-Recherche ein „gutes Beispiel für kritischen und unabhängigen Journalismus“: „Und schon wieder knallen die Champagnerkorken im Kreml. Für den blutrünstigen russischen Diktator läuft es gerade besonders gut. Nun spielt ihm sogar noch der Papst in die Karten. Doch im freien Westen und auch im Vatikan sollten erst wieder die Korken knallen, wenn der Mörder im Kreml aufgibt oder um Verhandlungen fleht.“

20.45 Uhr. Mehr als eine halbe Million Mal wurde ein auf X gezeigter Cartoon geklickt, auf dem der Papst in eine Soutane gekleidet ist, welche oben die Farbe Weiss trägt und unten die Farben Blau und Rot, die Farben der russischen Nationalflagge, der Wolf im Schafspelz sozusagen. Die Angst vor einem Frieden muss schon unermesslich gross sein, wenn so gewaltiges, aus allen Ecken und Enden hervorgezogenes Geschütz dagegen aufgefahren werden muss. Irgendwo zwischen meinen Notizblättern finde ich einen Zettel mit einem Zitat von Herodot, dem bekannten griechischen Geschichtsschreiber aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert: „Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor.“ Mussten 2500 Jahre vergehen und wir sind trotzdem immer noch kein bisschen gescheiter geworden?

21.00 Uhr. Doch endlich, nach all der Kälte, nach all den Paukenschlägen, nach all den Verdrehungen und all den knallenden Champagnerkorken, wird es auf einmal wieder wärmer. Ich schaue mir Onlinekommentare von Leserinnen und Lesern an. Und langsam beginne ich doch wieder an das Gute im Menschen zu glauben. Natürlich treffe ich auch hier auf alle möglichen und noch so absurden Begründungen, weshalb ein Sieg der Ukraine gegen Russland einer Friedenslösung mit gegenseitigen Kompromissen vorzuziehen sei. Aber, ehrlich gesagt, diese Seite interessiert mich gerade jetzt nicht mehr allzu sehr, ich habe sie in zu vielen Fernsehdiskussionen und in zu vielen Zeitungsartikeln und Kommentaren schon über mich ergehen lassen müssen. Ich will jetzt endlich die andere Seite kennenlernen…

Es tut gut, diese Kommentare zu lesen. Wenn etwa AM schreibt: „Der Papst hat dahingehend Recht, dass es Zeit zum Reden ist.“ Und SS: „Er ist der oberste Christ und tut nur das, was sein Glaube von ihm verlangt, nämlich auf direktem Weg die Waffen zum Schweigen zu bringen und das menschliche Leid zu beenden. Er hat nichts mit Geostrategie und Grossmachtpolitik am Hut.“ MH: „Soll er etwa sagen, bitte noch mehr Tote? Die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen, also müssen Verhandlungen eingeleitet werden.“ RH: „Ich sehe in den Aussagen von Papst Franziskus nichts Fragwürdiges. Eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist für keine der Kriegsparteien realistisch, also bleibt doch nur die Verhandlung.“ DF: „Dass dies den Exponenten im Westen nicht gefällt, ist klar. Aber wo er Recht hat, hat er Recht. Er denkt primär an das Leid, das tagtäglich weitergeht, solange Waffen nachgeliefert werden und solange gekämpft wird.“ AS: „Auch wenn es vielen nicht passt, er hat Recht.“ MG: „Schön, dass der Papst als Kirchenmann an den Frieden glaubt. Das wäre der richtige Weg. Die Kirchen sollten vermitteln und nicht die Kriegsfanfaren blasen.“ SA: „Wenn er so weitermacht, bleibe ich noch eine Weile Katholikin.“ MB: „Diese Meinung des Papstes teilen sehr viele Menschen. Doch eine Meinung zum Frieden, zu Kompromissen und zum Mut, dies auszusprechen, ist anscheinend nicht erwünscht. Ich vermute, dass die Mehrheit der Menschen im Krieg diesen Wunsch haben, aber das soll ja nicht die Runde machen. So scheint es mir jedenfalls.“ PH: „Papst Franziskus ist ein sehr weiser Mann. Dass man in den westlichen Medien liest, dass er kein gelernter Diplomat sei bzw. ihm zum Vorwurf gemacht wird, zu Verhandlungen aufzurufen, ist schon sehr dicke Post. Dabei ist es doch Selenski, der per Dekret Verhandlungen verboten hat, was in den westlichen Medien mit eindrücklicher Konstanz ignoriert wird, immer mit dem Verweis, dass man mit Putin nicht verhandeln könne.“ MB: „Ich glaube, der Papst darf seine eigene Meinung haben. Man kann es hinterfragen. Aber zu urteilen, dass er damit schade, finde ich jetzt abgehoben und passend zum Zeitgeist.“ AM: „Was ich so oder so begrüsse: Dass Bruder Franziskus Verhandlungen im Gespräch behält, geschickt oder weniger geschickt, finde ich unwesentlich. Der Krieg muss enden.“ HL: „Vielen Dank, die meisten Menschen weltweit möchten endlich Frieden.“ DW: „Ich finde es sehr gut, dass der Papst offen spricht und kein Blatt vor den Mund nimmt und vor allem zu seiner Meinung steht.“ MB: „Das ist der Papst, was erwarten Sie? Sollte er etwa zur Ausweitung des Krieges aufrufen? Er möchte den Krieg beenden und weitere Tote verhindern, ein legitimes Anliegen. Vielleicht hat er ja noch eine Ahnung von den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und möchte, dass es nicht wieder soweit kommt.“ RS: „Der Papst hat voll Recht. Das Leid, das wir tagtäglich sehen, muss beendet werden und auf dem Schlachtfeld wird das nie passieren. Es ist gut, dass der Papst eben nicht schweigt.“ KS: „Er hat einfach Recht. Reden statt Waffen.“ MK: „Recht hat er.“ HB: „Seine Aussage ist korrekt.“ FB: „Bin kein Fan von diesem Papst, aber diesmal hat er Recht.“ CS: „Das ist sein gutes Recht, seine Meinung zu verkünden. Nicht jeder muss sie teilen. Bei diesem Krieg wird es keinen Gewinner geben. Das sollte langsam mal verstanden werden.“ BB: „Er hat Recht, ohne Verhandlungen wird das für beide Parteien nichts bringen.“ DZ: „Krieg ist Wahnsinn. Er bringt nur Tote und Elend. Gewinnen tun nur die Waffenhändler.“ NG: „Der Papst weiss, dass es immer zwei braucht – sowohl für den Krieg als auch für den Frieden.“ TP: „Der Krieg muss enden. Ob durch die weisse Fahne oder am Tisch. Er muss enden.“ OA: „Der Papst hat diesmal Recht.“ LA: „Das Oberhaupt hat Recht, auch wenn es die Ukraine und viele westliche Regierungen nicht hören wollen. Die Lösung ist nicht ein jahrelanges gegenseitiges Bombardieren, sondern Friedensverhandlungen. Der Krieg ist auf beiden Seiten nicht zu gewinnen.“ UK: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde: Der Papst hat Recht, alles andere ist weltfremd und fordert nur noch mehr Menschenleben.“ CS: „Richtige Botschaft des Papstes. Endlich beginnt ein dringend nötiges Umdenken. Wind of Change sozusagen.“ EI: „Recht hat er.“ DP: „Es gab schon mal einen Papst, der schwieg, dieser aber sagt jetzt mal was und es ist auch wieder nicht recht.“ MS: „Recht hat er, der Pontifex. Sein Aufruf ist das rechte Wort zur rechten Zeit, damit die Kriegstreiber beider Seiten endlich zur Einsicht kommen, nicht nur die Russen und Ukrainer, sondern auch viele kalte Krieger in den USA und Europa.“ ES: „Recht hat der Papst! Der Westen soll endlich einsehen, dass die Ukraine verblutet und ihr Führer sein Volk in den Ruin führt.“ HL: „Vielen Dank, Papst Franziskus. Die meisten Menschen weltweit möchten endlich Frieden.“ AM: „Was Papst Franziskus meint, ist, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Etwas, was die Ukraine derzeit per Dekret noch ausschliesst. Diese Haltung wäre wohl nach zwei Jahren zu überdenken. Ich bin mit Bruder Franziskus völlig einig, dass endlich verhandelt werden sollte. Das würde die Einsicht beider Seiten voraussetzen, dass keiner diese Auseinandersetzung gewinnen kann und das Leid auf beiden Seiten nur weiter zunimmt.“ AS: „Obwohl ich selber kein Fan der katholischen Kirche bin, hat der heilige Vater diesmal nicht ganz unrecht. Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen.“ KB: „Papst Franziskus hat explizit von Verhandlungen gesprochen, nicht von Kapitulation, er wurde also mutwillig falsch verstanden. Und das offensichtlich, weil er sich nicht wortwörtlich an die offizielle westliche Erzählung halten will, die den Menschen suggeriert, dass ein Frieden durch Waffen erreicht werden könnte.“ KS: „Der Westen sollte aufhören, den Krieg zu verlängern, und diese Waffenlieferungen einstellen.“ SP: „Wenn man, wie Papst Franziskus, kurz vor Ostern für Frieden einsteht, kriegt man heutzutage heftige Kritik. Die Menschen sollten wieder mal über die Bücher.“ ML: „Endlich mal was Gutes vom Papst!“ JH: „Bravo. Der Papst sagt es richtig.“ BJ: „Was der Papst sagt, hat was, denn ansonsten bringen die Friedensgespräche im Sommer rein gar nichts.“ WK: „In diesem Fall hat sogar ein Papst einmal Recht.“ FS: „Der Papst hat das gut und richtig gesagt. Jeder vernünftige Mensch versteht, was er sagen will.“ RS: „Zum Glück gibt es immer noch Menschen wie Papst Franziskus, die gegen den Krieg sind.“ EG: „Papst Franziskus hat absolut Recht. Wenn nur auch die Politiker so schlau und weise wären.“ AE: „Verhandlungen sind der einzig richtige und gangbare Weg in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist. Warum noch mehr Menschenleben opfern, es ist den Preis nicht wert.“ ND: „Was ist denn nun falsch an seiner Aussage? Er hat nur gesagt, was sich keiner getraut.“ SS: „Ich kann diese Kritik nicht verstehen. Er meint doch nur, dass man sich an den Tisch setzt, um sich zu einigen.“ EG: „Seine Aussage ist nicht falsch und wahrscheinlich für alle das Beste. Eine Lösung auszuhandeln ist sicher besser als das, was jetzt abgeht. Beide Seiten sind nicht unschuldig an der jetzigen Situation, das gibt es keine Guten und Bösen.“ RP: „Papst Franziskus hat Recht. Die Ukraine und Russland müssen miteinander verhandeln, so dass es eine Win-Win-Situation gibt. Es bringt nichts, wenn man sich aus dem Weg geht. Im Gegenteil, man verliert nur.“ MS: „Wer gesunden Menschenverstand hat, weiss genau, was er gemeint hat.“ DF: „Endlich mal einer, der nicht nur Geld und Waffen liefern will, sondern einen konkreten Weg zu Verhandlungen aufzeigt.“ MH: „Er hat doch komplett Recht. Versucht, einen Frieden auszuhandeln.“ DG: „Er hat Recht. Langsam reicht es.“ ET: „Sonst wird der Papst immer gelobt. Sagt er aber einmal unbequeme Wahrheiten, hagelt es sofort Kritik.“ RE: „Ein Christ, der das Gemetzel beendet sehen will und für Frieden ist. Unerhört.“ RP: „Der Papst hat Recht, und das wissen Sie auch.“ MS: „Er ist eben kein Kriegstreiber. In dieser Hinsicht verhält sich das Oberhaupt der Kirche sehr christlich und richtig.“ PZ: „Der Papst kann nur für Frieden sein. Sein Boss ist Jesus Christus, Friedensfürst – habt ihr das vergessen?“ GS: „Seit Langem kann ich der Meinung der Kirche mal etwas Gutes abgewinnen.“ EE: „Ein Christ tritt für Frieden ein – unfassbar!“ AR: „Danke diesem Papst für seine Worte.“ GP: „Respekt vor dem Papst. Es ist ja wohl seine Aufgabe, für den Frieden zu sein. Kirchendiener, die Waffen tragen, sind fehl am Platz.“ FH: „Sehr oft bin ich mit dem Papst nicht einer Meinung, hier aber hat er Recht. Es ist ein sinnloses Blutvergiessen.“ EB: „Der Papst setzt sich für Frieden ein, was ist denn so schlecht? Lesen Sie die Bibel. Allein die zehn Gebote sollen reichen.“ MB: „Der Papst tut genau das Richtige. Er denkt an die Menschen und das Leid für die Familien der getöteten Zivilisten und Soldaten.“

22.30 Uhr. Selten habe ich die Kluft zwischen „oben“ und „unten“ so krass erlebt. Haben die „hohe Politik“ und die mit ihnen weitgehend gleichgeschalteten Medien so sehr alle Bodenhaftung zu den ganz „normalen“ Menschen in den Fabriken, in den Schulen, am Familientisch, in den Krankenhäusern, all der wohl überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, schon so gänzlich verloren? Oder gibt es da so etwa wie unsichtbare Strippenzieher, die im Hintergrund alles steuern und Menschen, die früher noch selbständig zu denken vermochten, nach und nach in Marionetten verwandelt haben, die nur noch willfährig an ihren Fäden zappeln? Oder ist das Ganze so etwas wie ein Massenphänomen, bei dem alle denken, dass es, wenn alle anderen auch so denken, höchstwahrscheinlich das Richtige sein muss?

23 Uhr. Ich schreibe an die Redaktion der SRF-Tagesschau, verleihe meinem Unmut über eine derart einseitige Berichterstattung in der heutigen Hauptausgabe der Tagesschau Ausdruck und werfe die Frage auf, ob nur hohe Politikerinnen und Politiker und vor allem solche, die man als Hardliner bezeichnen könnte, „wichtige“ Menschen sind, die ihre Meinungen in den Medien kundtun dürfen, oder ob nicht jeder Fabrikarbeiter, jede Blumenverkäuferin, jeder Krankenpfleger, jede Universitätsstudentin und jedes Kind genau so „wichtige“ Menschen sind, deren „einfache“ Wahrheiten es ebenso verdient haben, in der Öffentlichkeit angemessen wahrgenommen zu werden. Ich bin gespannt, was für eine Antwort, wenn überhaupt, ich wohl bekommen werde…

Nachtrag am 14. März: Heute habe ich von SRF eine Antwort auf meine Anfrage bekommen. Sie lautet wie folgt: Wir danken Ihnen für Ihre kritischen Worte. Es freut uns immer, wenn man sich mit unserer Berichterstattung auseinandersetzt.
Um auf Ihre Zuschrift antworten zu können, leiteten wir Ihre Anfrage an Oliver Bono, Koordination TV-News SRF, weiter. Er antwortet Ihnen wie folgt: «Sie haben recht, wenn Sie schreiben, dass Papst Franziskus mit seinen Äusserungen zum Krieg in der Ukraine Mut bewies und Hoffnung verbreiten wollte. Und als Katholik gehe ich mit Ihnen einig, dass genau das eine wichtige Aufgabe des Pontifex Maximus ist. Dennoch ist es unsere Aufgabe, auch Aussagen des Heiligen Vaters kritisch zu hinterfragen – und zwar aus weltlich-politischer und nicht aus religiöser Sicht. Und in dieser Hinsicht gibt es sehr wohl Argumente, die Aussagen des Papstes zu hinterfragen, was wir in der Tagesschau auch getan haben.

Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit

7. März 2024, ausgerechnet am Vorabend des Internationalen Frauentags: Ein diplomatischer Kurier aus Budapest liefert in Washington ein Dokument ab. Es ist die Urkunde, die Ungarns Zustimmung zur Aufnahme Schwedens in die NATO beglaubigt. So wie seit einigen Monaten bereits Finnland, gehört nun also auch Schweden zur nordatlantischen Allianz. Damit wird die Nordostflanke der Allianz massiv verstärkt und die NATO gewinnt deutlich an Kampfkraft, verfügt Schweden doch über eine ausserordentliche militärisch-industrielle Kapazität, so etwa mit dem Schützenpanzer CV90, der als besonders effizient gilt und auch von der Schweizer Armee verwendet wird, mit dem Stridsvagn 122, dem wohl besten Kampfpanzer der Welt, mit den von der eigenen Rüstungsindustrie entwickelten 100 Gripen-Kampfflugzeugen, mit einer ebenfalls in Eigenregie gebauten Flotte hochmoderner U-Boote, die auch in weniger tiefen Wassern agieren können, sowie einem Riesenarsenal an Kleinwaffen und schultergestützten Panzerabwehrwaffen, wo Schweden ebenfalls zur technologischen Weltspitze gehört. Und dieses jetzt schon die meisten anderen NATO-Staaten weit übertreffende militärische Potenzial soll sogar noch weiter ausgebaut werden: Vorausschauend auf den NATO-Beitritt hat die schwedische Regierung ihr Verteidigungsbudget für das Jahr 2024 um 2,2 Milliarden Euro auf über 10 Milliarden Dollar erhöht. Und wie wenn das nicht alles schon mehr als genug wäre, läuft gerade jetzt auch noch mit „Steadfast Defender“ („standhafter Verteidiger“) unter Beteiligung von 90’000 Soldaten im Norden Norwegens, Finnlands und Schwedens das grösste NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Kriegs.

Ein „strategisches Debakel für Putin“ und ein „für einmal wirklich historischer Entscheid“ frohlockt das schweizerische „Tagblatt“ vom 8. März. Mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens werde die Ostsee praktisch zum NATO-Meer. Die NATO sei nun „ein gutes Stück näher vor die Haustüre Russlands gerückt“. Und auch Hubert Wetzel schreibt im „Tagesanzeiger“ vom 8. März voller Begeisterung: „Ein demütigender Tag für Wladimir Putin“, ein „strategisches Desaster“. Putin, der stets von Russlands Stärke schwafle, habe Russland damit erheblich geschwächt und in der kurzen Zeit von zwei Jahren der „ach so bedrohlichen westlichen Allianz“ zwei neue Mitglieder „in die Arme getrieben“. „Erlauben Sie bitte, Wladimir Wladimirowitsch“, schreibt Wetzel, „Ihnen alleruntertänigst zu diesem grossartigen Erfolg gratulieren zu dürfen!“ Und weiter: „Wladimir der Geniale“ sei wohl in Wirklichkeit nur ein „banaler, brutaler Strassenschläger, der gerade so weit denken kann, wie seine Faust reicht.“ Am folgenden Tag lautet die Schlagzeile im „Tagblatt“: „Die Nato lehrt Russland das Fürchten“, es folgt ein eineinhalb Seiten langer Überblick über den „Kräftevergleich“ zwischen NATO und Russland. Aktive Soldaten: NATO 3,4 Millionen, Russland: 1,3 Millionen; Atomwaffen: beide ca. 5800; Kampfjets und Bomber: NATO 4500, Russland 1500; Kampfhubschrauber: NATO 1440, Russland 560; Kampfpanzer: beide ca. 12’500; U-Boote: NATO 143, Russland 65; Zerstörer: NATO 112, Russland 14; Flugzeugträger: NATO 16, Russland 1. Männliche Muskelspiele wie eh und je.

Was eine ganz gewöhnliche Russin, ein ganz gewöhnlicher Russe wohl denken und empfinden wird, wenn sie heute, an diesem 9. März 2024, diese beiden Artikel im schweizerischen „Tagblatt“ oder im „Tagesanzeiger“ lesen würden? Die NATO ist wieder ein gewaltiges Stück näher an uns herangerückt, steht jetzt schon an der längsten Grenze zwischen ihr und uns, fühlt sich bereits als „Sieger“, freut sich, uns „gedemütigt“ zu haben, uns ein „Desaster“ zugefügt zu haben, brüstet sich mit ihrer militärischen Überlegenheit, treibt ihre militärische Aufrüstung – obwohl sie bereits heute über ein 14 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland – dennoch immer weiter in die Höhe, hat rund um unser Land 2000 Militärstützpunkte aufgebaut und überall Raketen aufgestellt, die alle gegen unser Land gerichtet sind, während wir selber gerade mal über weltweit läppische 25 Militärbasen ausserhalb unseres Landes verfügen. Und wenn sich dann der ganz gewöhnliche Russe und die ganz gewöhnliche Russin vielleicht sogar noch daran erinnern, was für Aussagen führende US-Politiker seit Jahrzehnten immer wieder in Bezug auf Russland gemacht haben, wenn sie zum Beispiel davon sprachen, Russlands Wirtschaft „ruinieren“ und das Land „zerstückeln“ zu wollen, dann braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie, um sich vorzustellen, was für Gefühle, was für Gedanken und was für Zukunftsängste dies alles in ihnen auslösen muss. Da braucht ihnen Putin nicht allzu viel zu erklären – darauf kommen sie ganz von selber.

Doch wie ist es möglich, dass die westliche Propagandamaschinerie immer noch so gut funktioniert? Dass fast alle NATO-Länder bei der weiteren Aufrüstungswelle mitmachen und die jeweilige Bevölkerung sogar bereit ist, hierfür massivste Kürzungen bei den Sozialausgaben, bei der Bildung, der Kultur oder bei Massnahmen gegen Klimawandel und Umweltzerstörungen hinzunehmen? Und wie ist zu erklären, dass – im Gegensatz etwa zu 2003 vor dem drohenden Angriff der USA gegen den Irak – kaum irgendwo eine grössere Friedensdemonstration stattfindet und fast an keinem Haus eine Peace-Fahne hängt? Zu erklären ist das wohl nur damit, dass es den westlichen Regierungen und den mit ihr weitgehend gleich geschalteten Medien offensichtlich gelungen ist, ein so hassenswertes Feindbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzubauen, dass jegliches Denken in Kategorien von Vernunft und Differenzierung nach und nach verloren gegangen ist und schon fast niemandem mehr in den Sinn zu kommen scheint, dass man, wenn man Putin als „Mörder“ und „Kriegsverbrecher“ bezeichnet oder ihn gar mit Hitler vergleicht, noch viel bessere Argumente dafür hätte, den früheren US-Präsidenten George W. Bush, der mit dem völkerrechtswidrigen Kriege gegen den Irak eine halbe Million Menschenleben auf dem Gewissen hat, oder den für den gegenwärtigen Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern hauptverantwortlichen israelischen Regierungschef Netanyahu als Mörder und Kriegsverbrecher zu bezeichnen oder sie mit Hitler zu vergleichen.

Das zweite Instrument zur Verhinderung eines kritischen Widerstands ist die Unterdrückung der Wahrheit. Die westlichen Kriegstreiber und Scharfmacher wissen genau, weshalb sie nie an vorderster Stelle erwähnen, wie hoch und heilig führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Russland versprochen hatten, die NATO um „keinen Inch“ weiter nach Osten auszudehnen – um in den folgenden Jahrzehnten genau dieses Versprechen dutzendfach zu brechen. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die Tatsache, dass Putin nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen erfolglos eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur vorschlug, auf keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit gelangen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie daran erinnern, wie vehement sich die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO wehrte, weil dies Russland zu sehr „provozieren“ würde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie sich nach wie vor mit Händen und Füssen gegen eine Aufklärung und höchstwahrscheinliche Mitbeteiligung des Westens mithilfe der CIA am Umsturz der ukrainischen Regierung anfangs 2014 wehren. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie davon sprechen, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorgeschlagen hatte, was diese ohne jegliche Begründung zurückgewiesen hatten. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die kürzlich bekannt gewordene, seit 2014 betriebene Installation von zwölf geheimen CIA-Spionagebasen an der ukrainisch-russischen Grenze auf keinen Fall zu viel Raum in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb möglichst wenige Menschen erfahren sollen, dass eine im März 2022 zwischen der Ukraine und Russland vereinbarte Friedenslösung vom damaligen britischen Premier Boris Johnson vereitelt wurde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb alles daran zu setzen ist, dass die wahren Hintergründe des Anschlags vom September 2022 auf die Nordstream-Pipelines in der Nordsee möglichst nie aufgedeckt werden. Auch wissen sie ganz genau, dass die Meldung, wonach Selenski Friedensverhandlungen mit Russland per Dekret verboten hat, auf keinen Fall in der öffentlichen Meinung zu viel Platz einnehmen darf. Sie wissen auch genau genau, weshalb sie nie erwähnen, dass – gemäss einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Kiew – 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Friedensverhandlungen mit Putin befürworten. Und sie wissen ebenfalls ganz genau, weshalb die vor etwa drei Monaten von US-Aussenminister Blinken gemachte Aussage, wonach es in Ordnung sei, den Krieg in der Ukraine in Anbetracht der dadurch gesicherten Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie möglichst lange weiterzuführen, in der öffentlichen Meinungsbildung auf keinen Fall zu viel Gewicht bekommen sollte. Kämen nämlich alle diese Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit, könnte die öffentliche Meinung rasch umkippen und die bisher aufgebauten Strategien und Feindbilder augenblicklich in sich zusammenbrechen. Das zutiefst Widersprüchliche bei alledem besteht darin, dass westliche Regierungen und Medien ihre Parteinahme für die Ukraine ja nicht zuletzt immer wieder als Parteinahme im Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen begründen, gleichzeitig aber das Recht auf freie Meinungsäusserung und vorurteilsfreie Akzeptanz kontroverser Standpunkte in ihren eigenen Ländern massiv unterbinden oder zumindest erschweren.

Aber selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass tatsächlich Putin alles daran setzen würde, nun ein europäisches Land nach dem andern zu erobern, selbst dann würden die derzeitigen Strategien westlicher Regierungen und Medien keinerlei Sinn machen. Denn heutzutage weiss schon jedes Kind, dass man einen anderen Menschen nur genug lange demütigen, herabwürdigen, kleinmachen und ihn als Bösewicht oder Versager hinstellen muss, um damit nichts anderes zu bewirken, als dass der so Gedemütigte früher oder später zurückschlagen wird, um sich wieder „Recht“ zu verschaffen. Wie zwei Buben auf dem Schulhausplatz: Der eine stichelt und provoziert den anderen so lange, bis dieser „ausrastet“ und seine Faust sausen lässt – worauf das blutende „Opfer“ zum Lehrer rennt und den „Schläger“ der alleinigen Schuld bezichtigt. Die heutige und sich offensichtlich immer mehr verschärfende Logik der westlichen Seite unter dem Vorwand, sich gegen einen zukünftigen Krieg zu wappnen, folgt genau dieser simplen Logik, ein höchst gefährlicher Weg mit grössten Risiken. Denn die tatsächliche Gefahr einer drohenden grossflächigen militärischen Auseinandersetzung wird durch eine Aufrüstung nie da gewesenen Ausmasses, durch die grössten Militärmanöver aller Zeiten und die Verhöhnung und Demütigung des vermeintlich Schwächeren nicht kleiner, sondern, im Gegenteil, viel grösser. „Russland“, schreibt das „Tagblatt“, „schaut dem Treiben aufmerksam zu. Für den Fall, dass NATO-Truppen und -Waffen permanent nach Schweden verlegt würden, kündigte Moskau Gegenmassnahmen politischer und technischer Art an. Was genau das bedeutet, bleibt offen.“ Ja, haben denn die NATO-Verantwortlichen nicht schon vorher überlegt, was passieren könnte? Die kommen mir vor wie ein potenzieller Brandstifter, der zunächst eines, dann immer mehr brennende Streichhölzer hinhält und dann gespannt zuschaut, ob das Haus nun zu brennen beginnt oder nicht.

Gestern wurde der internationale Frauentag begangen. Echt verstandener Feminismus, der sich nicht damit zufrieden gibt, dass Frauen bloss vermehrt in die Fussstapfen eines von Männern bestimmten patriarchalen Machtsystems treten, sondern sich zum Ziel setzen, diese patriarchalen Machtverhältnisse radikal zu überwinden, ist zweifellos die wichtigste politische Bewegung unserer Zeit. Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit.

Zürich, 2. März 2024: Töten ist verboten, deshalb werden Mörder verurteilt. Es sei denn, sie töten in grossen Mengen und zum Klang von Trompeten…

Samstagabend, 2. März 2024, Zürich: Ein 50jähriger Jude wird auf offener Strasse von einem 15Jährigen brutal attackiert und mit einem Messer lebensbedrohlich verletzt. Beim Täter handelt es sich um einen Schweizer mit tunesischen Wurzeln, der offensichtlich islamistisch radikalisiert wurde. Laut des jüdischen Wochenmagazins „Tachles“ soll er geschrien haben: „Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.“ Das schwerverletzte Opfer wird ins Spital eingeliefert, befindet sich aber glücklicherweise bereits am folgenden Tag ausser Lebensgefahr.

Die Tat löst nicht nur in der Schweiz, sondern auch weltweit riesige Empörung aus. Die deutsche „Zeit“ schreibt: „Jetzt muss sich die Schweiz endlich ihrem Antisemitismusproblem stellen.“ Der „Südwestrundfunk“ meldet, auch in Südbaden sei man entsetzt und hätte einen solchen Vorfall in der Schweiz bisher nicht für möglich gehalten. Der deutsche „Stern“ spricht von einem „Fall neuer Dimension“. Und der „Deutschlandfunk“ zitiert eine Presseerklärung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, wonach der „Anstieg des Antisemitismus“ in den vergangenen Monaten eine „erschreckende Eskalationsstufe“ erreicht hätte. „In der ganzen Welt“, so das schweizerische „Tagblatt“, „sorgt diese brutale Tat für Schlagzeilen“, diese Messerattacke sei der „traurige Höhepunkt einer antisemitischen Welle“, von welcher die jüdische Gemeinschaft auch in der Schweiz „überrollt“ werde. Im „Tagesanzeiger“ ist zu lesen: „Dieser Mordversuch muss ein Weckruf sein“ und „eine Zäsur für das ganze Land“, es folgt ein Zitat von Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, mit den Worten, dieses „antisemitische Hassverbrechen“ sei auch ein „Angriff auf die freiheitliche Ordnung der Schweiz“. Auch die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch zeigt sich „absolut schockiert“. Und der Zürcher Sicherheitsdirektor Marion Fehr spricht von einem „feigen und absolut grässlichen Gewaltakt“ und einem „Terroranschlag“.

Zweifellos ist nichts dagegen einzuwenden, wenn eine solche Tat, deren einzige Motivation im Hass auf eine andere Religion oder ein anderes Volk besteht, in aller Deutlichkeit verurteilt und entsprechend bestraft wird. Aber ist diese grosse Empörung und sind Begriffe wie „neue Dimension“, „Zäsur für ein ganzes Land“ oder „Angriff auf die freiheitliche Ordnung“ tatsächlich glaubwürdig, wenn man es mit anderen Bedrohungen, Verbrechen und den hierzu geäusserten Kommentaren und Schlussfolgerungen vergleicht?

Seit dem 7. Oktober 2023 wurden über 30’000 Menschen im Gazastreifen infolge israelischer Bombardierungen getötet, die allermeisten von ihnen, ohne sich auch nur eines geringsten Verbrechens schuldig gemacht zu haben, zwei Drittel der Todesopfer sind Frauen und Kinder, über 70’000 Menschen wurden bisher schon verletzt, rund drei Fünftel aller Häuser sind zerstört, selbst Schulen, Moscheen, Flüchtlingslager und Krankenhäuser werden bombardiert, es fehlt an Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Elektrizität, bereits erreichen uns die ersten Meldungen von Kindern, die verhungert sind. Und unter den Trümmern der zerstörten Häuser werden weitere Abertausende von Todesopfern vermutet. Ja, auch die westlichen Medien kommen nicht daran vorbei, über diese unvorstellbaren Brutalitäten und Verbrechen zu berichten, über diese, man kann es nicht anders sagen, Hölle auf Erden. Aber die Empörung darüber hält sich, wenn man sie mit der Empörung über die Messerattacke eines 15jährigen Islamisten auf einen 50jährigen Juden in Zürich vergleicht, auf nahezu unfassbare Weise in Grenzen. In den am meisten verbreiteten Medien, Zeitungen, Radio, Fernsehen und Onlineportalen des Westens, und ganz besonders auch inmitten der angeblich so friedliebenden und „neutralen“ Schweiz, habe ich jedenfalls, im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern, kaum je etwas von „neuen Dimensionen“, „Weckrufen“, „Zäsuren“ oder „Hassverbrechen“ gelesen, nichts von „Extremismus“ und schon gar nicht von „Terrorismus“. Als wäre dieser Begriff sozusagen reserviert ausschliesslich für Taten von Menschen klar definierter Volks- oder Religionszugehörigkeit, während andere Menschen noch so schlimme Verbrechen begehen können, ohne jemals befürchten zu müssen, als „Terroristen“ bezeichnet zu werden. Wenn ein 15jähriger, aus Tunesien stammender Islamist einen 50jährigen Juden zu töten versucht, ist er ein „Terrorist“. Benjamin Netanyahu und sein Kriegskabinett können Zehntausende von Palästinenserinnen und Palästinensern umbringen, aber weder im „Tagesanzeiger“, in der „NZZ“ oder im „Tagblatt“, noch in der abendlichen Tagesschau am Schweizer Fernsehen oder in irgendeiner Nachrichten- oder Dokumentationssendung im Radio habe ich jemals gehört oder gelesen, dass Netanyahu und seine Kumpanen als „Terroristen“ bezeichnet worden wären. Offensichtlich hat dies nicht einmal nur mit der Tatsache zu tun, dass, vermutlich so ganz unbewusst und unterschwellig, das eine unsere „Freunde“ sind und das andere unsere „Feinde“, sondern höchstwahrscheinlich auch damit, dass Töten im Krieg und das Töten eines einzelnen Menschen in einem „friedlichen“ Land auf völlig unbegreifliche und irrationale Weise als zwei ganz grundsätzlich verschiedene Dinge angeschaut werden. So, wie es der bekannte Philosoph Voltaire schon vor dreihundert Jahren festgestellt hatte: „Töten ist verboten, deshalb werden Mörder verurteilt. Es sei denn, sie töten in grossen Mengen und zum Klang von Trompeten.“

Wir können uns aber auch noch ganz andere Beispiele vor Augen führen, die sich jeglicher Logik und Verhältnismässigkeit voll und ganz entziehen. Auf der einen Seite der Aufschrei über die Tat vom 2. März in Zürich. Auf ganze drei (!) vergleichbare Fälle kommen wir, wenn wir auf die vergangenen 13 Jahre zurückschauen: Nebst der Messerattacke vom 2. März 2024 kam es im November 2020 zu einem Vorfall in Lugano, wo sich eine Frau in einer Manor-Filiale ein Messer schnappte und zwei andere Frauen verletzte. Der dritte Vorfall datiert aus dem Jahre 2001, als der Rabbiner Abraham Grünbaum auf dem Weg zum Abendgebet in der Synagoge des Zürcher Stadtteils Aussersihl mit zwei Schüssen aus nächster Nähe von einem Unbekannten niedergestreckt wurde, der Täter und die Tatgründe konnten allerdings bis heute nicht ermittelt werden. Gleichzeitig werden jeden Monat in der Schweiz durchschnittlich zwei Frauen von ihren eigenen Männern umgebracht – sogenannte „Femizide“, die auch nicht ansatzweise eine so grosse Empörung und Betroffenheit auslösen wie der antisemitische Vorfall vom 2. März 2024. Hier kommt vermutlich noch ein weiterer Mechanismus ins Spiel: Was häufig geschieht und woran man sich mit der Zeit immer mehr gewöhnt, führt praktisch nie zu einem medialen Aufschrei und damit auch nie zu einer vergleichbaren Empörung der Öffentlichkeit. Das heisst nichts anderes, als dass in der Schweiz begangene antisemitische Gewalttätigkeiten eben gerade deshalb ein so grosses mediales Echo auslösen, weil sie so selten sind, und nicht deshalb, weil sie besonders häufig wären. Während auf der anderen Seite kaum je über die Gewaltdelikte all jener jüdischen Siedler im Westjordanland berichtet wird, welche die palästinensische Zivilbevölkerung seit Jahrzehnten systematisch aus ihren angestammten Wohngebieten vertreiben. Und auch nur höchst selten eine Schlagzeile oder ein Zeitungsartikel daran erinnern, dass jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Wollten die Medien darüber berichten, dann müssten sie nämlich auch darüber informieren, weshalb diese vielen Kinder tagtäglich eines qualvollen Todes sterben, nämlich ganz einfach deshalb, weil das kapitalistische, auf reine Profitmaximierung ausgerichtete Weltwirtschaftssystem dazu führt, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen lässt, sodass die Menschen in den reichen Ländern in Hülle und Fülle Lebensmittel essen, welche auf jenen Böden angebaut wurden, die ursprünglich der Selbstversorgung der dortigen Bevölkerung dienten. Und sie müssten sich dann wohl auch damit auseinandersetzen, ob all jene, die über diese Zusammenhänge Bescheid wissen – und wer sollte in einer Zeit absoluter globaler Wissenszugänglichkeit darüber nicht Bescheid wissen – und sich dennoch nicht für notwendige politische Veränderungen einsetzen, nicht auch am täglichen Tod dieser 10’000 Kinder mitschuldig sind. Und auf einmal wäre dann die Frage, welche nun die tatsächlichen „Terroristen“ sind und welche nicht, möglicherweise nicht mehr ganz so eindeutig zu beantworten.

Auffallend ist auch, wie unterschiedlich die beiden Konfliktparteien – israelische Regierungspolitik auf der einen, palästinensische Zivilbevölkerung auf der anderen Seite – in der Öffentlichkeit zu Wort kommen. Während schon bald jedes Kind das Gesicht von Jonathan Kreutner, dem Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, kennt, der in gefühlt jedem zweiten „Club“ am Schweizer Fernsehen einen Auftritt hat, bei jedem Vorfall und zu jedem Thema stets als Erster interviewt wird, selbstverständlich immer an den betreffenden Medienkonferenzen teilnimmt und immer wieder neben Zeitungsartikeln ein eigenes Kästchen mit Bild bekommt, um dort seine Meinung kundzutun, fehlt auf der palästinensischen Seite eine entsprechende Gegenstimme und ein eigener offizieller Repräsentant ganz und gar, und dies in einem Land, das sich „demokratisch“ nennt und für die individuelle Gedanken- und Meinungsfreiheit besonders bekannt sein will. Man kommt um den Verdacht nicht herum, dass es, um in der Öffentlichkeit möglichst viel Gewicht zu haben, irgendwo im Hintergrund eine besonders starke Lobby braucht.

„Man muss thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen“ – dies eine der am deutlichsten mit grossen Lettern hervorgehobenen Schlagzeilen, die ich im Verlaufe der letzten Tage im „Tagesanzeiger“ gefunden habe, dazu ein Interview mit dem sogenannten „Extremismusexperten“ Dirk Baier von der Universität Zürich. Nur schon der Titel suggeriert einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Islam als Religion und den von Islamisten verübten Terrorattacken. Das Allermindeste an journalistischer Sorgfalt würde darin bestehen, präzise zu unterscheiden zwischen einer Religion als Ganzer und Extremisten, welche unter dem Deckmantel einer Religion Verbrechen begehen. Es würde doch wohl auch niemandem einfallen, das Christentum als Ganzes als Verbrechen zu bezeichnen, nur weil Extremisten im Laufe der Geschichte in seinem Namen Verbrechen wie die Kreuzzüge, die gewaltsame Christianisierung der amerikanischen Urbevölkerung, die Inquisition oder die Hexenverbrennungen begingen. Nur beim Islam scheint es salonfähig zu sein, moderate und extremistische Strömungen unbesehen in den gleichen Topf zu werfen. Und dies, obwohl aufgrund einer Umfrage im Jahre 2018 festgestellt werden konnte, dass nicht einmal drei Prozent aller 17- bis 18jährigen Muslime in der Schweiz islamistisches Gedankengut teilen. Selbst wenn es heute doppelt so viele wären, es wäre immer noch eine verschwindend kleine Minderheit. Wer eine solche Aussage wie im Titel des erwähnten Artikels im „Tagesanzeiger“ macht, handelt grobfahrlässig. Statt zu differenzieren und zu mässigen, werden Ängste und Feindbilder geschürt. Und alle Muslime, die sich um ein friedliches Zusammenleben und um Toleranz bemühen, müssen sich zutiefst verletzt fühlen, wenn sie mit einer solchen Tat, wie sie am 2. März in Zürich begangen wurde, in Verbindung gebracht werden, so als wäre jeder Muslim ein potenzieller Verbrecher bzw. Terrorist. Und wenn jetzt sogar noch vom „Extremismusexperten“ Dirk Baier gefordert wird, „solche Vorfälle“ seien eine „Aufforderung an die muslimischen Gemeinschaften, sich kritisch zu hinterfragen“ und es sei abzuklären, ob der Täter jemals in einer Moschee hier in der Schweiz gewesen sei, ob er einen „Bezug zur muslimischen Gemeinschaft“ gehabt hätte und wie die „muslimische Religionsausbildung“ funktioniere, so schlägt dies dem Fass erst recht den Boden aus. Denn es käme wohl auch niemandem in den Sinn, vom Bümplizer Kegelverein oder vom Stanser Jodelclub eine Erklärung bzw. Distanzierung von den zahllosen von Männern begangenen Femiziden zu fordern, nur weil die Mitglieder dieser Gruppierungen ausschliesslich Männer sind und jeder Mann ein potenzieller Frauenmörder sei. Mit solchen pauschalen Schuldzuweisungen wird paradoxerweise der Rassismus, den man angeblich bekämpfen will, selber in einem fast noch höheren Ausmass betrieben als von jenen, denen man ihn zum Vorwurf macht.

„Der 7. Oktober, der Angriff der Hamas, hat ganz klar eine Tür geöffnet“, schreibt der „Tagesanzeiger“. Und in der Gratiszeitung „20minuten“ ist zu lesen: „Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat sich die Sicherheitslage auch für die in der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden verschlechtert.“ Völlig realitätsverzerrend sind auch solche Aussagen, würde dies im Klartext doch bedeuten, die von der Hamas verübte Gewalt hätte sozusagen auch andere Muslime dazu inspiriert, ihrerseits Gewalt gegen Jüdinnen und Juden anzuwenden. Tatsächlich ist doch genau das Gegenteil der Fall: Wenn antisemitische Tendenzen seitens von Muslimen zugenommen haben, dann nicht wegen der Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober 2023, sondern vielmehr wegen des israelischen Rachefeldzugs gegen das palästinensische Volk und das erklärte Ziel der heutigen israelischen Regierung, die Palästinenserinnen und Palästinenser gewaltsam aus ihren angestammten Wohngebieten zu vertreiben.

„Je mehr man sich darin einig ist, wer der Feind ist, desto eher ist man auch bereit, ihn abzuwerten, zu entmenschlichen und anzugreifen“ – was der „Extremismusexperte“ Dirk Baier hier zum Besten gibt und damit natürlich einzig und allein die Muslime meint und sie mit diesen Worten sozusagen unter Generalverdacht stellt, trifft freilich auf die Gegenseite genauso und wohl in noch weit höherem Ausmass zu: Würde die israelische Regierung nicht sämtliche Schuld am palästinensisch-israelischen Konflikt zu hundert Prozent den Palästinenserinnen und Palästinensern in die Schuhe schieben und hätte sie nicht sämtliche Palästinenserinnen und Palästinenser, so wie es seitens der israelischen Regierung mehrfach geäussert wurde, als „Tiere“ oder „Hunde“ bezeichnet – und damit buchstäblich „entmenschlicht“ -, gäbe es für die Mehrheit der Bevölkerung Israels wohl kaum die moralische „Rechtfertigung“ für den israelischen Rachefeldzug gegen das palästinensische Volk, dem bisher rund 30 Mal mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als durch die Attacke der Hamas vom 7. Oktober 2023.

„Der Konflikt zwischen Juden und Muslimen wurde durch den Angriff der Hamas wieder präsent“, so Dirk Baier, und dies treffe auch auf die „Vorfälle danach zu, als Israel in Palästina einmarschierte. Solche Ereignisse, die man als gesellschaftliche Missstände deuten kann, sind Teil des Radikalisierungsprozesses bis hin zur Gewaltbereitschaft gegenüber Jüdinnen und Juden.“ Aha. Die Messerattacke eines 15Jährigen mit tunesischen Wurzeln gegen einen 50jährigen Juden ist ein „Terrorakt“ und wird, obwohl das Opfer die Tat überlebte, höchstwahrscheinlich mit der Ausbürgerung des Täters bestraft. Wenn „reinrassige“ Schweizer ihre eigenen Frauen töten, gehört so etwas zum ganz normalen Alltag. Und die planmässige Ermordung von über 30’000 palästinensischen Kindern, Frauen und Männer ist – Gott bewahre! – kein Völkermord, sondern ein „gesellschaftlicher Missstand“. So lehrreich war meine Zeitungslektüre schon lange nicht mehr…

58 Prozent der Schweizer Bevölkerung für eine 13. AHV-Rente: Doch eigentlich hätten wir schon vor über 50 Jahren um einiges weiter gewesen sein können…

„Was für ein wichtiger Schritt hin zu einer sozialen Schweiz!“, schreiben die SP-Copräsidentin Mattea Meyer und der SP-Copräsident Cédric Wermuth, nachdem die Zustimmung zu einer 13. AHV-Rente durch 58 Prozent der Schweizer Bevölkerung feststeht. „Heute ist ein wirklich historischer Tag!“, frohlockt auch Gabriela Medici vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. „13. AHV-Rente sorgt für Sensation“, schwärmt das Onelinemagazin „Republik“. Und in der abendlichen Tagesschau des Fernsehens SRF1 ist von einer „Zäsur“ und gar von einer „Zeitenwende“ die Rede in Anbetracht der Tatsache, dass zum allerersten Mal eine Initiative, welche „einen Ausbau des schweizerischen Sozialstaats“ fordere, angenommen worden sei.

Doch Hand aufs Herz: Was ist denn tatsächlich geschehen? Mit einer 13. AHV-Rente wird doch bloss, und nicht einmal das vollständig, das wieder gutgemacht, was in den vergangenen Jahren an Kaufkraft verloren gegangen ist. Eine pure Selbstverständlichkeit, das absolute Minimum. Wenn eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dieses Anliegen abgelehnt hätte, wäre das nicht nur die schlechtere von zwei möglichen Varianten gewesen, sondern nichts weniger als eine absolute Bankrotterklärung all dessen, was man als Grundverständnis einer sozialen und demokratischen Gesellschaft bezeichnen müsste. Mitnichten ist der schweizerische Sozialstaat am 3. März 2024 ausgebaut wurden, im besten Falle hat man auf dem sich laufend beschleunigenden Weg zunehmender sozialer Polarisierung und unaufhörlich wachsender Bereicherung der Reichen auf Kosten zunehmender Verarmung der Armen gerade noch das Allerschlimmste für einen kurzen Moment verhindern können. Nicht einmal ein Tropfen auf einen heissen Stein, sondern, wenn schon, eher noch weniger.

Die Euphorie an diesem Abstimmungssonntag, das Gerede von einem „Sieg“ der sozialen Gerechtigkeit, von einem „historischen Tag“ oder gar von einer „Zeitenwende“ zeigt nur, wie unglaublich bescheiden jene politischen Kräfte geworden sind, die immer noch die Vision einer wirklich sozial gerechten, zutiefst demokratischen Schweiz in ihrem Herzen tragen. So dick und fett ist das Brot am oberen Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft schon geworden, dass an ihrem unteren Ende schon ein Freudenfest ausbricht, wenn man sich wenigstens noch den einen oder anderen der am Boden liegen gebliebenen Krümel ergattern kann. Seit 1997 wird man in der Schweiz nicht vor allem durch harte, sorgfältige und aufopfernde Arbeit reich, sondern vor allem dadurch, dass man bereits, auf welchen Wegen auch immer, um vieles reicher ist als andere – seit jenem ominösen Jahr 1997 nämlich übersteigt die Summe sämtlicher Einnahmen aus Kapitalgewinnen gesamtschweizerisch die Summe aus Arbeitseinkommen, und dieses Missverhältnis nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Unaufhörlich fliesst das Geld von den Armen zu den Reichen, von der Arbeit zum Kapital. Während Lebensmittelpreise, Strompreise und Mietzinsen immer weiter in die Höhe klettern, fahren Lebensmittelkonzerne, Elektrizitätsunternehmen und Immobilienkonzerne von Jahr zu Jahr höhere Milliardengewinne ein. Während über eine Million Menschen von Armut betroffen sind und 160’000 trotz voller Erwerbsarbeit nicht einmal genug verdienen, um davon leben zu können, haben sich in den Händen der 300 Reichsten bereits über 800 Milliarden Franken angesammelt, fast so viel, wie die USA jährlich für ihre mit Abstand grösste Militärmacht der Welt ausgeben. In einigen multinationalen Konzernen verdienen die am besten Bezahlten über 300 Mal mehr als die in der gleichen Firma am schlechtesten Bezahlten. Stundenlöhnen von 10’000 Franken der Topverdiener steht der bisher vergebliche Kampf um schweizweit gesicherte Mindestlöhne gegenüber und die Behauptung von Arbeitgeberseite, gesetzlich geregelte Mindestlöhne könne sich die Schweiz aus ökonomischen Gründen nicht leisten. 90 Milliarden Franken, fast das Doppelte der jährlich ausbezahlten AHV-Renten, fliessen Jahr für Jahr in Form von Erbschaften unversteuert von einer zur nächsten Generation, ungebrauchtes, überflüssiges Geld, nur dazu da, die schon Reichen noch reicher zu machen. Nur in zwei Ländern der Welt, nämlich Singapur und Namibia, sind die Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich noch grösser als in der Schweiz.

Auch die Altersvorsorge ist ein totales Abbild der herrschenden kapitalistischen Klassengesellschaft, angefangen von denen, die nur über eine AHV-Rente verfügen und nicht einmal von dieser anständig leben können, über jene, die von einer guten betrieblichen Berufsvorsorge durch lebenslange volle Erwerbstätigkeit profitieren, bis zu jenen, die sich zu alledem zusätzlich sogar noch eine dritte Säule leisten können und erst noch das Privileg geniessen, sich problemlos frühzeitig pensionieren zu lassen, während andere gezwungen sind, sich buchstäblich bis zum bitteren Ende zu Tode schinden zu müssen.

Dabei wären wir sogar vor über 50 Jahren, nämlich 1972, schon um einiges weiter gewesen. Die damals von der Partei der Arbeit geforderte Einführung einer Volkspension mit existenzsichernden Altersrenten anstelle des 3-Säulen-Prinzips wurde zwar – nicht zuletzt infolge des massiven Widerstands seitens der Pensionskassen, die ihre Profite schon davonschwimmen sahen – mit 85 Prozent Neinstimmen verworfen. Selbst die SP konnte sich nicht zu einer klaren Unterstützung der Vorlage durchringen, gerade mal vier Kantonalparteien sprachen sich für die Initiative aus. Aber wenigstens wurde damals noch über die Idee einer einheitlichen staatlichen Altersvorsorge diskutiert, etwas, was wir uns heute wohl nicht einmal mehr im Traum vorzustellen wagen – obwohl es doch nichts anderes wäre als die logische Umsetzung des Artikels 41 der Schweizerischen Bundesverfassung, wonach „Jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter gesichert“ sein soll. Ein Vergleich zwischen 1972 und 2024 zeigt, wie stark sich der gesellschaftspolitische Diskurs innerhalb dieser 52 Jahre verschoben hat: Gab es zu jener Zeit am linken Rand des politischen Spektrums noch eine Partei der Arbeit als Stachel im Fleisch der kapitalistischen Klassengesellschaft, so ist heute an dieser Stelle nur noch ein Vakuum, während sich dafür am anderen Ende des Spektrums immer stärker die SVP als bestimmende politische Kraft herausgebildet hat. Auch die Zeiten, da sich die SP die Überwindung des Kapitalismus ins Parteiprogramm geschrieben hat, sind längst vorbei, heute wäre dies vermutlich nicht mehr möglich. Das ist es, was man tatsächlich als „Zeitenwende“ bezeichnen könnte. Nicht irgendeine Abstimmung oder die Wahl irgendeines kantonalen Parlaments oder einer Regierungsbehörde am Tag X, sondern die allmählich schleichende Transformation über längere Zeiträume hinweg in immer so kleinen Schritten, dass jeder einzelne davon gerade noch verdaubar ist, man sich immer mehr daran gewöhnt und noch so Absurdes und Widersprüchliches dabei nach und nach zur Normalität wird. Genau so wie in einer Geschichte des irischen Wirtschafts- und Sozialphilosophen Charles B. Handy, in der ein alter Mann folgendes Experiment durchführte: Er nahm einen Frosch und warf ihn in einen Topf mit kochendem Wasser, der Frosch machte einen entsetzten Sprung, sprang aus der Hütte und verschwand im Gestrüpp. Dann nahm er einen anderen Frosch und legte ihn, weil dieses Mal kein kochendes Wasser bereit stand, in einen Topf mit kaltem Wasser und stellte ihn auf den Ofen, dann machte er Feuer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sich der Frosch im Topf ruhig verhielt. Das Wasser wurde immer wärmer, schliesslich heiss und dann begann es zu kochen. Doch der Frosch blieb selbst im heissesten Wasser ruhig und machte keinerlei Anstalten, der bedrohlichen Situation entkommen zu wollen. Bis er starb. Der alte Mann freute sich über das unerwartete Abendmahl und dachte über den Sinn des Lebens nach, während er mit Genuss seine Froschsuppe schlürfte.

Erfreulich ist immerhin, dass die traditionelle bürgerliche Einschüchterungspolitik und Angstmacherei für einmal im Leeren verpuffte, jenes Instrument nämlich, das bisher stets so einwandfrei funktionierte und selbst vernünftigste und bestens begründete Volksbegehren wie etwa längere Ferien, die Einführung von Erbschafts- und Kapitalgewinnsteuern, die Einführung einer Einheitskrankenkasse oder das Recht auf bezahlbare Wohnungen immer und immer wieder zu Fall zu bringen vermochte – selbst wenn diese Begehren in den Meinungsumfragen zunächst mehrheitlich Unterstützung gefunden hatten – „Abstimmungserfolge“ nicht zuletzt auch mithilfe einer jeweils übermächtig in den Abstimmungskampf geworfenen Geldmenge. Interessant ist zudem, dass offenbar mittlerweile auch die Bürgerlichen festgestellt haben, dass die soziale Gerechtigkeit ein Thema ist, welches den Menschen zunehmend auf den Nägeln brennt. So sind sie im Abstimmungskampf um die 13. AHV-Initiative immer wieder mit dem Argument angetreten, eine solche zusätzliche Rente käme auch Menschen zugute, die es gar nicht nötig hätten, und man würde doch lieber denen helfen, die wirklich darauf angewiesen wären. Als hätten sie versucht, die Linke links zu überholen und mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen. Doch auch dieses Spiel hat nicht funktioniert, zu fadenscheinig war es und, in Anbetracht der üblichen bürgerlichen Politik zugunsten der Reichen und Mächtigen, geradezu allzu scheinheilig, um nicht von der Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger durchschaut worden zu sein.

Doch kaum ist die Abstimmung vorüber, wird von der Gegnerschaft der Vorlage schon die Frage in den Raum gestellt, wer das Ganze nun finanzieren solle. Als ob dies ein ernsthaftes Problem wäre. Selbst SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verweist auf die Frage nach der Finanzierung der 13. AHV-Rente nur auf eine Erhöhung der Lohnabzüge oder der Mehrwertsteuer, nicht aber zum Beispiel auf die Möglichkeit der Erhöhung bzw. Einführung einer Erbschafts- oder Kapitalgewinnsteuer oder einer intensiveren Bekämpfung der Steuerhinterziehung, welche einen jährlichen Verlust an Steuereinnahmen von immerhin 14 bis 20 Milliarden Franken zur Folge hat, womit man sogar locker noch eine 14., 15. und 16. AHV-Rente bezahlen könnte. Bürgerliche Politiker rufen zudem bereits nach Sparmassnahmen der öffentlichen Hand, um die zusätzlichen Ausgaben für die AHV zu finanzieren. Die Gefahr ist gross, dass die heisse Kartoffel, bevor sie überhaupt gegessen wurde, erneut wieder an die noch Schwächeren und bereits genug Ausgepressten weitergereicht wird statt an jene, die in immer grösseren Geldmengen schwimmen, ohne hierfür auch nur die geringste Eigenleistung erbringen zu müssen.

Natürlich habe auch ich mich über das Abstimmungsergebnis des 3. März 2024 gefreut, aber das grosse Jubelfest scheint mir doch allzu früh angestimmt worden zu sein. Noch ist es ein weiter Weg bis zu einer tatsächlichen „Zeitenwende“. Wenn es tausend Schritte bis zur Verwirklichung tatsächlicher sozialer Gerechtigkeit braucht, dann war dies vielleicht der erste, dem aber die weiteren 999 erst noch folgen müssen. Sich gegenseitig zuzuprosten und sich dann behaglich zurückzulehnen, wäre wohl die falsche Schlussfolgerung. Der Kampf ist nicht zu Ende. Er hat gerade erst begonnen.

Von A wie Assange bis Z wie Zensur: Sie kommen nicht mehr mit Uniformen, im Stechschritt und mit Hitlergruss…

Folgende Beobachtungen beziehen sich auf die Printausgabe des schweizerischen „Tagesanzeigers“, mit täglich etwa 320’000 Leserinnen und Lesern immerhin eine der grössten und einflussreichsten Tageszeitungen des Landes. Ich gehe davon aus, dass es bei den meisten anderen westlichen Mainstreammedien nicht viel anders aussieht.

17. Februar 2024: Grosses Bild von Alexei Nawalny auf der Frontseite, „Putin-Widersacher Nawalny ist tot.“ Kommentar auf der ersten Seite: „Der Tod Nawalnys hat weltweit Erschütterung ausgelöst.“ Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hätte die Nachricht als sehr bedrückend empfunden und für den US-Präsidenten Joe Biden sei sogleich klar gewesen, dass einzig und allein der russische Präsident Wladimir Putin für diesen Tod verantwortlich sei. Über den Tod Nawalnys wird auf zwei weiteren vollen Seiten ausführlich berichtet, unter anderem mit folgenden Worten: „Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker. Einst war er von ganz unten gekommen, trat in den 2000er-Jahren als völlig neuer Politikertyp auf den Plan, ein moderner Blogger, der das Internet zu seiner mächtigsten Waffe machte, ein frecher junger Mann, der in Russland schnell beliebt wurde und es immer wieder schaffte, die russische Führung blosszustellen und ihr das Leben schwer zu machen.“ Auf Seite drei ein Kommentar der Redaktion: „Putin ist schuld an Nawalnys Tod. Putin hat ihn getötet.“ Schlagzeilen zu einem Zeitpunkt, an dem die forensischen Untersuchungen der Todesursache noch nicht einmal begonnen haben.

18. Februar: Ich schicke einen Leserbrief folgenden Inhalts an den „Tagesanzeiger“.

„Putin ist der Mörder“ – Diese Schlagzeile ging im Zusammenhang mit dem Tod von Alexei Nawalny blitzschnell durch alle westlichen Medien. Und dies, bevor die forensische Untersuchung der Todesursache überhaupt erst begonnen hatte. Nichts zu lesen war aber darüber, dass Nawalny ein extremer Nationalist und Rassist war. So bezeichnete er Bürgerrechtler als „quasiliberale Wichser“ und Homosexuelle als „Schwuchteln, die weggesperrt gehören“. Die Tschetschenen verglich er mit „Kakerlaken“ und forderte die Bombardierung von Tiflis mit Marschflugkörpern. „Volksgruppen aus dem Kaukasus und Arbeitsmigranten aus südlichen Nachbarländern“, sagte er, „alles, was uns stört, muss man unbeirrt per Deportation entfernen.“ Wegen solcher und ähnlicher Aussagen wurde er denn auch im Jahre 2007 aus der demokratisch-liberalen Jabloko-Partei ausgeschlossen. Zudem wurde ihm 2021 von Amnesty International der Status eines „gewaltlosen politischen Gefangenen“ aberkannt, mit der Begründung, er sei ein „rassistischer und gewalttätiger Schläger“. Zwar widerrief Amnesty International diese Aberkennung später wieder, aber nur unter massivem Druck westlicher Regierungen. Nawalny mag dem Westen bestens als Opfer des russischen Machtsystems und seines Präsidenten Putin dienen. Alles andere aber war er als ein lupenreiner Kämpfer für Freiheit und Demokratie, als den ihn die westlichen Medien darzustellen versuchen. Diese würden sich besser bei der eigenen Nase nehmen und „demokratisch“, nämlich ausgewogen, auch über die Schattenseiten des vermeintlichen Freiheitskämpfers berichten.

19. Februar: Münchner Sicherheitskonferenz mit rund 50 Staatschefinnen und Staatschefs und etwa 100 Ministerinnen und Ministern, dazu Expertinnen und Experten aus aller Welt. „Die Solidarität mit der Ukraine“, schreibt der „Tagesanzeiger“, „verstärkte sich durch die Nachricht vom Tod Nawalnys. Teilnehmende auf den Podien und in kleineren Gesprächsgruppen reagierten bestürzt. Kaum Zweifel gab es daran, dass sich Kremlchef Putin seines Kritikers entledigt und der Welt einmal mehr seine Skrupellosigkeit zur Schau gestellt hatte.“ Weiter ist zu lesen, dass die Gefahr einer Ausweitung des Ukrainekriegs durchaus bestehe und es höchste Zeit sei, die bestehende Gefahr zu realisieren. Besser kann es nicht zusammenpassen: Der Heldentod Nawalnys, Putin als Mörder und einen Tag später die Münchner Sicherheitskonferenz mit der Forderung nach weiterer massiver militärischer Aufrüstung des Westens, und dies, obwohl die NATO inklusive USA bereits heute für ihre Armeen 14 Mal mehr ausgibt als Russland und selbst ohne die USA noch das Vierfache.

20. Februar: Für einmal befasst sich der „Tagesanzeiger“ heute mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange, über dessen weiteres Schicksal – mögliche Auslieferung an die USA – ein Londoner Gericht in den nächsten Tagen entscheiden wird. Sollte er an die USA ausgeliefert werden, droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren. Doch eine Überstellung in ein US-Hochsicherheitsgefängnis würde ihr Mann nicht überleben, befürchtet Assanges Frau Stella. Schon die fünf Jahre Haft in London hätten Julian schwer zugesetzt, mit seiner Gesundheit sei es rapid abwärts gegangen, physisch wie psychisch. Deshalb hatte auch schon vor drei Jahren eine Londoner Richterin die Auslieferung Assanges an die USA unter Hinweis auf die depressive Verfassung des Häftlings verweigert. Es sei zu befürchten, dass er sich in den USA das Leben nehmen würde. Assange, der in den USA als „Terrorist“ gilt, hatte 90’000 Berichte geheimer und höchst sensitiver Natur über den US-Krieg in Afghanistan und 400’000 über den Krieg im Irak, 800’000 Berichte über Guantánomo-Gefangene sowie zahlreiche Videos und vertrauliche Depeschen von US-Diplomaten aus aller Welt an die Öffentlichkeit gebracht, die Washington verzweifelt geheim zu halten versucht hatte.

Die Art und Weise, wie der „Tagesanzeiger“ die beiden Fälle Assange und Nawalny kommentiert, könnte die Willkür und die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung gar nicht drastischer aufzeigen, und dies in einem „demokratischen“ und „neutralen“, sich zu Meinungs-, Presse- und Gedankenfreiheit bekennenden Land wie der Schweiz. Wurde Putin augenblicklich nach Nawalnys Tod als Mörder bezeichnet, sucht man eine vergleichbare Bezeichnung für die Hauptverantwortlichen der Inhaftierung Assanges vergeblich und wird eine solche Benennung höchstwahrscheinlich auch dann niemals verwendet werden, sollte sich Assange nach der Auslieferung an die USA tatsächlich das Leben nehmen. Und wird Nawalnys Tod als Folge eines skrupellosen, von Putin angeführten Staats- und Machtsystems dargestellt, das vor keiner noch so bestialischen Unmenschlichkeit zurückschreckt, werden auf der anderen Seite die von den USA begangenen und von Assange aufgedeckten Kriegsverbrechen, der völkerrechtswidrige Angriff auf Afghanistan und den Irak mit Hunderttausenden unschuldigen Opfern und die an Grausamkeit kaum zu überbietenden Folterpraktiken in den US-Militärgefängnissen auch nicht im Entferntesten so klar und unmissverständlich angeprangert wie der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.

20. Februar: Gleichentags mit dem Artikel über Julian Assange ist dann natürlich im „Tagesanzeiger“ ebenfalls ein weiterer ganzseitiger Bericht über Nawalny mit dem Titel „Er wird Russland schmerzlich fehlen“ zu finden, verfasst von Viktor Jerofejew, der gemäss biografischer Notiz als der „grösste lebende russische Schriftsteller“ gelten soll. Darin wird Nawalny als „mächtige historische Figur“ beschrieben, „zu deren Ehren man mit der Zeit Strassen, Prospekte, Universitäten, vielleicht sogar Städte benennen wird. So eine sprühende, energische Persönlichkeit, die dem ganzen System staatlicher Macht praktisch allein Paroli bietet. Ein schöner junger Mann, Ehemann einer der gemeinsamen Sache treu ergebenen schönen Frau, Vater zweier schöner Kinder, voll von originellen Einfällen und Sinn für Humor.“

21. Februar: Da mein Leserbrief im „Tagesanzeiger“ bis heute nicht veröffentlicht wurde und auch kein einziger anderer, der sich mit Nawalny und der von seinem Tod ausgelösten westlichen Kriegseuphorie kritisch auseinandergesetzt hätte – dafür jede Menge Leserbriefe über die Initiative für eine 13. AHV-Initiative, Toilettenanlagen im Zürcher Stadtzentrum, Pistenverlängerung auf dem Flughafen Kloten, öffentliche Zugänglichkeit von Flussufern oder Rückgang der Anzahl Studierender im Fach Geschichte an den Universitäten -, schreibe ich folgende Email an die Redaktion der Leserbriefseite des „Tagesanzeigers“.

Die bisherige Berichterstattung zum Thema Nawalny befasst sich ausschliesslich mit der Rolle Nawalnys als Widersacher von Putin. Mit keiner Silbe ist bisher über die „dunkle“ Vergangenheit Nawalnys berichtet worden. Im Sinne einer ausgewogenen Informationspolitik würde ich es sehr begrüssen, wenn Sie meinen Leserbrief oder einen anderen, der diese Thematik aufwirft, so bald wie möglich veröffentlichen würden. Die Meinungsbildung ist nämlich in vollem Gang.

23. Februar: Die „Weltwoche“ berichtet, dass aufgrund einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung den Krieg gegenüber Russland durch Verhandlungen zu einem Ende bringen möchten. Eine Meldung, die ich im „Tagesanzeiger“ vergeblich suche. Vermutlich passt sie zu wenig in die scheinbar geschlossene und übereinstimmende Meinung der westlichen Regierungen, die Ukraine müsse diesen Krieg um jeden Preis „gewinnen“. Stattdessen erfahren wir im heutigen „Tagesanzeiger“, dass Nawalny bei einem Besuch in der Schweiz im Spätherbst 2020 zur Verblüffung des 81jährigen Franz Stadelmann bewiesen hätte, dass er sogar jodeln könne. Weiter erfahren wir, dass dieser Franz Stadelmann sogar mit Nawalny Wildschweine jagen gegangen sei, doch die Polizisten, welche die beiden begleiteten, hätten beim Durchkämmen des Waldes sämtliche Wildschweine verscheucht.

26. Februar: Die „Berliner Zeitung“ vermeldet erste Ergebnisse der forensischen Untersuchungen zur Todesursache Nawalnys und zitiert Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, mit folgenden Worten: „Es tut mir leid, aber alles, was wir wissen, ist, dass Alexej Nawalny infolge eines Blutgerinnsels eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Auch diese Meldung findet nicht den Weg bis zum „Tagesanzeiger“, würde sie doch höchstwahrscheinlich die bisher aufgebaute Geschichte allzu sehr ins Wanken bringen.

28. Februar: Die „New York Times“ berichtet, dass der US-Geheimdienst CIA seit 2014 in der Ukraine zwölf geheime Spionagebasen entlang der russischen Grenze aufgebaut hätte, die als „Nervenzentrum“ der ukrainischen Militärs agieren. Diese Basisstationen seien in der Lage, russische Spionagesatelliten aufzuspüren und die Kommunikation zwischen russischen Kommandeuren zu belauschen. Zudem sei enthüllt worden, dass die CIA über acht Jahre hinweg in unterirdischen Bunkern, tief verborgen in ukrainischen Wäldern, ukrainische Geheimdienstoffiziere ausgebildet und ausgerüstet hat. Dass auch diese Nachricht nicht im „Tagesanzeiger“ erscheint, verwundert nun nach allem anderen freilich überhaupt nicht mehr. Dafür lesen wir in der heutigen Ausgabe des „Tagesanzeigers“, dass der französische Präsident Emmanuel Macron anlässlich eines „Ukrainegipfels“ in Paris sagte, es gäbe zurzeit innerhalb der NATO-Staaten noch keinen Konsens über die Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine, aber in Zukunft könne man „nichts ausschliessen“.

2. März: Der „Tagesanzeiger“ veröffentlicht ein ganzseitiges Interview mit John Bolton, dem früheren Sicherheitsberater Donald Trumps, in dem dieser der Schweiz nahelegt, ihre Neutralität zu überdenken, nachdem nun auch Schweden und Finnland der NATO beigetreten seien. Die Schweiz habe lange Erfolg gehabt, doch die Zeiten hätten sich geändert. Alle europäischen Länder müssten sich der Bedrohung durch Russland bewusst werden und mehr in die Sicherheit investieren. Er gratuliere allen, die bereits zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für ihr Verteidigungsbudget ausgäben, aber es dürfte auch gerne „doppelt so viel sein.“

2. März: Bis heute ist mein Leserbrief, den ich vor zwei Wochen an den „Tagesanzeiger“ schickte, nicht erschienen. Und auch kein einziger anderer, der sich mit diesem Thema kritisch auseinandergesetzt hätte. Nichts über die dunklen Seiten Nawalnys. Nichts über die Blindheit gegenüber der westlichen Macht-, Droh- und Aufrüstungspolitik. Nichts darüber, dass Putin in seinem zweistündigen Interview mit Tucker Carlson eine Friedensvision für die Ukraine und Russland in Aussicht gestellt hatte. Nichts darüber, dass man, wenn man den politischen Gegner immer mehr in die Ecke zu drängen versucht, ihn mit der Zeit so sehr provozieren könnte, dass ein gefährlicher Gegenschlag immer wahrscheinlicher wird. Nichts darüber, dass man Kriege förmlich herbeireden kann, wenn man von gar nichts anderem mehr spricht. Nichts darüber, dass künstlich aufgebauschte und geschürte Feindbilder meist nichts anderes sind als Projektionen der eigenen Machtgier auf den vermeintlichen politischen Gegner. Nichts darüber, dass Frieden nie durch Gewalt oder Krieg, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen geschaffen werden kann. Nichts darüber, dass das, was die Menschen weltweit miteinander verbindet, so viel grösser ist als alles, was sie voneinander trennt. Nichts darüber, dass Kriege grundsätzlich nicht gewinnbar sind und am Ende auf beiden Seiten immer nur Verlierer zurückbleiben. Nichts über die Verflechtungen zwischen Regierungen und der Rüstungsindustrie und nichts darüber, dass US-Aussenminister Blinken unlängst sagte, der Ukrainekrieg sei gut für die USA, weil er so viele Arbeitsplätze schaffe. Nichts darüber, was man mit den 2,2 Billionen Dollar, die jährlich weltweit völlig sinnlos für militärische Aufrüstung verschleudert werden, soviel Sinnvolleres und Nützlicheres anstellen könnte. Nichts darüber, dass nicht der Pazifismus aus der Zeit gefallen ist, sondern einzig und allein der ewiggestrige Irrglaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern liessen sich auch nur im Entferntesten mit militärischer Gewalt sinnvoll lösen. Ja, und auch auf meine Email an die Redaktion der Leserbriefseite des „Tagesanzeigers“ habe ich bis heute keine Antwort bekommen.

„Die moderne Diktatur“, sagte Gore Vidal, ein US-amerikanischer Schriftsteller, „kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen daher. Wir machen das mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und Unterhaltung.“ Und auch der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco erkannte, dass der „Faschismus von heute“ äusserlich „nichts zu tun hat mit dem aus der Vergangenheit. Keine Uniformen, kein Stechschritt und kein erhobener Gruss. Nein, er ist modern, raffiniert verpackt und wird mit viel Propaganda verkauft. Aber der Geist, der dahinter steckt, die totale Kontrolle und Ausbeutung, die Zensur, die Mediengleichschaltung und die Unterdrückung der freien Meinungsäusserung sind immer noch dieselben.“ Mit anderen Worten: Die moderne Diktatur kommt in der Art und Weise daher, dass wir meinen, es sei eine Demokratie…

Ist es Genozid oder nicht? – Wenn sich „Experten“ über Wörter streiten statt über Menschenleben…

„Verübt Israel Genozid?“, fragt das schweizerische Gratisblatt „20minuten“ vom 23. Februar 2024. Und berichtet dann über „Antworten auf schwierige Fragen“, gegeben von den beiden „Nahostexperten“ Andreas Böhm und Reinhard Schulze. Unten auf der gleichen Zeitungsseite ein etwas kürzerer Text mit dem Titel „So sieht Gaza nach viereinhalb Monaten Krieg aus“. Hier ist zu erfahren, dass der israelische Angriff auf den Gazastreifen bisher fast 30’000 Menschen getötet hat, 70 Prozent von ihnen Frauen und Kinder. 175’000 bis 207’000 Gebäude wurden beschädigt oder zerstört, das sind zwischen 60 und 71 Prozent aller Gebäude. Hunderttausende sind vom Hungertod bedroht, 90 Prozent der Bevölkerung haben laut der UNO keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln, von 36 Spitälern können laut WHO nur noch neun arbeiten, und auch das nur teilweise.

Doch zurück zum Interview mit den beiden „Nahostexperten“, die sich darüber auslassen, ob es sich bei alledem um einen Genozid handelt oder nicht. Einleitend schreibt die Zeitung, es sei „schwierig, objektiv über den Krieg zu schreiben, denn verlässliche Informationen sind rar, auf wichtige Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten.“ – Habe ich richtig gelesen? Sind nicht auf der gleichen Zeitungsseite sämtliche Opferzahlen, Zahlen über zerstörte Gebäude und von Hunger Betroffene akribisch aufgelistet? Und da behauptet die gleiche Zeitung, verlässliche Informationen seien „rar“? Wo, bitte, ist das Problem?

Auf die Frage, ob Israel Hamasangehörige töten dürfe, antwortet Böhm, man dürfe Angehörige der Hamas nicht „einfach so“ töten, sondern nur „im Gefecht“. – Doch wie sollte man das unterscheiden? Und weshalb überhaupt soll man Menschen töten dürfen? Übernimmt der „Experte“ hier nicht unbesehen die Rhetorik der einen der beiden Kriegsparteien, ohne sie auch nur ansatzweise zu hinterfragen?

Weiter sagt Böhm, „gezielte Tötungen“ seien nur dann „rechtmässig“, wenn es sich um „Kämpfer“ handle. – Kann so etwas wie eine „gezielte Tötung“ denn tatsächlich „rechtmässig“ sein? Und wer bitte, soll das in jedem einzelnen Fall entscheiden können und auf Grund von was für Kriterien?

Schulze meint, die „aussergerichtlichen Tötungen“ erfolgten „aus israelischer Sicht“ als „Notwehr gegen erfolgte oder drohende Gewalt“. – Aha, wiederum wird die Rhetorik der einen Kriegspartei fraglos übernommen und damit indirekt das Töten von 30’000 Menschen als „Notwehr“ gerechtfertigt. Selbst „drohende Gewalt“, so Schulze, sei schon ein Grund, Menschenleben sozusagen „präventiv“ auszulöschen – was für ein Freipass für ein grenzenloses Gemetzel, würden doch nicht wenige oder vielleicht sogar die meisten Israelis behaupten, Gewalt drohe ihnen von Seiten des gesamten palästinensischen Volks, also weshalb dann nicht gleich alle zusammen „präventiv“ umbringen? Und nicht mit einem einzigen Wort wird im gesamten Interview weder von Böhm noch von Schulze an die von Israel an Palästinenserinnen und Palästinensern begangene Gewalt im Verlaufe einer jahrzehntelangen Geschichte von Vertreibungen und Diskriminierung erinnert.

Schulze sagt, Hamasleute könnten „in der Menge untertauchen“, deshalb gäbe es „so viele zivile Opfer“. – Aha, die zivilen Opfer gibt es also nur, weil die Hamasleute „in der Menge untertauchen“ und nicht etwa deshalb, weil Israel seit dem 7. Oktober 2023 über dem Gazastreifen bereits über 12’000 Bomben mit einem Gewicht zwischen 150 und 1000 Kilogramm abgeworfen hat, und auch nicht deshalb, weil die USA im UNO-Sicherheitsrat sämtliche Resolutionen, die einen sofortigen Waffenstillstand gefordert haben, mit ihrem Veto bisher erfolgreich abgeblockt haben.

Auf die Frage, ob Israel im Gazastreifen einen Genozid verübe, meint Schulze, das könne „so nicht bestimmt werden“, denn Genozid sei ein „juristischer Tatbestand“. Man werde erst „in einigen Jahren wissen, ob der Tatbestand erfüllt war oder nicht“. – Was soll solche Wortklauberei? Und wie anders soll denn das bezeichnet werden, was den Palästinenserinnen und Palästinensern im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 angetan worden ist? Das sieht doch jedes Kind, dafür braucht es doch keine „Juristen“ und auch keine „Nahostexperten“, die sich offensichtlich derart schwertun mit diesem Wort, weil freilich, wenn man das dann so definieren würde, dies auch ein Grund dafür wäre, gegenüber Israel mindestens so harte internationale Sanktionen zu verhängen, wie sie gegenüber Russland infolge des Angriffs auf die Ukraine verhängt wurden. Und wenn Schulze sagt, dass es noch „einige Jahre“ brauche, bis feststehen werde, ob es ein Genozid gewesen sei oder nicht, ist das doch nichts anderes als eine reine Verzögerungstaktik. Worüber werden denn die „Experten“ im Verlaufe dieser Jahre diskutieren und befinden, was werden sie noch herausfinden, was nicht längst alle schon wissen, wie viele Tote wird es noch brauchen, sind 30’000 denn noch nicht genug?

Wenn sogenannte „Nahostexperten“ – wie Böhm und Schulze in diesem Interview von „20minuten“ – lieber über juristische Spitzfindigkeiten diskutieren als über Menschenleben, wenn sie alles noch so Verbrecherische zu bemänteln und zu relativieren versuchen – während sie jegliche „Relativierungen“ des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober in aller Schärfe verurteilen -, wenn sie uns erklären wollen, unter welchen Umständen man Menschen töten „dürfe“ und unter welchen Umständen nicht, und wenn sie nicht den Mut aufbringen, das, was dem palästinensischen Volk im Gazastreifen tagtäglich angetan wird, unmissverständlich und ohne jede Einschränkung als eines der zurzeit schlimmsten Verbrechen an der Menschlichkeit anzuprangern und zu verurteilen, dann machen sie sich, zusammen mit allen anderen, die sich um Rechtfertigungen und Relativierungen noch so absurder Art bemühen oder sich in Schweigen hüllen, am Tod und am Leiden, an den Ängsten, an der Trauer, an den Schmerzen und an der Verzweiflung zehntausender Kinder, Frauen und Männer, die nichts anderes falsch gemacht haben, als zur falschen Zeit am falschen Ort zu leben, mitschuldig.

Nestlé mit 20,9 Prozent höherem Konzerngewinn und immer längere Menschenschlangen vor den Tafeln: Muss zuerst jemand verhungern?

Zwei Geschichten. Die erste ist die Geschichte von rund 1,2 Millionen von Armut betroffenen Menschen in der Schweiz. Die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, deren Haushaltsbudget trotz voller Erwerbsarbeit am Ende des Monats nur noch knapp ausreicht, um genügend Lebensmittel für sich und ihre beiden Kinder einkaufen zu können. Die Geschichte von den jährlich steigenden Preisen von Grundnahrungsmitteln wie Margarine, Speisefette und Öl – Preissteigerung 2023: 19.9 Prozent -, Zucker – 17 Prozent -, Butter – 12,2 Prozent -, Milch, Käse und Eier – 8,5 Prozent. Die Geschichte der zunehmenden Verschuldung vieler Menschen. Die Geschichte der bei den Tafeln anstehenden und auf kostenlose Lebensmittelpakete wartenden Menschenschlangen, die immer länger werden…

Die zweite Geschichte ist die Geschichte des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Nestlé, der im Jahre 2023 einen Gewinn von 11,2 Milliarden Franken erzielte (20,9 Prozent mehr als im Vorjahr), der die Dividenden für seine Aktionärinnen und Aktionäre zum 29. aufeinanderfolgenden Mal erhöhte, der den 14 Mitgliedern des Verwaltungsrats 9,9 Millionen Franken (0,3 Millionen mehr als 2022) und der gesamten Konzernleitung 64,5 Millionen Franken (6,7 Millionen mehr als 2022) auszahlte und dessen Konzernchef Mark Schneider einen Jahreslohn von 11,2 Millionen Franken erhielt, 9 Prozent mehr als im Vorjahr.

Für gewöhnlich werden diese beiden Geschichten gänzlich unabhängig voneinander erzählt, die eine vielleicht in den Mittagsnachrichten am Radio, die andere in der Tagesschau am Abend, die eine in einem Wirtschaftsmagazin, die andere in einer Politdiskussion zum Thema wachsender Armut, die eine findet man in der Tageszeitung auf der Wirtschaftsseite, die andere, wenn überhaupt, im Lokalteil der Zeitung. Ganz so, als hätte die eine Geschichte mit der anderen rein gar nichts zu tun.

Dabei braucht man doch nur über ein paar ganz rudimentäre mathematische Kenntnisse zu verfügen, um ausrechnen zu können, dass das Geld, welches in der einen Geschichte immer kleiner wird, vermutlich doch genau jenes Geld sein könnte, welches in der anderen Geschichte immer grösser wird. Geld fällt ja nicht einfach vom Himmel. Es wächst auch nicht auf Bäumen. Es wurde wohl auch noch nie in irgendwelchen Muscheln auf dem Meeresgrund gefunden. Wenn es am einen Ort so schmerzlich fehlt, muss es an einem anderen Ort in umso absurdere Höhen klettern. „Geld“, sagte dereinst der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist vorhanden wie Dreck. Nur haben es die falschen Leute.“

Es wäre sozusagen das ökonomische ABC. Zu wissen, dass jegliches Geld, das sich bei den Reichen und Mächtigen ansammelt, früher oder später aus der Armut und der Arbeit all jener Menschen stammt, welche für die wundersame Vermehrung dieser Früchte immer grössere Opfer erbringen und gleichzeitig vom Genuss dieser Früchte immer mehr ausgeschlossen werden. Aber alles lernt man in den Schulen und über alles wird in aller Breite öffentlich diskutiert, debattiert und gestritten, nur über das Grundlegendste nicht, nämlich, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem im Grunde funktioniert. Die erste und die zweite Geschichte, man kann sie nicht unabhängig voneinander erzählen. Es sind zwei Puzzlestücke, die haargenau ineinander passen.

Und es soll niemand behaupten, das sei nur gerade bei den Lebensmittelpreisen oder beim Nahrungsmittelkonzern Nestlé so. Auch die Strompreise wachsen jährlich, allein im Jahre 2023 in der Grundversorgung für die Schweizer Haushalte um 5,77 auf 26,95 Rappen pro Kilowattstunde, was einer Zunahme von sage und schreibe 27 Prozent entspricht. Im Jahre 2024 soll es zu einer weiteren Preiserhöhung um 18 Prozent kommen. Und auch hier muss man nicht lange suchen, um das geklaute Geld wieder zu finden, nämlich bei den Stromkonzernen, von denen zum Beispiel allein die Berner Unternehmen BKW und Axpo im Jahre 2022 einen Gewinn von 574 Millionen Franken einfuhren, 247 Millionen mehr als im Vorjahr, allein die Axpo im ersten Halbjahr 2023 wiederum einen Rekordgewinn von 2,2 Milliarden Franken erzielte, die Berner Kraftwerke ihren Gewinn um 60 Prozent auf 304 Millionen Franken steigern konnten und der Stromkonzern Alpiq seinen Reingewinn 2023 sage und schreibe sogar um das Fünffache steigerte – gemäss Alpiq-Chefin Antje Kanngiesser die „besten Zahlern in der Geschichte von Alpiq“. Wenn dann beispielsweise die Berner Kraftwerke fast entschuldigend mitteilen, es gehe dabei nicht darum, die Konsumentinnen und Konsumenten zu schröpfen, sondern diese Gewinne seien bloss das Resultat des „Grosshandelsmarkts an der Börse“, zeigt nur, wie verlogen das Ganze ist. Den tatsächlich immer mehr geschröpften Konsumentinnen und Konsumenten ist es nämlich so ziemlich egal, ob diese ganze Absurdität in den Köpfen irgendwelcher habgieriger und nimmersatter Manager entstanden ist oder an irgendwelchen, schon längst nicht mehr durchschaubaren „Mechanismen“ von „Weltmarktbörsen“, die offensichtlich niemand mehr so richtig im Griff zu haben scheint: Tatsache ist, dass auch in diesem Bereich das Geld in immer wachsendem Ausmass und mit immer schnellerem Tempo von denen, die viel zu wenig davon haben, zu denen fliesst, die sowieso schon viel zu viel davon haben.

Wie auch auf dem Immobilienmarkt, auf dem sich die Wohnungsmieten zwischen 1980 und 2022 um sagenhafte 145 Prozent erhöht haben, jährlich durchschnittlich um 2,15 Prozent, und wo nach Mietzinserhöhungen im Jahre 2023 bereits auf das laufende Jahr erneut weitere Erhöhungen angekündigt werden. Und auch hier muss man nicht lange suchen: So erhöhte der Immobilienkonzern Zug Estates seinen Betriebsertrag im Jahre 2023 um 5,8 Prozent auf 84,8 Millionen Franken und Swiss Prime Site erzielte 2022 einen Reingewinn von über 404 Millionen Franken, was unter anderem zu einer weiteren Dividendenerhöhung Anlass gab. Kein Wunder, konnte bei so viel Klauerei der Online-Ratgeber von Moneyland am 16. Oktober 2023 stolz verkünden: „Schweizer Immobilien haben in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an Wert gewonnen. Auch wenn sich die zukünftige Entwicklung nicht mit Gewissheit voraussagen lässt, waren Schweizer Immobilien in der Vergangenheit eine relativ sichere Anlage mit stetigem Wachstumspotenzial.“ Ja, und auch einen grossen Teil des Ertrags aus den jährlich wachsenden Krankenkassenprämien, welche immer mehr Menschen schlaflose Nächte bereiten, würde man, ohne allzu lange suchen zu müssen, bei den gut verdienenden Kadern, den Managern und den Aktionärinnen und Aktionären jener 55 privaten Krankenkassen wiederfinden, die schon wissen, weshalb sie sich so erbittert gegen die Einführung einer staatlichen Einheitskrankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien zur Wehr setzen.

„Wärst du nicht reich“, sagt der arme zum reichen Mann in der Parabel von Bertolt Brecht, „dann wäre ich nicht arm.“ Die Verbreitung dieser simpelsten aller simplen Wahrheiten über die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems werden jedoch all jene, die von diesem System profitieren und nicht wollen, dass sich etwas ändert, zweifellos mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bis zuletzt bekämpfen. Und so greifen sie auch noch zu den absurdesten Ausflüchten und schieben als Gründe für dieses wachsende Missverhältnis die „Inflation“, die „Coronapandemie“, den „Ukrainekrieg“, die „unsichere Weltlage“, den „Fachkräftemangel“ und vieles mehr in den Vordergrund, bloss um zu verhindern, dass die tatsächlichen Ursachen ans Licht gelangen. Denn wenn dies geschähe, wäre wohl so etwas wie eine Revolution, in was für einer Form auch immer, unausweichlich. Auch die Französische Revolution 1789 wurde durch einen extremen Anstieg des Brotpreises ausgelöst, während der König und seine Höflinge auf dem Schloss von Versailles immer noch ihre ausgelassensten Fressgelage feierten. Der Unterschied ist: Damals hatte es schon Hungertote gegeben. Ob es wohl auch bei uns noch so weit kommen muss, bis einer genügend grossen Zahl von Menschen die Augen aufgehen?

Kaffee: Die Geschichte eines der rentabelsten Kolonialprodukte

Dies ist das 4. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

«Kaffee», schreiben Toni Keppeler, Laura Nadolski und Cecibel Romero in der Einleitung zu ihrem im Jahre 2023 erschienen Buch «Eine Geschichte von Genuss und Gewalt», «hatte von Anfang an ein fast symbiotisches Verhältnis mit dem Kapitalismus, als globalisiertes, höchst lukratives Profitgeschäft für Grossgrundbesitzer und multinationale Konzerne, verbunden mit der gnadenlosen Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern, mit Sklaverei und der wirtschaftlichen und ökologischen Zerstörung ganzer Regionen, aber auch als Mittel, um Konzentrations- und Leistungsfähigkeit zu verbessern, die ideale Droge für eine moderne Industriegesellschaft». Folgende Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf den in diesem Buch vermittelten Recherchen.

Wie eine Krake frass sich der Kaffeestrauch nach und nach durch die von Europäern eroberten und kolonialisierten Gebiete des Südens, zunächst in Zentral- und Südamerika, später auch in Äthiopien und in Südostasien, auf Ceylon, Java und in Vietnam. Überall wurde Land, das zuvor der Versorgung mit Nahrungsmitteln für die einheimische Bevölkerung gedient hatte, für den Anbau des so gewinnträchtigen Exportprodukts in Beschlag genommen. Hunger und Elend waren die Folge, riesige Wälder wurden abgeholzt, allein in Brasilien verschwand Regenwald in der Grösse fast des heute noch verbliebenen Amazonasurwalds und auf Ceylon wurden, nachdem die Briten nach vierjährigem Krieg zwischen 1814 und 1818 die ganze Insel erobert hatten, Wälder bis weit ins Hochland hinauf vernichtet. Auch in Guatemala kam es zu militärischer Gewalt gegen die ansässige Bevölkerung. Denn um 1850 gerieten Vulkanhänge an der Pazifikseite des Landes, die zuvor als mehr oder weniger unfruchtbar gegolten hatten,  aufgrund optimaler Voraussetzungen für den Kaffeeanbau zunehmend ins Visier der herrschenden Oligarchie. Weil dort aber Mayavölker in kleinen Streusiedlungen lebten und das Land zwecks Eigenversorgung mit Mais und Bohnen bebaut hatten, setzte die guatemaltekische Regierung kurzerhand ein Gesetz in Kraft, wonach alle Flächen, die kein Weideland waren und nicht mit Kaffee, Zucker oder Baumwolle bestanden waren, zu Brachland in Staatsbesitz erklärt und an die Meistbietenden verkauft wurden. Da die Maya aber kein Geld hatten, um das Land zu kaufen, blieb ihnen, als Alternative zur Zwangsarbeit, nichts anderes übrig, als noch höher in die Berge oder ins benachbarte Mexiko zu fliehen. Um dies zu verhindern, liess die Regierung die Armee massiv ausbauen und schuf zusätzliche Milizen, Guatemala wurde für die Maya zu einem einzigen grossen Arbeitslager und jeglicher Versuch weiterer Rebellionen wurde mit massivem Einsatz von militärischer Gewalt und regelrechten Massakern niedergeschlagen.

Je brutaler die Gewalt gegen Menschen und gegen die Natur, umso sagenhafter die Profite. In der Mitte des 17. Jahrhunderts war Kaffee das mit Abstand rentabelste Kolonialprodukt, der in den Abnehmerländern erzielte Verkaufserlös belief sich zeitweise auf bis das Sechsfache der Kosten für die Produktion und den Transport. Weil Kaffee beinahe ausschliesslich in Monokulturen angepflanzt wurde, kam es rasch zur Auslaugung der Böden, sodass eine Plantage jeweils nach durchschnittlich 20 Jahren aufgegeben werden musste, zurück blieben verwüstete, unbrauchbar gewordene Landschaften und immer mehr neues Land musste gerodet werden. Gleichzeitig wurden die Exportmengen immer weiter in die Höhe getrieben, auf Ceylon stieg der jährliche Export zwischen 1849 und 1868 von 16‘700 auf 50‘800 Tonnen, 1906 exportierte Brasilien in einem einzigen Jahr so viel wie zuvor in zehn Jahren und die Exportmenge von guatemaltekischem Kaffee wuchs nach der Niederschlagung der Mayaaufstände von 14‘000 Tonnen im Jahr 1873 auf 69‘000 Tonnen 1895 und über 100‘000 Tonnen 1909.

Die Grausamkeit, mit der indigene Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie die afrikanischen Sklavinnen und Sklaven auf den Kaffeepantagen behandelt wurden, ist nahezu unbeschreiblich. Nirgendwo war das Regime der Sklavenhalter so brutal wie auf Saint-Dominique, dem heutigen Haiti, jedes Jahr starben zwischen fünf und zehn Prozent der Sklavinnen und Sklaven an Hunger, Überarbeitung, Krankheiten und Folter. Körperstrafen waren alltäglich, Peitschen die ständigen Begleiter der Aufseher auf den Plantagen. Diebstahl wurde mit der Amputation einer Hand, eines Arms oder eines Beins bestraft. Oft machten sich die Aufseher einen Spass daraus, widerspenstigen Sklaven Schwarzpulver in den After zu pressen und dieses dann zu entzünden, was sie «einen Neger hüpfen» nannten. Andere Sklaven, die zu wenig Gehorsam zeigten, wurden lebendigen Leibes in Backöfen geworfen oder bis zum Kopf eingegraben und der sengenden Sonne, den Moskitos und den Ameisen überlassen. Besonders schlimm erging es jenen, die dieser Hölle zu entfliehen versuchten und dann, gejagt von Bluthunden, wieder eingefangen wurden, sie wurden auf bestialischste Weise öffentlich zu Tode gefoltert, zur Abschreckung und Einschüchterung aller anderen. Immer wieder kam es vor, dass Sklavinnen und Sklaven Neugeborene ertränkten, um ihnen das Schicksal ihrer Eltern zu ersparen, oder sich selber das Leben nahmen.

In Brasilien wurden schon Kinder ab neun Jahren auf die Plantagen geschickt. Ein Arbeitstag dauerte normalerweise von fünf Uhr morgens bis 21 Uhr, auch hier überlebten die meisten nicht viel mehr als die ersten sieben Jahre.

In El Salvador kaufte der berüchtigte britische Kaffeekönig James Hill zuhauf bankrotte Plantagen auf, die für ihn arbeitenden Frauen erhielten nur die Hälfte des Lohnes der Männer. Als Arbeiterinnen, die beim Düngen ungelöschten Kalk ausbringen mussten und sich dabei schwere Verbrennungen an den nackten Füssen zuzogen, fünf statt zehn Cent Lohn pro Tag forderten, wurden sie von Hill einfach entlassen und dieser setzte an ihrer Stelle Kinder ein, welche die Arbeit für zehn Cent erledigten. Es war verboten, von den Früchten der Schattenbäume zu pflücken, wer trotzdem dabei erwischt wurde, bekam eine Tracht Prügel. Auf einer von Hills Plantagen wurde ein Arbeiter erschossen, weil er zwei Büschel Bananen stehlen wollte, ein anderer, als er beim Pflücken von Orangen ertappt wurde. Sah Hill jemanden, der während der Arbeit redete oder lachte, musste dieser wegen der verloren gegangenen Arbeitszeit für den gleichen Lohn länger arbeiten.

Um 1925 war El Salvador, das kleinste Land Zentralamerikas, der grösste Kaffeeproduzent der Region. Der Verkauf der Bohnen brachte über neunzig Prozent der Exporteinnahmen. Davon profitierten fast ausschliesslich etwa fünfzig Familien. Sie lebten in Saus und Braus, in eleganten Wohnvierteln oder auf grossen Landgütern. Einzelne Häuser hatten bis zu dreissig Zimmer, die üppig dekoriert und mit den feinsten Möbeln ausgestattet waren. Die Kinder wurden auf Schulen in England, der Schweiz oder Frankreich geschickt. Schätzungsweise verfügte ein halbes Prozent der Bevölkerung über neunzig Prozent des gesamten Reichtums des Landes, ein durchschnittlicher Grossgrundbesitzer verdiente etwa gleich viel wie dreitausend Landarbeiter. Und als der US-amerikanische Wirtschaftsberater Frederic W. Taylor dem diktatorisch regierenden Präsidenten Jorge Meléndez empfahl, zusätzlich zum Kaffee auch noch Baumwolle anzubauen, war das Schicksal der verbliebenen Kleinbauern endgültig besiegelt, sie wurden gewaltsam vertrieben und ihre Felder und Hütten wurden niedergebrannt. So gut wie alles, was im Land produziert wurde, war nun für den Export bestimmt, für die Grundnahrungsmittel der Armen wie Mais, Reis und Bohnen gab es keinen Platz mehr.

Doch schliesslich war ein wachsender Teil der verarmten Landbevölkerung nicht mehr bereit, diese Zustände noch länger widerstandslos zu ertragen. Erste Gewerkschaften wurden gegründet, nachts wurden heimliche Treffen abgehalten, man sang Revolutions- und Volkslieder. 1930 wurde die Kommunistische Partei El Salvadors gegründet. Bald kam es zu ersten Streiks. Auf einer Kaffeeplantage in Zaragoza legten am 23. September 1931 zweihundert Landarbeiter die Arbeit nieder. Der Besitzer rief die Nationalgarde, diese eröffnete mit Maschinenpistolen das Feuer auf die versammelten Streikenden, vierzehn Menschen wurden getötet, 24 verletzt. Es folgten weitere Streiks in anderen Regionen des Landes, worauf in Turin Soldaten in eine Menge von rund vierhundert Streikenden schossen, mehrere Dutzend wurden getötet. In den darauffolgenden Tagen brannte die Armee in der Gegend Hütten ab und ermordete weitere sechzig Landarbeiter, einzelne Quellen sprechen von bis zu 400 Toten.

Am 10. Januar 1932 beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, die zu diesem Zeitpunkt über etwa 500 Mitglieder verfügte, einen umfassenden Volksaufstand. In der Nacht vom 20. auf den 21. Januar erklangen in der Gegend von Ahuachapán, Sonsonate, Izalco und Santa Tecla die Muschelhörner, das Signal zum Angriff. Zwischen fünftausend und siebenztausend mit Prügeln, Äxten, Macheten und Flinten bewaffnete Männer und Frauen machten sich auf, um mehrere Militärkasernen anzugreifen. Izalco wurde am 23. Januar um neun Uhr morgens von rund 600 Aufständischen eingenommen. Am stärksten war die Aufstandsbewegung in Juayúa, das um Mitternacht zum 23. Januar von rund sechshundert Landarbeitern unter Kontrolle gebracht wurde, der frühere Bürgermeister des Städtchens wurde von der wütenden Menge erschlagen und sein Haus niedergebrannt. Abgesehen von diesem Lynchmord kam es aber weder bei der Eroberung von Juayúa, noch bei jener anderer Ortschaften in der Region zu weiteren Gräueltaten. Doch inzwischen hatte sich die Armee bereits auf den Gegenschlag vorbereitet. Es gelang ihr, Farabundo Martí, den führenden Kopf der Kommunisten, ausfindig zu machen und gefangen zu nehmen, am 1. Februar wurde er, zusammen mit zwei Studentenführern, auf einem Friedhof in San Salvador erschossen.

Bald waren Armee und Nationalgarde überall in der Offensive, eine Gemeinde nach der anderen wurde zurückerobert. Nachts verübten geflohene Aufständische noch vereinzelte Attacken, dann aber begann das, was man noch heute in El Salvador «La Matanza» nennt. Das Blutbad fand in drei Etappen statt, zuerst Massenexekutionen in den zurückeroberten Gemeinden, dann grosse Massaker an verschiedenen anderen Orten und schliesslich die systematische Ermordung aufgrund von Listen, auf denen alle verdächtigen Personen von der Regierung, unter tatkräftiger Mithilfe nicht zuletzt von katholischen Priestern, aufgeführt worden waren. Zudem wurden alle über zwölfjährigen indigenen Männer erschossen, die man in den zurückeroberten Ortschaften auffinden konnte, in einzelnen Gemeinden wurden auch Frauen und Mädchen an die Wand gestellt. Insgesamt forderte «La Matanza» zwischen 30‘000 und 40‘000 Tote, rund zehn Prozent der damaligen indigenen Bevölkerung, einer der grössten Völkermorde aller Zeiten, der aber bis heute in der westlichen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle spielt.

Die indigene Kultur El Salvadors ist seither verschwunden. Die traditionellen Kleider werden nicht mehr getragen und es gibt nur noch ein paar wenige Alte, welche die frühere Sprache der Indigenen beherrschen. Juayúa, einer der zentralen Orte des Aufstands, ist heute ein umtriebiges Städtchen von gut 20‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Kein Denkmal erinnert an den Aufstand und an die Toten von 1932. Das heutige Rathaus ist von einem grossen Wandgemälde geschmückt, das die Kaffeeernte als fröhliche Idylle darstellt.

Doch die Geschichte des Kaffees ist nicht nur eine Geschichte grenzenloser Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und der Auslöschung ganzer indigener Kulturen, sondern auch die Geschichte der verheerenden Auswirkungen eines Wirtschaftsmodells, das, um aus den betroffenen Ländern die grösstmöglichen Profite herauszupressen, einzig und allein auf die Pflanzung von Monokulturen setzt. Da den Böden von Monokulturplantagen die natürliche Nährstoffzufuhr durch herabfallende Blätter und Früchte fehlt, brauchen sie viel mehr chemische Düngemittel und erschöpfen sich dadurch viel schneller. Aber sie verarmen nicht nur pflanzlich. Auch Tiere finden dort keinen Lebensraum mehr, nicht einmal Zugvögel machen in solchen Pflanzungen Rast, es fehlt ihnen an Schutz und Nahrung. Eine weitere Folge von Monokulturen ist die Bodenerosion. In natürlichen Wäldern werden wegen des schützenden Blätterdachs und der Bodenbewachsung kaum Sedimente abgetragen. Je mehr aber der Mensch in den natürlichen Pflanzenbestand eingreift, umso schneller schreitet die Erosion voran und Regenfälle schwemmen die nährstoffreiche Krume aus, die Fruchtbarkeit der Böden nimmt ab und diese verlieren zunehmend ihre Fähigkeit, Wasser zu speichern.

Was der kubanische Dichter und Nationalheld José Martí in Bezug auf den Zucker sagte, nämlich, dass «ein Volk, welches sein Wohlergehen auf ein einziges Produkt begründet, damit Selbstmord begeht», gilt gleichermassen für den Kaffee. Ist die Volkswirtschaft eines Landes so abhängig von einem einzigen Exportprodukt, dann wirken sich Schwankungen der Preise auf dem Weltmarkt umso verheerender aus. So war der Kaffeepreis an der New Yorker Börse bis 1895 mit 14 bis 18 US-Cent pro 454 Gramm relativ stabil, 1896 sank er aufgrund des Überangebots aus Brasilien auf unter 10 Cent, 1897 unter 8 Cent, worauf sich in den Lagern 5,4 Millionen Sack zu je 60 Kilogramm aufstauten. 1901 war die Überproduktion bereits auf 11,3 Millionen Sack angeschwollen und der Preis fiel auf 6 Cent und damit unter die Produktionskosten. Präsident Getúlio Vargas, ein glühender Verfechter von möglichst freiem Handel ohne staatliche Eingriffe, forderte sodann die Vernichtung der Überproduktion, 1931 gingen die ersten sieben Millionen Sack in Flammen auf, bis 1945 wurden insgesamt 90 Millionen Sack verbrannt oder im Meer versenkt. Das Dilemma besteht darin, dass die Preise bei einem zu grossen Angebot immer mehr sinken, was die produzierenden Länder dazu zwingt, die Produktion noch weiter anzukurbeln, um mit den tieferen Preisen dennoch genügend Einnahmen zu generieren. Tatsächlich aber sinken dadurch die Preise erst recht noch weiter – ein Teufelskreis und zugleich ein perfektes Beispiel dafür, wie die vielgelobte sogenannte «freie Marktwirtschaft» funktioniert: Eben gerade nicht zugunsten tatsächlicher Freiheit und tatsächlichen Wohlergehens für die Menschen, sondern höchstens zugunsten der Freiheiten und des Wohlergehens jener, die selber aus einem noch so grossen ökonomischen und ökologischen Unsinn ihre materiellen Nutzen ziehen und sich auf Kosten anderer bereichern, indem sie die verschiedenen produzierenden Länder gegeneinander ausspielen, jedes Land zu grösstmöglicher Produktion antreiben und am Ende von den dadurch verursachten Preissenkungen profitieren.

Erst ein 1965 von der internationalen Kaffeeorganisation ICO vereinbartes Abkommen, durch welches Obergrenzen von Exportquoten festgelegt wurden, sorgte für eine gewisse Preisstabilität. Doch 1989, als sich der Zusammenbruch der Sowjetunion abzuzeichnen begann, nutzten die USA als Verfechter eines möglichst ungezügelten Kapitalismus die Gelegenheit, um eine Fortführung des Kaffeeabkommens zu verweigern. Die Folgen waren verheerend, der Kaffeepreis fiel weit unter die Produktionskosten, Millionen von Kaffeebauern mussten um ihr Überleben kämpfen, Zehntausende Plantagen mussten aufgegeben werden, allein aus der Kaffeeregion im mexikanischen Bundesstaat Veracruz wanderten zwischen 1995 und 2000 rund 800‘000 Menschen aus, in den Ländern Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua gab es fast 400‘000 zusätzliche Migrantinnen und Migranten und in Kolumbien kam es zu einer deutlichen Zunahme von Gewalt und Kriminalität, heute leben dort 54,4 Prozent der Kaffeebauern unter der Armutsgrenze, 15,6 Prozent in extremer Armut.

Und erst recht die ökologischen Aspekte. So etwa der gigantische Wasserverbrauch, den die Produktion von Kaffee erfordert, jährlich nämlich weltweit rund 110 Milliarden Kubikmeter, das ist so viel, wie in eineinhalb Jahren den Rhein hinunterfliesst. Da diese Mengen fast ausschliesslich in den Kaffee produzierenden Ländern anfallen, exportieren diese also riesige Mengen ihrer natürlichen Ressource Wasser in die Konsumländer, wo wahrscheinlich den wenigstens Menschen bewusst ist, dass für jede Tasse Kaffee, die sie trinken, nicht weniger als 140 Liter Wasser aufgewendet werden mussten. Zudem ist die Umwandlung von Wald in landwirtschaftliche Fläche eine der Hauptquellen von Treibhausgasemissionen und damit entscheidend mitverantwortlich für den Klimawandel. Doch nicht nur das. Auch die gesamte Produktions-, Liefer- und Verwertungskette von Kaffee trägt nicht unwesentlich zur Erderwärmung bei.

Zählt man alle Menschen zusammen, die weltweit in der Produktion, in der Aufarbeitung, im Handel und in der Verarbeitung von Kaffee arbeiten, kommt man, nach einer Schätzung der Weltbank, auf rund eine halbe Milliarde. Nun könnte man ja sagen, dass, wenn es das Kaffeegeschäft nicht gäbe, diese halbe Milliarde Menschen keine Arbeit mehr hätten. Zieht man aber den massiven Wasserbrauch, die Zerstörung natürlicher Ressourcen, das Auslaugen der Böden, die Abholzung riesiger Waldbestände sowie die ökologischen Folgen insgesamt in Betracht, dazu noch die tiefen Löhne der Kaffeebäuerinnen und Kaffeebauern trotz schwerster und gesundheitsschädlicher Arbeit und erst recht die Tatsache, dass es sich bei alledem im Grunde um ein letztlich unnötiges, überflüssiges Luxus-, Kult- und Lifestyleprodukt für reiche Länder und weltweite Oberschichten handelt, dann ist die Frage wohl nur allzu berechtigt, ob diese halbe Milliarde Menschen nicht auch sinnvollere, sozial und ökologisch vertretbarere und zukunftsverträglichere Arbeiten leisten könnten. Dies umso mehr, wenn man die stagnierenden oder gar sinkenden Einkommen der Kaffeebäuerinnen und Kaffeebauern den steigenden Konsumentenpreisen gegenüberstellt und es wohl nicht allzu grosser mathematischer Kenntnisse bedarf, um sich ausrechnen zu können, dass, wenn so viele so grosse Opfer bringen und so viel bezahlen, andere bei alledem dafür wohl umso mehr verdienen müssen…

Alexei Nawalny: Ein Märtyrer im Kampf für Demokratie?

„Putin ist der Mörder“ – Diese Schlagzeile ging im Zusammenhang mit dem Tod von Alexei Nawalny am 16. Februar blitzschnell durch die gesamte westliche Medienwelt. Und dies, bevor die forensische Untersuchung der Todesursache überhaupt erst begonnen hatte. Schon erstaunlich, dieses Ausmass an Empörung, wenn man es mit dem Tod von bisher rund 23‘000 Menschen, davon 16‘000 Frauen und Kindern, vergleicht, die seit dem 7. Oktober im Gazastreifen infolge der israelischen Bombardierungen ums Leben gekommen sind. Von einer Schlagzeile „Netanyahu ist der Mörder“ war jedenfalls bisher noch in keinem der wichtigsten westlichen Medien etwas zu lesen, obwohl – im Gegensatz zum Fall Nawalny, wo alles noch im Bereich von Mutmassungen liegt – einwandfrei feststeht, dass Netanyahu mit dem Krieg und der anhaltenden Verweigerung eines Waffenstillstands für den Tod dieser grösstenteils unschuldigen Zivilpersonen die Hauptverantwortung trägt.

Nawalny zu einem Kämpfer oder gar Märtyrer für Freiheit und Demokratie emporzustilisieren, ist aber auch noch aus einem anderen Grunde fragwürdig. Nawalny war nämlich nicht nur der Widersacher Putins, sondern auch ein extremer Nationalist, um nicht zu sagen Rassist. So etwa bezeichnete er auf seinem Blog Bürgerrechtler als „quasiliberale Wichser“ und Homosexuelle als „Schwuchteln, die weggesperrt gehören“. Die Tschetschenen verglich er mit „Kakerlaken“ und forderte die Bombardierung von Tiflis mit Marschflugkörpern. „Volksgruppen aus dem Kaukasus und Arbeitsmigranten aus südlichen Nachbarländern“, sagte er, „alles, was uns stört, muss man mit Vorsicht, aber unbeirrt per Deportation entfernen.“ Wegen solcher und ähnlicher Aussagen wurde er denn auch im Jahre 2007 aus der demokratisch-liberalen Jabloko-Partei ausgeschlossen. Zudem wurde ihm 2021 von Amnesty International der Status eines „gewaltlosen politischen Gefangenen“ aberkannt, mit der Begründung, er sei ein „rassistischer und gewalttätiger Schläger“. Zwar widerrief Amnesty International diese Aberkennung später wieder, aber nur unter massivem Druck westlicher Regierungen.

Nawalny mag dem Westen bestens als Opfer des russischen Machtsystems und seines Präsidenten Putin dienen. Alles andere aber war er als ein lupenreiner Kämpfer für Freiheit und Demokratie, als den ihn die westlichen Mainstreammedien gerne darzustellen versuchen. Diese würden sich besser bei der eigenen Nase nehmen und „demokratisch“, nämlich ausgewogen, auch über die Schattenseiten des vermeintlichen Freiheitskämpfers berichten.