Vom Sternchen bis zum Glottisschlag: Kritische Anmerkungen zur Gendersprache

Gendersprache: Ein heikles Thema. Ein schwieriges Feld von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Verhärtungen, Feindbildern und der Tendenz, in die eine oder andere Ecke gedrängt oder in die eine oder andere Schublade eingeordnet zu werden. Ein Wespennest. Wenn ich im Folgenden dazu einige kritische Anmerkungen äussere, dann im vollen Bewusstsein, dass die Diskussion über eine angemessene, möglichst geschlechterneutrale Sprache noch in vollem Gange ist und vielleicht das eigentliche „Ei des Kolumbus“ noch nicht wirklich gefunden worden ist. Ein Lernprozess voller „Fehler“, Versuche und Irrtümer, aus denen stets wieder neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Was nicht heissen soll, dass dieser Prozess unnötig oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Die Diskussion ist wichtig, ja unverzichtbar. Nur sollte sie nicht in einer Atmosphäre gegenseitiger Rechthaberei bis hin zu Intoleranz oder gerade Fundamentalismus geführt werden, sondern eher mit einer gewissen spielerischen Leichtigkeit, Heiterkeit und Neugierde auf stets unerwartete Überraschungen, ganz so, wie auch Kinder mit der Sprache spielen, wenn sie diese in ihren ersten Lebensjahren, stets auch durch Versuch und Irrtum, erlernen. In diesem Sinne verstehe ich folgende Thesen als Beiträge zu einer Diskussion, die unbedingt kontrovers geführt werden muss. Jede These kann wieder zu einer Gegenthese führen, daraus entsteht im besten Falle etwas Neues, nur so kommen wir weiter.

These 1: Künstliche Zeichen wie Gendersternchen, Doppelpunkte, Binnen-I oder Glottisschlag geben dem Thema mehr Gewicht, als es eigentlich verdient. Wenn ich ein Buch aufschlage und mir schon dutzendfach Gendersternchen entgegenspringen, oder wenn ich einem Vortrag zuhöre, bei dem der Glottisschlag konsequent angewendet wird, dann wird damit, optisch oder akustisch speziell hervorgehoben, das Bild einer Gesellschaft vermittelt, die vor allem dadurch geprägt ist, dass es unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeiten gibt. Dass es aber nebst Diskriminierungen aufgrund der Geschlechterzugehörigkeit noch zahlreiche andere, gesellschaftlich mindestens so relevante Formen von Diskriminierungen und Macht- oder Abhängigkeitsverhältnissen gibt – aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, aufgrund der beruflichen Tätigkeit, aufgrund eines vorhandenen oder fehlenden Bildungsabschlusses, aufgrund der ethnischen Herkunft oder aufgrund des Alters – verschwindet dabei vollkommen aus dem Blickfeld.

These 2: Mit der gleichgewichtigen Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen haben wir doch eigentlich schon eine sehr gute Lösung gefunden. Die Praxis, nicht mehr von „Künstlern“ zu sprechen, sondern von „Künstlerinnen und Künstlern“, hat sich erfreulicherweise innerhalb relativ kurzer Zeit weitgehend durchgesetzt. Selbst eben noch hartnäckige Verfechter einer rein männlichen Sprache – ich denke da etwa an gewisse SVP-Politiker – verwenden heute in politischen Diskussionen ganz selbstverständlich beide Bezeichnungen, so als hätten sie nie etwas anderes getan. Der grosse Vorteil dieser Variante liegt auch darin, dass sie sowohl im mündlichen wie auch im schriftlichen Gebrauch gleichermassen funktioniert, dies im Gegensatz etwa zum Binnen-I oder anderen Variationen. Bei Aufzählungen von mehreren Personengruppen bietet sich ja auch, um Schwerfälligkeiten zu vermeiden, die Lösung an, abwechslungsweise männliche und weibliche Bezeichnungen zu verwenden, also zum Beispiel: „An diesem Projekt beteiligten sich Sozialarbeiter, Künstlerinnen, Politiker und Rentnerinnen.“ Die Verwendung beider Geschlechtsbezeichnungen hat übrigens eine längere Tradition, als uns zumeist bewusst ist. So etwa ist in einer Nürnberger Polizeiverordnung aus dem Jahre 1478 von „Bürgern und Bürgerinnen“, dem „Gast und der Gästin“ die Rede.

These 3: Das „dritte Geschlecht“ bzw. „nonbinäre“ Personen werden dadurch nicht ausgeschlossen. Dies ist wahrscheinlich der heikelste und schwierigste Punkt. Aber sind „drittes Geschlecht“ oder „nonbinäre“ Geschlechtszugehörigkeit nicht letztlich auch Spielformen und Variationen „weiblicher“ und „männlicher“ Elemente? Ist das „dritte Geschlecht“ etwas, was mit Weiblichem und Männlichem rein gar nichts zu tun hat, ein „Neutrum“ sozusagen? Gibt es nicht auch bei „hundertprozentigen“ Männern viele mit mehr oder weniger starken „weiblichen“ Wesenszügen, wie das Umgekehrte eben auch bei Frauen vorkommt? Kann man die Menschen überhaupt fixen Kategorien zuordnen, oder gibt es nicht viel mehr fliessende Übergänge zwischen ihnen, eine unendliche Vielzahl von Spielformen der Natur? Und wäre es dann nicht so, dass sich alle von ihnen, wenn man männliche und weibliche Bezeichnungen nennt, mitgemeint fühlen können? So betrachtet, wäre wahrscheinlich das Sternchen die einzige wirklich konsequente Lösung, wenn man dann alle anderen bisherigen Bezeichnungen einfach weglassen würde, nur wäre das in der Praxis kaum umsetzbar.

These 4: Sprachliche Neuerungen müssen auch gesellschaftlich umsetzbar sein. Auch dies zugegebenermassen ein heikler Punkt. Aber was nützt es, noch so „gerechte“ Lösungen zu erfinden, wenn sie dann so exotisch daherkommen, dass sie von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung gar nicht akzeptiert werden? Ich kann mir vorstellen, dass sich die gleichwertige Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen früher oder später flächendeckend durchsetzen wird – wir sind schon auf dem besten Weg dazu -, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Bauarbeiter in der Znünipause, wenn sie über ihre Freundinnen und Kollegen sprechen, jemals den Glottisschlag verwenden werden. Zu ausgefallene Forderungen können auch das Gegenteil bewirken. So gibt es bereits heute Menschen, die sich über die Diskussionen rund um die „Gendersprache“ dermassen aufregen, dass sie aus Prinzip nur noch männliche Formen verwenden. Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein.

These 5: Man kann die Verwendung stets beider Geschlechtsbezeichnungen, wenn man sie zu sehr auf die Spitze treibt, auch übertreiben und bewirkt damit dann eher das Gegenteil. So habe ich kürzlich in einem „modernen“ Geschichtsbuch gelesen, „spanische Konquistadoren und Konquistadorinnen“ hätten zwischen 1500 und 1600 ganz Lateinamerika erobert, und in einem Zeitungsartikel war von weltweit „2640 Milliardärinnen und Milliardären“ die Rede, obwohl es vermutlich keine einzige Konquistadorin gab und 99 Prozent der weltweiten Milliardäre Männer sind. So „übereifriges“ Gendern ist dann sogar in höchstem Grade geschichts- und realitätsverfälschend und verschleiert letztlich ausgerechnet jene – patriarchalen – Machtverhältnisse, die ja angeblich sichtbar gemacht und bekämpft werden sollen.

These 6: Sprachliche Änderungen allein genügen nicht, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass zum Beispiel die ungarische und die türkische Sprache keine grammatischen Mittel für einen Geschlechtsunterschied kennen, in diesen Ländern aber die Frauen kein bisschen weniger benachteiligt sind als in anderen Ländern. Wenn nicht mehr von „Kellnerinnen“, sondern nur noch von „Serviceangestellten“ die Rede ist, so ändert auch dies alleine noch nichts an der Tatsache, dass die betroffenen Frauen weiterhin unter harten Arbeitsbedingungen und fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung bei gleichzeitig überaus geringem Lohn zu leiden haben. Es fragt sich schon, ob man die ganze Zeit und die ganze Energie, die für „Sprachdiskussionen“ aufgewendet werden, nicht viel gescheiter für reale gesellschaftspolitische Veränderungen aufbringen würde.

These 7: Rechthaberei und Moralisieren sind keine guten Instrumente, um notwendige gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu bringen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Diskussionen rund um die „Gendersprache“ sind wertvoll und unverzichtbar. Wenn sie aber in reines Moralisieren, Intoleranz oder gar in Formen von Fundamentalismus ausarten, werden sie eher das Gegenteil von dem bewirken, was sie ursprünglich bezweckten. Auch die Toleranz ist ein Wert, dem wir Sorge tragen müssen.

Von zwanzigstündigen Arbeitstagen bis zur kapitalistischen Brandrede: Ein kritischer Rückblick auf das World Economic Forum im Januar 2024

Minus 13 Grad misst das Thermometer heute in Davos. Schlotternd steht er in einem offenen, ungeheizten Holzhäuschen, verkauft während acht Stunden pro Tag heissen Tee und warme Suppe. Er trägt eine dünne, ungefütterte Jacke. Nein, es hätte ihm niemand gesagt, dass er im Freien arbeiten müsse. Auch die Taxifahrerinnen und Taxifahrer schlottern, während sie mitten in der Nacht auf Kundschaft warten, aus Kostengründen haben sie die Heizungen in ihren Fahrzeugen abgestellt. Unweit davon geht in einem der Häuser, wo Angestellte untergebracht sind, um zwei Uhr nachts in einem der Zimmer das Licht an. Das Zimmermädchen aus Kroatien, das nach einem zwanzigstündigen Arbeitstag soeben zu Bett gegangen ist, muss schon wieder aufstehen, hat einen Telefonanruf erhalten, sie müsse möglichst schnell zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln. Andere feine Herren aus der erlauchten WEF-Gästeschar geben auch schon mal den Auftrag, ihnen die Schuhe zu binden, weil so etwas offensichtlich ganz und gar unter ihrer Würde liegt. Die mit silbernen und goldenen Kleiderbügeln, Fitnessräumen, Wellnessbädern, Sauna und Bibliotheken ausgestatteten Chalets, wo viele der WEF-Gäste inklusive den von ihnen mitgebrachten Butlern, Fitnesstrainern, Ärzten, Chauffeuren, Köchen, Sicherheitspersonal und weiteren Angestellten logieren, müssen täglich von unten bis oben geschrubbt werden, oft müssen in den einzelnen Chalets nach dem Weggang von Gästen, die übermässig geraucht haben, Teppiche und Sofas gereinigt und sämtliche Holzverkleidungen, Balken und Wände abgeschliffen werden.

Nichts könnte die kapitalistische Klassengesellschaft noch drastischer ins Scheinwerferlicht rücken als das jährliche World Economic Forum in Davos. Buchstäblich ganz oben, dort, wo sich der berühmte Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann abspielt und wo sich schon seit eh und je die Reichen und Mächtigen ihre Stelldicheins gaben, haben sie sich wieder versammelt, um sich gegenseitig zu feiern. Der Mann im Holzhäuschen und das Zimmermädchen aus Kroatien befinden sich auf der Pyramide der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, verglichen mit Millionen und Milliarden anderer, immer noch relativ weit oben. Von den anderen Millionen und Milliarden spricht schon gar niemand mehr, sie sind unsichtbar, obwohl sie auf ihren Schultern diese ganze höchste Spitze tragen und in Textilfabriken, auf Kakaoplantagen, schwindelerregenden Baustellen und in lebensgefährlichen Bergwerken von Lateinamerika über Afrika bis Ostasien bis zur Erschöpfung Tag und Nacht an jenem Fundament bauen, ohne welches die feinen Herren und Damen in Davos noch so lange und vergeblich von Wirtschaftswachstum, freier Marktwirtschaft und steigenden Bruttosozialprodukten faseln könnten, weil es das alles ohne diese Milliarden Unsichtbaren und Vergessenen nämlich schon längst gar nicht mehr gäbe.

Eigentlich müssten glaubwürdige politische und wirtschaftliche „Führungskräfte“ die eifrigsten und demütigsten Diener ihrer Völker sein. Nicht umsonst ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Minister“ der „Diener seines Volks“. Tatsächlich aber ist es im Kapitalismus genau umgekehrt: Die politischen und wirtschaftlichen „Führer“ sind im extremsten Ausmass Profiteure und Nutzniesser ihrer Völker, geniessen die höchsten Privilegien, haben am meisten Macht, wohnen in den schönsten und teuersten Häusern, geniessen die köstlichsten Speisen, verfügen über die beste Gesundheitsversorgung, können sich die erlesensten Reisen und Luxusvergnügungen leisten und entscheiden sogar eigenmächtig über Krieg oder Frieden, ohne je selber in den Krieg ziehen zu müssen. Und das alles mit gestohlenem Geld. Gestohlen aus jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung, gestohlen aus rücksichtslosem Raubbau an Bodenschätzen, gestohlen aus der Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen, gestohlen aus all dem, worauf die weniger privilegierten Bevölkerungsschichten in jedem einzelnen Land von Brasilien über Nigeria, von Kanada bis Grossbritannien, von Spanien und dem Libanon bis Russland und Japan verzichten müssen in einer Welt, in der, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam unlängst öffentlich bekannt gemacht hat, sämtliche Milliardäre über alle Grenzen hinweg innerhalb der letzten drei Jahre ihr Vermögen um 3,3 Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden ärmsten Menschen im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben und man schon unendlich blind sein muss, um nicht zu erkennen, dass die wachsende Armut der Armen und der wachsende Reichtum der Reichen keine Zufälle sind, sondern die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, und dass jedes Geldstück, das in den Taschen der Armen fehlt, früher oder später wieder in den Taschen der Reichen zu finden ist.

Doch solche Dinge interessieren die versammelte „Weltelite“ auf dem Zauberberg nicht. Allein die Pressenachricht von Oxfam über die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hätte wie eine Bombe einschlagen und ganze bisherige Weltbilder einstürzen lassen müssen. Doch nichts von alledem geschieht. Was die eigenen vermeintlichen „Wahrheiten“ in Frage stellen könnte, wird systematisch verdrängt. Was man nicht hören will, vor dem verschliesst man die Ohren. Lieber wiederholt man zum tausendsten Mal die ewiggleichen Geschichten von gestern und vorgestern, so wie der ukrainische Präsident Selenski, der immer noch die Forderung erhebt, sein Land müsse den Krieg gegen Russland „gewinnen“ – als ob es so etwas gäbe wie „gerechte“ und „ungerechte“ Kriege, als ob man allen Ernstes Kriege überhaupt „gewinnen“ könne und als ob nicht ein jeder Krieg nichts anderes ist als eine einzige grosse Niederlage und Kapitulation jeglicher Menschlichkeit. Oder, wie es Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, so wunderbar sagte: „Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer Frieden stiftet.“ Doch lieber vom Frieden spricht Selenski vom Krieg und lieber bastelt er an den alten, bewährten Feindbildern eifrig weiter, nennt Putin ein „Raubtier“ und stellt sich damit in eine Reihe mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, der in seinem Roman „Himmel über Charkiw“ sämtliche Russen als „Hunde“, „Schweine“, „Verbrecher“, „Unrat“ und „Barbaren, die unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung vernichten wollen“ bezeichnete und nicht einmal davor zurückschreckte, zu fordern, alle diese „Schweine“ sollten „in der Hölle brennen“ – und für all dies den Friedenspreis 2022 des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekam. Solche einseitigen und letztlich menschenfeindlichen Weltbilder scheinen der heutigen „Weltelite“ zu gefallen: Nach Selenskis Rede am ersten Tag des WEF erhob sich das Publikum zu Standing Ovations – eine Ehre, die letztmals im Jahre 1992 dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela zuteil kam, was auf erschreckende Weise zeigt, wie stark sich die Welt in diesen 32 Jahren offensichtlich verändert hat. Und dabei wüsste man doch schon längst, dass, so der bekannte Buchautor Thomas Pfitzer, „der Aufbau von Feindbildern“ nichts anderes ist als die „wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Doch Selenski ist nicht der Einzige, der am WEF ungehindert seine „Wahrheiten“ verbreiten darf und dafür erst noch mit Begeisterung und Applaus bedacht wird. Auch dem frisch gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei, der im Wahlkampf mit einer Kettensäge posierte, alles, was nur im Entferntesten mit staatlichen Massnahmen für soziale Gerechtigkeit zu tun hat, als Teufelszeug verwirft, den menschengemachten Klimawandel leugnet, den Kapitalismus als einzige Wirtschaftsform, welche die Menschen aus der Armut zu befreien vermöge, glorifiziert und, kaum war er gewählt, nicht nur das Bildungsministerium, sondern auch das Umweltministerium, das Kulturministerium, das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie abschaffte, auch ihm wird aufmerksam zugehört, auch ihm stellt niemand eine kritische Frage und auch er erhält am Ende seiner Rede einen warmen, übereinstimmenden Applaus. Nicht anders als der israelische Präsident Isaac Herzog, der, ganz auf den Spuren von kalten Kriegern wie Ronald Reagan, den Iran als das „Reich des Bösen“ bezeichnet und einmal mehr die Behauptung in die Welt setzt, israelische Babys seien von den Hamaskämpfern am 7. Oktober 2023 geköpft und ganze Familien verbrannt worden, obwohl für beides bis heute keine eindeutigen Beweise vorliegen und selbst US-Präsident Joe Biden zugeben musste, er hätte die Bilder, von denen er gesprochen hätte, selber gar nie gesehen. Dass dann aber aus dem Munde eines israelischen Präsidenten, der hauptverantwortlich ist für den Tod von über zehntausend unschuldigen palästinensischen Kindern im Gazastreifen, unverfroren die Aussage kommt, Israel kämpfe diesen Krieg „für das ganze Universum und für die ganze freie Welt“ und es deshalb auch „keinen Waffenstillstand“ geben dürfe, ist nun an Menschenverachtung und Zynismus nicht mehr zu überbieten. Doch auch dieser Rede wird andächtig zugehört und es scheint niemandem auch nur im Entferntesten in den Sinn zu kommen, sie auch nur mit einem einzigen Buh-Ruf zu unterbrechen.

Doch während man Selenski, Milei, Herzog und allen anderen „Führungsfiguren“, welche für sich in Anspruch nehmen, die westliche „Wertewelt“, „Freiheit“ und „Demokratie“ zu verkörpern, eine so grosse Plattform für die Verbreitung ihrer „Wahrheiten“ bietet und damit auch die mediale Präsenz weit in die ganze Welt hinaus, praktiziert man auf der anderen Seite im Umgang mit all jenen Stimmen, welche diese Einheitlichkeit stören oder gar in Frage stellen könnten, das pure Gegenteil: Mit Vertreterinnen und Vertretern von Umwelt- oder Antiglobalisierungsbewegungen wird nicht mehr das Gespräch gesucht, sie bleiben in der Kälte von Davos aussen vor, nicht einmal die Strasse von Klosters nach Davos dürfen sie für einen friedlichen Protestspaziergang benützen, sondern werden, während die Privathubschrauber der „Weltelite“ über ihre Köpfe hinwegfliegen, auf Spazierwege verwiesen, und dies, obwohl es bei einer 2020 noch bewilligten Kundgebung von 200 Personen auf der Hauptstrasse keinen einzigen Zwischenfall gegeben hatte. Und auch die eben noch so gefeierte und im Rampenlicht stehende Greta Thunberg wurde nicht mehr eingeladen, und dies nur, weil sie die ungeheuerliche Frechheit besass, die israelische Regierung wegen der Bombardierung des Gazastreifens zu kritisieren.

Derweilen bekommt man beim Anblick der Bilder vom WEF den Eindruck, als ginge es dabei um so etwas wie die Begegnung zwischen eng vertrauten Menschen, die sich schon eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen haben und nun ausser sich vor Freude sind, sich endlich wieder zu treffen, so innig sind die Umarmungen und die gegenseitigen Freundschafts-, ja fast Liebesbezeugungen. Es sind sich ja alle so wunderbar einig. Kein Wunder, nachdem man sich allem, was diese Einigkeit in Frage stellen könnte, so systematisch verschlossen hat und sich nicht einmal die Mühe nimmt, andere Meinungen zu widerlegen, sondern das tut, was noch viel schlimmer ist: nämlich, alles Störende schlicht und einfach totzuschweigen, als würde es gar nicht existieren.

„Die geheimen Verbote“, sagte die DDR-Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley im Jahre 1991, „das Beobachten, der Argwohn, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Und Paul Watzlawick, österreichisch-amerikanischer Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, sagte: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Worte, die aktueller nicht sein könnten. Die aber zugleich auch Anlass zur Hoffnung geben, dass auch das Gegenteil wieder denkbar werden könnte. Denn wenn sich die allgemein propagierten und gefeierten „Wahrheiten“ zu stark und immer mehr nur noch in eine einzige Richtung bewegen, dann müssen auf der anderen Seite früher oder später auch die Kräfte wachsen, die das durchschauen und in Frage stellen. Die Wahrheit lässt sich nicht beliebig lange unterdrücken. Oder, wie der frühere US-Präsident Abraham Lincoln sagte: „Man kann alle Leute eine Zeitlang an der Nase herumführen, und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit.“ Im Allerinnersten scheinbar ewiger „Wahrheiten“ steckt schon der Kern ihrer Überwindung. Wenn die Zustände zu extrem werden, wird es Zeit für etwas von Grund auf Neues: „In einer Zeit der Täuschung“, so der englische Schriftsteller und Journalist George Orwell, „wird das Aussprechen der Wahrheit zum revolutionären Akt.“ Dann wäre das WEF 2024 vielleicht im besten Falle nicht nur das Ende einer alten, sich noch einmal in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufbäumenden Zeit gewesen, sondern zugleich der Anfang einer neuen Zeit voller Hoffnung auf eine Zukunft, in der frierende Suppenverkäufer und Taxifahrer, Zimmermädchen, die um zwei Uhr nachts zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln müssen, der weltweit tägliche Hungertod von 10’000 Kindern in den Ländern des Südens bei gleichzeitig nie da gewesenem Überfluss in den Ländern des Nordens, das wahnwitzige Festhalten an der Ideologie eines immerwährendes Wirtschaftswachstum und der aller menschlichen Vernunft widersprechende Glaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern könnten durch militärische Gewalt sinnvoll gelöst werden, für immer der Vergangenheit angehören werden.

Von der Ukraine bis nach Palästina: Nicht in die Vergangenheit sollten wir schauen, sondern in die Zukunft

Der Vorwurf des Westens an die Adresse Russlands, wegen des völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 für diesen Konflikt die alleinige Schuld zu tragen, wird von Russland mit der Begründung zurückgewiesen, diese Militäraktion sei nur die Reaktion gewesen auf eine seit Jahrzehnten gegenüber Russland feindselige Politik der Westmächte, die sich vor allem in der kontinuierlichen Erweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands manifestiert hätte, dies entgegen dem Versprechen führender westlicher Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Nato unter keinen Umständen in Richtung Osten auszudehnen. Somit sei nicht Russland der Hauptschuldige, sondern der Westen, der Russland zu diesem Angriffskrieg provoziert hätte. Dem wiederum könnte die Gegenseite entgegenhalten, Russland hätte im Jahre 1994 der Ukraine volle Souveränität zugesichert und damit auch das Recht, jederzeit über seine Aussen- und Sicherheitspolitik autonom entscheiden zu können. Doch auch gegen diese Feststellung gäbe es auf der anderen Seite wieder Gegenargumente und je weiter man in die Geschichte zurückgehen würde, ergäben sich immer wieder neue und andere „Beweise“ dafür, wer nun der eigentliche Hauptschuldige am heutigen Krieg in der Ukraine sei.

Genau das Gleiche beim Nahostkonflikt. Konfrontiert man die israelische Regierung mit dem Vorwurf eines Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, so wird dieser Vorwurf mit der Behauptung zurückgewiesen, dies alles sei nur eine legitime Reaktion auf die Terrorattacke der Hamas gegenüber israelischen Zivilpersonen am 7. Oktober 2023. Der wahre Schuldige also sei nicht Israel, sondern die Hamas. Palästinenserinnen und Palästinenser auf der anderen Seite könnten dann wiederum die jahrzehntelange Unterdrückung und Diskriminierung ihres Volkes durch Israel ins Feld führen und kämen genau zum gegenteiligen Schluss: Der wahre Schuldige sei weder die Hamas noch das palästinensische Volk, sondern einzig und allein die israelische Besatzungspolitik. Israel wiederum könnte ins Feld führen, sein Existenzrecht sei wiederholt von palästinensischer Seite in Frage gestellt worden, während dann wiederum die Gegenseite daran erinnern könnte, dass frühere Versuche einer friedlichen Lösung wiederholt an der Haltung israelischer Extremisten gescheitert seien. Auch hier: Je nachdem, an welchem Punkt der Vergangenheit man ansetzt, kann man immer wieder die eine oder dann wieder die andere Seite als die einzig und allein Schuldigen darstellen.

Das Graben in der Vergangenheit bringt uns nicht weiter. Hat die eine Seite einen Punkt erreicht, von dem aus gesehen die Schuldfrage zur Gänze klar zu sein scheint, wird die andere Seite einfach wieder ein paar Jahre weiter zurück in die Vergangenheit gehen und schon ist alles wieder auf den Kopf gestellt. Man könnte das Spiel endlos weitertreiben, bis zu Adam und Eva, und käme doch nie an ein endgültiges Ziel. Deshalb müssen wir uns von diesem Weg verabschieden.

Es braucht eine grundlegend neue Sicht. Statt in die Vergangenheit, müssen wir in die Zukunft schauen. „Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ Wenn uns das gelingt und wir, statt Schuldige für vergangenes Unrecht zu suchen, uns Lösungen für die Zukunft vorzustellen versuchen, wird alles auf einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Und wir werden wieder erkennen, dass das Wesentliche nicht das ist, was uns Menschen voneinander trennt, sondern das, was uns miteinander verbindet. Und wir werden uns auf wunderbare Weise an all das wieder zu erinnern beginnen, was uns, im Augenblick unserer Geburt, miteinander verbunden hatte, als es in unseren Köpfen weder Grenzen, noch Nationen, noch irgendwelche Feindbilder, noch Zäune und Mauern gab, die uns voneinander trennten. Uns gemeinsam an diesen Traum erinnernd, werden wir lernen, uns nicht mehr gegenseitig zu hassen, zu verachten oder gar zu vernichten, sondern miteinander zu verschmelzen als Bewohnerinnen und Bewohner einer grossen gemeinsamen Erde, auf der wir alle miteinander und füreinander gemeinsam verantwortlich sind.

Territorien, Grenzen, Nationalstaaten sind nichts Gottgegebenes. Sie sind künstliche Erfindungen von Menschen in ganz bestimmten Zeitpunkten der Geschichte. „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, schrieb der Genfer Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau vor fast 300 Jahren, „und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand diese Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich davor zu hüten, diesem Betrüger Glauben zu schenken und zu vergessen, dass zwar die Früchte dieser Erde allen Menschen, die Erde als Ganzes aber niemandem gehört.“ Während Zehntausenden von Jahren hatten die Menschen nach anderen Prinzipien gelebt, privates Eigentum war unbekannt, alles wurde mit allen geteilt. Als die europäischen Kolonisten in die Lebensgebiete der indigenen Bevölkerung Nordamerikas eindrangen und als sie mit allen Mitteln versuchten, diese „unzivilisierten Wilden“ dem „fortschrittlichen“ Denken des „zivilisierten“ Europa zu unterwerfen, bestand die grösste Schwierigkeit darin, diesen Menschen beizubringen, anstelle des Wortes „wir“ das Wort „ich“ und anstelle des Ausdrucks „es ist unseres“ den Ausdruck „es ist meines“ zu verwenden.

Der unvoreingenommene Blick in die Zukunft könnte uns die Augen für diese Erkenntnis öffnen. Dass es je länger je weniger darauf ankommen wird, ob ein Mensch Bürger oder Bürgerin dieses oder jenes Staates ist, auf dieser oder der anderen Seite einer Grenze oder einer Mauer lebt, sich zu dieser oder jener Nation, Landeshymne oder Landesflagge bekennt, eine „Schweizerin“ oder ein „Türke“ ist, ein „Chilene“ oder eine „Japanerin“. Sondern dass es einzig und allein nur darauf ankommt, ob die Menschen dort, wo sie geboren wurden, in Frieden, Sicherheit und unter menschenwürdigen Verhältnissen leben können. Staatliche Grenzen, Territorien, die man für sich in Anspruch nimmt und die man, selbst durch das Opfern von Menschenleben, gegen die Ansprüche anderer zu verteidigen und zu sichern trachtet, würden mit der Zeit ebenso in Bedeutungslosigkeit versinken wie all die unsichtbaren Grenzen, welche schon heute von Störchen, Kranichen, Schwalben, Lerchen und Nachtigallen über alle Kontinente hinweg überflogen werden und von deren Verschwinden auch schon John Lennon in seinem legendären Lied „Imagine“ träumte: Es gäbe keine Länder mehr, keine Religionen, kein Besitztum, nichts, wofür man sterben oder töten müsste, alle würden alles miteinander teilen und es gäbe nur noch eine einzige grosse, gemeinsame Welt. Lässt uns der Blick in die Vergangenheit verzweifeln und in den ewig gleichen Kreisen von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit verharren, so würde dem gegenüber der Blick in die Zukunft wohl ungeahnte Energien freisetzen, um ein so in unseren Köpfen entstehendes Bild nicht nur zu erträumen, sondern auch tatsächlich in die Wirklichkeit umzusetzen. Voraussetzung dafür ist nur, dass wir, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt einmal sagte, nicht aufhören dürfen, uns „die Welt so vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre“.

Zurück zur Ukraine. Nichts spricht dagegen und wäre im Gegenteil sogar in höchstem Masse demokratisch, als die Bewohnerinnen und Bewohner der umkämpften Gebiete darüber abstimmen zu lassen, ob sie lieber zum einen oder zum anderen Staat gehören oder ob sie vielleicht sogar eine eigene, unabhängige Republik bilden wollen. Denn die entscheidende Frage ist nicht, ob über diesem oder jenem Dorf, über dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss, über diesem oder jenem Weizenfeld die ukrainische Flagge weht oder die russische. Das einzige wirklich Entscheidende ist, ob in diesem oder jenem Dorf, in dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss und auf diesem oder jenem Weizenfeld für die dortigen Menschen ein gutes, sorgenfreies Leben möglich ist oder nicht. Eine solche Abstimmung müsste freilich unter UNO-Aufsicht erfolgen und selbstverständlich müssten sich sowohl die Ukraine als auch Russland damit einverstanden erklären, das Resultat, wie immer es herauskäme, zu akzeptieren. Niemand könnte dabei verlieren, alle könnten nur gewinnen. Auch was Palästina betrifft, wäre es völlig zweitrangig, ob ein Einparteienstaat oder eine Zweitstaatenlösung verwirklicht würde. Das einzige wirklich Entscheidende wäre, dass beide Völker in Frieden, Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt leben könnten, ohne gegenseitigen Hass, ohne Diskriminierung und ohne jegliche Missachtung der elementaren Menschenrechte. Und dies, der Blick in die Zukunft statt in die Vergangenheit, hätte wohl auch für alle anderen Kriege um Grenzen, Ressourcen, Territorien und Macht, die weltweit gegenwärtig wüten, die genau gleiche Gültigkeit.

„Du hast die Wahl“, so der US-amerikanische Publizist Noam Chomsky, „du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden.“ Worauf sollen wir noch warten?

Selenski und die Schweiz: Friedensverhandlungen ohne den Einbezug sämtlicher Konfliktparteien?

Aus der Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski scheint sein Staatsbesuch in Bern am 14. Januar 2024 im Vorfeld des WEF ein voller Erfolg gewesen zu sein. So hat sich die Schweiz, wie Bundespräsidentin Viola Amherd bekanntgab, bereit erklärt, nicht nur den Wiederaufbau der Ukraine finanziell zu unterstützen, sondern auch, einen Friedensgipfel auf höchster Ebene zur Lösung des Ukrainekonflikts zu organisieren. Auf die Frage, welche Länder am geplanten Friedensgipfel dabei sein könnten, sagte Selenski, das seien prinzipiell alle Länder, welche die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen würden. Mit anderen Worten: Russland soll in die geplanten Friedensverhandlungen nicht einbezogen werden.

Doch kann man allen Ernstes Friedensverhandlungen führen wollen, wenn die eine der beiden Konfliktparteien gar nicht mit dabei ist? Und kann es die Aufgabe der neutralen Schweiz sein, solche „Friedensverhandlungen“ an der Seite der einen der beiden Konfliktparteien zu organisieren und gleichzeitig die andere Konfliktpartei davon auszuschliessen? Erstaunlicherweise scheinen solche Fragen in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung kaum eine Rolle zu spielen. Selenski hat es einmal mehr meisterhaft verstanden, dank seinem diplomatischen Geschick und einer perfekt organisierten Charmeoffensive die Schweiz in sein Boot zu holen. Mit Aussagen wie „Neutral zu sein bedeutet für die Schweiz nicht, die Realität zu ignorieren“ definiert er gleich von Anfang an, worin diese „Realität“ besteht, nämlich einzig und allein aus seiner persönlichen Sicht und Darstellung des Ukrainekonflikts, bei der jeglicher Widerspruch schon von Anfang an gänzlich ausgeschlossen wird. Dass er dabei äusserst geschickt vorgeht, zeigt sich auch darin, dass er sich bereits vor der Pressekonferenz mit Viola Amherd mit verschiedenen Politikerinnen und Politikern, so etwa Nationalratspräsident Eric Nussbaumer und Ständeratspräsidentin Eva Herzog, sowie den Parteispitzen getroffen hatte. Und dies offensichtlich mit grossem Erfolg. Selbst Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP, schwärmte auf X, sie sei vom Treffen mit Selenski „beeindruckt“ gewesen, wobei man sich unwillkürlich fragen muss, was genau sie so beeindruckt haben und was sie wohl erfahren haben könnte, was sie nicht sowieso schon wusste. Einzig die SVP verweigert sich dem Spektakel, hat aber offensichtlich auch nicht den Mut, eine klare Gegenposition einzunehmen, sondern erklärt ihr Fernbleiben mit Terminschwierigkeiten.

Was ist da von der vielgelobten schweizerischen Neutralität übrig geblieben? Die einzige wirklich glaubwürdige Antwort der Schweiz auf das Anliegen Selenskis hätte doch lauten müssen: Selbstverständlich beteiligen wir uns noch so gerne an Friedensverhandlungen. Wir wären, als neutrales Land, sogar auch dazu bereit, die Organisation und die Führung dieser Verhandlungen zu übernehmen. Aber nur unter einer Bedingung: Dass auch die andere Konfliktpartei, nämlich Russland, in die Verhandlungen einbezogen wird. Denn nur so kann eine dauerhafte, nachhaltige Lösung des Konflikts erreicht werden.

Man kann sich schon, wie die offizielle Schweiz dies gegenwärtig tut, zu hundert Prozent auf die Seite Selenskis und der Ukraine stellen. Aber das geht nur, wenn man unglaublich viele Fakten ausblendet, vor ihnen die Augen verschliesst und absolut nichts davon wissen will. Man muss die Augen davor verschliessen, dass entgegen den Zusicherungen führender westlicher Politiker zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen, genau dies in der Folge getan wurde und unweigerlich dazu führen musste, dass sich Russland in seiner Souveränität zunehmend bedroht fühlte. Man muss die Augen davor verschliessen, dass Putin kurz nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur und ein Ende der gegenseitigen Aufrüstung vorgeschlagen hatte, ohne dass der Westen auf dieses Anliegen eingegangen wäre. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die USA höchstwahrscheinlich beim gewaltsamen Sturz des russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch anfangs 2014 eine wesentliche Rolle spielten. Man muss die Augen davor verschliessen, dass nationalsozialistisch ausgerichtete Kampfverbände innerhalb der ukrainischen Armee seit 2014 im Donbass schwere Kriegsverbrechen begingen. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die ukrainische Regierung spätestens ab 2019 mit rigorosen Gesetzen die Gleichberechtigung der russischen Sprache und Kultur innerhalb der Ukraine zu bekämpfen begann. Und man muss vor allem auch die Augen davor verschliessen, dass Putin noch im Dezember 2021 der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was von dieser kommentarlos zurückgewiesen wurde. Selbst wenn man das alles berücksichtigen würde, könnte man damit freilich dennoch nicht den Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 rechtfertigen. Aber man würde sich dann wenigstens davor hüten, die alleinige Schuld an diesem Konflikt ausschliesslich Russland in die Schuhe zu schieben. Sondern sich eingestehen, dass diese in der Budapester Zeitung vom 7. April 2023 veröffentlichte Aussage der tatsächlichen Wahrheit wohl um ein Vielfaches näher kommt: „Russland ist der Täter, der Westen aber ist der Verursacher.“

Man braucht nicht einem russischen Propagandasender aufzusitzen, um sich eine eigene kritische Meinung bilden zu können. Es genügt, die kritischen Stimmen innerhalb der eigenen westlichen Welt wahrzunehmen. So etwa sagte der US-Historiker George F. Kennan schon im Jahre 1997: „Die Entscheidung, die Nato bis an die Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Joe Biden, damals Senator, sagte, ebenfalls 1997: „Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der Nato auf die baltischen Staaten.“ Papst Franziskus sagte im Mai 2022: „Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands. Vielleicht war es die Nato, die vor Russlands Tor bellte und Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.“ Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger sagte: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ Und Yves Rossier, früherer Schweizer Botschafter in Moskau, meinte: „Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.“

Gestern hat das WEF in Davos angefangen, dieses jährliche Stelldichein der Reichen und Mächtigen dieser Welt. Viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, werden sich hunderte Male einhellig zulächeln und zuprosten und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dabei um etwas viel Tiefgründigeres gehen wird als um das, was andernorts als „Smalltalk“ bezeichnet wird, nur dass es millionenfach mehr kostet und eine millionenfach grössere mediale Präsenz einnehmen wird. Wäre es für die Menschheit nicht unvergleichlich viel gewinnbringender, stattdessen jedes Jahr ein fünftägiges historisches Seminar abzuhalten, um auf diese Weise der Wahrheit ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, gegenseitige Feindbilder abzubauen und tatsächlich gemeinsame Lösungen für eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit aufzubauen?

Von der „Kriegspolitik“ zur „Friedenspolitik“: Glücklicherweise gibt es noch Menschen, die von einer anderen Welt träumen

In der Diskussionssendung „Arena“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 12. Januar 2024 wurde schwerpunktmässig über die zukünftige schweizerische „Sicherheitspolitik“ diskutiert. Eingeladen war, nebst den Parteispitzen der Bundesratsparteien, auch Bundesrätin Viola Amherd, die Vorsteherin des VBS, des Bundesamts für „Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport“, die Chefin jenes Ministeriums also, das in den meisten Ländern als „Verteidigungsministerium“ bezeichnet wird. Dementsprechend ging es dann in der Diskussion fast ausschliesslich um Fragen militärpolitischer Natur: Ob der für die Schweizer Armee vorgesehene Prozentsatz der jährlichen Bundesausgaben für die Aufrechterhaltung der „Sicherheit“ in einer „schwieriger gewordenen Zeit“ immer noch genüge, ob es für die Gewährleistung der „Sicherheit“ vor allem eine möglichst grosse Anzahl von Panzern oder Kampfflugzeugen brauche oder doch eher mehr Investitionen in die „Cybersicherheit“, ob die Schweiz stärker als bisher mit der Nato zusammenarbeiten oder doch eher auf ihrem „neutralen“ Status beharren müsste, und so weiter…

Ich sehe die dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartiere im Gazastreifen und die Menschen, die zwischen den Trümmern verzweifelt nach Verschütteten suchen. Ich höre die Schreie der Kinder, die, mangels Medikamenten, in palästinensischen Spitälern ohne Narkose operiert werden müssen. Und auch die verzweifelten und angstvollen Gesichter ukrainischer und russischer Soldaten in den Schützengräben der Ostukraine bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad gehen mir nicht aus dem Kopf. Von alledem war während der eineinhalb Stunden Arena-Diskussion in behaglicher Atmosphäre nicht annähernd etwas zu spüren.

Müsste man nicht endlich damit aufhören, über die „optimale“ Vorbereitung auf einen möglichen zukünftigen Krieg zu diskutieren, und sich stattdessen voll und ganz auf die Frage konzentrieren, wie Kriege als so ziemlich das Absurdeste, was Menschen sich gegenseitig antun können, für immer aus der Welt zu schaffen wären? Um „Sicherheit“ nicht mehr bloss als etwas zu verstehen, was sich ein einzelnes Land gegenüber anderen Ländern sichern bzw. sich leisten kann, sondern als etwas, was für alle gleichermassen und jederzeit Gültigkeit haben muss. Als etwas, was erst dann endgültig Wirklichkeit wäre, wenn es keinen einzigen Krieg mehr gäbe und niemand mehr vor irgendwem Angst haben müsste. Als etwas, was allen nur Vorteile brächte und niemandem einen Nachteil.

Was für eine wunderbare Chance böte sich damit doch gerade der Schweiz, diesem Mikrokosmos gelebter direkter Demokratie, eines ausgeklügelten föderalistischen Staatssystems, strikter Neutralität, friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, so langer humanitärer Tradition und so vielfältiger Erfahrungen im Bereich von Mediation, Diplomatie, Völkerverständigung und Konfliktlösung durch Kompromisse. Es kann doch nicht sein, dass alle diese Errungenschaften ausgerechnet in einer Zeit, da sie dringender gefragt wären denn je, nach und nach unter den Tisch gewischt werden und sich die Schweiz immer stärker einem globalen Mainstream anzupassen beginnt, mit dem an allen Ecken und Enden auch noch die verrücktesten Feindbilder aufgebaut und noch die verrücktesten Argumente hergeholt werden, um militärische Aufrüstung und das Führen „guter“ Kriege zu rechtfertigen. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt genug Negatives, was man der Schweiz vorwerfen könnte, ihre oft fragwürdige Rolle als globaler Finanzplatz zum Beispiel, ihren Anteil an kolonialer Ausbeutung bis in die Gegenwart, ihre oft menschenfeindliche Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die einerseits ökonomisch ausgebeutet, gleichzeitig aber in vielerlei Hinsicht diskriminiert werden, und noch vieles mehr. Aber das sollte uns nicht die Augen vor dem riesigen Potenzial verschliessen, mit dem die Schweiz eine noch viel aktivere und mutigere Rolle bei der internationalen Konfliktlösung und Friedensförderung spielen könnte, als sie dies bis anhin getan hat.

Kriege kann man nicht abschaffen, indem man sie, einfach gesagt, verbietet. Es geht vielmehr darum, weltweit so gute Voraussetzungen für die Lebensbedingungen der Menschen wie auch für das Zusammenleben von Völkern und Staaten zu schaffen, dass Kriege eines Tages sozusagen überflüssig werden und immer die schlechteste aller möglichen Alternativen wären. Und da ist an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf. Es geht zum Beispiel um eine gerechte Verteilung der Ressourcen, um soziale Gerechtigkeit, um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um den Kampf gegen Umweltzerstörung, Ressourcenverschleiss und Klimawandel, um die Förderung von Selbstbestimmung und Basisdemokratie und die Überwindung von ausbeuterischen, patriarchalen, rassistischen Machtstrukturen und imperialen Grossmachtphantasien, aber etwa auch um Völkerverständigung durch möglichst viele zwischenmenschliche Begegnungen und gemeinsame länderübergreifende Kulturprojekte sowie eine dringend notwendige Stärkung der UNO, die bei der Lösung von Konflikten zwischen Staaten oder Völkern eine viel aktivere und bestimmendere Rolle übernehmen müsste. Auch könnte sich die Schweiz für eine Wiederbelebung und für ein Wiedererstarken der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) einsetzen, eine Organisation, in der sich vor noch nicht allzu langer Zeit Schweizer Diplomaten und Diplomatinnen wie Thomas Greminger, Heidi Grau, Tim Guldimann, Peter Burkhard, Gerard Stoudmann und Heidi Tagliavini überaus erfolgreich engagiert haben. Auf allen diesen Gebieten könnte die Schweiz wertvolle Arbeit leisten. Denn so wie Kriege nicht eines Tages vom Himmel fallen, sondern oft über lange Zeit hinweg vorbereitet und vorangetrieben werden, so entsteht eben auch der Frieden nicht von selber, sondern setzt voraus, dass sich möglichst viele Menschen an möglichst vielen verschiedenen Orten auf vielfältigste Weise beharrlich dafür einsetzen. Ziehen politische Kräfte einseitig in Richtung von Krieg und dem Aufbau von Feindbildern, so müssen umso mehr andere politische Kräfte in die entgegengesetzte Richtung ziehen.

Dies ist dringend nötig. Denn zu vieles läuft heute in die falsche Richtung. Jüngstes Beispiel sind die polnische, die finnische, die schwedische und die Regierungen der baltischen Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einzureden versuchen, Putin könnte ihre Länder schon bald im Visier haben, um seine Macht weiter nach Westen auszudehnen. Und dies, obwohl es hierfür keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt gibt. Im Gegenteil. Wer sich nur ein wenig um Hintergrundinformationen bemüht, weiss, dass Putin im Dezember 2021 der US-Regierung einen Vorschlag unterbreitete, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, ein Vorschlag, der allerdings von den USA zurückgewiesen wurde, aber deutlich zeigt, dass der militärische Angriff auf die Ukraine nicht Putins erste Option gewesen war. Man kann Feindbilder und Kriege eben auch herbeireden – die Geister, die man ruft -, was zugegebenermassen freilich nie nur für die eine oder andere Seite zutrifft, aber eine Gewaltspirale in Gang zu setzen droht, durch welche dann aus gegenseitigem Drohen und gegenseitiger Angst im schlimmsten Fall ein Krieg entstehen kann, den im Grunde eigentlich gar niemand wollte. Aber ebenso wie den Krieg kann man auch – durch den Abbau von Feindbildern – den Frieden „herbeireden“, und genau dies ist deshalb umso wichtiger.

Im Verlaufe der Arena-Diskussion erinnerte SVP-Präsident Marco Chiesa daran, dass die SP in ihrem Parteiprogramm immer noch die Abschaffung der Armee fordere – ein Anliegen, dem in der Volksabstimmung vom 26. November 1989 immerhin über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zustimmten. Chiesa bezeichnete die SP-Copräsidentin Mattea Meyer, bezugnehmend auf den Pazifismus der SP, als „Träumerin“. Was für ein Kompliment! In einer Welt voller Hass, Gewalt und Krieg gibt es nichts Wichtigeres als Menschen, die von einer Welt ohne Hass, Gewalt und Krieg träumen. Denn nur wenn man sich etwas anderes vorstellen kann, besteht die Chance, dass dieses andere auch tatsächlich eines Tages Wirklichkeit werden kann.

Ninja Warrior schon für Kinder ab fünf Jahren: Wie die Welt einmal mehr aus allen Fugen geraten ist

„Seit Juli 2020“, so wirbt der Privatsender RTL+ für eines seiner neuen Sendegefässe, „heisst es auch für die Kids: Ring frei für die Ninja Warriors! Jetzt können auch 10- bis 13Jährige beweisen, was sie draufhaben. Die hell erleuchtete Arena mit den stählernen Hindernissen und den frisch gefüllten Wasserbassins steht bereit. Das Spannende am Spiel ist, dass man live mitverfolgen kann, wie lange die Kraft der Kinder reicht. Aus ganz Deutschland können sich bewegungsfreudige Kinder für eine Teilnahme bewerben. Wer sein sportliches Können zeigen darf, kann sich auserwählt fühlen. Der zu absolvierende Parcours besteht aus anspruchsvollen Hindernissen zum Schwingen, Klettern, Klimmen und Springen. Dabei handelt es sich um die gleichen Aufbauten, die auch die Erwachsenen bezwingen müssen. Die zu überwindenden Hindernisse sind der Fünfsprung, die Ringrutsche, die Trapezstangen zum Schwingen und Ins-Netz-Springen, die schwebenden Tritte, der Radschwung mit Seil und eine 4,25 Meter hohe Wand mit Griffen. Zuletzt erklimmen die Kinder den acht Meter hohen Mount Midoriyama. Das Finale bestreiten die zwei Besten der Staffel, bis ein Sieger oder eine Siegerin feststeht, die hierfür mit einer Prämie von 5000 Euro belohnt wird.“

Auch in der Schweiz wird Ninja Warrior für Kinder immer populärer. Im Oktober 2022 wurde in Basel ein Ninja Kids Camp organisiert, an dem Kinder bereits ab fünf Jahren teilnehmen konnten. Und immer mehr Veranstalter bieten Trainingsmöglichkeiten schon für Kinder ab sechs Jahren an. Kinderarbeit ist zwar gesetzlich verboten, doch sobald es um Sport geht, scheinen der Phantasie, wie man schon aus den Jüngsten der Jungen auch noch das Letzte an körperlicher Höchstleistung herauspressen kann, offensichtlich kaum mehr irgendwelche Grenzen gesetzt zu sein. Wenn man die Kinder sich unter Aufbietung ihrer alleräussersten Kräfte von Ring zu Ring, von Stange zu Stange hangeln sieht, das Zaudern vor meterweiten Sprüngen und ihre schmerzverzerrten Gesichter, dann kann man sich wohl so manche andere „Kinderarbeit“ vorstellen, die weitaus weniger anstrengend und gefährlicher wäre. Und wenn man dann die Coaches und die Eltern sieht, die unten, auf dem sicheren Boden, ihre Kinder und Schützlinge anfeuern, bejubeln und beklatschen, dann fragt man sich schon unwillkürlich, wer sich denn hier auf Kosten von wem das grösste Vergnügen bereitet und ob diese Kinder aus eigenen Stücken ebenfalls jemals auf eine so verrückte Idee gekommen wären. Zumal hier das ursprüngliche kindliche Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung und die Bereitschaft, es allen recht zu machen und die in sie gesetzten Erwartungen nur ja nicht zu enttäuschen, auf geradezu schamlose Weise ausgenützt und missbraucht wird: Sie hätte keine Angst vor den Hindernissen gehabt, meint ein zehnjähriges Mädchen im Anschluss an einen von ihr erfolgreich absolvierten Durchgang. Auch keine Angst, die Kraft in den Armen und Beinen könnte nicht ausreichen, um die steilen Wände zu überwinden oder sich an den „Bienenwaben“ nicht mehr festklammern zu können. Auch keine Angst, zwischen den Kugeln, über die sie hinunterspringen musste, hinunterzufallen und sich die Beine zu verkeilen. Auch keine Angst davor, sich zu verletzen. Sie hätte einzig und allein nur davor Angst gehabt, sich an einem der Hindernisse nicht mehr in die Höhe zerren zu können, ins Wasserbecken zu fallen und damit ihre Eltern, ihren Coach und alle ihre Freundinnen und Freunde zu enttäuschen.

Was für eine verrückte Welt. Ich möchte nicht wissen, was diese „Arenen“ für Ninja-Warrior-Spektakel voller ausgeklügelter Hindernisse, künstlicher Berge und riesiger Schwimmbecken mit aufgeheiztem Wasser, das ganze Personal, die Trainingshallen, die Werbung und die ganze Ausrüstung wohl kosten mögen. Gleichzeitig werden aus Spargründen kaputte Geräte auf öffentlichen Kinderspielplätzen oft monatelang nicht ersetzt oder repariert, in den Schulen werden, ebenfalls aus Spargründen, Klassenlager, Exkursionen, Sportveranstaltungen oder Turnlektionen gestrichen, während an allen Ecken und Enden der Aufschrei ertönt, die heutigen Kinder würden sich zu wenig bewegen, sässen nur noch vor dem Computer, seien in immer grösserer Zahl von Fettleibigkeit betroffen, könnten keine Purzelbäume mehr schlagen und oft sogar im Alter von drei Jahren immer noch nicht selbständig eine Treppe hochsteigen. Aber egal, sie können ja dann wenigstens vor dem Fernseher sitzen und sich daran ergötzen, wie andere Kinder im Übermass all das bekommen und ihnen im Übermass all das zugemutet wird, was ihnen, den zuhause Gebliebenen, gleichzeitig in ebenso extremem Übermass verweigert und vorenthalten wird.

Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“: Ein Hoffnungsschimmer, der leider schon bald wieder verglühen könnte

„Es ist ein bisschen auch ein historischer Tag“, sagte Sahra Wagenknecht am 8. Januar 2024 anlässlich der Gründung ihrer neuen Partei, welche nun offiziell den Namen „Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit“ trägt. „Damit“, so Wagenknecht, „legen wir den Grundstein für eine Partei, die das Potenzial hat, das bundesdeutsche Parteienspektrum grundlegend zu verändern und vor allem die Politik in unserem Land grundsätzlich zu verändern“. 

Tönt ja eigentlich ganz gut. Doch schaut man sich das Ganze etwas genauer an, tauchen unweigerlich erhebliche Zweifel auf, ob das mit der „grundsätzlichen Veränderung“ deutscher Bundespolitik auch tatsächlich klappen könnte. Zu Recht spricht der „Deutschlandfunk“ von einem „vagen Parteiprogramm“. Tatsächlich steht da nichts wirklich Neues drin. Eher ist es ein Abklatsch bereits bestehender Parteiprogramme, aus denen das herausgepickt wurde, was zurzeit gerade möglichst viele Stimmen potenzieller Wählerinnen und Wähler mobilisieren könnte. So etwa könnte die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ auch im Programm der Linken oder der SPD stehen. Die Forderung nach einer Zuwanderungspolitik, welche „auf eine Grössenordnung begrenzt bleiben muss, die unser Land und unsere Infrastrukturen nicht überfordert“, würde man, ähnlich lautend, auch im Programm der AfD finden. Die Forderung nach einer Energiepolitik, die „sich nicht allein auf erneuerbare Energiequellen beschränkt“, scheint fast wörtlich aus den Parteiprogrammen der CDU oder der FDP zu stammen. Und die Forderung nach einer Politik, die sich nicht bloss auf die „Interessen skurriler Minderheiten“ fokussiert, erinnert stark an die Brandreden von CSU-Chef Markus Söder. Am unkonventionellsten tönen noch die Passagen zum Thema Friedenspolitik, wo es unter anderem heisst, Konflikte seien grundsätzlich nicht durch „militärische Mittel zu lösen“, die Bundeswehr müsste sich auf die „direkte Landesverteidigung beschränken“ und „keine Auslandeinsätze leisten“, aber auch das geht nicht über das hinaus, was vor vielen Jahren bereits im Parteiprogramm der Grünen stand. Wohl nicht zu Unrecht bezeichnet die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmerle Wagenknechts Parteiprogramm deshalb als „Blumenstrauss, der von links bis rechts reicht.“

Schade. Von einer neuen Partei, welche die Politik „grundsätzlich verändern“ möchte, hätte ich mehr erwartet. Vor allem zuallererst eine möglichst umfassende und unvoreingenommene Analyse des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Eine solche Analyse, die sich über eine blosse Symptombekämpfung aktueller sozialer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Missstände und Fehlentwicklungen hinausbewegt hätte, wäre nämlich unweigerlich zum Schluss gekommen, dass letztlich der Kapitalismus mit seinen heiligen Dogmen der endlosen Profitmaximierung, der institutionalisierten Umverteilung allen Reichtums von der Arbeit zum Kapital, der systematischen Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten multinationaler Konzerngewinne und des irrwitzigen Glaubens an ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum die eigentliche Grundursache allen Übels ist. Und dass eine wirklich „neue Politik“ nur eine Politik sein kann, die sich auf die radikale Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau eines von Grund auf neuen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ausrichten müsste, in dem nicht mehr die Profitinteressen der Reichen und Mächtigen an oberster Stelle stehen, sondern die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen und der Natur über alle Grenzen hinweg.

So wie der Kapitalismus ein globales Macht- und Ausbeutungssystem bildet, dem nationale Grenzen so ziemlich gleichgültig sind, genau so müsste auch eine neue politische Bewegung, die daran wirklich grundlegend etwas verändern möchte, ebenfalls global organisiert und vernetzt sein. Die Gründung einer nationalen politischen Partei – und in diesem Punkt unterscheidet sich das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht grundsätzlich von allen anderen politischen Parteien Deutschlands – ist eigentlich schon ein Grundbekenntnis zum herrschenden kapitalistischen Machtsystem. Das zeigt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass die Wagenknecht-Partei gleichzeitig „soziale Gerechtigkeit“ und eine restriktive Asylpolitik fordert, mit anderen Worten: soziale Gerechtigkeit in erster Linie für die deutsche Bevölkerung, nicht aber für all jene, die vom europäischen Wohlstandskuchen, der zu einem überwiegenden Teil aus der kolonialen und nachkolonialen Ausbeutung des globalen Südens gebacken wurde, ausgeschlossen sind. Das heisst nicht, dass eine politische Partei, die eine konsequente kapitalismuskritische Haltung verfolgen würde, die schrankenlose Aufnahme sämtlicher Asylsuchender propagieren müsste, aber sie müsste im Zusammenhang mit Asyl- und Migrationsfragen stets auf die globalen Zusammenhänge und Ursachen der Problematik hinweisen und in aller Beharrlichkeit auf eine Überwindung sämtlicher Ausbeutungsverhältnisse hinarbeiten, nicht nur im eigenen Land, sondern auch weltweit. Das schliesst nicht die Bildung einzelner nationaler politischer Parteien aus, aber diese machen, im Hinblick auf eine längerfristige Überwindung des Kapitalismus, nur dann Sinn, wenn sie gleichzeitig und parallel dazu in ein global agierendes Netz solidarischer Kräfte, Bewegungen, Parteien und Gruppierungen eingebunden sind. Denn, wie schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Es sieht ganz so aus, als hätte sich auch das Bündnis Sahra Wagenknecht – anstelle eines kohärenten, in sich schlüssigen und konsequenten Grundsatzprogramms – vor allem dem Ziel verschrieben, bei kommenden Wahlen möglichst viele Stimmen zu gewinnen, um eine möglichst „starke politische Kraft“ zu werden. Dies schafft man freilich am einfachsten dadurch, dass man sich an allen Ecken und Enden von links bis rechts möglichst viele Menschen abholt, die von den von ihnen bisher bevorzugten Parteien so sehr enttäuscht sind, dass sie alle ihre Hoffnungen noch so gerne auf eine neue, unverbrauchte politische Kraft setzen. Nur leider wird dadurch das gleiche Spiel bloss weitergehen. Denn auch ein Bündnis Sahra Wagenknecht wird – so lange das herrschende kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem nicht grundsätzlich überwunden wird – selbst die allerschönsten Versprechen nicht einhalten und auch die grössten Hoffnungen auf bessere Zeiten nicht erfüllen können und somit auch ihre eigenen neuen Wählerinnen und Wähler früher oder später masslos enttäuschen müssen.

Es sei denn, es gelänge Sahra Wagenknecht und ihrer Partei rechtzeitig, tatsächlich eine grundsätzlich „neue Politik“ zu kreieren, die nichts mehr zu tun hat mit jener „Scheindemokratie“, die zurzeit nur noch einer möglichst „legitimen“ Aufrechterhaltung der kapitalistischen Machtverhältnisse dient. Hierzu bedarf es auch einer radikal neuen Sprache und eines radikal neuen Denkens. Denn, wie schon Albert Einstein sagte: „Probleme lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Die Chance für eine wirkliche Zeitenwende sind vielleicht grösser, als uns dies zumeist bewusst ist. So haben bereits im Jahre 2020 – die Zahlen würden heute vermutlich noch um einiges höher liegen – im Rahmen einer Befragung durch die Kommunikationsagentur Edelman nur 12 Prozent der Deutschen die Aussage, das gegenwärtige „System“ arbeite für sie, bejaht. 55 Prozent der Befragten sagten, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form „mehr schadet als nützt.“ Damit lag Deutschland fast im globalen Mittel, welches bei 56 Prozent lag. 2024 soll, wie unlängst berichtet wurde, das Jahr sein, in dem es weltweit mehr demokratische Abstimmungen und Wahlen geben wird als je zuvor. Weshalb findet nicht endlich eine weltweite Abstimmung darüber statt, ob der Kapitalismus in seiner heutigen globalen Form weitergeführt werden soll oder nicht? Viel Aufklärungsarbeit müsste vermutlich noch geleistet werden, aber wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht hierzu einen Beitrag leisten könnte, dann, aber nur dann, hätte sich die Gründung dieser neuen Partei mehr als gelohnt.

Weshalb Europa keine Atombombe braucht und weshalb eine neue Denkweise gerade jetzt dringender nötig ist denn je

Im Hinblick darauf, dass Donald Trump im November zum US-Präsidenten gewählt werden und dann seine Drohung eines Austritts der USA aus der Nato wahr machen könnte, vertritt der deutsche Historiker Herfried Münkler die Ansicht, Europa brauche die Atombombe, um Russland von einer militärischen Expansion in Richtung Polen, Moldawien und die baltischen Staaten abzuhalten. Ähnlich haben sich Frankreichs ehemaliger Armeechef Jacques Lanxade, sein deutscher Kollege Klaus Naumann sowie eine Reihe von Sicherheitsexperten in Europa und in den USA geäussert. So berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 7. Januar 2024 unter dem Titel „Warum Europa eine Atombombe braucht“.

Doch es gäbe eine viel einfachere, vernünftigere, menschenfreundlichere und erst noch um ein Vielfaches billigere Lösung des Problems. Man müsste nämlich bloss die gegenseitige Angst voreinander durch gegenseitige gemeinsame Vertrauensbildung ersetzen. Statt sich gegenseitig zu bedrohen, müsste man, ganz einfach, nur miteinander reden. Man müsste nur erkennen, dass das Interesse eines gemeinsamen Wohlergehens unvergleichlich viel mehr Gewicht haben müsste als jede noch so wilde Spekulation in Bezug auf eine eigene militärische Übermacht.

Wenn man sich die immensen Fortschritte der Menschheit im Bereich der Wissenschaften, der Technik und der Medizin vor Augen führt, dann kann man sich nur wundern, weshalb wir ausgerechnet auf dem Gebiet zwischenstaatlicher Konfliktlösung immer noch in jahrhundertealten, tausendfach gescheiterten Denkmustern gefangen sind. „Man kann Probleme“, sagte Albert Einstein, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Europa rühmt sich so gerne seiner demokratisch-zivilisatorischen Vorreiterrolle. Wäre für Europa nicht spätestens jetzt die Zeit gekommen, auch in Bezug auf ein friedliches Zusammenleben aller Nationen eine mutige Vorreiterrolle einzunehmen? Damit so etwas Absurdes wie Kriege und  Atombomben für immer der Vergangenheit angehören.

Javier Milei: Notwendige Reformen oder Rückfall in die Barbarei?

Die „Sonntagszeitung“ schreibt am 7. Januar 2024, Javier Milei, der neu gewählte Präsident Argentiniens, habe insofern recht, als sein Land einen „radikalen Wandel“ brauche, hätte es doch „seit mehr als hundert Jahren über seine Verhältnisse gelebt“. Schuld daran seien vor allem die sozialdemokratisch ausgerichteten Peronisten, deren Politik stets darin bestanden habe, „alles, was mit Geld, Arbeit, Wohnen, Handel und Produktion zu tun hat, zu regeln, zu kontrollieren und zu beschneiden, sowie Export, Import, Kapitalausfuhren und Kündigungen von Arbeitsverträgen zu erschweren“.

Tatsache aber ist, dass es nicht so sehr die „bösen“ Peronisten gewesen sind. Denn die argentinischen Auslandsschulden nahmen immer dann am meisten zu, wenn eine Militärjunta an der Macht war. So stieg die Auslandsverschuldung unter Jorge Rafael Videla zwischen 1976 und 1983 von 7,9 auf 45 Milliarden Dollar – viele der im Ausland aufgenommenen Kredite flossen direkt an das Militär und die Polizei, für Waffen, Wasserwerfer und hochmoderne Folterlager. Gleichzeitig bereicherten sich die Eliten masslos. Allein im Jahre 1980 nahm die von argentinischen Staatsbürgern im Ausland deponierte Geldmenge um 6,7 Milliarden Dollar zu, was Larry Sjaastad, Professor an der University of Chicago, den „grössten Betrug des 20. Jahrhunderts“ nannte.

Seither ist Argentinien nie mehr aus der Schuldenfalle herausgekommen. Um die Zinsen für die von IWF und Weltbank gewährten Kredite abzuzahlen, müssen immer mehr neue Kredite aufgenommen werden, wodurch die Verschuldung stetig ansteigt und die Bevölkerung unter den von IWF und Weltbank geforderten Sparzielen wie „Steuerdisziplin“, „Haushaltstransparenz“, „Liquidierung öffentlicher Dienste“ und „Privatisierung nationaler Ressourcen und Industrien“ in immer grösserem Ausmass leidet. Nicht einmal nach dem Ende der Ära Videla wurde Argentinien, um die Chance für einen demokratischen Neubeginn zu ermöglichen, ein Schuldenerlass zugestanden – die US-Regierung bestand im Gegenteil darauf, dass Argentinien unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsin sämtliche Schulden, welche die Junta angehäuft hatte, abzahlen müsse. In Argentinien, Ende des 19. Jahrhunderts noch das reichste Land der Welt, leben heute 40 Prozent der Bevölkerung in Armut.

Und so besteht wohl wenig Hoffnung, dass die von Milei angekündigte „Schocktherapie“ auch nur das Geringste zu einer besseren Zukunft Argentiniens beitragen wird. Umso weniger, als Milei sich bisher vor allem durch seine Verharmlosung der unter den Militärdiktaturen begangenen Verbrechen, durch seine Leugnung des von Menschen verursachten Klimawandels und durch seine ungebrochene Bewunderung für Julio Roca, der Ende des 19. Jahrhunderts in Pantagonien einen Völkermord an der indigenen Bevölkerung beging, hervorgetan hat.

Zwangsprostitution mitten in Zürich oder anderen europäischen Grossstädten: Sklavinnen des 21. Jahrhunderts…

Wer am Schweizer Fernsehen SRF1 den am 14. September 2023 ausgestrahlten Dokumentarfilm über Zwangsprostitution in Europa gesehen hat, musste schon überaus starke Nerven haben, um anschliessend noch ruhig schlafen zu können. Zu unbeschreiblich gross ist das Ausmass der Gewalt, Erniedrigung und Ausbeutung, unter dem Abertausende Frauen aus Nigeria, anderen afrikanischen Ländern oder aus Lateinamerika zu leiden haben, die von international agierenden Menschenhändlerorganisationen mit dubiosen Versprechungen nach Europa geholt werden und hier dann, zu viert oder zu fünft zusammengepfercht in winzigen, schäbigen Mietwohnungen mitten in Zürich oder anderen europäischen Grossstädten nicht nur der Gewalt der Menschenhändler, sondern auch der Gewalt all jener Männer, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, gnadenlos ausgeliefert sind.

Sklavinnen des 21. Jahrhunderts: Der grösste Teil des Gewinns, den sie durch ihre Zwangsprostitution erwirtschaften, landet in den Taschen der Menschenhändlerorganisationen. Weigert sich eine Frau, das geforderte Geld abzugeben, oder hat sie zu wenige Freier, um genügend Geld zusammenzubringen, drohen ihnen ihre Peiniger, von denen sie rund um die Uhr überwacht und kontrolliert werden, sogleich damit, ihren in der Heimat zurückgebliebenen Familien grösstes Land anzutun, sie allenfalls sogar umzubringen, sodass die Frauen dermassen eingeschüchtert sind, dass sie es nicht einmal wagen, aus ihrer Zwangslage auszubrechen und sich an die Polizei oder eine Hilfsorganisation zu wenden. Jegliche Versuche, durch Polizeiaktionen den Menschenhändlern das Handwerk zu legen, verpuffen im Leeren: Augenblicklich werden die Frauen an einen anderen Ort verfrachtet, stets ziehen Ordnungskräfte und staatliche Stellen in diesem Katz-und-Maus-Spiel den Kürzeren.

Doch zu einseitig wird in Reportagen wie dieser die alleinige Schuld an solchen Missständen skrupellosen Menschenhändlerorganisationen oder, im Falle der nach Europa drängenden Flüchtlinge, profitsüchtigen Schlepperbanden in die Schuhe geschoben. Diese Sicht greift viel zu kurz. Zwangsprostituierte ebenso wie Flüchtlinge, die einen wie die anderen hauptsächlich aus Afrika oder Lateinamerika stammend, sind nicht in erster Linie Opfer von Menschenhändlern und Schlepperbanden. Sie sind in erster Linie Opfer einer bald 500 Jahre andauernden, mit dem transatlantischen Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika begonnenen Geschichte wirtschaftlicher und kolonialistischer Ausbeutung des Südens, insbesondere Afrikas und Lateinamerikas, durch den Norden, allen voran Westeuropa und die USA. Während der Norden durch systematische Ausplünderung des Südens immer reicher wurde, versank der Süden gleichzeitig in immer grössere Armut. Das geht auch heute noch unvermindert so weiter: Während die afrikanischen und lateinamerikanischen Länder, welche über die wertvollsten Bodenschätze wie Öl, Gold, Edelmetalle und vieles mehr verfügen, dennoch immer ärmer werden, machen nordamerikanische und europäische Grosskonzerne mit dem Handel und der industriellen Verarbeitung eben dieser Rohstoffe sowie mit dem Profit aus ebenfalls hauptsächlich aus Afrika und Lateinamerika stammenden Nahrungsmitteln wie Kaffee, Kakao und tropischen Früchten ihre Milliardengeschäfte. Die Armut im Süden ist die unmittelbare Folge eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, das die Reichen immer reicher und gleichzeitig die Armen immer ärmer macht.

Gäbe es in den Ländern des Südens keine Armut, keinen Hunger, keine Arbeitslosigkeit und bestünden dort echte Zukunftsperspektiven, dann gäbe es auch keine Flüchtlinge, keine Migration, keine Zwangsprostitution, keine Menschenhändlerorganisationen und keine Schlepperbanden. Es ist, aus der Sicht von uns reichen Europäerinnen und Europäern, einfach und billig, mit den Fingern auf skrupellose – ihrerseits zum grössten Teil aus den südlichen Ländern stammenden – Menschenhändlern und Schlepperbanden zu zeigen. Die wahren Schuldigen, das sind wir selber, unsere Vorfahren, welche mit der kolonialistischen Ausbeutung begannen, und uns, welche sie nahtlos weiterführen. Polizeirazzien, Hilfswerke und Beratungsstellen für Frauen, die aus der Zwangsprostitution auszusteigen versuchen, Gesetze zur rechtlichen Besserstellung von Prosituierten, usw. – all das ist reine Symptombekämpfung und geht nicht an die tatsächlichen Wurzeln des Problems. Dieses und auch alle anderen Formen weltweiter Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutungsstrukturen werden erst dann ein Ende haben, wenn an die Stelle der kapitalistischen, auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftspolitik eine von Grund auf andere Wirtschaftsordnung getreten sein wird, in welcher alle Güter, aller Reichtum und alle sozialen Rahmenbedingungen weltweit so gerecht verteilt sind, dass niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat zu verlassen und unsägliche Opfer auf sich zu nehmen, bloss um einigermassen überleben zu können.