Aussagen von Markus Somm zum Nahostkonflikt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen

Folgendes Schreiben betrifft die Diskussionssendung „Israel und die Hamas“, ausgestrahlt auf SRF1 am 12. November 2023 im Rahmen von „Sonntagszeitung Standpunkte“, und ging am 14. November 2023 an die Redaktion der „Sonntagszeitung“, Fernsehen SRF1, die beteiligten DiskussionsteilnehmerInnen inklusive Moderator Reto Brennwald, an Geri Müller, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina, Humanrightswatch, die GSoA, die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS.

Eigentlich lässt die Zusammensetzung der Runde mit dem Nahostexperten Erich Gysling, dem Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel, der Journalistin Joëlle Weil und Markus Somm, Kolumnist der „Sonntagszeitung“ und Chefredaktor des „Nebelspalters“, eine ausgeglichene Diskussion erwarten. Doch dann endet die Diskussion in einem – man kann es nicht anders sagen – Fiasko. Dies vor allem deshalb, weil Markus Somm immer wieder das Wort an sich reisst, seinen Gesprächspartnern bei jeder Gelegenheit ins Wort fällt und jeden Versuch der Gegenseite, komplexere Zusammenhänge ausführlicher darzulegen, schon zum Vornherein abwürgt. Was er dabei an Behauptungen, Geschichtsverfälschungen, fehlendem historischem Wissen und einseitigen Schuldzuweisungen an den Tag legt, lässt sich kaum beschreiben. Eifrig unterstützt wird er dabei durch den Gesprächsleiter Reto Brennwald, der sich, statt die Diskussion möglichst neutral zu leiten, im Verlaufe der Diskussion immer mehr auf die Seite von Markus Somm und Joëlle Weil schlägt, Somm immer wieder, wenn er nur genug lange insistiert, das Wort erteilt und auf der anderen Seite Gysling und Goetschel oft mitten in einer längst noch nicht abgeschlossenen Argumentation immer wieder unterbricht.

IM FOLGENDEN DIE WESENTLICHEN AUSSAGEN VON MARKUS SOMM UND MEIN KOMMENTAR DAZU.

„Israel ist bei der Reaktion auf den Angriff der Hamas relativ überlegt und sehr reflektiert vorgegangen, zwar mit einer gewissen Härte, aber nicht mit aller Härte, nicht einfach ein blindes Losschlagen, wie gewisse Leute am Anfang befürchtet hatten. Es ist völlig richtig, dass Israel im militärischen Sinne die Hamas vernichten will, damit sie nachher nicht mehr wirkungsfähig sind. Für mich persönlich musste Israel so schnell wie möglich und mit allen Mitteln reagieren, ich habe da überhaupt keine Bedenken.“ – Ein einigermassen seriös und differenziert denkender Historiker müsste eigentlich schon längst wissen, dass rein militärisch Terror nicht zu besiegen ist, wie auch Moshe Zuckermann, emeritierter jüdischer Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, sagt: „Israel hat den Gazastreifen nach Raketenangriffen immer wieder bombardiert, mit Tausenden ziviler Opfer. So befördert man den Terror.“ Höchst problematisch auch Somms Aussage, Israel müsse „mit allen Mitteln“ reagieren, womit er indirekt die Bombardierung der Zivilbevölkerung, das Abschneiden der Zufuhr von Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten, Strom und Gas rechtfertigt und in letzter Konsequenz selbst den Einsatz von Atomwaffen befürworten müsste. Hätte er das nicht gemeint, dann hätte er es auch nicht so formulieren dürfen.

„Man kann wohl sagen, dass Israel das Land ist, das sich am meisten Gedanken macht um das humanitäre Völkerrecht, das Land, das am meisten darauf achtet, dass Zivilisten nicht Opfer werden.“ – Angesichts der Bilder von dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartieren, in tiefster Verzweiflung und Todesängsten herumirrenden Menschen, bombardierten Moscheen, Schulen, Krankenhäusern, Flüchtlingslagern, traumatisierten Kindern und der Tatsache, dass bereits über 11‘000 Zivilpersonen getötet wurden, davon zwei Drittel Frauen und Kinder, und einer noch ungleich viel höheren Zahl Schwerverletzter, die ohne medizinische Versorgung in halb zerstörten und von Stromversorgung abgeschnittenen Spitälern herumliegen, erübrigt sich hierzu jeglicher weiterer Kommentar. Somm ist mit seiner Aussage einfach nur unfassbar zynisch.

„Natürlich ist es für Israel nicht einfach, diesen Krieg in Gaza zu führen, wenn man weiss, dass dort 200 Leute gefangen sind und jederzeit gefoltert, massakriert und abgeschlachtet werden können, das ist für die israelische Regierung eine ungeheure Belastung.“ – Dass dort nebst diesen 200 israelischen Geiseln auch noch über zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser leben, die ebenfalls an Leib und Leben bedroht sind, scheint sowohl für die israelische Regierung wie auch für Markus Somm keine besondere „Belastung“ zu bilden. Vielleicht denkt ja Somm ähnlich wie der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant, der am 9. Oktober sagte, Israel führe einen Kampf gegen „Tiere“, und diese seien deshalb auch dementsprechend zu behandeln, indem man ihnen keinen Strom, kein Gas, kein Essen und kein Wasser liefern solle.

„Wie kann man einen Krieg gut beenden? Ich als Historiker sage, dass die meisten Kriege, die gut beendet wurden, mit einem klaren Verlierer und einem klaren Sieger zu Ende gegangen sind. Die schlimmsten Kriege waren immer jene, bei denen man am Schluss nicht genau wusste, wer gewonnen hatte.“ – Ob Somm dabei etwa an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedacht hat? Klarer als damals war wohl nur selten, wer gewonnen und wer verloren hatte. Und ob Somm wirklich der ganzen Tragweite seiner Aussage bewusst ist? Sie würde ja bedeuten, dass jegliche Friedensverhandlungen zwischen verfeindeten Völkern oder Staaten schädlich wären, da sie ja bloss verhindern würden, den Krieg so lange fortzuführen und so viele Menschen zu opfern, bis endgültig und ohne alle Zweifel erwiesen ist, wer der Sieger ist und wer der Verlierer. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass Kriege eigentlich nie Sieger kennen, denn in jedem Krieg sind letztlich alle Beteiligten stets nur Verlierer, in Form aller menschlichen Opfer und aller angerichteten Zerstörungen. Davon zu sprechen, dass Kriege „gut“ beendet werden können, ist an sich schon völlig absurd.

„Die Palästinenser müssen endlich damit konfrontiert werden, dass sie seit 75 Jahren jeden Krieg verloren haben und es nun endgültig genug ist.“ – Wieder eine so ungeheure Aussage. Den Gegner also so lange zu Boden treten, bis er endgültig kapituliert und regungslos liegen bleibt und nie mehr genug Kraft haben wird, um wieder aufzustehen. Kann sich Somm wirklich nicht vorstellen, was für eine unendliche Demütigung dies bedeuten muss, was für einen unendlichen Nährboden für Verzweiflung, Hass, Gewalt, bis zuletzt die so zu Boden Getretenen nicht einmal mehr davor zurückschrecken werden, sich selber in die Luft zu sprengen, bloss um möglichst viele andere mit in den Tod zu reissen. Was hat Somm während seines Geschichtsstudiums eigentlich gelernt? Und hat er noch nie etwas gehört von Mahatma Gandhi, der einmal sagte: „Auge um Auge, bis alle blind sind“?

„Wenn wir es mit dem Ukrainekrieg vergleichen. Dort sind auch nicht alle Russen mit Putin einverstanden. Und doch sind alle Russen für diesen Krieg verantwortlich. Das Gleiche war mit den Deutschen. Ab einem gewissen Punkt bist du verantwortlich für deine Regierung, auch wenn es eine Diktatur ist. Und dann musst du eben auch alle Konsequenzen tragen.“ – Dann waren also, wenn Somm Recht hätte, auch die Tausenden in den Gefängnissen lateinamerikanischer Militärdiktaturen unter Somoza, Battista, Pinochet u.a. Inhaftierten selber dafür verantwortlich und selber schuld gewesen, entweder zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes aus Flugzeugen ins Meer abgeworfen worden zu sein. Es wird immer unfassbarer, je länger man Somm zuhört…

„Die Palästinenser sind selber schuld, dass dieser Konflikt nie gelöst wurde. Sie sind zu 100 Prozent selber schuld. Solange jemand sagt, die Palästinenserinnen und Palästinenser seien auch zu einem gewissen Teil Opfer dieses Konflikts, so lange werden wir diesen Konflikt haben.“ – Hat Somm noch nie etwas gehört von der gewaltsamen Vertreibung Abertausender Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Westjordanland durch jüdische Siedler, die dort völkerrechtswidrig Wohngebiete besetzt halten? Hat er noch nie etwas von all den Palästinenserinnen und Palästinensern gehört, die aus politischen Gründen in israelischen Militärgefängnissen sitzen? Bildet sich Somm tatsächlich ein, einen wertvollen Diskussionsbeitrag liefern zu können, indem er einfach das Gegenteil dessen behauptet, was er der Gegenseite stets vorhält, nämlich, dass zu 100 Prozent nur Israel allein schuld sei? Müsste er, als seriöser Historiker, nicht vielmehr auf die Vielschichtigkeit dieses Konflikts hinweisen und darauf, dass man nie zu hundert Prozent die „Schuld“ ausschliesslich der einen oder anderen Seite in die Schuhe schieben kann?

„Ich habe nichts dagegen, dass der Westen gegenüber sich selber selbstkritisch ist, aber wir haben jede Proportion verloren. Wir sind jetzt so weit, dass gewisse Leute, die sehr aktivistisch sind – die können rechts sein, siehe Russland, oder die können links sein, siehe Hamas – aus westlichem Selbsthass alles, was der Westen macht, für schlimm halten, aber alles, was so grausliche Länder wie China, Iran oder Russland machen, verteidigen.“ – Somm scheint sich im Verlaufe der Diskussion förmlich immer stärker in seine Widersprüche und Absurditäten hineinzusteigern. Russen als „aktivistische Leute“? Die Hamas eine „linke“ Bewegung? Westlicher „Selbsthass“? „Grausliche“ Länder? Weiss Somm eigentlich noch, wovon er spricht? Oder geht es ihm bloss darum, anstelle sorgfältiger Analysen eine möglichst grosse Anzahl wirkungsvoller Schlagwörter aufeinander aufzuschichten?

„Niemand wäre begeistert, wenn 3000 Neonazis über unsere Strassen laufen und wieder einen nationalsozialistischen Staat fordern würden und ein schönes Auschwitz. Denn die Parole FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE ist nichts anderes als genozidal, das ist völlig klar. Und wer behauptet, nicht alle diese Demonstranten seien antisemitisch, who cares, es ist einfach grauslich, was die machen, das muss man einfach sagen.“ – Mehr als „grauslich“ erscheint mir, wenn Somm Hunderttausende weltweit friedlich für die Rechte des palästinensischen Volkes Demonstrierende mit Nazis vergleicht, ihnen pauschal den Vorwurf des Antisemitismus an den Kopf wirft und eine Parole, die man auf unterschiedliche Weise interpretieren kann, als „genozidal“ bezeichnet. An Somm scheint gänzlich vorbeigegangen zu sein, dass auch zahlreiche Jüdinnen und Juden dies ganz anders sehen. So etwa die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss, selber Jüdin, die in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ Folgendes sagte: „FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE verstehe ich so: Die Region soll vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein von Krieg und Diskriminierung. Das bedeutet eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“

„Das Perverse an der arabischen Haltung ist doch, dass die arabischen Länder seit 75 Jahren nicht bereit sind, Leute, die Araber sind und erst im Laufe der letzten 75 Jahre zu Palästinensern wurden, aufzunehmen. Sie hätten mehr als genug Platz.“ – Und noch ein richtiger Paukenschlag zum Schluss: Diese sogenannten „Palästinenser“ gibt es also laut Somm gar nicht und sie haben dort, wo sie einen eigenen Staat anstreben, letztlich gar nichts zu suchen, sondern könnten ebenso gut in irgendeinem anderen arabischen Land leben. Als wäre Palästina leer gewesen, bevor die Jüdinnen und Juden kamen. Und als gäbe es nicht jetzt schon Millionen palästinensischer Flüchtlinge, die innerhalb oder ausserhalb Israels in Flüchtlingslagern oder in verschiedenen arabischen Ländern leben: 1,5 Millionen in insgesamt 58 Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Gazastreifen und im Westjordanland, weitere 3,5 Millionen in verschiedenen arabischen Gastländern, oft in der Nähe der Flüchtlingslager.

FAZIT

Ich frage mich, ob Markus Somm mit einer so simplifizierenden, widersprüchlichen, völlig empathielosen und fast nur auf zusammenhangslosen Feindbildern und Schuldzuweisungen geprägten politischen Haltung für ein so schwieriges, heikles und vielschichtiges Thema wie den Nahostkonflikt tatsächlich ein geeigneter Diskussionsteilnehmer sein kann. Der Erkenntnisgewinn für das Publikum aufgrund seiner Voten ist gleich Null. Umso mehr aber werden auf diese Weise schon bestehende Feindbilder und Schuldzuweisungen masslos geschürt. Als einer, der sich als „Historiker“ bezeichnet und damit schon einen Vertrauensvorschuss für sich in Anspruch nimmt, trägt Somm durch seine grosse Medienpräsenz, nicht nur am Fernsehen, sondern auch in der Presse, eine wesentliche Mitverantwortung für die öffentliche Meinungsbildung. Eine konstruktive, zukunftsgerichtete Konfliktlösung wird durch eine so einseitige und willkürliche Interpretation geschichtlicher Zusammenhänge wohl kaum gefördert.

Ich bin zwar nur ein ganz gewöhnlicher TV- und Pressekonsument, doch ich hoffe sehr, dass sowohl die „Sonntagszeitung“ wie auch SRF in dieser Angelegenheit noch einmal gründlich über die Bücher gehen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen.

Erich Gysling, Laurent Goetschel und Geri Müller haben auf mein Schreiben spontan reagiert und mir für meine Stellungnahme gedankt. Von allen übrigen Adressaten habe ich bis heute nichts gehört, auch nicht von der Sonntagszeitung, welche für diese Sendung verantwortlich war, und ebenfalls nicht von SRF, welches die entsprechende Sendezeit zur Verfügung stellte.

Feminismus: Auf halbem Wege stehen geblieben?

Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“ feiert, so der „Tagesanzeiger vom 10. November 2023, einen globalen Theatererfolg, gleichermassen gefeiert von Publikum und Kritik, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, eingeladen zu grossen Festivals und nun an zwei Abenden auch im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich zu sehen. Die Choreographin und Theatermacherin arbeitet ausschliesslich mit weiblichen Darstellerinnen, pusht mit ihren Bühnenarbeiten das Publikum gemäss Pressestimmen fast immer „zum Äussersten“ und ihre Performerinnen, die allesamt hüllenlos auftreten, fast immer an die Schmerzgrenze. So etwa wird im Stück „Tanz“ unter anderem eine Performerin mit einem über Rollen geführten Seil in die Höhe getrieben – mit Ösen, die zuvor ins nackte Rückenfleisch der Performerin getrieben wurden. So werde, wie der „Tagesanzeiger“ schreibt, „der sexualisierte Blick auf den nackten weiblichen Körper mehrfach gebrochen“, weshalb solche Szenen oft als „feministische Kunst“ beschrieben würden. Die Theaterszene, die in den letzten Jahren „unter Verkopfung gelitten“ habe, erlebe durch solche Inszenierungen, was für eine „utopische Kraft“ sie haben könnte, wenn sich der „Feminismus mit all seinen Forderungen vollständig durchsetzen würde“. Was allerdings an diesem Projekt „feministisch“ sein soll, ist wohl nur schwer nachzuvollziehen – ausser dass sämtliche Beteiligte von der Choreographin und Theatermacherin bis zu den Darstellerinnen ausschliesslich weiblich und Männer nur in der Rolle von Zuschauern beteiligt sind.

Auch im Zusammenhang mit der Fernsehshow „Naked Survival“, welche regelmässig auf verschiedenen privaten TV-Sendern ausgestrahlt wird, könnte man, wenn es auf den ersten Blick auch noch so weit hergeholt zu sein scheint, von einem Erfolg des „Feminismus“ sprechen, dürfen sich nun doch auch Frauen, die in so harten Mutproben früher kaum je zu sehen waren, Seite an Seite „gleichberechtigt“ mit Männern zum prickelnden Vergnügen des Fernsehpublikums splitternackt durch gefährliche Dschungelgebiete oder glühendheisse Wüstenlandschaften hindurchkämpfen, von Giftschlangen, schmerzhaften Insektenstichen, Hunger, Durst und Übermüdung infolge schlafloser Nächte bei klirrender Kälte gequält. Auch an zahlreichen sportlichen Wettkämpfen, die früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren, dürfen heute Frauen gleichberechtigt teilnehmen, sich wie Männer „gleichberechtigt“ im Boxkampf gegenseitig die Köpfe einschlagen, sich im Velorennen „gleichberechtigt“ bis an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit oder darüber hinaus über die höchsten Alpenpässe quälen, sich „gleichberechtigt“ bei Skirennen in immer höherem Tempo auf immer gefährlicheren Pisten tödlicher Gefahr aussetzen oder sich „gleichberechtigt“ im Triathlon und bei Marathonläufen so sehr verausgaben, bis sie, im Ziel angekommen, zu Tode erschöpft zusammenbrechen.

Auch ein Blick in die Welt der Politik zeigt, dass „Feminismus“ offensichtlich nicht selten darin besteht, dass Frauen vermehrt Positionen einnehmen, welche früher ausschliesslich von Männern besetzt wurden. So etwa ist Viola Amherd die erste weibliche Verteidigungsministerin der Schweiz – allerdings ohne dass sich ihre politische Arbeit grundsätzlich von jener ihrer Vorgänger unterscheiden würde. Noch krasser wird es, wenn wir nach Deutschland blicken, wo mit Analena Baerbock als Aussenministerin und Agnes Strack-Zimmermann als verteidigungspolitischer Sprecherin der FDP zwei Frauen ausserordentlich machtvolle und einflussreiche politische Ämter innehaben, welche früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren. Baerbock und Strack-Zimmermann sind indessen nicht nur Speerspitzen eines politischen „Feminismus“, sondern gehören gleichzeitig zu den schärfsten Hardlinern in der aktuellen deutschen Tagespolitik und vertreten Positionen, welche kriegerisch-patriarchalischer gar nicht sein könnten, ganz getreu ebenso kriegerisch-patriarchalen Vorbildern wie der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, genannt „Eiserne Lady“, welche innerhalb weniger Jahre eine knallharte neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vorantrieb und für die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Schwächung der Gewerkschaften und die Flexibilisierung von Arbeitsmarktgesetzen mit insgesamt katastrophalen Folgen verantwortlich war, oder der früheren US-Aussenministerin Madeleine Albright, welche sich in den Neunziger Jahren an vorderster Front für Wirtschaftssanktionen gegen den Irak einsetzte, welche den Tod von einer halben Million Kinder zur Folge hatten, was Albright selbst noch Jahre später mit der zutiefst menschenverachtenden Aussage zu rechtfertigen versuchte, politisch gesehen aus der Sicht der USA sei es der Preis, den diese Kinder gezahlt hätten, „durchaus wert gewesen“.

Doch wir müssen gar nicht so weit gehen. Wenn wir einen Blick in die Veränderungen innerhalb der schweizerischen Arbeitswelt im Verlaufe der vergangenen Zeit werfen, stellen wir fest, dass sich immer mehr Frauen, die sich früher vollumfänglich der Kinderbetreuung und der Hausarbeit gewidmet hatten, heute an einer Kasse im Supermarkt oder als Kellnerin in einem Café arbeiten, ihre Kinder während dieser Zeit von Kitaangestellten betreuen lassen oder in wachsender Zahl sogar gänzlich darauf verzichten, überhaupt noch Kinder zu haben, ist doch die Teilhabe am kapitalistischen Arbeitsmarkt viel lukrativer und erst noch mit weit grösserer gesellschaftlicher Anerkennung verbunden.

Keine Frage, die Emanzipationsbewegung der Frauen hat zahlreiche wesentliche gesellschaftliche Fortschritte gebracht, auf die heute niemand mehr verzichten möchte, von der politischen und rechtlichen Gleichstellung, dem geschlechterunabhängigen Zugang zu Bildung über die Überwindung traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenbilder und Lebensläufe bis hin zur körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung und zur Einführung von Gesetzen gegen Sexismus und sexuelle Gewalt.

Und dennoch ist kritisch festzustellen, dass Feminismus über weite Strecken auch darin besteht, dass Frauen vermehrt – sowohl als Opfer wie auch als Täterinnen – in die bestehende kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hineingewachsen sind, ohne dass sich dadurch deren Macht- und Ausbeutungsstrukturen wesentlich verändert hätten, denn wenn heute Frauen immer öfters in die früheren Rollen der Männer hineinschlüpfen, sie gar auf den Leitern des sozialen Aufstiegs zu übertreffen versuchen und beispielsweise auf den Chefetagen von Grosskonzernen immer mehr Frauen anzutreffen sind, während die Angestellten weiterhin schamlos ausgebeutet werden, dann ist insgesamt kein wirklicher gesellschaftspolitischer Fortschritt zu erkennen.

So könnte man zusammenfassend sagen, dass der Feminismus, der ursprünglich aufs Engste mit der Vision einer Welt ohne Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, ohne Fremdbestimmung, ohne Gewalt und ohne Kriege als Instrument der Konfliktlösung zwischen Völkern und Staaten verbunden war, sozusagen auf halbem Wege stehen geblieben ist und sich, etwas überspitzt gesagt, vom kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem über den Tisch hat ziehen lassen. Eine Bewegung, die zu einer radikaleren Umgestaltung der bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse führen will und vor allem auch die globale Dimension nicht ausser Acht lassen darf, muss über den traditionellen Feminismus weit hinausgehen und die Männer miteinbeziehen. Frauen müssen sich nicht vor allem von den Männern emanzipieren, sondern Frauen und Männer müssen sich gemeinsam von den bestehenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen emanzipieren. Ziel sollte nicht die Vermännlichung der Frauen sein, sondern die Verweiblichung der Gesellschaft als ganzer. Denn, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt so wunderbar sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Senkung der SRG-Gebühren: Sparen am falschen Ort

In unsicheren, schwierigen und kriegerischen Zeiten ist objektive und sorgfältige Information wichtiger denn je. Eigentlich müsste man jetzt die SRG-Gebühren, wenn schon, nicht senken, sondern erhöhen. Dies umso mehr, als die Gebühr im Laufe der vergangenen zehn Jahre bereits schrittweise von jährlich 462 Franken auf 335 Franken gesenkt worden ist. Auch Sportübertragungen werden von der Sparmassnahme betroffen sein. So wird man sich dann zum Beispiel die Übertragung eines Fussballspiels bei einem privaten Anbieter holen müssen und bezahlt dann am Ende für ein kleineres Angebot erst noch mehr als bisher. Kann man ernsthaft behaupten, die 90 Rappen pro Tag, die man heute noch für das gesamte SRG-Angebot von Radio und Fernsehen zu bezahlen hat, seien überrissen? So viel Qualität für so wenig Geld bekommt man heute nur noch selten.

Eine Welt ohne Kinder?

Neue Zahlen, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei „jeden Tag dankbar“, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde „herumschlagen“ müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen. Auch der Demografieforscher Manuel Buchmann stellt fest, dass sich die „soziale Norm“ zusehends wandle. Früher sei das Familienbild „Mann, Frau und zwei Kinder“ die Norm gewesen, die neue Generation hingegen wachse mit der Idee auf, dass es „zum Glücklichsein keine Kinder braucht.“ Und für Regula Simon, die eine Onlineplattform zur Vernetzung kinderloser Frauen gegründet hat, ist die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen gegen Nachwuchs entscheiden, „ein Zeichen von zunehmender Selbstreflexion“, wobei es allerdings noch eines längeren Prozesses bedürfe, um sich endgültig „von tief sitzenden Zukunftsbildern zu verabschieden“.

Wenn das tatsächlich so wäre und dieser „längere Prozess“ immer weiter voranschreiten und sich immer mehr Erwachsene mit „zunehmender Selbstreflexion“ dafür entscheiden würden, keine Kinder mehr zu haben, dann müssten wir ja logischerweise irgendwann in einer Welt endlosen „Glücklichseins“ leben. Ohne Stress, ohne Schulprobleme, ohne Streit und Konflikte wegen Hausaufgaben, ohne Drogen, ohne überteuerte Sommerferien, ohne Unfälle, Schlafmangel und viele weitere Sorgen. Doch kann dies allen Ernstes eine hoffnungsvolle Zukunftsvision sein? Sind Kinder, nebst allen Belastungen und Sorgen, nicht auch eine wunderbare, endlos sprudelnde Quelle neuen Lebens, eine geradezu unverzichtbare Chance für uns Erwachsene, all das, was wir schon längst nicht mehr hinterfragt haben, Tag für Tag immer wieder neu und anders zu sehen?

Das eigentliche Problem sind doch nicht die Kinder. Das eigentliche Problem sind unsere Lebensumstände, der Stress am Arbeitsplatz, der gegenseitige Existenz- und Konkurrenzkampf, finanzielle Belastungen, die Angst vor der Zukunft, all die Überforderungen in einer Welt mit so grossen, scheinbar unlösbaren Bedrohungen, kurz: das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit all seinen zerstörerischen Auswirkungen, in dem wir alle gefangen sind und das uns selbst noch die letzten Reste der nötigen Zeit, Ruhe und Gelassenheit raubt, um das Zusammenleben mit unseren Kindern in vollen Zügen geniessen zu können und aus ihm immer wieder neue Kraft für unser eigenes Leben zu schöpfen.

Die Lösung kann doch nicht darin liegen, keine Kinder mehr zu haben. Die Lösung muss vielmehr darin liegen, unsere Lebensumstände und unsere Arbeitswelt so umzugestalten, dass das Kinderhaben wieder so etwas Schönes werden kann, dass niemand freiwillig darauf verzichten wollte. Wie könnte eine solche „Umgestaltung“ aussehen? Zunächst muss in jedem Beruf eine einzelne Vollzeitstelle genügend entlohnt werden, damit eine Familie davon leben kann, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die auch als elementares Menschenrecht in der schweizerischen Bundesverfassung seit 175 Jahren festgeschrieben ist. Es gäbe dann für die einzelne Familie keinen finanziellen Zwang mehr, einen Zweit- oder gar Drittjob annehmen zu müssen, und Eltern könnten jederzeit frei entscheiden, in welchem Umfang sie sich ausserhäusliche Erwerbsarbeit und Familien- bzw. Hausarbeit untereinander aufteilen wollen. Das Image von Haus- und Familienarbeit muss tiefgreifend aufgewertet werden, nicht nur ideell, sondern auch finanziell, zum Beispiel durch weit höhere Familien- oder Kinderzulagen, als dies heute der Fall ist. Denn Haus- und Familienarbeit ist der wichtigste und grundlegendste Beruf, den man sich nur vorstellen kann, weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft als Ganzes sind überlebensfähig, wenn nicht jüngere Menschen stets wieder die Aufgaben jener übernehmen, welche aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Zudem müssten Alleinerziehende so grosszügig finanziell unterstützt werden, dass sie sich vollumfänglich der Kinderbetreuung und der Hausarbeit widmen könnten und nicht gezwungen wären, einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Was nicht heissen muss, dass sie sich nicht trotzdem hierfür entscheiden könnten, aber freiwillig und ohne finanziell dazu gezwungen zu sein. Auch bei der Schule liegt grosser Handlungsbedarf. Kinder sollten in der Schule aufgrund ihrer individuellen Interessen ohne Druck und mit Freude lernen dürfen, das Notensystem mit seinen verheerenden Auswirkungen auf das Selbstvertrauen der Kinder muss abgeschafft werden und so Unsinniges wie Hausaufgaben, die in so vielen Familien Anlass sind für Unmut und Zwistigkeiten, sollten schon längst der Vergangenheit angehören. Längerfristig werden wir auch nicht darum herumkommen, den zunehmenden Druck und Stress in der Arbeitswelt nach und nach abzubauen und ganz allgemein der Kooperation und dem Gemeinschaftsdenken einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem gegenseitigen Konkurrenzkampf, der nebst Gewinnern auch stets Verlierer produziert. Vieles von dem, was sich heute auf das familiäre Zusammenleben so belastend auswirkt und das Kinderhaben für immer mehr Menschen als etwas so Abschreckendes erscheinen lässt, würde sich durch solche gesellschaftliche Veränderungen zweifellos ganz von selber erübrigen und alle entstehenden Freiräume wären fruchtbar für ein freudvolles, sich gegenseitig bereicherndes Leben von Kindern und Erwachsenen.

„Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind“, sagte der frühere schwedische Premierminister Olaf Palme, „und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“ Kinder sozusagen zum Verschwinden bringen, indem man selber keine mehr haben möchte, wäre eine totale menschliche Bankrotterklärung, in letzter Konsequenz das Bekenntnis zu einer Zukunft ohne Menschheit. Wie könnte denn jemand dieses Leben hier und heute ohne Kinder wirklich „geniessen“ – so im Sinne von „nach mir die Sintflut“ -, wenn er doch weiss, dass er gar nicht existieren würde, wenn er nicht irgendwann einmal selber geboren wurde und selber ein Kind war? Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen, ihnen Kraft zu geben für die Bewältigung ihrer gewiss nicht einfachen Zukunft, das ist eine Aufgabe von uns allen. Auch von jenen Erwachsenen, die, obwohl sie es möchten, selber keine Kinder haben können. Es gibt so viele Möglichkeiten gesellschaftlichen Engagements, um sich, alle mit ihren individuellen Ressourcen, bei der Bewältigung unserer grossen Zukunftsaufgaben gegenseitig zu unterstützen.

Eine Welt ohne Kinder ist eine Wüste, in der alles Leben erloschen ist. Kinder sind das höchste Gut, das wir haben. Kinder erinnern uns mit ihrem Lachen und mit ihren Tränen in jedem Augenblick ihres Lebens daran, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie ist. Sie öffnen uns immer wieder die Augen für die wunderbaren, für uns auf den ersten Blick oft unsichtbaren tiefsten Geheimnisse des Lebens. Ohne Kinder sind wir verloren. Kinder sind das Tor zum Paradies, nicht zu irgendeinem erdachten Paradies in einer jenseitigen Welt, sondern zum Paradies hier und heute auf dieser Erde. Wir müssen den Kindern nur genug aufmerksam zuhören, um die Wege kennenzulernen, auf denen sich eine Welt voller Hass, Gewalt, Zerstörung und Kriegen in eine Welt voller Liebe, Gerechtigkeit und Frieden verwandeln liesse. „Drei Dinge“, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, „sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder.“ Wollen wir uns tatsächlich diesem unermesslichen Geschenk verweigern?

Hintergrundinformationen des Ukrainekonflikts

1991: Zusammenbruch der Sowjetunion, Russland anerkennt staatliche Souveränität der Ukraine. Russland erklärt, eine Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands würde die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigen. Führende westliche Politiker wie US-Präsident Bush, US-Aussenminister Jim Baker, der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Aussenminister Genscher versichern Russland, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Zu diesem Zeitpunkt gehören folgende europäische Länder zur NATO: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Griechenland, Italien, Island, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien und Türkei.

1997: Russisch-ukrainischer Freundschaftsvertrag: gegenseitige Anerkennung der Grenzen.

1999: NATO-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.

2001: Putin schlägt eine „gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur“ unter Einbezug Russlands vor. Diese und weitere Vorstösse Putins in gleicher Richtung werden vom Westen abgelehnt.

2004: NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

2008: NATO stellt der Ukraine und Georgien eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht.

2009: NATO-Beitritt von Albanien und Kroatien.

2010: Putin schlägt die Schaffung einer Freihandelszone und eine gemeinsame Industriepolitik mit der EU vor. Er plädiert für eine „harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok“.

Herbst 2013    Die ukrainische Regierung unter Wiktor Janukowytsch kündigt an, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu verschieben. Dies löst Massenproteste für eine stärkere europäische Integration aus. Janukowytsch flieht nach Charkiw. Russland vertritt bis heute die Ansicht, dass Janukowytschs Absetzung verfassungswidrig erfolgt sei.

März 2014: Russland annektiert völkerrechtswidrig die Krim. Westliche Medien beschuldigen Russland, durch Unruhen den mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine destabilisieren zu wollen.

2014: Wachsende prorussische wie auch proukrainische Demonstrationen in der Ost- und Südukraine. Die prorussischen Demonstranten verlangen nicht den Anschluss an Russland, sondern mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung, nur eine Minderheit der Bevölkerung befürwortet einen Anschluss an Russland. Zunehmende Überlagerung der geopolitischen Interessen Russlands mit denen der EU und der USA. Die Spannungen zwischen ukrainischen Truppen und den von Russland unterstützten Separatisten nehmen zu. Putin fordert die Separatisten auf, ein geplantes Referendum zu verschieben, um die „Bedingungen für einen Dialog zu schaffen.“ Auch die ukrainische Regierung erklärt ihre Bereitschaft zum Dialog.

Sept. 2014: Unterzeichnung des Protokolls von Minsk: Einfrierung der Front unter Aufsicht der OSZE. Dennoch gehen die gewalttätigen Auseinandersetzungen weiter.

Februar 2015: Minsk II. Erneuerung von Minsk I. Dennoch wird der vereinbarte Waffenstillstand von beiden Seiten immer wieder durchbrochen. Schwere Kämpfe mit insgesamt rund 14‘000 Todesopfern zwischen 2014 und 2012. Auf der Seite der Ukraine sind auch nationalsozialistisch ausgerichtete Verbände im Einsatz, unter anderem die berüchtigte Asow-Brigade.

2017: NATO-Beitritt von Montenegro.

2020: NATO-Beitritt von Nordmazedonien.

Januar 2021: 4000 Militärs aus NATO-Staaten nehmen die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf. Russland zieht rund 80‘000 Soldaten sowie schwere Waffen an der ukrainischen Grenze zusammen.

Dez. 2021: Russland legt der NATO und den USA einen Forderungskatalog zur friedlichen Beilegung des Konflikts vor: Kein NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens, keine Stationierung von NATO-Truppen entlang der russischen Grenze, keine Stationierung weitreichender Raketen in europäischen Staaten, Rückzug aller seit 1997 in Europa stationierten NATO-Truppen. USA und NATO lehnen die russischen Forderungen ab.

24. Febr. 2022: Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Zitate zum Ukrainekonflikt

„Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ (George F. Kennan, US-Historiker, 1997)

„Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.“ (Joe Biden, US-Senator und späterer US-Präsident, 1997)

„Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“ (Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin, 2008)

„Russland wollte in die NATO, aber die Amerikaner waren dagegen. Russland wollte auch in die EU. Das waren verpasste Chancen. Das Interesse Russlands an Europa war aufrichtig, da bin ich sicher.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland).

„Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ (Roland Popp, Militärakademie ETH Zürich)

„Vielleicht war es die NATO, die vor Russlands Tor bellt, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich kann nicht sagen, ob seine Wut provoziert wurde, aber ich vermute, dass die Haltung des Westens sehr dazu beigetragen hat. Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands.“ (Papst Franziskus, am 3. Mai 2022, in einem Interview mit dem Corriere della sera)

„Wir haben Russland mit Raketen und Militärbasen umzingelt, was wir niemals tolerieren würden, wenn sie es mit uns genauso machen würden.“ (Robert F. Kennedy Jr., US-Präsidentschaftskandidat 2024)

„Um Amerikas Vorrangstellung in Eurasien zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.“ (Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981)

„Die Sowjetunion hat nun mal dem kalten Krieg verloren und mit dieser Niederlage muss Russland nun leben.“ (Markus Somm, NZZ-Standpunkte, 5. März.2022)

„Es geht um eine grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung. Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen.“ ​(US-Präsident Joe Biden, 26.3.2022)

„Wir sind uns der enormen Menge an Waffen, Munition und Materialien, die wir der Ukraine bereits zur Verfügung gestellt haben, bewusst, aber wir müssen noch mehr tun.“ (Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär)

„Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen. Dafür wurde sie entwickelt. Deshalb haben die Russen sie angegriffen.“ (Douglas MacGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater und pensionierter US-Colonel)

„Die Sanktionen werden Russland ruinieren.“ (Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin)

„Wirtschaftliche Sanktionen haben noch nie zu einer Änderung der Aussenpolitik geführt. Wenn jemand dieses Ziel hatte, dann war er wirklich naiv.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland)

„Die Unterstützung des Westens für die Ukraine ist nichts anderes als ein Versuch, das kapitalistische System vor dem Einsturz zu bewahren.“ (Benedikt Loderer, Bieler Stadtpräsident)

„Bitte vergesst nicht, dass Russland nicht Putin ist. Viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem Krieg zu tun haben. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland nicht zu eurem Feind.“ (Katharina, Übersetzerin in Moskau)

„Die Russen sind Schweine, Hunde, Verbrecher, Tiere, Unrat und Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten, und die deshalb in der Hölle brennen sollen.“ (Der mit dem Friedenspreis 2022 des deutschen Buchhandels ausgezeichnete ukrainische Autor Serhij Zhadan, in seinem neuesten Buch „Himmel über Charkiw“)

„Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.“ (Vlad Omelyan, Minister für Infrastruktur der Ukraine)

„Die Russinnen und Russen sind ein wunderbares Volk, emotionale Menschen mit grossen Herzen.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen in Deutschland keine neue Feindschaft mit den Russen wollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das, was unsere beiden Nationen gemeinsam aufgebaut haben, zerstört wird.“ (Michail Gorbatschow, letzter Generalsekretär der Sowjetunion)

„Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Statt sich der NATO anzunähern, hätte die Ukraine eine neutrale Rolle finden sollen: als Brücke zwischen Osten und Westen, was sie auch in der Vergangenheit war.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ (Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977)

„Jede Friedenslösung muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“ (Erich Vad, deutscher Brigadegeneral a.D.)

„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ (Willy Brandt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler, anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises)

„Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.“ (Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler 1974-1982)

„Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“ (US-Präsident John F. Kennedy)

„Pazifismus ist aus der Zeit gefallen.“ (Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 1. Mai 2022)

„Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg senden müssen, so wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg senden, und diese werden kämpfen und werden sterben müssen.“ (Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine)

„Ich bin nicht bereit, für die Ukraine zu sterben, ich bin bereit, für die Ukraine zu leben. Das ist viel schwieriger, als nur zu sterben.“ (Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew)

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ (Erich Maria Remarque, deutscher Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs)

„Ich befürchte, die Welt schlafwandelt in einen grösseren Krieg hinein. Und ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“ (Antonio Guterres, UNO-Generalsekretär)

„Immer mehr Ukrainer befürworten Friedensgespräche mit Russland – das ist ein sehr gefährlicher Trend.“ (Oleksiy Danilov, Chef des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine)

„Manche von Russland besetzte Gebiete wollen möglicherweise gar nicht Teil der Ukraine sein. Würde die Ukraine sie zurückerobern, liefe es vielleicht auf eine Besatzung gegen den Willen der dortigen Bevölkerung hinaus.“ (Sir Richard Barrow, ehemaliger britischer General, in der NZZ am Sonntag, 11. März 2023)

„Ich sah Erniedrigungen russischer Gefangener, Folter, Messerstiche, man liess sie um ihr Leben betteln. Einmal sah ich, wie man mit drei Gefangenen in den Wald ging, und hörte wenig später drei Schüsse.“ (Jonas Kratzenberger, deutscher Freiwilligenkämpfer in der Ukraine, in der NZZ am Sonntag, 11. Juni 2023)

“Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs auf sich geladen. Russland ist der Täter, der Westen der Verursacher.“ (Budapester Zeitung, 7. April 2023)

„Selten gab es einen Krieg, bei dem die Rollen von Gut und Böse so eindeutig verteilt waren wie beim Überfall Russlands auf die Ukraine.“ (Fabian Hock, Tagblatt, 6.10.23)

SVP-Politik auf dem Buckel unschuldiger Kriegsopfer

Die Schweiz hätte, so die SVP, der UN-Resolution vom 28. Oktober 2023 nicht zustimmen dürfen, weil darin der Angriff der Hamas vom 7. Oktober nicht explizit verurteilt worden sei. Genau gleich äussert sich auch Arye Shalicar, der Sprecher der israelischen Armee, der diese UN-Resolution eine „Schande“ nennt. Dies war in der „Sonntagszeitung“ vom 5. November 2023 zu lesen.

Doch was genau ist der Inhalt dieser Resolution, der 120 von 193 UN-Mitgliedstaaten zugestimmt haben? Sie verurteilt „jegliche Gewalt gegen israelische und palästinensische Zivilpersonen“ (damit also auch den Angriff der Hamas), fordert die „sofortige und bedingungslose Freilassung aller Zivilpersonen“, die „illegal festgehalten“ werden, verlangt „ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen“, eine „sofortige Waffenruhe“ und eine „Einstellung aller Feindseligkeiten“. Hätte die Resolution rechtlich bindenden und nicht nur symbolischen Charakter, wären Tausende von Menschen, die inzwischen den israelischen Bombardierungen zum Opfer gefallen sind, heute noch am Leben. Wie kommt die SVP auf die absurde Idee, die Schweiz hätte dieser Resolution nicht zustimmen sollen?

Die „Schande“ ist nicht das Abstimmungsverhalten der Schweiz. Die Schande ist vielmehr, dass die SVP unbesehen die israelische Kriegsrhetorik übernimmt, nun zu alledem auch noch Ignazio Cassis mangelnde Führungsstärke vorwirft und sogar seine Abberufung als Aussenminister fordert, obwohl man ihm, statt ihn zu verurteilen, doch eigentlich für seinen Mut und seine Weitsicht dankbar sein müsste.

Überaus einseitige Berichterstattung in der Sonntagszeitung vom 5. November 2023

Ganze zwei Seiten, die prominenten und meist gelesenen Seiten zwei und drei, stellt die schweizerische „Sonntagszeitung“ vom 5. November 2023 Arye Shalicar, dem Sprecher der israelischen Armee, zur Verfügung, um seine völlig einseitige Sicht der Dinge auszubreiten. Shalicar sagt unter anderem, im Gegensatz zu Terroristen hätte sich die israelische Armee ans Kriegsrecht zu halten, und verliert kein Wort darüber, dass schon fast 10’000 Zivilpersonen, darunter ein grosser Teil Kinder, durch die israelischen Bombardierungen ums Leben gekommen sind und auch bereits mehrmals Spitäler, Flüchtlingslager, Schulen, Moscheen und Ambulanzen von Bombardierungen betroffen waren. Weiter behauptet Shalicar, Israel hätte kein Interesse, dass Zivilisten Opfer werden, und hätte deshalb die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens aufgefordert, in den Süden zu gehen, verschweigt aber, dass auch dort die Bombardierungen unvermindert weitergehen. An Zynismus nicht mehr zu übertreffen ist es, wenn Shalicar den Einsturz ganzer Wohngebäude nicht auf die Bombardierungen durch Israel zurückführt, sondern darauf, dass die betroffenen Quartier durch die Hamas untertunnelt worden seien. Schliesslich drückt Shalicar seine Zweifel an einem Schweizer Vermittlungsversuch in diesem Konflikt aus, vermutlich, weil es da aus seiner Sicht sowieso nichts zu vermitteln gibt.

Was hat die Redaktion der „Sonntagszeitung“ wohl dazu bewogen, einer so einseitigen Darstellung so viel Platz und Gewicht einzuräumen? Und dies ausgerechnet in einer Zeit, da polarisierende Meinungsbildung sowieso schon hoch im Kurs ist und nichts so wichtig wäre wie eine ausgewogene, faire, gegenüber beiden Seiten gleichermassen kritische Berichterstattung.

NZZ am Sonntag: Artikel mit tendenziösem Titel

Unter dem Titel „Die Vermittlerin, die spaltet“ berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 5. November 2023 darüber, dass Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, sowie ein weiterer Vertreter der jüdischen Dachverbände aus dem Vorstand der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS ausgetreten seien. Ihre Begründung: Rifa’at Lenzin, die Präsidentin von IRAS COTIS, sei Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina und dies stelle einen „Vertrauensbruch gegenüber der jüdischen Gemeinschaft“ dar.

Weggefährten und Bekannte von Rifa’at Lenzin, mit denen die Zeitung gesprochen hat, hätten aber ohne Ausnahme betont, dass sie nie mit antisemitischen Äusserungen aufgefallen sei. Im Gegenteil, kompetent setze sie sich stets für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus ein. Lenzin ist auch Mitglied der schweizerischen Kommission gegen Rassismus und wurde von der Universität Bern mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. Dass Lenzin auch Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina ist, gefällt Kreutner offensichtlich nicht, obwohl dies ihr gutes Recht ist, genauso, wie andere Personen Mitglieder der Gesellschaft Schweiz-Israel sind, was ebenfalls ihr gutes Recht ist.

Trotzdem der tendenziöse Titel „Die Vermittlerin, die spaltet“. Nach der Lektüre des Artikels kommt man aber zum Schluss, dass es eher die beiden jüdischen Vertreter sind, welche etwas spalten, nämlich den überparteilichen Dialog, der zurzeit doch wohl noch viel dringender nötig wäre denn je.

Was Brian Keller, der berühmteste Häftling der Schweiz, und der Nahostkonflikt miteinander zu tun haben

Brian Keller alias „Carlos“, laut NZZ vom 10. September 2022 der „berühmteste Häftling der Schweiz“, beschäftigt die Schweizer Öffentlichkeit seit Jahren. Für die einen ist er ein gewalttätiger Querulant, der Justiz und Öffentlichkeit in Atem hält. Für die anderen ist er Opfer der Medien und eines Justizversagens.

Gemäss einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Humanrights“ hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge „zu seinem eigenen Schutz“. Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 stach der 15Jährige nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken, das Opfer überlebte. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer „vorsorglichen Unterbringung“ im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom „Blick“ die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis. Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er musste über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem weiteren folgenschweren Zwischenfall kam: Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft. Am 18. August 2018 wurde er wieder zurück in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt. Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Juli 2019 schlug ein Vollzugsbeamter rechtswidrig auf Brian ein. Nachdem Brian dagegen ziemlich aggressiv reagiert hatte, wurde er am Boden gefesselt. Obwohl sich die Situation deeskalierte, versetzte der Beamte Brian zwei Fusstritte gegen den Körper und einen Faustschlag gegen den Kopf. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Seither zeigt er sich kooperativ, verbringt die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle und arbeitet als Fitnessinstruktor.

Zurzeit wird, wie der „Tagesanzeiger“ vom 1. November 2023 berichtet, der Fall des inzwischen 28jährigen Brian am Bezirksgericht Dielsdorf verhandelt. Philip Stolkin, einer von Brians Anwälten, verficht die Ansicht, dass Brian durchaus das Recht gehabt hätte, sich auch mit Gewalt gegen die dreieinhalb Jahre dauernde Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies zu wehren. Die verheerenden Auswirkungen von Einzelhaft seien seit Jahrzehnten bekannt. Zahlreiche Studien hätten die Folgen aufgezeigt: Stimmungsschwankungen, Gewalt- und andere emotionale Ausbrüche, Angstzustände, Depressionen, Denkstörungen, aber auch Herzrasen, Bluthochdruck und Verdauungsschwierigkeiten. Deshalb sei ja auch eine mehr als 15 Tage dauernde Einzelhaft gemäss einer UN-Konvention verboten und sogar als eine Form von „Folter“ definiert. Die seelische und körperliche Unversehrtheit sei das höchste Rechtsgut des Menschen und dieses dürfe er verteidigen. Brian habe keine Wahl gehabt. Deshalb habe er auf die einzige Weise reagiert, die ihm geblieben sei, und hätte verzweifelt versucht, sich die Reize selbst zu verschaffen, die der Mensch zum Leben brauche wie die Luft zum Atmen. Er hätte ständig dagegen angekämpft, dem Wahnsinn anheimzufallen, habe nächtelang unmotiviert gesungen, frühmorgens Selbstgespräche geführt, an Bluthochdruck, Schmerzen und beginnender Fettleibigkeit gelitten. Dass seine Ausbrüche eindeutig auf die Haftsituation zurückzuführen seien, zeige sich auch daran, dass sich Brian im Untersuchungsgefängnis Zürich, wo er nun die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle verbringen könne, kooperativ verhalte. „Brian ist kein Mörder“, sagte auch der Zürcher Oberrichter Christian Prinz schon vor einem Jahr, „er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.“ Und vom südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Staatspräsidenten Nelson Mandela, der selber zur Zeit der Apartheit 30 Jahre im Gefängnis verbrachte, stammen diese Worte: „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält, dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“

Was dies alles mit dem aktuellen Nahostkonflikt zu tun hat? Weit mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man kann nämlich die Situation von Brian Keller, der den grössten Teil seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat, durchaus mit der Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen vergleichen, von denen die meisten bereits seit ihrer Geburt im „grössten Gefängnis der Welt“ verbringen mussten, jeglicher Selbstbestimmung beraubt, ein Leben lang gedemütigt, von bitterer Armut, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Perspektivenlosigkeit betroffen und selbst von derzeitigen Mitgliedern der israelischen Regierung, so etwa dem Verteidigungsminister Yoav Golan, als „Tiere“ bezeichnet, die man deshalb auch als Tiere behandeln und ihnen daher auch Strom, Gas, Essen und Trinken verweigern müsse. Gewalt erzeugt Gegengewalt, diese simple Logik, die Brian Kellers Anwalt ins Feld führt, gilt im Kleinen wie im Grossen. Man kann einem einzelnen Menschen Gewalt antun oder einem ganzen Volk, im Prinzip ist es dasselbe: Früher oder später erzeugt Gewalt stets wieder neue Gewalt, Druck immer mehr Gegendruck, Widerstand immer mehr neuen Widerstand, Hass immer wieder neuen Hass. Man kann weder das Verhalten und die von Brian ausgeübten Delikte angemessen beurteilen, wenn man nicht seine ganze Vorgeschichte kennt. Und ebenso wenig kann man den Überfall von Hamasterroristen vom 7. Oktober 2023 auf jüdische Zivilpersonen angemessen beurteilen, wenn man nicht die ganze Vorgeschichte jahrzehntelanger Verfolgung, Ausgrenzung und Demütigung des palästinensischen Volkes kennt. Es wird zwar immer wieder behauptet, die Hamas sei eine reine brutale Terrororganisation ohne jegliche Menschlichkeit, der es ausschliesslich um ihre eigene Macht ginge und die nichts mit noch so berechtigten Anliegen der Bevölkerung zu tun hätte, einer Bevölkerung, die im Gegenteil ihrerseits vom Hamasregime unterdrückt, diskriminiert und deren oppositionelle Stimmen verfolgt, inhaftiert und gefoltert würden. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Organisation wie die Hamas überhaupt nur auf diesem Boden von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wachsen konnte und sonst auch kaum im Jahre 2006 von der Mehrheit der Gazabevölkerung demokratisch gewählt worden wäre. Hätten die Palästinenserinnen und Palästinenser zu diesem Zeitpunkt in einem mit Israel gleichberechtigen eigenen, autonomen und demokratischen Staat in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben können, dann hätte es so etwas wie die Hamas niemals gegeben. Ganz abgesehen davon, dass sich der israelische Ministerpräsident Netanyahu noch 2019 dafür aussprach, die Hamas ideell und finanziell zu unterstützen, um auf diese Weise die extremeren und weniger extremen Palästinenserorganisation auseinanderzuspalten und damit zu schwächen.

Doch genau an dieser Stelle kommt stets der Vorwurf, wer Gewalttaten wie den Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung zu erklären versuche, würde diese somit rechtfertigen bzw. die Schuld jemand anderem zuschieben. Das ist ein höchst verhängnisvoller Fehlschluss und würde ja bedeuten, dass man bei keinem Gewaltakt jemals einen Blick in die Vorgeschichte werfen dürfte, um herausfinden, wie es möglicherweise zu diesem Gewaltakt gekommen sein konnte. Nein, erklären ist ganz und gar nicht das Gleiche wie rechtfertigen. Glücklicherweise hat unsere Sprache hierfür auch ganz unterschiedliche Wörter, nur sollte dieser Unterschiedlichkeit auch in noch so aufgeladenen, polarisierten Diskussionen Rechnung getragen werden. Wer etwas zu erklären versucht, ist weit davon entfernt, es zu rechtfertigen. Das Erklären aber kann dazu führen, dass man besser verstehen kann, wie und wodurch es zu Verhaltensweisen oder Taten kommen kann, die irgendwann höchst zerstörerische Formen annehmen können. Deshalb ist das Erklären so wichtig. Nur durch das Erklären können wir aus der Geschichte lernen und uns davor hüten, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wer dagegen das Erklären mit dem Rechtfertigen gleichsetzt, erstickt damit jede differenzierte Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und verpasst denen, die es versuchen möchten, gleich von Anfang an einen moralischen Maulkorb.

In der Diskussionssendung „Club“ vom 31. Oktober am Schweizer Fernsehen versuchte Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, die Bombardierungen von Spitälern, Universitäten, Moscheen, Flüchtlingslagern und Ambulanzen durch die israelische Luftwaffe damit zu rechtfertigen, dass sich an diesen Orten Hamaskämpfer versteckt haben könnten, und sich somit zivile Ziele in „sogenannt militärische Ziele verwandeln“ können. „Ich weiss“, sagte Diggelmann, „das ist eine fürchterliche Sprache, aber es ist die einzige, die wir haben.“ Müsste er als „Völkerrechtler“ daraus nicht einen ganz anderen Schluss ziehen? Wenn wir tatsächlich keine andere Sprache haben, dann ist es doch spätestens jetzt, im Anblick dieses unvorstellbaren Leidens, allerhöchste Zeit, eine solche neue Sprache zu erlernen. Dies umso mehr, als selbst traditionell denkende Militärexperten schon längst zum Schluss gekommen sind, dass man die Hamas mit konventionellen militärischen Mitteln gar nicht besiegen kann und für jeden Terroristen, den man getötet hat, zehn neue aus dem Boden schiessen, genau so wie 2003 im Krieg der USA gegen den Irak, durch welchen nur noch zusätzliche, extremere Terrormilizen entstanden und sich die ursprüngliche Absicht der USA, den Terrorismus zu bekämpfen, nachgerade in ihr Gegenteil verkehrte. „Die soziale Misere und Perspektivlosigkeit im Gazastreifen“, so Mauro Mantovani, Sicherheitsexperte und Historiker an der ETH Zürich im „Tagesanzeiger“ vom 2. November 2023, „hält die radikale Ideologie am Leben und damit auch die Hamas an der Macht. Sie ist die alleinige politische Vertretung, nimmt neben dem bewaffneten Kampf auch soziale und religiöse Funktionen wahr und ist so mit der Bevölkerung untrennbar verbunden.“

Eine neue Sprache. Ein neues Denken. Man stelle sich vor: Israel hätte sich am 8. Oktober 2023 geweigert, an der Spirale gegenseitiger Gewalt weiterzudrehen, hätte eine moralisch überlegenere Position eingenommen, sich für immer zu einer gewaltfreien Konfliktlösung bekannt und auf den Angriff der Hamas mit einem umfassenden Friedensangebot reagiert. Die ganze Welt hätte ihren Augen und ihren Ohren nicht getraut. Alle Länder, die heute gegen Israel sind, hätten Israel zugejubelt. Tausende von Menschen, die sinnlos gestorben sind, wären jetzt noch am Leben. Es ist eben nicht so, wie Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in Bern, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 4. November sagte, nämlich, dass Israel, wenn es durch die Einwilligung in einen Waffenstillstände „Schwäche“ zeige, dadurch Gefahr laufen würde, „nicht zu überleben“. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es gibt letztlich nichts zwischen dem Krieg und dem Frieden. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ Und der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel sagte schon vor 2200 Jahren: „Die beste Rache ist anders zu sein als dein Feind.“ Müssen wir noch einmal 2200 Jahre lang warten, bis wir das verstanden haben?

Zürich am 2. November 2023: Tausend Stunden für den Frieden

2. November 2023, 18 Uhr, Bürkliplatz Zürich. Die GSoA, die Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, Amnesty International Schweiz sowie mehrere weitere Organisationen haben zu einer Friedenskundgebung für den Nahen Osten aufgerufen. Rund tausend Menschen sind dem Aufruf gefolgt. Peace-Fahnen, Kerzen, Musik, aus der immer wieder die Wörter „Shalom“ und „Peace“ herauszuhören sind. Man spürt förmlich die tiefe Betroffenheit der Anwesenden, es wird nur wenig geredet, alle tragen in sich die unfassbaren Bilder der letzten Tage, all dieses Unaussprechliche. Dann zwei Texte, einer aus palästinensischer, der andere aus israelischer Sicht. In beiden Texten, vorgetragen in Deutsch und Englisch: Das gleiche Leiden, die gleichen Ängste, fast genau die gleichen Worte, die gleiche Sehnsucht nach einem baldmöglichsten Ende der Gewalt, die gleiche Hoffnung auf eine neue Zeit, in der zwei Völker, die sich gegenseitig über Jahrzehnte das Leben so schwergemacht haben, endlich miteinander in Frieden, Sicherheit und gegenseitigem Respekt leben könnten. Dann eine Schweigeminute, im Gedenken an all die Opfer auf beiden Seiten, die bisher schon getötet, verschleppt, verwundet oder in die Flucht geschlagen wurden. Mein Blick schweift über den Platz, dann hinüber zur Strasse, auf der sich Autos, Trams und Busse vom Bellevue her zur anderen Seeseite bewegen. Und seltsam: Obwohl in nicht allzu grosser Distanz, ist vom ganzen dichten Abendverkehr kaum etwas zu hören, fast gespenstisch lautlos gleitet im Hintergrund alles vorüber. Als würden sie alle mitschweigen. Als gäbe es für einen kurzen Moment so etwas wie die Hoffnung, die ganze Welt könnte sich in einen Ort des Friedens und der Liebe verwandeln. Und dann, zum Abschluss der Kundgebung, „Imagine“, erstmals gesungen von John Lennon im Jahre 1971 und tragischerweise immer noch aktueller denn je: „Stellt euch vor, es gäbe keine Länder, nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion, stellt euch vor, alle Menschen lebten ihr Leben in Frieden, stellt euch vor, es gäbe keinen Besitz mehr, keinen Grund für Gier oder Hunger, stellt euch vor, alle Menschen teilten sich die ganze Welt, ihr werdet vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige, eines Tages werdet ihr alle diesen Traum mit mir teilen und die ganze Welt wird eins sein.“ Es ist nicht viel und es ist nicht genug, aber es ist auch nicht wenig: Tausend Menschen sind gekommen, haben sich für eine Stunde aus ihrem gewohnten Alltag, aus Terminen und Verpflichtungen aller Art ausgeklinkt und diese Stunde dem Frieden geschenkt. Tausend mal eine Stunde. Tausend Stunden für den Frieden.

Das Licht der Kerzen, die Hoffnung auf eine neue Zeit brennt in mir weiter, während ich mich auf den Nachhauseweg begebe. Aufgeregt drehe ich den Fernseher an, die Nachrichtensendung „Zehn vor zehn“. Da muss doch darüber berichtet werden, das darf doch nicht einfach im Nichts verhallen. Tausend Menschen, Palästinenserinnen und Palästinenser, Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Atheistinnen und Atheisten, Seite an Seite, ohne Hass, nur in tiefer Traurigkeit miteinander verbunden im Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich ist, eine Welt, von der alle hier auf dem Platz während dieser Stunde der Nachdenklichkeit so viel gespürt haben. Doch über nichts von alledem wird im Fernsehen berichtet. Es war wohl alles viel zu wenig spektakulär. Stattdessen ein ausführlicher Bericht über eine vom deutschen Vizekanzler Robert Habeck gehaltene Rede an sein Land, in welcher er eindringlich vor einem weltweit wachsenden Antisemitismus gewarnt hat. Dazu eingeblendet Bilder von propalästinensischen Demonstrationen, versehen mit dem Kommentar, hier zeige sich der Hass gegen Jüdinnen und Juden in ganz besonders beängstigendem Ausmass – obwohl auf den Plakaten, die im Vordergrund zu sehen sind, einzig die Botschaften „Free Palestine“ und „Stop Genocide“ zu lesen sind, und auch die so bedrohlich aussehenden Rauchschwaden im Hintergrund längst kein Beweis für Judenfeindlichkeit sein müssen. Dann, so Habeck, der unverzeihliche „Angriff auf eine Synagoge mit Molotowcocktails“ und das ebenso „unverzeihliche Verbrennen israelischer Flaggen“ – wobei das alles in vielen Fällen auch Einzeltäter gewesen sein könnten und dennoch der Eindruck entsteht, dies alles sei typisch für eine überwiegende Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser. Solche Beispiele aufzuzählen ist ja nicht grundsätzlich falsch, wenn auch medial extrem zugespitzt und in der Verallgemeinerung fragwürdig. Und ohne Frage hat Habeck Recht, wenn er Antisemitismus in aller Entschiedenheit verurteilt. Nur ist das alles bloss die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte, das ist die Gewalt, die dem palästinensischen Volk durch jahrzehntelange Vertreibung und Landnahme durch Israel angetan worden ist und in diesen Tagen mit der Bombardierung des Gazastreifens so erbarmungslos weitergeht. Die andere Hälfte der Wahrheit ist auch das, was der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu kürzlich sagte, nämlich, dass Israel das „Reich des Lichtes“ sei und Palästina das „Reich der Dunkelheit“. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant sagte, nämlich, dass der Kampf gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser ein Kampf gegen „Tiere“ sei und dementsprechend auch zu führen sei, nämlich, indem diesen „Tieren“ Strom, Gas, Wasser und Nahrungsmittel vorenthalten werden müssten. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Generalmajor Ghassan Alian sagte, nämlich, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser, weil sie die „Hölle“ wollten, diese auch bekommen sollten. Man muss das alles nicht miteinander vergleichen, nichts mit irgendetwas anderem rechtfertigen, nichts beschönigen und nichts entschuldigen. Aber man darf nicht nur die eine Hälfte der Wahrheit erzählen und die andere nicht. Denn dies führt nur dazu, dass die gegenseitigen Ängste, die gegenseitige Wut, die gegenseitigen Feindbilder weiter ins Unermessliche gesteigert werden und der Traum von gemeinsamem Frieden in immer weitere Ferne rückt.

Das ist das Verhängnisvolle: Spektakuläre Bilder lassen sich so viel besser verkaufen als stille Botschaften der Liebe. Mit schlechten Nachrichten lässt sich so viel mehr Geld verdienen als mit guten Nachrichten. Eine Botschaft des Hasses kann sich, mit den entsprechenden Bildern, in Sekundenschnelle so viel schneller verbreiten als eine Botschaft der Liebe, die so viel mehr Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Geduld und Zeit erfordert, Zeit, die offensichtlich in einer so schnelllebigen Medienwelt schlicht und einfach nicht mehr vorhanden ist. Wäre an der Friedensdemonstration auf dem Bürkliplatz auch nur ein Einziger der Anwesenden ausgerastet und mit einem Messer auf einen anderen losgegangen, ich bin fast ganz sicher, das hätte am Fernsehen reichlich Platz bekommen und ein einziger Gewaltbereiter hätte mehr mediale Wirkung erlangt als 999 Friedfertige. Die Medien haben eine riesige Mitverantwortung für die Art und Weise, wie sich dieser Konflikt weiterentwickeln wird. Und viel wird davon abhängen, ob sich neben den lauten Stimmen einiger weniger auch die leisen Stimmen der vielen anderen Gehör verschaffen werden. Denn das, was auf dem Bürkliplatz an diesem Donnerstagabend geschah, kann nur der Anfang sein von etwas viel Grösserem. Bis immer mehr Menschen erkennen, dass es so viel mehr gibt, was sie miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Bis wir alle wieder so werden wie die Kinder hüben und drüben aller Grenzen, miteinander verbunden in tiefster Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Bis die Liebe den Hass überwunden hat.