1500 bis 1800: das transatlantische Sklavengeschäft, die grösste Zwangsumsiedlung der Geschichte

Dies ist das 3. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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Wahrscheinlich könnte man sich ungefähr so die Hölle vorstellen wie die pechschwarzen, unerträglich heissen und stinkenden Bäuche jener Sklavenschiffe, mit denen während rund 300 Jahren der transatlantische Sklavenhandel betrieben wurde: Zu Hunderten wurden sie in die Laderäume gepfercht und so eng aneinandergereiht – pro Erwachsene standen meistens in der Breite je 40 Zentimeter zur Verfügung, pro Kind je 35 Zentimeter –, dass sie sich kaum zu bewegen vermochten; der Abstand zwischen den einzelnen Decks betrug zwischen 80 Zentimetern und 1,3 Metern, so dass aufrechtes Stehen unmöglich war. Zudem waren je zwei Männer – Frauen und Kinder blieben wenigstens von dieser Qual befreit – am Hals, an den Händen oder an den Füssen aneinandergekettet, um ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken, was bei den oft heftigen Bewegungen der Schiffe schmerzhaften Schürfungen zur Folge haben konnte. Auf vielen Schiffen lagen die Versklavten tagelang in ihren eigenen Fäkalien, im Blut ihrer Wunden und in Erbrochenem infolge von Übelkeit oder von Erkrankungen. Andere Schiffe boten den «Luxus» von Kotkübeln, aber um einen solchen aufzusuchen, musste zunächst der vielleicht noch schlafende Leidensgenosse, an den man gefesselt war, aufgeweckt und dann im Stockdunklen zu zweit, auf anderen herumtrampelnd, sich gegenseitig beschimpfend und verfluchend, der Weg zur besagten Stelle gesucht werden. Auf den meisten Schiffen wimmelte es vor Ratten, die Luft war so stickig und der Platz so eng, dass viele unter unerträglicher Platzangst litten und unter beständiger Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Infolge der katastrophalen hygienischen Verhältnisse konnten sich tödliche Krankheiten wie Ruhr, Masern und Skorbut in Windeseile ausbreiten, das Stöhnen und die Schreie, die Krämpfe und die Zuckungen Kranker und Sterbender und jener, die von Ratten gebissen worden waren, quälten selbst jene, die noch gesund waren, bis aufs Blut, manch einer musste mit Schrecken feststellen, dass der an ihn Gekettete schon gar nicht mehr lebte, und auf einzelnen Schiffen wie der «Comte du Nord», bei deren Überfahrt im Jahre 1784 jeden Tag sechs bis sieben Versklavte starben, gehörte der allgegenwärtige Tod zum täglichen Wegbegleiter.

Begonnen hatte diese unermessliche, alle menschliche Vorstellungskraft sprengende Tragödie, als die indigenen Völker Amerikas infolge von grausamster Zwangsarbeit und von tödlichen Krankheiten, welche von den Europäern eingeschleppt worden waren, bereits dermassen dezimiert waren, dass dringend neue Arbeitskräfte benötigt wurden. Die schon Ende des 15. Jahrhunderts an der Küste Westafrikas gelandeten portugiesischen Seefahrer und ihre Auftraggeber stiegen noch so gerne in das neue, viel Reichtum versprechende Geschäft ein, ihnen folgten weitere europäische Nationen. Das eigentliche «Drecksgeschäft», das Jagen und Eintreiben der «Beute», das Niederbrennen ihrer Dörfer und den Transport der in Besitz genommenen aneinandergefesselten Männer, Frauen und Kinder bis zu den Sklavenschiffen an der Küste überliess man einheimischen Stammesführern und ihren Kriegern. Um die Gefangenen von einer Flucht abzuhalten, wurden sie auf dem Weg an die Küste oft an lange, schwere Baumstämme gebunden, so dass sie sich nur mühsam vorwärtsbewegen konnten. Eine besonders «einfallreiche» Gruppe von Sklaventreibern hatte eine Vorrichtung entwickelt, die am Mund der Gefangenen angebracht wurde, um es ihnen während des langen Marsches unmöglich zu machen, zu schreien und damit mögliche Hilfe zu mobilisieren. Schliesslich wurde die «Beute» an die europäischen Menschenhändler verkauft, meist für Salz, Stoff, Schiesspulver oder Gewehre. Dabei wurden ganze Familien und Freundschaften rücksichtslos auseinandergerissen und nicht selten kam es sogar vor, dass Kinder, die zu klein waren, um als Sklaven gebraucht werden zu können, oder Kranke und zu Schwächliche einfach getötet wurden, etwa durch Schläge auf den Kopf oder durch Erschiessen.

Waren die so ihrer Freiheit für immer Beraubten erst einmal auf dem Schiff, dann waren sie ihren neuen Herren und Peinigern endgültig gnadenlos ausgeliefert. Viele waren dermassen verzweifelt, dass sie lieber sterben als unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen leben wollten. Aufgrund von Überlieferungen ihrer Vorfahren waren sie überzeugt, durch den Tod wieder in ihr früheres Leben und in ihre frühere Heimat zurückkehren zu können. Immer wieder kam es vor, dass sich Sklavinnen und Sklaven über Bord warfen, um meist augenblicklich von Haien in Stücke gerissen zu werden. Andere verweigerten die Aufnahme von Nahrung. Wer dies versuchte, wurde meistens so lange und so brutal ausgepeitscht, bis jeglicher Widerstand gebrochen war. Oft wurde auch zum «Speculum oris» gegriffen, einer langen, dünnen mechanischen Vorrichtung, mit welcher der Kiefer der Widerspenstigen geöffnet wurde, um Brei oder andere Nahrung einzuflössen.

Besonders schlimm war die Bestrafung all jener, welche sich Befehlen widersetzten oder andere zu aktivem Widerstand oder Meuterei aufzuwiegeln versuchten. Dabei wurden gegenüber Männern und Frauen, von denen sich nicht wenige als Anführerinnen von Aufständen hervortaten, die genau gleichen Strafmassnahmen angewendet. Hierfür verfügte jedes Schiff über ein Arsenal von Folterinstrumenten, von Hand- und Fussschellen, Hals- und Brenneisen, der «neunschwänzigen Katze», einem besonders berüchtigten Folterinstrument, bestehend aus neun Kordeln, an deren Ende sich jeweils drei Knoten befanden, in welche manchmal Draht eingeflochten war, um die Haut des Opfers aufzureissen, über verschiedene Arten von Ketten bis zu Daumenschrauben, mit denen die Daumen in eine schraubstockähnliche Vorrichtung gesteckt und langsam zerquetscht werden konnten, und Fleischgabeln, welche man bis zur Weissglut erhitzte, um Fleisch zu versengen. Rädelsführer von Aufständen wurden zur Bestrafung erbarmungslos gefoltert, ausgepeitscht oder über mehrere Tage und Nächte hinweg an Schiffsmasten angekettet, ohne Nahrung und nur mit dem äussersten Minimum an Wasser versorgt, schutzlos Stürmen und der Kälte ausgesetzt.

Besonders schlimm war es für Frauen und Mädchen. Sie waren auf den Sklavenschiffen hemmungsloser sexueller Gewalt ausgeliefert. «Wenn die Frauen und Mädchen an Bord eines Schiffes gebracht werden, nackt, zitternd vor Kälte, in Todesangst, sind sie häufig der lüsternen Rohheit weisser Wilder ausgesetzt», schrieb John Newton in einem 1788 veröffentlichten Pamphlet, «auf einigen Schiffen, vielleicht auf den meisten, war die Zügellosigkeit der Kapitäne und Offiziere in dieser Beziehung fast grenzenlos und die von ihnen verübten Exzesse jeglicher menschlicher Natur unwürdig.» Viele Männer sollen sich nur deshalb auf Sklavenschiffen verdingt haben, um ungehinderten Zugang zu den Körpern afrikanischer Frauen zu bekommen.

Doch auch die Matrosen waren, in der Machthierarchie weit unter den Kapitänen und Offizieren, häufig Opfer von bestialischer Gewalt. Auf geringfügigste Fehler, Widerrede oder Befehlsverweigerung folgten drakonische Strafen. James Field Stanfield, ein Gegner des Sklavenhandels, berichtete in einem 1776 veröffentlichten Pamphlet unter anderem von Matrosen, deren Essens- und Wasserrationen so drastisch gekürzt wurden, dass sie, um nicht zu verdursten, ihre eigenen Schweisstropfen auflecken mussten. Er verweist auch auf die häufig angewendete Praxis, nach erfolgter Auspeitschung von Matrosen Salzbrühe in die tiefen dunkelroten Striemen zu streuen, welche die neunschwänzige Katze hinterlassen hatte. Stanfield erzählt auch von Reparaturarbeiten, die an den Schiffen zeitweise vorgenommen werden mussten. Zu diesem Zweck ankerten die Schiffe an der afrikanischen Küste im Mündungsbereich von Flüssen. Die Matrosen mussten unter der sengenden Sonne im Wasser stehen, um Holz und Bambus zu fällen und zu schneiden, bis zur Hüfte im Schlamm eingetaucht, von giftigen Schlangen, Würmern, Moskitos und anderen Insekten geplagt. Ihre Füsse rutschten wegen der schweren Arbeit immer wieder weg, doch es wurde ihnen trotz der mühevollen Arbeit auch nicht ein Augenblick Pause gegönnt.

In Amerika angekommen, wurde die «Beute» ­– all­ jene, welche die Fahrt überlebt hatten ­– auf eigens hierfür eingerichteten Sklavenmärkten zum Kauf angeboten, buchstäblich «Stück» für «Stück». Das «Stück» war nämlich die den Kaufpreis bestimmende Masseinheit: Ein «Stück» war zwischen 30 und 35 Jahre alt, 180 Zentimeter gross und ohne körperlichen Defekt. Je nach Abweichung von dieser Norm war der Preis dann günstiger. Auf diesen Sklavenmärkten spielten sich unendlich viele herzzerreissende Szenen ab, denn hier wurden Eltern, Kinder, Familien, Verwandte, Freundinnen und Freunde, die nicht schon vor der Verschiffung in Afrika voneinander getrennt worden waren, für immer auseinandergerissen. So berichtete Thomas Trotter in der «Worcester Gazette» vom 4. April 1804 von einem Vorfall auf dem Sklavenmarkt von Charleston in South Carolina, der ihn ganz besonders aufgewühlt hatte: Drei miteinander eng befreundete Mädchen aus dem gleichen afrikanischen Dorf, welche die Mühsale der Überfahrt gemeinsam überstanden hatten und sich dadurch noch viel enger miteinander verbunden fühlten, sollten an drei verschiedene Händler verkauft werden. Mit all ihren Kräften klammerten sie sich aneinander, weinten, schrien, benetzten sich gegenseitig mit ihren Tränen und versuchten so, dem grauenhaften Schicksal zu entgehen. Schliesslich wurden sie auseinandergerissen. Bevor sie sich für immer aus den Augen verlieren sollten, entledigte sich eines der Mädchen seiner mit einem Amulett versehenen Perlenkette, küsste sie und legte sie einer ihrer Freundinnen um den Hals.

Auf den Kakao-, Kaffee-, Baumwoll-, Tabak- und Zuckerrohrfeldern und in den Gold-, Silber- und Diamantenbergwerken setzten sich die auf der Überfahrt erlittenen Qualen weiter fort. Am gefürchtetsten war die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern, wo tägliche Arbeitszeiten von bis zu 20 Stunden nicht selten waren, und dies bei unvorstellbar grosser körperlicher Belastung. Besser als denen, die auf Plantagen oder in Minen arbeiten mussten, erging es jenen, die als Köche, Gärtner oder Hausmädchen einer wohlhabenden Familie tätig waren, aber auch sie waren täglichen Demütigungen und einem Leben in totaler Unfreiheit und Abhängigkeit hilflos ausgeliefert. Vielen von ihnen hatte man mit Brenneisen Nummern verpasst, um keinen Zweifel daran zu lassen, wer für den Rest ihres Lebens ihr Besitzer sein würde. Sklavinnen und Sklaven, die ihrem Schicksal durch Flucht zu entgehen versuchten, wurden Bluthunde nachgejagt und sie wurden, nachdem man sie wieder eingefangen hatte, grausamsten Bestrafungen und Folterungen unterzogen, mit Nahrungsentzug bestraft, in schmerzvollsten Positionen gefesselt oder an Händen oder Füssen an Bäumen aufgehängt. Auf einigen der karibischen Zuckerinseln kam es vor, dass ungehorsame Sklavinnen und Sklaven zwischen den Walzen von Zuckermühlen zu Tode gepresst, gerädert oder bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Manchmal trieben Plantagenbesitzer zur reinen Belustigung mit ihren Sklavinnen und Sklaven die grausamsten Spiele. So etwa veranstalteten Baumwollfarmer Wettkämpfe, bei denen sie zwei Gruppen von Männern und Frauen gegeneinander antreten liessen. Von dem Team, welches während einer vorgegebenen Zeit am meisten Baumwolle pflückte, erhielten alle eine Tasse Zucker. Die anderen wurden zur Strafe ausgepeitscht.

Alles war kapitalistisches Kalkül. Wie viel Platz, auf den Zentimeter genau, pro Person auf den Schiffen maximal zur Verfügung stehen durfte. Wie viel man bei der Ernährung einsparen konnte, um ein gerade noch möglichst knappes Überleben der Versklavten sicherzustellen. Wie viele Verluste an Menschenleben während der Überfahrt in Kauf genommen werden konnten, um den finanziellen Erfolg des gesamten Unternehmens nicht in Frage zu stellen. Wo man möglichst billiges Holz für den Bau der Schiffe beschaffen konnte. Wie viel Lohn den Matrosen mindestens gezahlt werden musste, damit sie nicht zu meutern begannen. Wie viele Köche nötig waren, um bei Arbeitszeiten von zwanzig Stunden die Mahlzeiten für 300 oder 400 Menschen zuzubereiten. Kapitalistisches Kalkül war es auch, von dem der Kapitän der britischen «Zong» Ende November 1781 angetrieben war, als er, wegen drohender Wasserknappheit infolge eines Navigationsfehlers, beschloss, 132 geschwächte und erkrankte Sklavinnen und Sklaven über Bord zu werfen, um so die entsprechende Versicherungssumme kassieren zu können. Und kapitalistisches Kalkül spielte auch die Hauptrolle, wenn es darum ging, was mit all den ökonomisch nutzlos und überflüssig gewordenen Besatzungsmitgliedern geschehen sollte, die man nach dem Ende der Überfahrt nicht mehr brauchte und für die möglichst keine weiteren finanziellen Verpflichtungen anfallen sollten. Am schlimmsten traf es jene, die von einer tödlichen Krankheit befallen waren. «Es waren kranke, abgewrackte Seeleute, die von ihren Kapitänen von den Sklavenschiffen geworfen wurden», schreibt Marcus Rediger in seinem Buch «Das Sklavenschiff», «sie boten einen entsetzlichen Anblick. Sie hatten keine Arbeit, weil niemand sie aus Angst vor Ansteckung anheuern wollte. Sie hatten kein Essen und keine Unterkunft, weil sie kein Geld hatten. Sie streiften in Hafenvierteln herum und schliefen unter Balkonen und Frachtkränen. Einige von ihnen hatten blutendes Zahnfleisch, Blutergüsse und Flecken, die Anzeichen von Skorbut. Einige hatten brennende, eiternde Geschwüre, die von Guineawürmern verursacht wurden, die bis zu 1,2 Meter lang werden konnten und sich unter der Haut der Unterschenkel und Füsse einnisteten. Andere litten unter dem Zittern und den Schweissausbrüchen, die mit Malaria einhergingen. Viele waren dem Tod nahe. Sie schleppten sich, um Almosen bettelnd, durch die Strassen. Ein weitgereister Kapitän bezeichnete sie als die erbärmlichsten Geschöpfe, die er jemals gesehen hätte.»

Zwischen 12 und 15 Millionen afrikanische Männer, Frauen und Kinder wurden im Verlaufe von rund 300 Jahren nach Amerika deportiert, zwischen 1,5 und 1,8 Millionen starben während der Überfahrt, eineinhalb Millionen kamen bereits während des ersten Jahres brutaler Zwangsarbeit ums Leben.

Bis heute wirkt in Afrika das Trauma dieser millionenfachen Deportation nach. Die exorbitanten Gewinne aus dem Sklavengeschäft und aus der kolonialen Ausbeutung des amerikanischen Kontinents flossen indessen allesamt in die Tresore europäischer und nordamerikanischer Banken und Handelsgesellschaften und schufen damit die finanzielle Basis für die Industrialisierung und die weltweit immer weiter zunehmende Expansion des kapitalistischen Wirtschafts- und Machtsystems, bedingt durch die gleichsam gottgegebene, wundersame exponentielle «Selbstvermehrung» jeglichen einmal geschaffenen, wenn auch noch so kleinen Kapitals. Was nichts anderes heisst, als dass an jedem Franken, den wir im Supermarkt ausgeben, bis heute noch immer das Blut zu Tode gefolterter afrikanischer Sklavinnen und Sklaven klebt, jeder Euro, der in einer Unternehmensbilanz erscheint, noch heute, wenn er sprechen könnte, von bestialischen Vergewaltigungen auf niederländischen, spanischen und britischen Sklavenschiffen erzählen würde und jeder Dollar, mit dem auch heute noch jeden Tag irgendwo eine weitere tödliche Waffe gekauft wird, in uns eigentlich die Erinnerung an jene drei miteinander so innig befreundeten afrikanischen Mädchen wecken müsste, die im Jahre 1804 auf dem Sklavenmarkt von Charleston in South Carolina so brutal auseinandergerissen wurden.

Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen immer mehr einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaften in den vom Sklavengeschäft profitierenden Ländern, am Sklavenhandel Kritik zu üben und dessen Abschaffung zu fordern. Je mehr über die Zustände auf den Sklavenschiffen und in der Zwangsarbeit auf den Plantagen und in den Bergwerken öffentlich bekannt wurde, umso mehr Unterstützung erhielten diese Stimmen. Schliesslich beschloss die britische Regierung am 24. Februar 1807, künftig auf den Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven zu verzichten, doch es vergingen nochmals sieben Jahre, bis auf dem Wiener Kongress 1814/15 die endgültige Ächtung der Sklaverei erfolgte, dies gegen den erbitterten Widerstand von Brasilien, Spanien, Portugal und Frankreich.

Dies bedeutet freilich nicht, dass es heute weltweit keine sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse mehr gäbe. Schon vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei hatten amerikanische Plantagenbesitzer ihre ehemaligen Sklavinnen und Sklaven dazu verpflichtet, weiterhin für sie zu arbeiten, für einen Lohn, der gerade knapp zum Überleben reichte. Die ehemaligen Sklavinnen und Sklaven aus Afrika wurden nicht von einem Tag auf den anderen gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger ihrer Länder, sondern litten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, insbesondere in den USA, unter diskriminierenden Rassengesetzen, sozialer Apartheid und Ausgrenzung und sind bis zum heutigen Tag in vielerlei Hinsicht nach wie vor sozial und gesellschaftlich benachteiligt.

Noch heute müssen gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit 28 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, auf Baustellen, in Steinbrüchen, auf Feldern, in Minen, in Textilfabriken, als Hausangestellte oder in der Prostitution. 160 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren sind gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil ihre Familien sonst nicht überleben könnten, viele von ihnen müssen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, sind giftigen Substanzen ausgesetzt oder müssen viel zu schwere Lasten tragen. Auch wenn die UNO mit der Menschenrechtskonvention von 1948 Sklaverei endgültig weltweit verboten hat, sind wir von einer tatsächlichen Überwindung sämtlicher weltweiter sklavenähnlicher, ausbeuterischer, erniedrigender und die Menschenwürde zutiefst verletzender Arbeitsverhältnisse noch um Lichtjahre entfernt. Diese werden erst dann definitiv ein Ende haben, wenn auch der Kapitalismus ein Ende hat. 

Potosí, 1550: Der Eingang zur Hölle

Dies ist das 2. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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«Aus allen umliegenden Dörfern in der Gegend von Potosí in Bolivien wurden die Indios aus ihren Lebensgemeinschaften herausgerissen und mit ihren Kindern und Frauen zum Cerro Rico getrieben, dem Berg mit den grössten zu jener Zeit bekannten Silbervorkommen der Welt», schreibt Eduardo Galeano in seinem 1986 erschienen Buch «Die offenen Adern Lateinamerikas», und weiter: «Von je zehn, die beim Cerro ankamen, kehrten sieben niemals zurück. Viele starben schon, bevor sie beim Berg angelangt waren. Unter den Indios, die von den raubsüchtigen Minenbesitzern schlechter als herrenloses Vieh behandelt wurden, galt Potosí mit den Worten des Dominikanermönchs Domingo de Santo Toás als Eingang zur Hölle, die jährlich Abertausende von ihnen verschlang. Die eisigen Temperaturen, denen sie auf der Hochfläche ungeschützt ausgeliefert waren, wechselten mit der höllischen Hitze im Inneren des Berges ab. Mit Stangen musste das Erz aus dem Felsen gebrochen und nachher auf dem Rücken über mit Kerzenlicht beleuchtete Leitern an die Oberfläche geschafft werden. Oft barg man Indios tot oder mit Schädel- und Beinbrüchen aus dem Bergesinneren. In den umliegenden Fabriken wurde das Silber sodann unter Anwendung von Quecksilber gewonnen, welches eine noch stärker vergiftende Wirkung hatte als die unterirdischen Giftgase. Es verursachte Haar- und Zahnausfall und rief schmerzvollstes Zittern hervor. Wer nicht mehr arbeiten konnte, musste sich, um Almosen bettelnd, durch die Strassen von Potosí schleppen. In drei Jahrhunderten verschluckte der Cerro mehr als acht Millionen Menschenleben.»

Alles Unheil hatte mit dem ersten Auftauchen spanischer und portugiesischer Seefahrer und Konquistadoren auf den Inseln und an den Küsten Mittel- und Südamerikas begonnen und in kürzester Zeit sollte sich eines der Paradiese dieser Erde in eine der schlimmsten Höllen verwandeln. Um Streitigkeiten zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Königshaus zu vermeiden, hatte Papst Alexander VI am 7. Juni 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Nord- und Südpol einen Strich quer über den Atlantik gezogen, alle Gebiete östlich davon – insbesondere das spätere Brasilien – sollten zum portugiesischen, alle Gebiete westlich davon zum spanischen Herrschaftsbereich gehören.

Zwischen 1519 und 1521 eroberten spanische Truppen unter der Führung von Hernán Cortes das Aztekenreich im Gebiet des heutigen Mexiko, Francisco Pizarro unterwarf zwischen 1531 und 1535 das Inkareich auf dem Gebiet des heutigen Peru und bis 1547 gerieten auch noch alle übrigen Gebiete des heutigen Südamerika nach und nach unter die Herrschaft der Spanier und Portugiesen. Dank ihrer überwältigenden waffentechnischen Überlegenheit und der Tatsache, dass die weissen Eindringlinge über Pferde verfügten, die unter den Indios panische Angst und Schrecken verbreiteten, vermochten Verbände von wenigen hundert Soldaten Heerscharen von mit Pfeil und Bogen Kämpfender innerhalb kürzester Zeit auszulöschen oder in die Flucht zu schlagen. Zurück blieben Spuren blutigster Massaker, bis auf den Grund niedergebrannte Dörfer und Städte, verwüstete Felder – entlang der gesamten Pazifikküste zerstörten die Spanier systematisch sämtliche Anbauflächen von Mais, Jukka, Bohnen, Erdnüssen und Süsskartoffeln, die ganze traditionelle Ernährungsgrundlage der Bevölkerung. Hochkulturen, die sich im Verlaufe von Tausenden von Jahren entwickelt hatten und auf vielfältigsten Gebieten vom Ackerbau, der Baukunst und dem Kunsthandwerk über Astronomie und Mathematik bis zur Heilkunde und zu ausgeklügeltsten Kommunikationssystemen höchstes Wissen hervorgebracht hatten, wurden innerhalb eines halben Jahrhunderts buchstäblich bis auf den letzten Stein für immer ausgelöscht.

Die Gier nach unermesslichen Goldschätzen und die Suche nach dem sagenhaften Land Eldorado, von dem gefangengenommene Indios den Spaniern immer wieder erzählt hatten, waren nur der Anfang. Dann lockten unermessliche Silberschätze sowie erste Funde von Diamanten im Nordosten des heutigen Brasilien. Und bald schon brachte Kolumbus auf seiner zweiten Amerikareise europäische Zuckerrohrwurzeln mit, die er auf dem Boden der heutigen Dominikanischen Republik anpflanzte und die dort prächtig gediehen. Bald wurde, neben Gold, Silber und Diamanten, auch der Zucker, das «weisse Gold», in immer grösseren Mengen zunächst nach Europa, später auch nach Nordamerika geschafft. Sagenhafte Gewinnaussichten trieben die spanischen und portugiesischen Kolonialherren dazu an, immer grössere Landflächen für den Anbau möglichst lukrativer Exportprodukte wie Kakao, Kaffee, Tabak, Kautschuk und Baumwolle in Beschlag zu nehmen. Bald einmal waren die einst so fruchtbaren Böden infolge Übernutzung durch Monokulturen dermassen ausgelaugt, dass immer grössere Waldflächen abgeholzt werden mussten, um neues Land zu gewinnen. Auf den Plantagen und in den Bergwerken wurde mit brutalsten Methoden aus den Indios das Alleräusserste an menschlicher Arbeitskraft herausgepresst, während es infolge der ausschliesslich auf Export getrimmten Landwirtschaft immer mehr an Grundnahrungsmitteln zu fehlen begann, Unterernährung sich immer breiter machte und, um nur einziges, aber besonders drastisches Beispiel zu nennen, die Kinder im Nordosten des heutigen Brasilien infolge von Eisenmangel so geschwächt waren, dass sie sogar Erde zu essen begannen und für dieses «Laster» in der Weise bestraft wurden, dass man ihnen Maulkörbe aufsetzte oder sie in Körbe steckte, die möglichst weit vom Boden entfernt waren – eine Praxis, die in einzelnen Gebieten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet war.

Jeglicher Widerstand war in Anbetracht der erdrückenden Übermacht ihrer Ausbeuter und Peiniger aussichtslos. Als der Mestizenhäuptling Túpac Amaru, ein direkter Nachkomme der Inkakaiser, im Jahre 1781 in Cuzco zu einer grossen Rebellion gegen den spanischen Landvogt Antonio Juan de Arriaga aufrief und das Ende jeglicher Zwangsarbeit forderte, bekam er zwar Zulauf von Abertausenden Leidensgenossen. Dennoch gelang es den Spaniern, ihn gefangen zu nehmen. Als der Vertreter der Kolonialbehörde von ihm die Namen der an der Rebellion Beteiligten verlangte, gab ihm Túpac Amaru zur Antwort, hier gäbe es keine Schuldigen ausser der spanischen Fremdherrschaft. Hierauf wurden er, seine Ehefrau, seine Söhne und seine hauptsächlichen Parteigänger auf einem Platz inmitten von Cuzco öffentlich gefoltert. Man schnitt ihm die Zunge ab. Seine Arme und Beine wurden an vier Pferde gebunden, die ihn in vier Stücke reissen sollten, doch sein Körper teilte sich nicht. Er wurde am Fusse eines Galgens geköpft. Sein Kopf wurde nach Tinta gebracht, einer seiner Arme nach Tungasuca und der andere nach Livitaca, sein Rumpf wurde verbrannt. Schliesslich verfügten die spanischen Machthaber die Ausrottung seiner gesamten Nachkommenschaft bis zum vierten Grad. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas»)

Im Laufe von drei Jahrhunderten verwandelten sich das Elend, die Zwangsarbeit, die Armut, der Hunger, der frühe Tod, die Zerstörung der ursprünglichen Lebensgrundlagen und die Vernichtung jahrtausendealter, hochentwickelter Kulturen Lateinamerikas in den wachsenden Reichtum und Luxus der immer wohlhabenderen Städte und Regionen Europas und Nordamerikas. Ausbeutung, bittere Armut und Ohnmacht auf der einen Seite, nie dagewesener Reichtum und wachsende Machtausdehnung auf der anderen – es sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Damit Europa und Nordamerika reich werden konnten, musste Lateinamerika arm werden. Damit mehr Menschen im Norden ein gutes Leben haben konnten, verkleinerten sich im gleichen Ausmass die Lebenschancen der Menschen im Süden: Hatten in ganz Lateinamerika zum Zeitpunkt, als die ersten Konquistadoren aus Europa an den Küsten auftauchten, noch mindestens 70 Millionen Indios gelebt, war ihre Zahl eineinhalb Jahrhunderte später auf dreieinhalb Millionen zusammengeschmolzen. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas»)

Doch die Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten verlief nicht nur zwischen Nordamerika und Europa auf der einen, Lateinamerika auf der anderen Seite. Sie verlief von Anfang an auch quer durch die kolonialisierten und ausgebeuteten Ländereien selber. Überall, selbst in den allerärmsten Zonen des Südens, bildeten sich reiche Oberschichten von Grossgrundbesitzern, welche ihrerseits von der Ausbeutung und der Verarmung ihrer Völker profitierten. Das Wenige, was aus der kolonialen Ausbeutung an Profiten im Süden verblieb, wurde zu einem grossen Teil für den Bau grosser Paläste und prächtiger Kirchen, ausgedehnten Landerwerb, den Kauf luxuriöser Schmuckstücke, Kleider und Möbel, Dienstpersonal und verschwenderische Feste für die Oberschicht ausgegeben. So bildete sich nach und nach eine länderübergreifende Komplizenschaft zwischen den reichen Oberschichten im Süden und den reicher werdenden Kolonialmächten auf Kosten der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern des Südens, eine Spaltung, die bis heute nicht überwunden, sondern im Gegenteil noch grösser geworden ist denn je.

In gleicher Weise, mit welcher den nordamerikanischen Indigenen von den europäischen Kolonisten ein wahres «Menschsein» abgesprochen  und damit jegliches an ihnen begangene Unrecht gerechtfertigt werden konnte, betrachteten auch die spanischen und portugiesischen Eroberer des südlichen Amerikas sowie europäische Philosophen und Schriftsteller die eingeborene Bevölkerung als eine «minderwertige» Rasse. Der Vizekönig von Mexiko war der Ansicht, dass es für die «natürliche Schlechtigkeit» der Eingeborenen kein besseres Heilmittel gäbe als die Arbeit in den Minen. Der Graf von Buffon erklärte, dass bei den Indios «keinerlei Anzeichen von Seele» festzustellen seien. Montesquieu sprach im Zusammenhang mit den Indios von «degradierten» Menschen. Der angesehene deutsche Philosoph Friedrich Hegel unterstellte den Indios «körperliche und geistige Impotenz». Und Pater Gregorio García vertrat die Ansicht, dass die Indios den Spaniern für all das «Wohl», das diese ihnen erwiesen hätten, «viel zu wenig dankbar» seien.

Die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Mittel- und Südamerikas ging vielerorts bis ins 20. Jahrhundert weiter. So etwa bekamen die «Pongos» in Bolivien bis ins Jahr 1952 nur das zu essen, was von den Hunden, neben denen sie auch schlafen mussten, übrigblieb, und wenn sie an eine Person weisser Hautfarbe das Wort richten wollten, mussten sie zuerst vor dieser Person auf die Knie fallen. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas») Respektlosigkeit und Rassismus gegenüber Indios, die oft zu den am meisten benachteiligten und ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen gehören, sind bis heute weit verbreitet. So etwa müssen junge Indiomädchen in der peruanischen Region Lima bis zu 18 Stunden täglich in Haushalten der Oberschicht arbeiten und bekommen oft nicht einmal einen Lohn, weil man sie, meist grundlos, des Diebstahls bezichtigt. Gewerkschaften sprechen von «sklavenähnlichen Zuständen». Und obwohl die indigene Bevölkerung gerade in Peru einen grossen Teil der Gesamtbevölkerung ausmacht, ist diese in den meisten staatlichen Einrichtungen, in der Politik, in den Medien, der Literatur, der Werbung und der Kunst so gut wie nicht vertreten. (Frankfurter Rundschau, 20.3.2022)

Am 10. April 1809 erlangte Ecuador als erste lateinamerikanische Kolonie die staatliche Unabhängigkeit, es folgten bis 1825 die meisten übrigen Kolonien Zentral- und Südamerikas. Doch dies bedeutete ganz und gar nicht die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Industrieländern des Nordens. Verheerend wirkte sich vor allem das Erbe der Monokulturen aus. Denn fast nur von einem einzigen Exportprodukt abhängig zu sein, bedeutet, den schwankenden Weltmarktpreisen für eben dieses Produkt hilflos ausgeliefert zu sein. «Ein Volk, das sein Wohlergehen auf ein einziges Produkt begründet», so der kubanische Dichter und Nationalheld José Martí,«begeht Selbstmord».

Wachsende Bedeutung, bis heute, gewann der Export von Fleischprodukten aus Lateinamerika. Statt Nahrung für den Eigenbedarf der Bevölkerung, wurden immer grössere Flächen für den Anbau von Futtermitteln für Rinder, Schweine und Hühner verbraucht, was schon in den Siebzigerjahren vom internationalen Entwicklungsorganisationen mit dem Slogan «Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen» angeprangert wurde. Das Eiweiss, das in der Nahrung der Länder des globalen Südens im Übermass fehlt, wird bis heute in den Ländern des globalen Nordens, aber zu einem grossen Teil auch von den Reichen in den eigenen Ländern im Übermass konsumiert.

«Die in den Anfängen der Kolonialisierung entstandene und bis heute andauernde globale Arbeitsteilung», so Eduardo Galeano, «besteht darin, dass einige Länder sich auf das Gewinnen spezialisieren und die anderen auf das Verlieren. Seit dem Beginn der Kolonialisierung bis in unsere Tage hat sich alles zuerst in europäische, dann in nordamerikanisches Kapital verwandelt. Alles: Die Schätze der Natur und die beruflichen Fähigkeiten der Menschen, die Produktionsmethoden und die Klassenstruktur jedes Ortes. Die Kette der aufeinanderfolgenden Abhängigkeiten ist ins Unendliche gewachsen. Die Verewigung der heutigen Weltordnung ist die Verewigung dieses Verbrechens.»

Bis heute haben sich die armen Länder des Südens nie wirklich aus der Abhängigkeit, Bevormundung und Fremdbestimmung durch die reichen Länder des Nordens befreien können. Die während der Kolonialzeit entstandenen Strukturen verunmöglichen bis heute eine eigenständige, unabhängige Entwicklung dieser Länder. Um einigermassen über die Runden zu kommen, sind sie gezwungen, immer wieder Kredite von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds oder privaten Institutionen aufzunehmen, zu Bedingungen, die einzig und allein von diesen Geldgebern bestimmt werden und dazu führen, dass die Verschuldung immer noch weiter zunimmt.

Lateinamerika 2024, das sind weiter zunehmende Armut und Hoffnungslosigkeit, steigende Preise bei sinkenden Löhnen, Arbeitslosigkeit, kaputtgesparte Schulen und gestrichene Sozialprogramme, Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution als einzige mögliche Auswege aus dem Kampf ums nackte Überleben, überquellende Gefängnisse, Mordanschläge auf Politiker und Richter, wachsender Einfluss der Mafia auf Unternehmen und Regierungen, Korruption, Überfälle auf Fernsehsender und öffentliche Institutionen, allgegenwärtige Gewalt auf den Strassen und in den heruntergekommenen Wohnquartieren ohne jede Zukunftsperspektive, nahezu täglich wachsende Flüchtlingsströme in Richtung Nordamerika, bei denen Millionen von Menschen, die schon viel zu Gewalt erfahren haben, noch einmal und erst recht vielen zusätzlichen Qualen und Formen von Gewalt ausgesetzt sind. Die einzige Antwort der Politik und der von alledem immer noch profitierenden Oberschichten besteht darin, all dieser Gewalt noch mehr Gegengewalt entgegenzusetzen, mehr Polizei, strengere Gesetze, mehr Gefängnisse und mehr Kampf gegen die vermeintlich «bösen» Kriminellen, Mafiabosse, Menschenhändler und «Terroristen», während das eigentliche, aller Misere zugrunde liegende Böse doch nichts anderes ist als der seit 500 Jahren wütende Kapitalismus mit all seinen verheerenden Folgen bis zum heutigen Tag.

2,2 Billionen Dollar für Waffen: Pazifismus als einzige vernünftige Alternative

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendein Staat bekanntgibt, mehr Geld für sein Militär ausgeben zu wollen. Gemäss dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri erreichten die globalen Militärausgaben 2022 einen neuen Höchststand. Sie stiegen inflationsbereinigt um 3,7 Prozent auf rund 2240 Milliarden Dollar. Es war bereits das achte Jahr in Folge, in dem die Länder der Erde mehr Geld für ihre Verteidigung ausgaben. Dabei verzeichnete Europa unter den Weltregionen mit einem inflationsbereinigten Plus von 13 Prozent den stärksten Anstieg der Verteidigungsausgaben: 477 Milliarden Dollar gaben die europäischen Staaten 2022 für militärische Zwecke aus. Es ist zu befürchten, dass das Jahr 2023 alle früheren Jahre noch einmal übertroffen hat – neuere Zahlen fehlen zurzeit noch.

Gleichzeitig sind immer mehr Menschen nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den Ländern des Nordens von Armut betroffen. All das Geld, das weltweit in militärische Aufrüstung gesteckt wird, fehlt bei der Grundversorgung von Millionen von Menschen umso schmerzlicher, bei der Bereitstellung günstigen Wohnraums, bei der Wasserversorgung, bei Sozialprogrammen, im Gesundheitswesen, in der Bildung, in der Entwicklungshilfe. Jeden Tag sterben weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. „Jede Kanone, die gebaut wird“, so der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Auch Albert Einstein schrieb schon vor über 70 Jahren: „Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.“

Die Lösung wäre so einfach: Es bräuchte nur eine internationale Friedenskonferenz sämtlicher Regierungen, die bald einmal, wenn sie sich ernsthaft mit der Frage nach dem Überleben der Menschheit auseinandersetzen würden, unweigerlich erkennen müssten, dass sie alle nur gewinnen und dass niemand von ihnen etwas verlieren würde, wenn sie all das viel zu viele Geld, das heute für militärische Zwecke verschleudert wird, für zivile Zwecke verwenden würden. Die Einzigen, die dabei verlieren würden, wären die Rüstungskonzerne. Aber auch sie nur auf den ersten Blick. Denn es gibt unendlich viel Sinnvolleres, was man anstelle von Waffen produzieren kann: Wohnungen und Häuser, Anlagen für eine flächendeckende Versorgung mit sauberem Trinkwasser, ausreichende sanitäre Einrichtungen zur Verhinderung von ansteckenden Krankheiten, Spitäler, Geräte für medizinische Grundversorgung, intelligente und energiesparsame Verkehrssysteme, Fahrräder, Schulen, Kulturzentren, Bücher und vieles, vieles mehr. Und das würde all jene, welche ihre Produktion von militärischen auf zivile Güter umstellen würden, erst noch viel glücklicher machen, sie von schlechtem Gewissen und von schlaflosen Nächten befreien. Ja, der Pazifismus, der in der Abschaffung sämtlicher Armeen gipfeln und auf diese Weise endlich Wirklichkeit würde, ist die aktuellste Philosophie der Gegenwart und „aus der Zeit gefallen“ sind einzig und allein nur jene, die das immer noch nicht begriffen haben.

Aber noch etwas müsste an dieser globalen Friedenskonferenz beschlossen werden, nämlich, der UNO eine unvergleichlich viel grössere Macht zu geben als die, über welche sie heute verfügt. Die USA müssen ihre Rolle als Weltpolizist und als Weltmacht Nummer eins, die sich einzig und allein auf das Recht des Stärkeren begründet und an die sie sich je länger je verzweifelter und mit immer gefährlicheren möglichen Folgen festklammern, endlich abgeben. Nicht an China oder irgendeine andere künftige Grossmacht, sondern an eine supranationale Organisation wie die UNO, demokratisch legitimiert und ohne ein Vetorecht irgendeines einzelnen oder einer Gruppe privilegierter Staaten. Jeder Konflikt zwischen zwei Jugendlichen, die sich auf einem Pausenplatz verprügeln, jeder Konflikt zwischen Eheleuten, die nicht mehr miteinander sprechen, und jeder Streit zwischen Nachbarn wegen bellenden Hunden in der Nacht oder Bäumen, die in die falsche Richtung wachsen, wird heute durch den Beizug von Mediatoren oder Friedensvermittlerinnen und durch gemeinsames Suchen nach Kompromissen gelöst. Nur bei den grössten, schwierigsten und gefährlichsten Konflikten, jenen zwischen Völkern oder Staaten, geht man immer noch von der irrigen Annahme aus, diese könnten von den Kontrahenten alleine und ohne Hilfe von aussen gelöst werden. Dass dies definitiv nicht funktionieren kann, müsste die Menschheit aus der viele hundert Jahre währenden Geschichte von Kriegen, bei denen es am Ende nie Gewinner, sondern immer nur Verlierer gegeben hat, eigentlich schon längst gelernt haben.

Vielleicht, und das ist trotz allem die Hoffnung, sind wir dem Punkt einer Entscheidung, die wir nicht mehr viel länger hinausschieben können, heute näher denn je. Denn es gibt nur zwei Wege. „Entweder“, so der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“

Deutschland – ein gespaltenes Land? Was alle angeht, können nur alle lösen…

Deutschland im Januar 2024. Ein immer tieferer Graben quer durchs Land. Immer mehr Verhärtung, Rechthaberei und die felsenfeste Überzeugung, auf der „richtigen“ Seite zu stehen und die andere, die „falsche“ Seite bekämpfen zu müssen. Immer weniger Bereitschaft, eigene Positionen zu hinterfragen, eigene Fehler einzugestehen, anderen zuzuhören und, vielleicht, sogar von anderen zu lernen. Immer mehr Menschen, die lautstark Parolen rufen. Und immer weniger Menschen, die leise und aufmerksam mit Andersdenkenden reden. Deutschland – ein geteiltes Land.

Dabei wäre es gar nicht ein so furchtbar langer und schwieriger Weg, um herauszufinden, wo das eigentliche Grundübel liegt. Dass es eben nicht nur ein soziales Problem ist. Nicht nur die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich. Nicht nur die Abgehobenheit politischer „Eliten“ gegenüber dem „gewöhnlichen“ Volk. Nicht nur steigende Energie-, Miet-, Gesundheits- und Lebenshaltungskosten. Nicht nur der Dieselpreis und Existenzängste von Landwirtinnen und Landwirten. Nicht nur das Fiasko bei der Deutschen Bundesbahn. Nicht nur laufend zunehmende und die Allgemeinheit immer mehr überfordernde Zahlen von Asylsuchenden, Migrantinnen und Migranten. Nicht nur Jugendgewalt. Nicht nur Arbeitslosigkeit. Nicht nur der Krieg in der Ukraine. Nicht nur der Klimawandel. Nicht nur die wachsende Zahl erschöpfter, kranker, ausgebrannter Menschen. Nicht nur der zunehmende Druck am Arbeitsplatz und die zahlreichen Folgen des gegenseitigen Konkurrenzkampfs um den sozialen Aufstieg oder schlicht ums tägliche Überleben. Nicht nur eine offensichtlich völlig ratlose und „unfähige“ Regierungspolitik in Form der „Ampel“. Und auch nicht nur die Fremdenfeindlichkeit und der politische „Extremismus“ einer AfD. Sondern dass alle diese einzelnen Probleme nur Teile sind von einem viel, viel grösseren Problem, das über allen anderen steht und alle anderen verursacht.

Dieses über allen anderen stehende und alle anderen verursachenden Probleme ist der Kapitalismus mit seiner Ideologie eines endlosen Wirtschaftswachstums selbst auf Kosten zukünftiger Generationen, mit seiner Ideologie, gegenseitiger Konkurrenzkampf fördere das Beste im Menschen, mit seiner Ideologie, reich zu werden sei selbst dann zu rechtfertigen, wenn andere dadurch ärmer werden, mit seiner Ideologie, stetige Profitmaximierung sei jener höchste wirtschaftliche und gesellschaftliche Wert, dem alle anderen unterzuordnen seien. Die Menschen sind nicht dumm. Schon vor vier Jahren sagten in einer grossangelegten, vom Kommunikationsinstitut Edelman durchgeführten Meinungsumfrage 55 Prozent der Deutschen, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an, heute wären es wahrscheinlich noch viel mehr. Eigentlich wissen es die Menschen. Und doch gaukeln sich die meisten gegenseitig immer noch die vermeintliche „Wahrheit“ vor, stets nur der andere, der „Böse“, der „falsch“ Denkende, der linke oder der rechte „Extremist“ sei an allem schuld und deshalb läge die einzige Lösung des Problems darin, das eigene politische Lager und die eigene vermeintliche „Wahrheit“ so gross und so stark werden zu lassen, dass die sich auf der „falschen“ Seite Befindlichen immer schwächer und kleiner werden und mit der Zeit ganz und gar von der Bildfläche verschwinden. Dass genau dies nicht funktioniert, zeigt sich dieser Tage deutlicher denn je, und man muss schon bis zur Sturheit von sich selber sehr, sehr überzeugt sein, um es nicht wahrzunehmen: Je grösser die Aufmärsche der AfD-Gegner, umso mehr Zulauf bekommen diese. Und das wird immer so weitergehen, wenn nicht möglichst bald, so ist zu hoffen, die Vernunft wieder einkehrt.

Die Vernunft, die in der Einsicht bestehen würde, dass eine Lösung niemals durch einen gegenseitigen Machtkampf gefunden werden kann, sondern nur durch ein Miteinander. Dass uns nicht gegenseitiges Niederbrüllen weiterbringt, sondern nur ein Dialog, in dem jede Seite die andere ernst nimmt, ein Dialog, in dem gemeinsam offen, ehrlich und selbstkritisch nach den tatsächlichen tieferen Ursachen der Probleme gesucht wird und gemeinsam Strategien entwickelt werden, die aus dem vorhandenen Schlamassel Wege aufzeigen könnten, mit denen sich am Ende alle einverstanden erklären und die allen einen Nutzen bringen würden. „Was alle angeht“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen“. Das gilt sogar weltweit. Denn nicht nur die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme innerhalb jedes einzelnen Landes hängen miteinander zusammen, sondern auch die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme weltweit über alle Grenzen hinweg, auch die Migration, auch der Klimawandel, auch Kriege zwischen Völkern oder Staaten, alles hängt mit allem zusammen. Auch Migranten und Flüchtlinge können niemals unsere „Feinde“ sein, auch sie und wir mit ihnen und allen anderen zusammen sind Opfer dieses gleichen einzigen, weltumspannenden Wirtschaftssystem, das seit Jahrhunderten auf nichts anderem als auf der Ausbeutung der Natur und der arbeitenden Menschen beruht und mit dessen zerstörerischen Folgen wir uns heute so schmerzlich herumschlagen müssen. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber, als Narren, miteinander untergehen.“

Nicht der Hass ist die Lösung, sondern, so „idealistisch“ oder gar „weltfremd“ dies im Moment auch klingen mag, einzig und allein die Liebe. Denn nur sie lehrt uns, dass es so viel mehr gibt, was die Menschen miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Nur sie kann jene Grenzen und Mauern auflösen, die wir uns so blind immer wieder gegenseitig in den Weg stellen. Man spricht oft von „Kipppunkten“. Vielleicht, und das ist die grosse Hoffnung, haben sich mittlerweile der gegenseitige Hass und die gegenseitige Intoleranz so sehr zugespitzt, dass uns schon bald die Augen dafür aufgehen müssen, von Grund auf und radikal neue und andere Wege zu suchen, um jenes Paradies, jene Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden und Gerechtigkeit, die doch im Allerinnersten von uns allen schlummert, endlich Wirklichkeit werden zu lassen.

Spendenstopp an das palästinensische Hilfswerk UNRWA: Völlig überhastete und unverhältnismässige Reaktion mit höchst verhängnisvollen Folgen

Die Schweiz überlegt sich, so wie das zehn andere Länder bereits beschlossen haben, ihre Zahlungen an das palästinensische Hilfswerk UNRWA einzustellen. Der Grund: Zwölf Mitarbeitende der UNRWA sollen an den Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Fehlen die internationalen Spenden, welche die Projekte der UNRWA zu 90 Prozent finanzieren, würde dies den finanziellen Kollaps eines Hilfswerks bedeuten, welches 691 Schulen, 137 Zentren für medizinische Versorgung sowie mobile Ambulanzen betreibt und sich um die berufliche Ausbildung junger Menschen kümmert. Auch die Nahrungsmittelversorgung für 600‘000 Menschen wäre in Frage gestellt. Es kann doch nicht sein, dass dies alles durch eine überhastete und völlig unverhältnismässige Reaktion der Spenderländer aufs Spiel gesetzt wird bloss wegen des Fehlverhaltens von zwölf von insgesamt 30‘000 Mitarbeitenden der UNRWA. Einmal mehr würde es die Schwächsten treffen, Wut und Verzweiflung würden sich bei den Betroffenen breitmachen und man hätte wohl genau das Gegenteil dessen bewirkt, worin sich eine Politik der Menschenwürde und eines gesunden Augenmasses eigentlich auszeichnen müsste.

Guanahani, 12. Oktober 1492: Eine neue Welt entsteht, eine andere geht unter

Dies ist das 1. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren publizierten Kapitel des Buches.

Es begann mit einem Wettlauf zwischen Portugal und Spanien. Da der seit Jahrhunderten florierende Handel mit Gewürzen und Seide auf dem Landweg zwischen Ostasien und Europa infolge zunehmender Überfälle durch Räuberbanden und hoher Zölle auf Zwischenstationen immer mehr unter Druck geraten war, musste dringend ein neuer Weg zur Aufrechterhaltung der bisherigen Handelsbeziehungen gefunden werden. Während portugiesische Seefahrer diesen neuen Weg rund um die Südspitze Afrikas suchten, wollte es der genuesische Seefahrer Christoph Kolumbus, der von der Kugelgestalt der Erde überzeugt war, in umgekehrter Richtung versuchen. Der Plan ging auf: Im Auftrag des spanischen Königshauses, ausgestattet mit drei Schiffen, stiess Kolumbus nach einer mehr als zwei Monate währenden Fahrt quer über den Atlantik am 12. Oktober 1492 auf Land. Überzeugt, sich auf einer Insel östlich von Indien zu befinden, war Kolumbus tatsächlich aber auf der heutigen Insel San Salvador gelandet, in der Sprache der Eingeborenen Guanahani, im Archipel der Bahamas. Obwohl man eigentlich die vor schätzungsweise rund 15‘000 Jahren aus Asien nach Amerika eingewanderte Urbevölkerung als die wahren «Entdecker» Amerikas bezeichnen müsste und obwohl der Wikinger Leif Eriksson bereits 500 Jahre vor Kolumbus amerikanisches Festland erreicht hatte, wird bis heute jeweils der zweite Montag im Oktober in den USA als «Columbus Day» gefeiert, als die eigentliche «Entdeckung» Amerikas. Den Namen «Amerika» erhielt der neu «entdeckte» Kontinent indessen vom italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci im Jahre 1507, ein Jahr nach dem Tod von Christoph Kolumbus, dem zeitlebens nicht bewusst gewesen war, einen – aus der Sicht Europas – «neuen» Kontinent gefunden zu haben.

Doch was aus der Sicht Europas und der westlichen Welt bis heute als der Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert wird, war zugleich der Anfang einer Leidensgeschichte voller unvorstellbarer Demütigungen und der fast vollständigen kulturellen Auslöschung jener indigenen Völker, welche während mindestens 15‘000 Jahren – vereinzelt gehen Schätzungen sogar von bis zu 40‘000 Jahren aus – die eigentlichen «Herren» des Kontinents gewesen waren. In immer weiter wachsender Zahl folgten den Entdeckern die Eroberer und die Siedler, vor allem aus England, Frankreich und Spanien, aber auch aus zahlreichen weiteren Ländern Europas, angetrieben von den Verlockungen und der Aussicht auf Reichtum und eine goldene Zukunft in einer «neuen Welt» voller ungeahnter Möglichkeiten und Freiheiten. Und in gleichem Masse, wie sich die Lebensräume der einwandernden Weissen immer weiter ausdehnten, schmolzen die Lebensräume der indigenen Urbevölkerung wie Schnee an der Sonne immer weiter in sich zusammen.

Auch als die nordamerikanischen Kolonien die Unabhängigkeit erkämpft und sich vom britischen Mutterland losgesagt hatten, änderte dies am Schicksal der indigenen Urbevölkerung nicht das Geringste. Im Gegenteil: Obwohl in der Unabhängigkeitserklärung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika am 4. Juli 1776 proklamiert wurde, dass «alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit unveräusserlichen Rechten wie dem Leben, der Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet sind», gingen das Zurückdrängen der Indigenen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen nahtlos weiter, gehörten sie doch aus der Sicht der Weissen nicht zu jenen Geschöpfen, die «alle gleich geschaffen sind und die gleichen Rechte haben». Bis 1890 in der legendären Schlacht am Wounded Knee auch noch die letzten Reste des verbliebenen indigenen Widerstands für immer gebrochen wurden.

Vier Episoden aus dieser unbeschreiblichen Leidensgeschichte sollen, stellvertretend für unzählige andere, an dieser Stelle etwas ausführlicher zur Sprache kommen: Die Tragödie der Cherokee, der Goldrausch in Kalifornien, die fast vollständige Ausrottung der Bisons und die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Die Ausführungen stützen sich weitgehend auf das 2017 erschienene Buch «Verlorene Welten» des Schweizer Autors Aram Mattioli.

Erste Episode: Die Tragödie der Cherokee. Bevor sie mit den Weissen in Kontakt kamen, lebte dieses indigene Volk in insgesamt 60 Dörfern der südlichen Appalachen. Die Lebensweise der Cherokee beruhte auf Selbstversorgung, dem Boden als Gemeinschaftsbesitz und auf einer matriarchalen Gesellschaftsstruktur. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es zu ersten Kontakten mit den Weissen, doch dann machten sich in kurzer Zeit immer mehr Siedler auf ihrer Erde breit. Bis 1775 mussten die Cherokee von ihrem Territorium von ursprünglich 325‘000 Quadratkilometern über 125‘000 Quadratkilometer an die Siedler abtreten. Sechzig Jahre später war der Ansturm weiterer Siedler dermassen angestiegen, dass die Regierung des Bundesstaates Georgia die Cherokee endgültig aus ihrer Heimat vertreiben wollte. Heimlich wurde mit einer kleinen Delegation von abtrünnigen Cherokee, die nicht im Namen der grossen Mehrheit ihres Volkes sprachen,  ein Umsiedlungsvertrag ausgehandelt, wonach die Cherokee gegen eine Entschädigung von fünf Millionen Dollar ihr gesamtes übrig gebliebenes, überaus fruchtbares und mit Wäldern gesegnetes Territorium aufgeben und bis zum 23. Mai 1838 in ein von kargem Boden geprägtes Reservat auf dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaates Oklahoma ziehen müssten. Doch noch bevor die gesetzte Frist abgelaufen war, marschierte eine von General Winfield Scott befehligte Einheit von 7000 Mann in das Land ein. Scotts Soldaten trieben die Cherokee mit Waffengewalt zusammen, manche traf es bei der Feldarbeit, andere wurden vom Familientisch weggezerrt, vielen verblieb nicht einmal Zeit, das Nötigste einzupacken. Plünderer fielen über ihre Häuser her und raubten Hausrat und Vieh, danach steckte man die Farmen in Brand. Die Gefangenen wurden in 31 Palisadenforts interniert, wo sie unter widrigsten Umständen fünf Monate lang ausharren mussten, bevor sie auf jene Leidensmärsche gezwungen wurden, die sie noch heute in ihrer Sprache den «Pfad der Tränen» nennen. Dieser führte über 1600 Kilometer, auf denen die Cherokee oft brütender Sonnenhitze, dann wieder klirrender Winterkälte ausgesetzt waren, und das bei weit unzureichender Ernährung und mangelnder medizinischer Versorgung. Hunger, Krankheiten und Erschöpfung lichteten ihre Reihen, schätzungsweise kostete die Umsiedlung mindestens 4000 Cherokee das Leben, rund einem Viertel des gesamten Volks.

Zweite Episode: Der Goldrausch in Kalifornien. Er begann am 24. Januar 1848, als der Zimmermann James W. Marshall in einem abgeschiedenen Tal in den Ausläufern der Sierra Nevada zufällig einige Goldkörner entdeckte. Bald erfuhren immer mehr Menschen von dem Fund, weitere Goldfelder wurden entdeckt. Als schliesslich der «New York Herald» im Spätsommer 1848 über die Funde im fernen Westen berichtete, gab es bald kein Halten mehr. In der Hoffnung, schnell reich zu werden, brachen Zehntausende von Abenteuerhungrigen aus den östlichen USA, Mexiko, Südamerika, Westeuropa, Ostasien und Australien ins vermeintliche Eldorado auf. Der Chief des Volkes der Nisenan ahnte, was auf sie zukommen würde, und warnte: «Das gelbe Metall ist eine sehr schlechte Medizin. Es gehört einem Dämon, der alle verschlingen wird, die nach ihm suchen.» Und in der Tat: Schon ein Jahr später war der grösste Teil der auf dem Gebiet der Goldfelder lebenden Indigenen aus ihren Heimstätten vertrieben worden. Als schliesslich in den frühen 1850er Jahren grosse Unternehmen ins Goldgeschäft einstiegen, kam es auch schon zur ersten ganz grossen Umweltkatastrophe, die wir uns heute als Vorläuferin eines seither ungebrochenen weltweiten Feldzugs des masslosen Raubbaus an Bodenschätzen und der Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen bis hin zum heutigen Tag vorstellen können: Als Fördermethoden wurden Hochdruck-Wasserkanonen eingesetzt, mit denen das Erdreich ganzer Hügel in Kanalrinnen gespült und das Gold herausgefiltert wurde. Kräftige Wasserstrahlen jagten Tausende Tonnen Erde, Sand, Geröll und Kies durch hölzerne Kanalsysteme. Zudem führte der immense Bedarf an Brennholz für die Wasserkanonen zu einem unkontrollierten Kahlschlag in den nahegelegenen Wäldern, während das weggespülte Geröll und Erdreich die Flüsse verunreinigte und die natürlichen Lebensräume zerstörte. Dazu kam, dass, um das Gold aus dem Kies und dem Sand zu lösen, hochgiftiges Quecksilber eingesetzt wurde, dem die Arbeiter schutzlos ausgeliefert waren. Der kalifornische Goldrausch, der viele Weisse märchenhaft reich machte und ganze Städte, Fabriken, Strassen, Brücken und Eisenbahnlinien wie Pilze aus dem Boden schiessen liess, bedeutete auf der entgegengesetzten Seite eine Katastrophe gigantischen Ausmasses, schlimmer als jedes noch so schlimme Naturereignis, waren die Indigenen für die aus dem Osten eindringenden Immigranten doch nichts anderes als unliebsame Konkurrenten um Ressourcen wie Land, Wild und Wasser, lästige Hindernisse auf dem Weg zu ihrem persönlichen Glück, in den Augen der allermeisten Siedler nichts anderes als wilde Tiere, die eigentlich keine Daseinsberechtigung haben sollten. «Herumstreunende» Indigene oder solche, die einen «unmoralischen» Lebenswandel pflegten, durften, ebenso wie elternlose indigene Kinder, ganz legal zu Zwangsarbeit verpflichtet werden – von diesem Schicksal waren zwischen 1850 und 1863 nicht weniger als 10‘000 Indigene betroffen, darunter bis zu 5000 Kinder und Jugendliche. Sie wurden von ihren Besitzern gnadenlos ausgebeutet, oft sexuell missbraucht und nicht selten schon wegen kleinster Vergehen bis in den Tod ausgepeitscht. Zahllose indigene Frauen suchten, um ihre Familien vor dem Hungertod zu retten, Zuflucht in der Prostitution und wurden dabei, als rassisch «minderwertig» angesehen, häufig ganz besonders bestialisch behandelt und mies bezahlt. Es scheint fast, als hätten sich die Siedler in Bezug auf ihre Brutalität oft gegenseitig noch zu übertrumpfen versucht. So zwang ein gewisser Carles Stone die von ihm versklavten Indigenen zu schwerster Arbeit bei gleichzeitig völlig unzureichender Ernährung. Als ein hungerndes Kind sein privates Grundstück betrat und um ein wenig Weizen bettelte, erschoss er es kurzerhand. Innerhalb von nur 25 Jahren wurde die indigene Urbevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien nahezu gänzlich ausgelöscht, auf dem Gebiet eben dieses Kaliforniens, das bis heute als die Verkörperung des amerikanischen Traums gilt und als millionenfach gefeiertes Beispiel dafür, dass jeder Mensch «Schmied seines eigenen Glücks» sei.

Dritte Episode: Die fast vollständige Ausrottung des Bisons. Die rund 30 Millionen Bisons, welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Graslandschaften der Grossen Ebenen im mittleren Nordamerika lebten, bildeten für die dort lebenden Völker eine lebenswichtige Nahrungsgrundlage. Doch nicht nur das. Restlos alle Teile der erlegten und sorgfältig zerlegten Beute wurden verwertet, nicht nur Fleisch, Blut, Fett und Häute, sondern auch Knochen, Sehnen, Mägen, Hörner, Hufe und Schädel, selbst der Dung diente als Brennmaterial. Der Bison stand nicht nur im Zentrum der materiellen und spirituellen Kultur der dortigen Völker, er war ihr Leben. Doch das sollte sich grundlegend ändern, als ab etwa 1870 die globale Nachfrage nach Bisonleder explosionsartig zunahm. Das in Eisenbahnwaggons und auf Frachtschiffen verladene Bisonleder wurde in die industriellen Zentren Europas exportiert und dort zu Gürteln, Schuhsohlen, Stiefeln und Antriebsriemen für Maschinen verarbeitet. Zunehmend ihres Frischfleischs beraubt, breiteten sich in den betroffenen Gebieten Hungersnöte aus, die Bevölkerung der Grossen Ebenen sackte zwischen 1870 und 1875 von 5000 auf 1500 zusammen. Dem Hunger folgte 1876/77 ein besonders harter Winter mit Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, der «Winter der Verzweiflung». Beste Bedingungen für die US-Kavallerie, den Bedrängten, welchen es an Decken, warmen Kleidern und Essen fehlte, an allen Ecken und Enden nachzustellen, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und elf Kleinkinder erfroren bei minus 30 Grad, bevor die wenigen Überlebenden in einem Lager der US-Armee Aufnahme fanden. 1881 waren von den ursprünglich 30 Millionen Bisons noch versprengte 800 übrig geblieben, noch nie zuvor war in so kurzer Zeit eine so grosse Tierpopulation vernichtet worden. «Ein kalter Wind», so Häuptling Sitting Bull, «blies durch die Ebenen unserer Erde, ein Todeswind für mein Volk.» Nur wenige Indigene lebten zu diesem Zeitpunkt noch in Freiheit, die allermeisten waren bereits in Reservate abgeschoben worden, die fast ausnahmslos in Gebieten mit kargen Böden oder Wüstenklima ausgesucht worden waren, an denen die weissen Farmer und Rancher kein Interesse hatten. Hier lebten die ehemals so freiheitsliebenden Ureinwohner Nordamerikas eng zusammengepfercht, waren von Nahrungsmittelhilfe abhängig und mussten selbst dann um Erlaubnis fragen, wenn sie das Reservat nur für kurze Zeit verlassen wollten. In beinahe allen diesen Einrichtungen, die eigentlichen Gefangenenlagern glichen, herrschten erbärmliche Lebensbedingungen, extreme Armut und Hoffnungslosigkeit.

Vierte Episode: Die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Ab 1880 gegründet, bestand das Ziel dieser Erziehungsanstalten darin, indigene Kinder so früh wie nur möglich auf den «richtigen», sprich christlichen Glaubensweg zu bringen und jegliche Spuren von so etwas wie «Naturreligionen» so systematisch wie möglich auszulöschen. Im Zentrum der bei sämtlichen indigenen Völker Nordamerikas in unterschiedlichen Varianten verbreiteten Naturreligionen stand nicht die Unterscheidung von Gut und Böse, sondern der Glaube an eine Universalenergie, an eine innere Verwandtschaft aller Dinge und Wesen im gesamten Kosmos und an die Bestimmung der Menschen, im Einklang mit der Natur zu leben. Dem entgegen wurde in den Boarding-Schools die Lehre von den «zwei Wegen» vermittelt: Zum Himmel führt ein goldener Pfad, gesäumt von der Schöpfungslehre, dem Glaubensbekenntnis der Apostel, der Gründung der Kirche, den Sakramenten und theologischen Tugenden, während der schwarze Weg, umgeben von Sünden und Lastern, direkt in den Rachen des Teufels führt. Indigene Kinder wurden zwangsweise in die Boarding-Schools eingewiesen, wehrten sich ihre Eltern dagegen, wurden ihnen die Lebensmittelrationen gekürzt. Die traditionelle Kleidung und der Perlenschmuck der Kinder wurde von den in den Boarding-Schools lehrende Missionaren verbrannt. Nachdem man die Kinder gewaschen und neu eingekleidet hatte, bekamen die Jungen einen Kurzhaarschnitt, die Mädchen eine Frisur in westlichem Stil. Wer sich dagegen zu wehren versuchte, schrie und wild um sich schlug, wurde mit Stricken an den Stühlen festgebunden. Alle Kinder erhielten anstelle ihres indigenen einen christlichen Vornamen. In den Boarding-Schools herrschten strengste Regeln mit genauestens vorgeschriebenen Arbeits- und Gebetszeiten. Auf leichtere Vergehen wie Missachtung der Hausordnung, Unaufmerksamkeit oder Ungehorsam standen als Strafe Essensentzug, Strafarbeit oder Schläge, nach schwereren Vergehen wie etwa einem  Fluchtversuch wurden die Kinder in winzige Arrestzellen eingesperrt, mit Lederriemen ausgepeitscht oder mit Knüppeln geschlagen – Erziehungsmethoden, welche den indigenen Gemeinschaften vollkommen fremd gewesen waren. Sprachen die Kinder miteinander in ihrer eigenen Sprache, drohten Schläge oder es wurde ihnen der Mund mit Lauge ausgewaschen. Indem sie zur Verwendung der englischen Sprache gezwungen wurden, sollten sie befähigt werden, die Welt «mit amerikanischen Augen» zu sehen. Die letzte Boarding-School schloss ihre Tore erst im Jahre 1996! Während in Kanada eine staatlich eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission im Jahre 2015 die in den Boarding-Schools praktizierten Methoden als «kulturellen Genozid» bezeichnete, ist die Aufarbeitung dieses dunklen historischen Kapitels in den USA bis heute nicht über erste zaghafte Anfänge hinausgekommen. Noch im Sommer 2020 nahm Donald Trump den Schauspieler und Westernheld John Wayne in Schutz, der 1971 in einem Interview gesagt hatte, dass er an eine «natürliche Überlegenheit der weissen Rasse» glaube.

«Nirgends auf der Welt», schreibt der Historiker Howard Zinn in seinem 2007 erschienenen Buch «Eine Geschichte des amerikanischen Volkes», «hat Rassismus über einen so langen Zeitraum eine so wichtige Rolle gespielt wie in den Vereinigten Staaten.» Dies widerspiegelt sich in unzähligen Aussagen von US-amerikanischen Politikern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten im Verlaufe der Vertreibung und Vernichtung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas über mehr als zweihundert Jahre hinweg. So sprach Thomas Jefferson, US-Präsident von 1801 bis 1809, von einer «historischen Sonderrolle der Vereinigten Staaten in der Weltgeschichte» und von Nordamerika als dem hierfür «von Gott auserwählten Land». Für ihn stand fest, dass die amerikanischen Ureinwohner auf einer «früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehen geblieben» seien und erst der europäische Mensch die «höchste Stufe» dieser Entwicklung erreicht hätte. Der damalige US-Aussenminister Henry Clay sagte im Jahre 1826, «vollblütige Indianer» seien «von Natur aus minderwertig» und ihr «Verschwinden aus der menschlichen Familie» wäre «kein grosser Verlust für die Menschheit». Theodore Roosevelt, US-Präsident von 1901 bis 1909, forderte die «Pulverisierung» sämtlicher Sozialorganisationen sowie spiritueller und kultureller Praktiken indigener Gemeinschaften. «Ich gehe nicht so weit zu denken», sagte er, «dass die einzig guten Indianer tote sind, aber ich glaube, dass es auf neun von zehn zutrifft.»

Anstelle ihrer traditionellen kulturellen und spirituellen Überlieferungen sollte den Indigenen das neue kapitalistische Gedankengut eingepflanzt werden. In speziellen «Umerziehungsprogrammen» mussten sie lernen, «ich» statt «wir» und «meines» statt «unseres» zu sagen. Denn «Selbstsucht», sagte der US-Senator Henry L. Dawes nach einem Besuch des Cherokee-Reservats im Jahre 1885, «ist die wahre Grundlage der Zivilisation. Bis diese Leute einwilligen, das Land so aufzuteilen, dass jeder auch das besitzt, was er kultiviert, wird es keinen Fortschritt geben.»

Noch heute sehen viele, wenn nicht die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner in der triumphalen Eroberung Nordamerikas durch die Weissen nichts anderes als die Erfüllung eines Naturgesetzes, wonach sich im Sinne eines «Survivals of the Fittest» am Ende stets die Stärksten und Tüchtigsten durchzusetzen vermögen – die nach wie vor herrschende geistige Grundlage des Kapitalismus, auch wenn das heute fast niemand mehr mit genau diesen Worten so sagen würde.

Bis heute wird in der historischen Forschung darüber gestritten, ob die nordamerikanische Kolonialgewalt gegen die indigene Urbevölkerung unter die Definition der von der Uno im Jahre 1948 beschlossenen Genozidkonvention fällt oder nicht. Fest steht aber, dass Grossbritannien, Frankreich, die USA, Kanada und Australien als ehemalige Kolonialmächte rechtzeitig dafür gesorgt hatten, die systematische kulturelle Zerstörung einer Volksgruppe und die Zwangsassimilation von indigenen Völkern und nationalen Minderheiten nicht in die Genoziddefinition von 1948 einfliessen zu lassen.

Cortina d’Ampezzo und schon wieder eine nie dagewesene Serie von Stürzen in einem Abfahrtsrennen: 2000 Jahre und immer noch der gleiche Wahnsinn

Abfahrt der Frauen in Cortina d’Ampezzo am 27. Januar 2024: So viele Stürze in einem einzigen Rennen gab es wohl noch selten. Zuerst Mikaela Shiffrin. Sie stürzt im oberen Streckenteil und fliegt ins Fangnetz, der Aufprall ist so heftig, dass sie zunächst regungslos liegen bleibt. Als sie wieder aufstehen kann, lässt sich das linke Bein nicht mehr belasten, sie muss mit dem Helikopter abtransportiert werden, wie zwei Wochen zuvor ihr Freund Aleksander Kilde, der in Wengen schwer gestürzt war und den Rest des Winters verpassen wird. Dann Corinne Suter. Bei der Landung nach einem hohen Sprung kann sie zwar gerade noch knapp vor den Fangnetzen abbremsen, verletzt sich dabei aber am Knie und schreit vor Schmerz laut auf. Auch sie muss ins Spital gebracht werden. Schon am Abend werden die schlimmsten Befürchtungen Tatsache: Kreuzbandriss im linken Knie, Meniskusverletzung, Saisonende. Bereits vor Jahresfrist stürzte sie in Cortina d’Ampezzo und erlitt dabei eine Gehirnerschütterung. Dann Federica Brignone. Dann Emma Aicher. Dann Priska Nufer. Und schliesslich Michelle Gisin. Sie landet in den Netzen, kann jedoch selbständig ins Ziel fahren, verspürt aber starke Schmerzen im rechten Unterschenkel und wird bei den weiteren Rennen an diesem Wochenende nicht mehr starten können. Doch dieser Freitag ist keine Ausnahme. Er passt in diese, wie ein Journalist schreibt, „seltsame Skisaison“: Reihenweise sind sie in den vergangenen Wochen infolge von Stürzen und Verletzungen ausgeschieden: Nebst Aleksander Kilde auch Petra Vlhova, Wendy Holdener, Alexis Pinturault und Marco Schwarz, um nur die Bekanntesten unter ihnen zu nennen.

Und jedes Mal, wenn wieder ein Fahrer oder eine Fahrerin ins Netz fliegt oder regungslos auf der Piste liegen bleibt, geht ein Aufschrei durch das Publikum und alle schlagen sich die Hände vor die Augen, nur um das Entsetzliche nicht sehen zu müssen. Wie scheinheilig. Man baut die Pisten genau so, dass sie Stürze förmlich provoziert, und gibt sich dann völlig überrascht, wenn tatsächlich genau das passiert, was man eigentlich hätte verhindern können, aber offensichtlich gar nicht wirklich hat verhindern wollen. „Ich habe an dieser Stelle einen Fehler gemacht“ oder „Ich habe zu wenig aufgepasst“ oder „Ich war zu wenig konzentriert“, sagen die Fahrerinnen im Interview nach dem Rennen, ganz so, als ob sie sich für irgendetwas entschuldigen oder rechtfertigen müssten und nicht der einzige wirklich ausschlaggebende Fehler darin besteht, eine solche Art von sportlichem „Wettkampf“ überhaupt zu planen und durchzuführen, bei dem jede Fahrerin und jeder Fahrer schon lange vor dem Start ganz genau weiss, dass sie oder er schon das nächste Opfer sein könnte.

Doch nicht nur Skifahrerinnen und Skirennfahrer, sondern auch Motorradfahrer, Kunstturnerinnen, Leichtathleten, Schwimmerinnen und Tennisspieler. Sie alle bezahlen mit ihrer Gesundheit, manchmal sogar mit ihrem Leben, für die Schaulust des Publikums und für jene Gewinne, die dann früher oder später in die Kassen von Sportorganisatoren, Veranstaltern, Fernsehanstalten und all jener Firmen fliessen, die dank diesem oder jenem Event ihre Profite erzielen. Und, obwohl sie alle dafür so grosse Opfer erbringen: Niemand von ihnen wird gefragt, ob sie selber all das tatsächlich auch wollen. Weder die Skirennfahrerinnen, noch die angehenden, mit brutalsten Trainingsmethoden belasteten Kunstturnerinnen von Magglingen, noch die Fahrer der Tour de France oder der Tour de Suisse, die sich über himmelhohe Berge quälen und sich auf glitschigem Kopfsteinpflaster der Gefahr von Stürzen aussetzen müssen, worauf dann wieder die scheinheilige Menge aufschreit und so tut, als wären das bloss irgendwelche dumme Zufälle oder „Fehler“, aber nicht die ganz logische Folge genau dieser Art von zu möglichst werbewirksamen Grossveranstaltungen emporgepushten „Sportveranstaltungen“, bei denen der ganz besondere, heimliche „Kick“ vermutlich eben genau darin liegt, dass jederzeit etwas ganz Entsetzliches passieren könnte.

Vor 2000 Jahren warf man, zur Belustigung der Massen, in den Amphitheatern Roms die Menschen den Löwen und Tigern zum Frass vor. Heute wirft man junge Menschen, angelockt durch Geld, Prestige, Berühmtheit und die Aussicht auf den definitiven Sieg in einem immer härter und gnadenloser werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf aller gegen alle einem millionenfachen Fernsehpublikum zum Frass vor, einem Publikum, das zuhause auf dem Sofa gemütlich zuschauen kann, wie sich andere zu Tode quälen und ihr Leben aufs Spiel setzen – sehr viel weiter scheinen wir in diesen 2000 Jahren nicht gekommen zu sein…

Das zutiefst Verrückte daran ist, dass durch diese Art von Wettkampf Menschen buchstäblich dazu gezwungen werden, sich gegenseitig Leid zuzufügen – obwohl sie dies wohl kaum selber wirklich wollen. Aber wenn, angetrieben durch die Aussicht auf einen Sieg, der einzelne Sportler und die einzelne Sportlerin immer mehr an die äussersten Grenzen körperlicher Belastbarkeit gehen und auch noch die letzten, allergrössten Gefahren und Risiken auf sich nehmen, dann zwingen sie, ob sie wollen oder nicht, alle ihre Konkurrentinnen und Konkurrentin dazu, dies ebenfalls zu tun oder, wenn irgend möglich, diese Grenze noch weiter hinauszuschieben. Je schneller die eine Skifahrerin auf die nächste gefährliche Kurve zurast, umso mehr steht die nächste Fahrerin unter dem Druck, noch schneller auf diese Kurve zuzurasen und damit ein noch höheres Risiko einzugehen. Je härter der eine Tennisspieler die Bälle schlägt, umso härter muss der andere sie zurückschlagen – bis die Handgelenke, die Ellbogen, die Knie oder der Rücken eines Tages einfach nicht mehr mitmachen. Je riskantere Sprünge die eine Kunstturnerin beherrscht, umso mehr sind alle anderen gezwungen, noch riskantere Sprünge einzuüben, selbst wenn sie dadurch ihren Körper dermassen überdehnen müssen, dass sie möglicherweise bleibende Schäden davontragen werden. Je länger es die eine Synchronschwimmerin unter dem Wasser aushält, umso länger müssen alle anderen Synchronschwimmerinnen es auszuhalten versuchen, bis eine von ihnen das Bewusstsein verliert – das, was mit der amerikanischen Synchronschwimmerin Anita Alvarez an den Weltmeisterschaften 2022 geschah und ihr fast das Leben gekostet hätte.

Sie alle, Skirennfahrerinnen, Radrennfahrer, Turnerinnen, Gewichtheber und Synchronschwimmerinnen und alle anderen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, sind Teil eines gewaltigen Experiments, von dem man eigentlich schon längst weiss, welches seine Folgen sind: zerstörte Körper bis zum Lebensende, unerträgliche Schmerzen durch übermässiges Training oder Unfälle, Depressionen, Magersucht oder der Verlust jeglichen Selbstvertrauens infolge unerbittlich sich wiederholender Rückschläge und Misserfolge trotz grenzenloser Anstrengungen über Jahre, zerplatzte Zukunftsträume, eine gestohlene Kindheit, wenn schon im Alter von vier oder fünf Jahren fünfmal pro Woche trainiert werden muss, damit überhaupt die geringste Chance besteht, je einmal zu den Besten zu gehören.

Wie viele Stürze wie diese bei der gestrigen Abfahrt in Cortina d’Ampezzo, wie viele kaputttrainierte Kunstturnerinnen, wie viele zerschundene Gelenke von Tennisspielerinnen und wie viele Massenkarambolagen von Radrennfahrern werden wohl noch nötig sein, bis auch der Spitzensport endlich wieder dorthin zurückkehren wird, wo er einmal angefangen hatte: beim Wohlergehen und bei der Gesundheit der Menschen und, vor allem, bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung: mit dem eigenen Körper nur das zu tun, was ihm guttut und sich nicht von äusseren Interessen, Profitzwecken und der Schaulust des Publikums instrumentalisieren und missbrauchen zu lassen.  

(Nachtrag am 29. Januar 2024: Auch beim Super-G der Frauen vom 28. Januar in Cortina d’Ampezzo kam es wieder zu fürchterlichen Stürzen. Die Kanadierin Valerie Grenier touchierte ein Tor und wurde richtiggehend durch die Luft geschleudert. Jasmin Flury kamen vor laufender Kamera die Tränen, weil kurz vor dem Interview auch die Norwegerin Kajsa Vickhoff gestürzt war. Sie fühle sich gerade leer, sagte Flury. Es hätte sie mehr mitgenommen, als sie gedacht hätte. Lara Gut-Behrami setzt die vielen Stürze an diesem Wochenende mit fehlender Erholung in Zusammenhang. Drei Rennen am gleichen Wochenende seien einfach zu viel. Dazu kämen Events wie die Startnummernauslosungen, so dass die Athletinnen kaum Zeit hätten, sich zu erholen.)

(Weiterer Nachtrag am 2. Februar 2024: Es sind schwer ertragbare Bilder, welche der vor drei Wochen verunfallte Skirennfahrer Aleksander Kilde in den sozialen Medien teilt. Eine tiefe, mehrere Zentimeter breite und bis auf die Knochen reichende Schnittwunde an seiner Wade. Die zweifach operierte und mit zahlreichen Stichen genähte Schulter. Nach dem medizinischen Eingriff an der Schulter hätte er Schmerzen gehabt wie noch nie in seinem ganzen Leben. Die Schmerzmittel hätten Panikattacken ausgelöst, durch die Schnittwunde an der Wade seien so viele Nerven beschädigt worden, dass er die Zehen lange nicht mehr hätte fühlen können. Die Topathleten hätten einfach ein zu brutales Programm, jeden Abend müssten sie an die Auslosung der Startnummern und dann an die Siegerehrung. Es gehe meist bis 16.30 Uhr, ehe alles erledigt sei. Und wenn man zu den Besten gehöre, dann spüre man nach dem Mammutprogramm erst recht die Erwartungen, erneut gewinnen zu müssen.)

(Noch ein Nachtrag am 2. Februar 2024: Laut einer Pressemitteilung hat der slowenische Skirennfahrer und WM-Silbermedaillengewinner von Åre (2019) bekanntgegeben, seine Karriere im Alter von 28 Jahren zu beenden. Seinen Rücktritt erklärt er mit anhaltenden physischen und psychischen Beschwerden. Er sei trotz aller Arbeit, Zeit und Energie, die er investiert habe, am Punkt angelangt, wo er nicht mehr könne. Er könne nicht mehr über die Gefühle hinwegsehen, die sein Körper ihm sende.)

(Nachtrag am 12. Februar 2024: Die Walliserin Malorie Blanc, Zweite in der Abfahrt bei den Junioren-WM Ende Januar in Frankreich, verletzt sich bei der zweiten Europacup-Abfahrt in Crans-Montana VS schwer: Nach einem Sprung gerät sie in Rücklage, kann sich nicht mehr aufrichten und stürzt ins Netz. Fazit: Kreuzband- und Aussenmeniskusriss sowie Zerrung des inneren Seitenbandes im linken Knie. Aus der Feuertaufe im Weltcup vom 16. bis 18. Februar wird nun nichts.)

(Nachtrag am 14. Februar 2024: Beim ersten Abfahrtstraining der Frauen in Crans-Montana stürzt die Rumänin Ania Monica Caill kurz nach der Ziellinie schwer, bleibt liegen und muss ins Spital von Sitten transportiert werden, wo eine Schulterverletzung diagnostiziert wird. Die Schweizer Fahrerin Jasmine Flury ärgert sich. Sie verstehe nicht, weshalb man kurz vor dem Ziel diesen Buckel aufgebaut habe, mit dem die Fahrerinnen gefährlich in die Höhe katapultiert werden. Nach dem Training zeigt sich der Pistenverantwortliche dann doch noch einsichtig und meint, Jasmin Flury hätte ja eigentlich Recht, der Sprung vor der Ziellinie mache aus sportlicher Sicht überhaupt keinen Sinn und sei nur deshalb aufgebaut worden, weil man dank ihm mehr Werbung platzieren könne. Nachdem sich auch andere Fahrerinnen über den Zustand der Piste kritisch geäussert haben, sagt OK-Vizechef Hugo Steinegger hingegen: „In diesem Winter wird sehr, sehr schnell gejammert. Einige müssen sich schon fragen, ob sie eigentlich den richtigen Job gewählt haben.“ OK-Chef Marius Robyr sagt: „Warum gleich Drama machen? Das verstehe ich nicht. Ich frage mich, ob die Frauen Angst haben vor dieser technisch schwierigen Strecke. Man muss doch dem Publikum auch ein Spektakel bieten. Und ein Sprung macht das Rennen eben attraktiver – ich sehe da kein Problem.“ Auch behauptet er, nichts sei gefährlich gewesen und es sei auch „nichts passiert“ – dies trotz des schweren Sturzes von Ania Monica Caill. Und Jean-Philippe Vuillet, der jahrelang als Renndirektor bei der FIS gearbeitet hat, sagt: „Ich glaube schon, dass die Leute, welche die Piste machen, wissen, was sie tun.“)

(Nachtrag am 25. Februar 2024: Nun hat es auch die österreichische Speed-Athletin Michelle Niederwasser erwischt: Sie kann an den nächsten Rennen in Kvitfjell, Are und Saalbach nicht teilnehmen. Seit ihrem Sturz bei der Abfahrt in Cortina d’Ampezzo hat sie so grosse Knieschmerzen, dass das Weiterführen ihrer Saison unmöglich ist. Niederwieser war eine von vielen Athletinnen, die in Cortina stürzte.)

(Nachtrag am 27. Februar 2024: Am kommenden Wochenende werden in Aspen (USA) zwei Riesenslaloms und ein Slalom durchgeführt, aus der Sicht des Slalom- und Riesenslalomspezialisten Manuel Feller sei dies geradezu „fahrlässig“ in Anbetracht dessen, dass die Kräfte einiger Fahrer gegen Saisonende „langsam aber sicher ausgehen“ und die Verletzungsgefahr durch Unfälle infolge der viel zu kurzen Regenerationszeit zwischen den einzelnen Rennen immer grösser werde. Feller verzichtet deshalb auf den Riesenslalom am Samstag und fährt nur die beiden anderen Rennen.)

(Nachtrag am 27. Februar 2024: Bei seinem fürchterlichen Lauberhorn-Sturz am 13. Januar hatte sich Aleksander Kilde schwer verletzt. Die Diagnose: tiefe Schnittwunde an der Wade und eine ausgekugelte Schulter. «Ich habe nie zuvor solche Schmerzen erlebt», sagte er wenige Tage später in einem Interview, das er aus seinem Spitalbett gab. Nach sieben Wochen im Rollstuhl macht er nun wieder die ersten Schritte. «Babyschritte. Buchstäblich», schreibt er zu einem Video, das zeigt, wie er zunächst beide Beine nacheinander vorsichtig belastet und sich dabei an einer Stange festhält, ehe er ganz vorsichtig und hochkonzentriert ein paar kleine Schritte geht – noch etwas wackelig, aber ohne sich festzuhalten. Ob er es jemals wieder zurück in den Weltcup schaffen wird, muss sich noch zeigen.)

(Nachtrag am 9. März 2024: Walter Reusser, CEO Sport bei Swiss-Ski, hat kürzlich eingeräumt, „die eine oder andere der jungen Schweizer Skirennfahrerinnen“ sei „zu früh in den Weltcup geschickt“ worden, nur weil Startplätze frei gewesen seien. „Von den Jahrgängen 1996 bis 1999“, so Reusser, „kam keine einzige Fahrerin ohne gröbere Verletzung durch.“)

„BLICK“ VOM 14. FEBRUAR 2025: AUCH IN DER SKISAISON 24/25 EIN SCHRECKEN OHNE ENDE…

Clarisse Brèche (23) startet in Saalbach (Ö) erstmals bei einer Ski-WM. Die Premiere endet bitter für die Französin. Im Riesenslalom am 13. Februar gerät sie in Rücklage und stürzt. Dabei verkantet ihr rechter Ski leicht im Schnee, sie kassiert einen Schlag aufs Knie. Und verletzt sich so schwer. Brèche zieht sich einen Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie zu. Aus dem Saisonhighlight wird das Saisonende.

Alexis Pinturault. Nicht schon wieder, denkt sich mancher Ski-Fan. Im Super-G von Kitzbühel (Ö) am 24. Januar stürzt Alexis Pinturault (33) heftig. Letztes Jahr erwischte es ihn am Lauberhorn, er brach sich die linke Hand und riss sich links das Kreuzband. Nun verletzt er sich auch auf der Streif.  Der Franzose zieht sich einen Bruch des inneren Schienbeinkopfs und eine Meniskusverletzung im rechten Knie zu. Er muss rund sechs Wochen pausieren, ehe er mit der Rehabilitation beginnen kann. Die Saison ist für ihn gelaufen.

Stephanie Jenal. Im zweiten Abfahrtstraining von Garmisch-Partenkirchen (D) am 24. Januar passierts. Bei einer der vielen schnellen Kurven hat Stephanie Jenal (26) zu viel Innenlage. Sie verliert das Gleichgewicht und donnert in die Fangnetze. Die Schweizerin wird nach der Erstversorgung mit dem Helikopter ins Spital geflogen. Und bekommt dort eine bittere Diagnose: Patellasehnenriss im linken Knie. Damit ist ihre Saison wohl gelaufen.

Tereza Nova. Im gleichen Training wie Jenal erwischt es auch Tereza Nova (26). Sie prallt mit voller Wucht in die Fangnetze, wird ebenfalls mit dem Helikopter abtransportiert. Wie der tschechische Skiverband tags darauf mitteilt, erleidet sie Kopfverletzungen. Um eine Schwellung in ihrem Hirn zu reduzieren, wird Nova operiert und in ein künstliches Koma versetzt.

Felix Hacker. Das Abschlusstraining für die Abfahrt in Kitzbühel (Ö) endet für einen Einheimischen besonders bitter. Hacker (25) verletzt sich am 22. Januar ohne zu stürzen schwer. Bei der Ausfahrt des Steilhangs kassiert er einen Schlag ins Knie, bricht die Fahrt sofort unter Schmerzen ab und zeigt an, dass er Hilfe braucht. Wenig später bekommt er im Spital die brutale Diagnose Kreuzband- sowie Meniskusriss im linken Knie. Eine Operation ist nötig. Für Hacker, der zu diesem Zeitpunkt im Europacup neben der Gesamtwertung auch diejenigen in Abfahrt und Super-G anführt, endet die Saison abrupt.

Jacob Schramm. Ebenfalls im zweiten Kitzbühel-Training erwischt es Jacob Schramm (26) heftig. Der Deutsche stürzt in einer Passage nach dem Seidlalm-Sprung. In Rücklage geraten, fliegt er nahezu ungebremst ins Fangnetz. Er muss mit dem Helikopter geborgen werden. Und bekommt wenig später eine brutale Diagnose. Im rechten Knie reisst er sich beide und im linken Knie das vordere Kreuzband, zudem erleidet er eine Gehirnerschütterung. Schramms Saison ist vorbei. Er ist nach dem Schweizer Josua Mettler der zweite Athlet, der sich in diesem Winter in beiden Knien die Kreuzbänder reisst.

Jasmina Suter. «Ich habe mit Sicherheit nach dem letzten Wochenende nicht damit gerechnet», schreibt Jasmina Suter (29) auf Instagram. Was die Schweizerin damit meint? In der Abfahrt von Cortina d’Ampezzo (It) am 18. Januar verletzt sie sich den Meniskus im linken Knie. Passiert ist es nicht bei einem Sturz, sondern bei der harten Landung nach einem Sprung. Suter muss sich einer Operation unterziehen, wie lange sie ausfällt, ist offen. Trotz Rückschlag ist sie zuversichtlich. «Ich bin in den besten Händen, um stark und gesund zurückzukommen», schreibt Suter.

Blaise Giezendanner. Ohne zu stürzen verletzt sich Blaise Giezendanner (33) am 18. Januar in der Lauberhornabfahrt schwer. In Langentrejen kassiert der französische Speedspezialist einen Zwick ins Knie, bricht die Fahrt sofort ab und zeigt im Schnee liegend an, dass er Hilfe braucht. Erst wird er am Pistenrand betreut, dann mit dem Helikopter abtransportiert. Im Spital erhält er die bittere Diagnose Kreuzbandriss im rechten Knie. Die Saison ist vorbei, Giezendanner muss sich einer Operation unterziehen.

Vincent Kriechmayr. Am Lauberhorn wird Vincent Kriechmayr (33) das Ziel-S zum Verhängnis. Bei der Einfahrt wird er zusammengedrückt und stürzt heftig. Danach klagt der Österreicher über Schmerzen im Knie, das Schlimmste wird befürchtet. Stunden später ist klar, Kriechmayr hat Glück im Unglück gehabt. Diagnose: starke Zerrung des Innenbands. Und das 17 Tage vor Beginn der Heim-WM. Die Österreicher zittern um ihren Speed-Star. Der verspricht, dass er alles daran setzen wird, «bis zur WM wieder so fit wie möglich zu sein». Ob er in Saalbach tatsächlich am Start stehen wird, wird sich zeigen.

Erik Arvidsson. Schon wieder Verletzungspech für Erik Arvidsson (28). Letzte Saison stürzte er im Training vor dem später abgesagten Speed-Auftakt in Beaver Creek (USA) und riss sich das Kreuzband – Saisonende. Nun wird er auch in diesem Winter keine weiteren Rennen bestreiten. «Statt in dieser Woche beim Lauberhornrennen im Starthaus zu stehen, muss ich mich leider erneut unters Messer legen», schreibt der amerikanische Speedspezialist Mitte Januar auf Instagram. Und verrät: Sein letztes Rennen (23. in der Gröden-Abfahrt) hat er unwissentlich mit einem gerissenen Kreuzband bestritten! Die Verletzung hat er sich erneut in Beaver Creek zugezogen, als er sich im Training das Knie verdrehte. «Zu diesem Zeitpunkt vermuteten wir, dass mein vor zwölf Monaten operiertes Kreuzband etwas gereizt wurde», so Arvidsson. Doch nach der ersten Trainingsfahrt in Bormio (It) schwillt das Knie dermassen an, dass es genauer untersucht wird. Die bittere Diagnose: Das Kreuzband ist erneut gerissen. «Herzzerreissend» beschreibe nicht einmal annähernd, wie es sich anfühle, nach zwölf Monaten harter Arbeit wieder am gleichen Punkt zu sein, meint Arvidsson.

Kristin Lysdahl. Unschönes Jahresende für Kristin Lydahl (28). Die norwegische Technikerin, die seit einiger Zeit um den Anschluss an die Weltspitze kämpft, hängt beim Riesenslalom in Semmering (Ö) am 28. Dezember mit dem linken Arm an einem Tor an und bricht sich dabei die Hand. «Meine Schiene sieht aus wie eine Zuckerstange», nimmt sie es mit Humor und verspricht, bald zurück zu sein.

Gino Caviezel. Der Super-G von Bormio (It) geht am 29. Dezember nach den Stürzen in den Trainings und der Abfahrt ebenfalls nicht ohne Crash über die Bühne. Mit Startnummer 1 hängt Gino Caviezel (32) an einem Tor an, er stürzt fürchterlich und schlittert anschliessend über den San-Pietro-Sprung hinunter. Minutenlang wird er am Pistenrand gepflegt, ehe er per Helikopter abtransportiert und kurz darauf nach Zürich geflogen wird. Am Abend teilt Swiss-Ski mit: «Die ersten Untersuchungen zeigen eine Schulterluxation, welche wieder eingesetzt wurde, sowie eine komplexe Knieverletzung, die noch weiter untersucht wird.»

Simon Jocher. Ohne zu stürzen, verletzt sich Simon Jocher (28) am 28. Dezember in der Abfahrt von Bormio. Der Deutsche zieht sich eine schwere Prellung des rechten Fersenbeins zu. Nach eigenen Angaben verletzt er sich beim San-Pietro-Sprung, fährt danach aber noch ins Ziel und wird 13. «Ich habe gemerkt, er geht richtig weit», berichtet er über seinen Sprung. «Bei der Landung habe ich direkt einen Stich in der Ferse gespürt.» Wie lange er ausfällt, ist offen. Weitere Untersuchungen sollen zeigen, ob nichts gebrochen ist.

Cyprien Sarrazin. Im zweiten Training zur Weltcup-Abfahrt in Bormio kommt Cyprien Sarrazin (30) am 27. Dezember brutal zu Fall. Kurz vor der Einfahrt ins Schlussstück der Stelvio gerät der Franzose bei einem Sprung in Rücklage und knallt aus grosser Höhe voll auf den Rücken. Danach schlittert er über die Piste und durchneidet mit seinen Ski das Sicherheitsnetz. Erst dahinter kommt er zum Liegen. Er wird mit dem Helikopter ins Spital geflogen. Die erste Diagnose: Subduralhämatom, also eine Blutansammlung zwischen den Hirnhäuten. Sarrazin wird noch gleichentags notoperiert. Danach liegt er kurzzeitig im künstlichen Koma und wird auf der Intensivstation überwacht. Einen Tag nach dem Sturz ist Sarrazin wieder bei Bewusstsein. An Neujahr gibts ein weiteres erfreuliches Update. Sarrazin kann die Intensivstation verlassen. In seinem Team stellt man sich auf eine lange Reha-Phase.

Josua Mettler. An der gleichen Stelle wie Sarrazin erwischt es im Bormio-Training mit Josua Mettler (26) auch einen Schweizer. Er prallt ins Sicherheitsnetz, bleibt zunächst einen Moment sitzen, ehe er aufsteht und selber mit den Ski Richtung Ziel runterfährt. Allerdings hat er dabei offensichtlich Schmerzen. Mettler kehrt für weitere Untersuchungen in die Schweiz zurück. Und erhält dort eine schreckliche Diagnose. Er riss sich das vordere Kreuzband, das Innenband und den Innenmeniskus – in beiden Knien! Eine Operation ist auf beiden Seiten unumgänglich. Die Saison endet für Mettler auf brutale Art und Weise.

Pietro Zazzi. Im gleichen Training wie Sarrazin und Mettler erwischts auch Pietro Zazzi (30). Der Italiener stürzt an einer anderen Stelle, verletzt sich aber ebenfalls schwer. Seine Saison ist mit einem Schien- und Wadenbeinbruch beendet.

Andrea Ellenberger. Die Schweizer Riesenslalom-Spezialistin Andrea Ellenberger (31) stürzt im Training in Obdach (Ö) am 27. Dezember schwer. Anstatt sich weiter auf das letzte Rennen des Jahres in Semmering (Ö) vorzubereiten, wird sie für weitere Untersuchungen in die Schweiz zurückgeflogen. Dort folgt die brutale Diagnose: Unterschenkel-Fraktur rechts, Kniestauchung links sowie mehrere starke Prellungen. Der Bruch wird noch gleichentags operiert, für Ellenberger steht eine mehrmonatige Rehabilitationsphase an. Die Saison ist damit gelaufen. Mitte Januar meldet sie sich mit einem kleinen Update auf Instagram. «Die Operation ist gut verlaufen, aber mein Bein braucht noch viel Ruhe und ich habe immer noch mit Schmerzen zu kämpfen», schreibt Ellenberger. Es sei eine Herausforderung,

Lisa Grill. Der 27. Dezember fordert ein weiteres Verletzungsopfer. Die Österreicherin Lisa Grill (24) stürzt beim Freifahren und zieht sich dabei einen Schien- und Wadenbeinbruch zu. Sie wird noch gleichentags operiert und fällt sechs bis acht Monate aus.

Alexander Schmid. Verletzungspech auch im deutschen Skiteam. Kurz vor Weihnachten macht sich Alexander Schmid (30) bei einem Sturz im Riesenslalomtraining das linke Knie kaputt. Diagnose: Riss des vorderen Kreuzbandes sowie Verletzungen an den Menisken. Der Parallel-Weltmeister von 2023 muss operiert werden, die Saison ist vorbei.

Raphael Haaser. Mitte Dezember scheidet Raphael Haaser (27) beim Riesenslalom von Val d’Isère (Fr) aus, weil er ein Tor verpasst. Danach kann er sein Bein nicht strecken, verspürt aber keine Schmerzen. Trotzdem wird er für Untersuchungen ins Spital gebracht. Dort diagnostizieren die Ärzte eine Überdehnung des Kreuzbandes. Haaser muss sechs Wochen pausieren und zittert um die Teilnahme an der Heim-WM im Februar.

Arnaud Boisset. Am 6. Dezember fliegt Arnaud Boisset (26) in der Abfahrt von Beaver Creek (USA) heftig ab und knallt mit dem Kopf auf die Piste. Er kommt glimpflich davon, meldet sich wenig später mit blutigen Schrammen im Gesicht vom Spitalbett. Diagnose: Schwere Gehirnerschütterung und Prellungen in Gesicht und Schulterbereich. Boisset nimmt sich Zeit, um sich vom Sturz zu erholen, steht zwei Wochen später erstmals wieder auf den Ski.

Guglielmo Bosca. Einen Tag vor Boisset erwischt es Guglielmo Bosca (31) im Abfahrtstraining heftig. Der Italiener zieht sich bei seinem Sturz am 5. Dezember einen komplizierten Wadenbeinbruch zu. Seine Saison ist vorbei.

Noémie Kolly. Die Schweizer B-Kader-Fahrerin Noémie Kolly (26) stürzt am 4. Dezember im Super-G-Training. Dabei verletzt sie sich schwer am linken Knie. Ihre Saison endet mit einem Kreuzbandriss und einem Riss des Aussenbandes.

Urs Kryenbühl. Urs Kryenbühl (30) verletzt sich Anfang Dezember im ersten Abfahrtstraining von Beaver Creek (USA). Der Schweizer Speed-Spezialist kassiert einen Schlag und muss seine Fahrt abbrechen. Diagnose: Komplexe Knieverletzung und Saisonende.

Teresa Runggaldier. In der letzten Saison hat Teresa Runggaldier (25) 15 Speedrennen im Weltcup absolviert. Ihr Bestresultat: 11. in der Abfahrt von Crans-Montana VS. In diesem Winter werden keine weiteren Einsätze auf dieser Stufe dazukommen, denn die Italienerin stürzt Anfang Dezember im Training. Diagnose: Kreuzbandriss und Wadenbeinbruch. Ihre Saison endet, bevor sie richtig angefangen hat.

Sebastian Holzmann. Ein Trainingssturz wird Anfang Dezember auch Sebastian Holzmann (31) zum Verhängnis. Der deutsche Slalom-Spezialist reisst sich das Kreuzband – und wird für den Rest der Saison zum Zuschauen verdammt.

Marcel Hirscher. Mit 35 Jahren und für Holland statt Österreich startend will es Marcel Hirscher noch einmal wissen. Der achtfache Gesamtweltcupsieger kehrt fünf Jahre nach dem Rücktritt in den Weltcup zurück. Es wird ein kurzes Abenteuer. Im Sölden-Riesenslalom wird er 23., danach verpasst er im Slalom einmal die Quali für den 2. Lauf und scheidet einmal aus, ehe es zum verhängnisvollen Zwischenfall im Training kommt. Bei einem «klassischen Innenski», wie es Hirscher selber nennt, reisst er sich Anfang Dezember das Kreuzband. Ob er sich nach dieser Verletzung noch einmal in den Weltcup zurückkämpfen wird, ist offen.

Mikaela Shiffrin. Vor ihrem Heimpublikum jagt Mikaela Shiffrin (29) am 30. November in Killington (USA) den historischen 100. Weltcupsieg. Anstelle eines Happy Ends gibts das grosse Drama. Die Amerikanerin führt zwar zur Halbzeit, stürzt dann aber im 2. Lauf des Riesenslaloms. Dabei zieht sie sich – wohl mit dem Ende ihres Skistocks verursacht – ein Loch im Bauch zu. Das wird zunächst konservativ behandelt, am 12. Dezember muss sich Shiffrin dann aber einer unerwarteten Operation unterziehen. «Es stellte sich heraus, dass sich ein kleiner Hohlraum gebildet hatte, der tiefer als der Wundtrakt lag und mit alten Hämatomen gefüllt war», so Shiffrin. Ende Januar gibt sie ihr Weltcup-Comeback.

Leona Popovic. Im Slalom-Training in Killington hat sich Leona Popovic (27) eine Ruptur des medialen Meniskus am linken Knie zugezogen. Bei der notwendigen Operation wurde auch gleich das vordere, sehr dünne Kreuzband rekonstruiert. Für die kroatische Technikerin ist die Saison gelaufen.

Tommaso Sala. In der Vorbereitung auf den Slalom in Gurgl (Ö) am 24. November endet die Saison von Tommaso Sala (29). Ohne Sturz reisst sich der italienische Slalom-Spezialist das Kreuzband. «Die Saison endete leider früher als erwartet», schreibt er auf Instagram. «In diesem Jahr habe ich mich mehr denn je mit Herz und Seele darauf vorbereitet und war bereit, die Früchte zu ernten.» Dazu stellt er ein Video, das den verhängnisvollen Moment zeigt.

Manuel Feller. Manuel Feller (32) scheidet beim Slalom von Gurgl mit einem Einfädler aus. In der Folge hat der österreichische Technik-Spezialist mit Hüftproblemen zu kämpfen. Diese zwingen ihn glücklicherweise nur zu einer kurzen Pause, er muss lediglich auf den Riesenslalom in Beaver Creek verzichten. Danach greift er wieder im Weltcup an.

Christian Borgnaes. «Nicht der Start in die neue Saison, auf den ich gehofft hatte», schreibt Christian Borgnaes (28) Ende Oktober nach dem Riesenslalom von Sölden (Ö) auf Instagram. Der Däne bricht sich beim Touchieren einer Torstange die linke Hand und muss operiert werden. Die Saison ist damit nicht vorbei. Er verpasst zwar das Rennen in Beaver Creek, danach kehrt der Riesenslalom-Spezialist an den Start zurück.

Loïc Meillard. Beim Einfahren in Sölden passierts. Loïc Meillard (28) kassiert einen derart heftigen Schlag in den Rücken, dass er auf einen Start im Riesenslalom verzichten muss. Bei Untersuchungen wird in der Hülle der Bandscheibe zwischen den Wirbeln R5 und S1 ein Riss der Bandscheibe festgestellt. Drei Wochen später steht Meillard bereits wieder am Start. Der Rücken bereitet aber weiterhin Probleme. Deutlich zu sehen ist das etwa beim Slalom von Alta Badia (It) kurz vor Weihnachten. Kaum im Ziel, beugt sich Meillard vorne über, geht so in eine Schonhaltung.

From the river to the sea, Palestine will be free: Was bedeutet die an Pro-Palästina-Kundgebungen skandierte Parole wirklich?

Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, interpretiert die an Pro-Palästina-Kundgebungen skandierte Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ im „Tagesanzeiger“ vom 26. Januar 2024 so, dass damit die Auslöschung des israelischen Staates gefordert werde. Das ist, gelinde gesagt, ein mehr als scheinheiliger Vorwurf. Genau das Umgekehrte könnte man nämlich auch Israel zum Vorwurf machen. So präsentierte der israelische Premier Netanyahu anlässlich einer Sitzung der UN-Vollversammlung im vergangenen September eine Landkarte Israels, auf der sämtliche palästinensische Gebiete Israel zugerechnet wurden. Der israelische General Giova Eiland meinte in einem Zeitungsinterview, Israel habe gar keine andere Wahl, als den Gazastreifen in einen Ort zu verwandeln, an dem es „vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist, zu leben.“ Und Nir Barkat, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, liess verlauten, Israel werde die Palästinenser „vom Angesicht der Erde tilgen.“ In der Psychologie nennt man so etwas „Projektion“: Die eigene Geisteshaltung wird auf den Feind projiziert und diesem zum Vorwurf gemacht.

Dass man besagte Parole auch ganz anders verstehen kann, zeigt eine Aussage von Ruth Dreifuss, ehemaliger Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln: „Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Dies bedeutet nichts anderes als die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“

Vom Sternchen bis zum Glottisschlag: Kritische Anmerkungen zur Gendersprache

Gendersprache: Ein heikles Thema. Ein schwieriges Feld von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Verhärtungen, Feindbildern und der Tendenz, in die eine oder andere Ecke gedrängt oder in die eine oder andere Schublade eingeordnet zu werden. Ein Wespennest. Wenn ich im Folgenden dazu einige kritische Anmerkungen äussere, dann im vollen Bewusstsein, dass die Diskussion über eine angemessene, möglichst geschlechterneutrale Sprache noch in vollem Gange ist und vielleicht das eigentliche „Ei des Kolumbus“ noch nicht wirklich gefunden worden ist. Ein Lernprozess voller „Fehler“, Versuche und Irrtümer, aus denen stets wieder neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Was nicht heissen soll, dass dieser Prozess unnötig oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Die Diskussion ist wichtig, ja unverzichtbar. Nur sollte sie nicht in einer Atmosphäre gegenseitiger Rechthaberei bis hin zu Intoleranz oder gerade Fundamentalismus geführt werden, sondern eher mit einer gewissen spielerischen Leichtigkeit, Heiterkeit und Neugierde auf stets unerwartete Überraschungen, ganz so, wie auch Kinder mit der Sprache spielen, wenn sie diese in ihren ersten Lebensjahren, stets auch durch Versuch und Irrtum, erlernen. In diesem Sinne verstehe ich folgende Thesen als Beiträge zu einer Diskussion, die unbedingt kontrovers geführt werden muss. Jede These kann wieder zu einer Gegenthese führen, daraus entsteht im besten Falle etwas Neues, nur so kommen wir weiter.

These 1: Künstliche Zeichen wie Gendersternchen, Doppelpunkte, Binnen-I oder Glottisschlag geben dem Thema mehr Gewicht, als es eigentlich verdient. Wenn ich ein Buch aufschlage und mir schon dutzendfach Gendersternchen entgegenspringen, oder wenn ich einem Vortrag zuhöre, bei dem der Glottisschlag konsequent angewendet wird, dann wird damit, optisch oder akustisch speziell hervorgehoben, das Bild einer Gesellschaft vermittelt, die vor allem dadurch geprägt ist, dass es unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeiten gibt. Dass es aber nebst Diskriminierungen aufgrund der Geschlechterzugehörigkeit noch zahlreiche andere, gesellschaftlich mindestens so relevante Formen von Diskriminierungen und Macht- oder Abhängigkeitsverhältnissen gibt – aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, aufgrund der beruflichen Tätigkeit, aufgrund eines vorhandenen oder fehlenden Bildungsabschlusses, aufgrund der ethnischen Herkunft oder aufgrund des Alters – verschwindet dabei vollkommen aus dem Blickfeld.

These 2: Mit der gleichgewichtigen Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen haben wir doch eigentlich schon eine sehr gute Lösung gefunden. Die Praxis, nicht mehr von „Künstlern“ zu sprechen, sondern von „Künstlerinnen und Künstlern“, hat sich erfreulicherweise innerhalb relativ kurzer Zeit weitgehend durchgesetzt. Selbst eben noch hartnäckige Verfechter einer rein männlichen Sprache – ich denke da etwa an gewisse SVP-Politiker – verwenden heute in politischen Diskussionen ganz selbstverständlich beide Bezeichnungen, so als hätten sie nie etwas anderes getan. Der grosse Vorteil dieser Variante liegt auch darin, dass sie sowohl im mündlichen wie auch im schriftlichen Gebrauch gleichermassen funktioniert, dies im Gegensatz etwa zum Binnen-I oder anderen Variationen. Bei Aufzählungen von mehreren Personengruppen bietet sich ja auch, um Schwerfälligkeiten zu vermeiden, die Lösung an, abwechslungsweise männliche und weibliche Bezeichnungen zu verwenden, also zum Beispiel: „An diesem Projekt beteiligten sich Sozialarbeiter, Künstlerinnen, Politiker und Rentnerinnen.“ Die Verwendung beider Geschlechtsbezeichnungen hat übrigens eine längere Tradition, als uns zumeist bewusst ist. So etwa ist in einer Nürnberger Polizeiverordnung aus dem Jahre 1478 von „Bürgern und Bürgerinnen“, dem „Gast und der Gästin“ die Rede.

These 3: Das „dritte Geschlecht“ bzw. „nonbinäre“ Personen werden dadurch nicht ausgeschlossen. Dies ist wahrscheinlich der heikelste und schwierigste Punkt. Aber sind „drittes Geschlecht“ oder „nonbinäre“ Geschlechtszugehörigkeit nicht letztlich auch Spielformen und Variationen „weiblicher“ und „männlicher“ Elemente? Ist das „dritte Geschlecht“ etwas, was mit Weiblichem und Männlichem rein gar nichts zu tun hat, ein „Neutrum“ sozusagen? Gibt es nicht auch bei „hundertprozentigen“ Männern viele mit mehr oder weniger starken „weiblichen“ Wesenszügen, wie das Umgekehrte eben auch bei Frauen vorkommt? Kann man die Menschen überhaupt fixen Kategorien zuordnen, oder gibt es nicht viel mehr fliessende Übergänge zwischen ihnen, eine unendliche Vielzahl von Spielformen der Natur? Und wäre es dann nicht so, dass sich alle von ihnen, wenn man männliche und weibliche Bezeichnungen nennt, mitgemeint fühlen können? So betrachtet, wäre wahrscheinlich das Sternchen die einzige wirklich konsequente Lösung, wenn man dann alle anderen bisherigen Bezeichnungen einfach weglassen würde, nur wäre das in der Praxis kaum umsetzbar.

These 4: Sprachliche Neuerungen müssen auch gesellschaftlich umsetzbar sein. Auch dies zugegebenermassen ein heikler Punkt. Aber was nützt es, noch so „gerechte“ Lösungen zu erfinden, wenn sie dann so exotisch daherkommen, dass sie von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung gar nicht akzeptiert werden? Ich kann mir vorstellen, dass sich die gleichwertige Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen früher oder später flächendeckend durchsetzen wird – wir sind schon auf dem besten Weg dazu -, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Bauarbeiter in der Znünipause, wenn sie über ihre Freundinnen und Kollegen sprechen, jemals den Glottisschlag verwenden werden. Zu ausgefallene Forderungen können auch das Gegenteil bewirken. So gibt es bereits heute Menschen, die sich über die Diskussionen rund um die „Gendersprache“ dermassen aufregen, dass sie aus Prinzip nur noch männliche Formen verwenden. Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein.

These 5: Man kann die Verwendung stets beider Geschlechtsbezeichnungen, wenn man sie zu sehr auf die Spitze treibt, auch übertreiben und bewirkt damit dann eher das Gegenteil. So habe ich kürzlich in einem „modernen“ Geschichtsbuch gelesen, „spanische Konquistadoren und Konquistadorinnen“ hätten zwischen 1500 und 1600 ganz Lateinamerika erobert, und in einem Zeitungsartikel war von weltweit „2640 Milliardärinnen und Milliardären“ die Rede, obwohl es vermutlich keine einzige Konquistadorin gab und 99 Prozent der weltweiten Milliardäre Männer sind. So „übereifriges“ Gendern ist dann sogar in höchstem Grade geschichts- und realitätsverfälschend und verschleiert letztlich ausgerechnet jene – patriarchalen – Machtverhältnisse, die ja angeblich sichtbar gemacht und bekämpft werden sollen.

These 6: Sprachliche Änderungen allein genügen nicht, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass zum Beispiel die ungarische und die türkische Sprache keine grammatischen Mittel für einen Geschlechtsunterschied kennen, in diesen Ländern aber die Frauen kein bisschen weniger benachteiligt sind als in anderen Ländern. Wenn nicht mehr von „Kellnerinnen“, sondern nur noch von „Serviceangestellten“ die Rede ist, so ändert auch dies alleine noch nichts an der Tatsache, dass die betroffenen Frauen weiterhin unter harten Arbeitsbedingungen und fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung bei gleichzeitig überaus geringem Lohn zu leiden haben. Es fragt sich schon, ob man die ganze Zeit und die ganze Energie, die für „Sprachdiskussionen“ aufgewendet werden, nicht viel gescheiter für reale gesellschaftspolitische Veränderungen aufbringen würde.

These 7: Rechthaberei und Moralisieren sind keine guten Instrumente, um notwendige gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu bringen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Diskussionen rund um die „Gendersprache“ sind wertvoll und unverzichtbar. Wenn sie aber in reines Moralisieren, Intoleranz oder gar in Formen von Fundamentalismus ausarten, werden sie eher das Gegenteil von dem bewirken, was sie ursprünglich bezweckten. Auch die Toleranz ist ein Wert, dem wir Sorge tragen müssen.

Von zwanzigstündigen Arbeitstagen bis zur kapitalistischen Brandrede: Ein kritischer Rückblick auf das World Economic Forum im Januar 2024

Minus 13 Grad misst das Thermometer heute in Davos. Schlotternd steht er in einem offenen, ungeheizten Holzhäuschen, verkauft während acht Stunden pro Tag heissen Tee und warme Suppe. Er trägt eine dünne, ungefütterte Jacke. Nein, es hätte ihm niemand gesagt, dass er im Freien arbeiten müsse. Auch die Taxifahrerinnen und Taxifahrer schlottern, während sie mitten in der Nacht auf Kundschaft warten, aus Kostengründen haben sie die Heizungen in ihren Fahrzeugen abgestellt. Unweit davon geht in einem der Häuser, wo Angestellte untergebracht sind, um zwei Uhr nachts in einem der Zimmer das Licht an. Das Zimmermädchen aus Kroatien, das nach einem zwanzigstündigen Arbeitstag soeben zu Bett gegangen ist, muss schon wieder aufstehen, hat einen Telefonanruf erhalten, sie müsse möglichst schnell zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln. Andere feine Herren aus der erlauchten WEF-Gästeschar geben auch schon mal den Auftrag, ihnen die Schuhe zu binden, weil so etwas offensichtlich ganz und gar unter ihrer Würde liegt. Die mit silbernen und goldenen Kleiderbügeln, Fitnessräumen, Wellnessbädern, Sauna und Bibliotheken ausgestatteten Chalets, wo viele der WEF-Gäste inklusive den von ihnen mitgebrachten Butlern, Fitnesstrainern, Ärzten, Chauffeuren, Köchen, Sicherheitspersonal und weiteren Angestellten logieren, müssen täglich von unten bis oben geschrubbt werden, oft müssen in den einzelnen Chalets nach dem Weggang von Gästen, die übermässig geraucht haben, Teppiche und Sofas gereinigt und sämtliche Holzverkleidungen, Balken und Wände abgeschliffen werden.

Nichts könnte die kapitalistische Klassengesellschaft noch drastischer ins Scheinwerferlicht rücken als das jährliche World Economic Forum in Davos. Buchstäblich ganz oben, dort, wo sich der berühmte Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann abspielt und wo sich schon seit eh und je die Reichen und Mächtigen ihre Stelldicheins gaben, haben sie sich wieder versammelt, um sich gegenseitig zu feiern. Der Mann im Holzhäuschen und das Zimmermädchen aus Kroatien befinden sich auf der Pyramide der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, verglichen mit Millionen und Milliarden anderer, immer noch relativ weit oben. Von den anderen Millionen und Milliarden spricht schon gar niemand mehr, sie sind unsichtbar, obwohl sie auf ihren Schultern diese ganze höchste Spitze tragen und in Textilfabriken, auf Kakaoplantagen, schwindelerregenden Baustellen und in lebensgefährlichen Bergwerken von Lateinamerika über Afrika bis Ostasien bis zur Erschöpfung Tag und Nacht an jenem Fundament bauen, ohne welches die feinen Herren und Damen in Davos noch so lange und vergeblich von Wirtschaftswachstum, freier Marktwirtschaft und steigenden Bruttosozialprodukten faseln könnten, weil es das alles ohne diese Milliarden Unsichtbaren und Vergessenen nämlich schon längst gar nicht mehr gäbe.

Eigentlich müssten glaubwürdige politische und wirtschaftliche „Führungskräfte“ die eifrigsten und demütigsten Diener ihrer Völker sein. Nicht umsonst ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Minister“ der „Diener seines Volks“. Tatsächlich aber ist es im Kapitalismus genau umgekehrt: Die politischen und wirtschaftlichen „Führer“ sind im extremsten Ausmass Profiteure und Nutzniesser ihrer Völker, geniessen die höchsten Privilegien, haben am meisten Macht, wohnen in den schönsten und teuersten Häusern, geniessen die köstlichsten Speisen, verfügen über die beste Gesundheitsversorgung, können sich die erlesensten Reisen und Luxusvergnügungen leisten und entscheiden sogar eigenmächtig über Krieg oder Frieden, ohne je selber in den Krieg ziehen zu müssen. Und das alles mit gestohlenem Geld. Gestohlen aus jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung, gestohlen aus rücksichtslosem Raubbau an Bodenschätzen, gestohlen aus der Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen, gestohlen aus all dem, worauf die weniger privilegierten Bevölkerungsschichten in jedem einzelnen Land von Brasilien über Nigeria, von Kanada bis Grossbritannien, von Spanien und dem Libanon bis Russland und Japan verzichten müssen in einer Welt, in der, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam unlängst öffentlich bekannt gemacht hat, sämtliche Milliardäre über alle Grenzen hinweg innerhalb der letzten drei Jahre ihr Vermögen um 3,3 Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden ärmsten Menschen im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben und man schon unendlich blind sein muss, um nicht zu erkennen, dass die wachsende Armut der Armen und der wachsende Reichtum der Reichen keine Zufälle sind, sondern die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, und dass jedes Geldstück, das in den Taschen der Armen fehlt, früher oder später wieder in den Taschen der Reichen zu finden ist.

Doch solche Dinge interessieren die versammelte „Weltelite“ auf dem Zauberberg nicht. Allein die Pressenachricht von Oxfam über die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hätte wie eine Bombe einschlagen und ganze bisherige Weltbilder einstürzen lassen müssen. Doch nichts von alledem geschieht. Was die eigenen vermeintlichen „Wahrheiten“ in Frage stellen könnte, wird systematisch verdrängt. Was man nicht hören will, vor dem verschliesst man die Ohren. Lieber wiederholt man zum tausendsten Mal die ewiggleichen Geschichten von gestern und vorgestern, so wie der ukrainische Präsident Selenski, der immer noch die Forderung erhebt, sein Land müsse den Krieg gegen Russland „gewinnen“ – als ob es so etwas gäbe wie „gerechte“ und „ungerechte“ Kriege, als ob man allen Ernstes Kriege überhaupt „gewinnen“ könne und als ob nicht ein jeder Krieg nichts anderes ist als eine einzige grosse Niederlage und Kapitulation jeglicher Menschlichkeit. Oder, wie es Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, so wunderbar sagte: „Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer Frieden stiftet.“ Doch lieber vom Frieden spricht Selenski vom Krieg und lieber bastelt er an den alten, bewährten Feindbildern eifrig weiter, nennt Putin ein „Raubtier“ und stellt sich damit in eine Reihe mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, der in seinem Roman „Himmel über Charkiw“ sämtliche Russen als „Hunde“, „Schweine“, „Verbrecher“, „Unrat“ und „Barbaren, die unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung vernichten wollen“ bezeichnete und nicht einmal davor zurückschreckte, zu fordern, alle diese „Schweine“ sollten „in der Hölle brennen“ – und für all dies den Friedenspreis 2022 des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekam. Solche einseitigen und letztlich menschenfeindlichen Weltbilder scheinen der heutigen „Weltelite“ zu gefallen: Nach Selenskis Rede am ersten Tag des WEF erhob sich das Publikum zu Standing Ovations – eine Ehre, die letztmals im Jahre 1992 dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela zuteil kam, was auf erschreckende Weise zeigt, wie stark sich die Welt in diesen 32 Jahren offensichtlich verändert hat. Und dabei wüsste man doch schon längst, dass, so der bekannte Buchautor Thomas Pfitzer, „der Aufbau von Feindbildern“ nichts anderes ist als die „wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Doch Selenski ist nicht der Einzige, der am WEF ungehindert seine „Wahrheiten“ verbreiten darf und dafür erst noch mit Begeisterung und Applaus bedacht wird. Auch dem frisch gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei, der im Wahlkampf mit einer Kettensäge posierte, alles, was nur im Entferntesten mit staatlichen Massnahmen für soziale Gerechtigkeit zu tun hat, als Teufelszeug verwirft, den menschengemachten Klimawandel leugnet, den Kapitalismus als einzige Wirtschaftsform, welche die Menschen aus der Armut zu befreien vermöge, glorifiziert und, kaum war er gewählt, nicht nur das Bildungsministerium, sondern auch das Umweltministerium, das Kulturministerium, das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie abschaffte, auch ihm wird aufmerksam zugehört, auch ihm stellt niemand eine kritische Frage und auch er erhält am Ende seiner Rede einen warmen, übereinstimmenden Applaus. Nicht anders als der israelische Präsident Isaac Herzog, der, ganz auf den Spuren von kalten Kriegern wie Ronald Reagan, den Iran als das „Reich des Bösen“ bezeichnet und einmal mehr die Behauptung in die Welt setzt, israelische Babys seien von den Hamaskämpfern am 7. Oktober 2023 geköpft und ganze Familien verbrannt worden, obwohl für beides bis heute keine eindeutigen Beweise vorliegen und selbst US-Präsident Joe Biden zugeben musste, er hätte die Bilder, von denen er gesprochen hätte, selber gar nie gesehen. Dass dann aber aus dem Munde eines israelischen Präsidenten, der hauptverantwortlich ist für den Tod von über zehntausend unschuldigen palästinensischen Kindern im Gazastreifen, unverfroren die Aussage kommt, Israel kämpfe diesen Krieg „für das ganze Universum und für die ganze freie Welt“ und es deshalb auch „keinen Waffenstillstand“ geben dürfe, ist nun an Menschenverachtung und Zynismus nicht mehr zu überbieten. Doch auch dieser Rede wird andächtig zugehört und es scheint niemandem auch nur im Entferntesten in den Sinn zu kommen, sie auch nur mit einem einzigen Buh-Ruf zu unterbrechen.

Doch während man Selenski, Milei, Herzog und allen anderen „Führungsfiguren“, welche für sich in Anspruch nehmen, die westliche „Wertewelt“, „Freiheit“ und „Demokratie“ zu verkörpern, eine so grosse Plattform für die Verbreitung ihrer „Wahrheiten“ bietet und damit auch die mediale Präsenz weit in die ganze Welt hinaus, praktiziert man auf der anderen Seite im Umgang mit all jenen Stimmen, welche diese Einheitlichkeit stören oder gar in Frage stellen könnten, das pure Gegenteil: Mit Vertreterinnen und Vertretern von Umwelt- oder Antiglobalisierungsbewegungen wird nicht mehr das Gespräch gesucht, sie bleiben in der Kälte von Davos aussen vor, nicht einmal die Strasse von Klosters nach Davos dürfen sie für einen friedlichen Protestspaziergang benützen, sondern werden, während die Privathubschrauber der „Weltelite“ über ihre Köpfe hinwegfliegen, auf Spazierwege verwiesen, und dies, obwohl es bei einer 2020 noch bewilligten Kundgebung von 200 Personen auf der Hauptstrasse keinen einzigen Zwischenfall gegeben hatte. Und auch die eben noch so gefeierte und im Rampenlicht stehende Greta Thunberg wurde nicht mehr eingeladen, und dies nur, weil sie die ungeheuerliche Frechheit besass, die israelische Regierung wegen der Bombardierung des Gazastreifens zu kritisieren.

Derweilen bekommt man beim Anblick der Bilder vom WEF den Eindruck, als ginge es dabei um so etwas wie die Begegnung zwischen eng vertrauten Menschen, die sich schon eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen haben und nun ausser sich vor Freude sind, sich endlich wieder zu treffen, so innig sind die Umarmungen und die gegenseitigen Freundschafts-, ja fast Liebesbezeugungen. Es sind sich ja alle so wunderbar einig. Kein Wunder, nachdem man sich allem, was diese Einigkeit in Frage stellen könnte, so systematisch verschlossen hat und sich nicht einmal die Mühe nimmt, andere Meinungen zu widerlegen, sondern das tut, was noch viel schlimmer ist: nämlich, alles Störende schlicht und einfach totzuschweigen, als würde es gar nicht existieren.

„Die geheimen Verbote“, sagte die DDR-Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley im Jahre 1991, „das Beobachten, der Argwohn, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Und Paul Watzlawick, österreichisch-amerikanischer Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, sagte: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Worte, die aktueller nicht sein könnten. Die aber zugleich auch Anlass zur Hoffnung geben, dass auch das Gegenteil wieder denkbar werden könnte. Denn wenn sich die allgemein propagierten und gefeierten „Wahrheiten“ zu stark und immer mehr nur noch in eine einzige Richtung bewegen, dann müssen auf der anderen Seite früher oder später auch die Kräfte wachsen, die das durchschauen und in Frage stellen. Die Wahrheit lässt sich nicht beliebig lange unterdrücken. Oder, wie der frühere US-Präsident Abraham Lincoln sagte: „Man kann alle Leute eine Zeitlang an der Nase herumführen, und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit.“ Im Allerinnersten scheinbar ewiger „Wahrheiten“ steckt schon der Kern ihrer Überwindung. Wenn die Zustände zu extrem werden, wird es Zeit für etwas von Grund auf Neues: „In einer Zeit der Täuschung“, so der englische Schriftsteller und Journalist George Orwell, „wird das Aussprechen der Wahrheit zum revolutionären Akt.“ Dann wäre das WEF 2024 vielleicht im besten Falle nicht nur das Ende einer alten, sich noch einmal in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufbäumenden Zeit gewesen, sondern zugleich der Anfang einer neuen Zeit voller Hoffnung auf eine Zukunft, in der frierende Suppenverkäufer und Taxifahrer, Zimmermädchen, die um zwei Uhr nachts zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln müssen, der weltweit tägliche Hungertod von 10’000 Kindern in den Ländern des Südens bei gleichzeitig nie da gewesenem Überfluss in den Ländern des Nordens, das wahnwitzige Festhalten an der Ideologie eines immerwährendes Wirtschaftswachstum und der aller menschlichen Vernunft widersprechende Glaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern könnten durch militärische Gewalt sinnvoll gelöst werden, für immer der Vergangenheit angehören werden.