Hintergrundinformationen des Ukrainekonflikts

1991: Zusammenbruch der Sowjetunion, Russland anerkennt staatliche Souveränität der Ukraine. Russland erklärt, eine Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands würde die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigen. Führende westliche Politiker wie US-Präsident Bush, US-Aussenminister Jim Baker, der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Aussenminister Genscher versichern Russland, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Zu diesem Zeitpunkt gehören folgende europäische Länder zur NATO: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Griechenland, Italien, Island, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien und Türkei.

1997: Russisch-ukrainischer Freundschaftsvertrag: gegenseitige Anerkennung der Grenzen.

1999: NATO-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.

2001: Putin schlägt eine „gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur“ unter Einbezug Russlands vor. Diese und weitere Vorstösse Putins in gleicher Richtung werden vom Westen abgelehnt.

2004: NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

2008: NATO stellt der Ukraine und Georgien eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht.

2009: NATO-Beitritt von Albanien und Kroatien.

2010: Putin schlägt die Schaffung einer Freihandelszone und eine gemeinsame Industriepolitik mit der EU vor. Er plädiert für eine „harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok“.

Herbst 2013    Die ukrainische Regierung unter Wiktor Janukowytsch kündigt an, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu verschieben. Dies löst Massenproteste für eine stärkere europäische Integration aus. Janukowytsch flieht nach Charkiw. Russland vertritt bis heute die Ansicht, dass Janukowytschs Absetzung verfassungswidrig erfolgt sei.

März 2014: Russland annektiert völkerrechtswidrig die Krim. Westliche Medien beschuldigen Russland, durch Unruhen den mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine destabilisieren zu wollen.

2014: Wachsende prorussische wie auch proukrainische Demonstrationen in der Ost- und Südukraine. Die prorussischen Demonstranten verlangen nicht den Anschluss an Russland, sondern mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung, nur eine Minderheit der Bevölkerung befürwortet einen Anschluss an Russland. Zunehmende Überlagerung der geopolitischen Interessen Russlands mit denen der EU und der USA. Die Spannungen zwischen ukrainischen Truppen und den von Russland unterstützten Separatisten nehmen zu. Putin fordert die Separatisten auf, ein geplantes Referendum zu verschieben, um die „Bedingungen für einen Dialog zu schaffen.“ Auch die ukrainische Regierung erklärt ihre Bereitschaft zum Dialog.

Sept. 2014: Unterzeichnung des Protokolls von Minsk: Einfrierung der Front unter Aufsicht der OSZE. Dennoch gehen die gewalttätigen Auseinandersetzungen weiter.

Februar 2015: Minsk II. Erneuerung von Minsk I. Dennoch wird der vereinbarte Waffenstillstand von beiden Seiten immer wieder durchbrochen. Schwere Kämpfe mit insgesamt rund 14‘000 Todesopfern zwischen 2014 und 2012. Auf der Seite der Ukraine sind auch nationalsozialistisch ausgerichtete Verbände im Einsatz, unter anderem die berüchtigte Asow-Brigade.

2017: NATO-Beitritt von Montenegro.

2020: NATO-Beitritt von Nordmazedonien.

Januar 2021: 4000 Militärs aus NATO-Staaten nehmen die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf. Russland zieht rund 80‘000 Soldaten sowie schwere Waffen an der ukrainischen Grenze zusammen.

Dez. 2021: Russland legt der NATO und den USA einen Forderungskatalog zur friedlichen Beilegung des Konflikts vor: Kein NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens, keine Stationierung von NATO-Truppen entlang der russischen Grenze, keine Stationierung weitreichender Raketen in europäischen Staaten, Rückzug aller seit 1997 in Europa stationierten NATO-Truppen. USA und NATO lehnen die russischen Forderungen ab.

24. Febr. 2022: Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Zitate zum Ukrainekonflikt

„Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ (George F. Kennan, US-Historiker, 1997)

„Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.“ (Joe Biden, US-Senator und späterer US-Präsident, 1997)

„Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“ (Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin, 2008)

„Russland wollte in die NATO, aber die Amerikaner waren dagegen. Russland wollte auch in die EU. Das waren verpasste Chancen. Das Interesse Russlands an Europa war aufrichtig, da bin ich sicher.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland).

„Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ (Roland Popp, Militärakademie ETH Zürich)

„Vielleicht war es die NATO, die vor Russlands Tor bellt, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich kann nicht sagen, ob seine Wut provoziert wurde, aber ich vermute, dass die Haltung des Westens sehr dazu beigetragen hat. Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands.“ (Papst Franziskus, am 3. Mai 2022, in einem Interview mit dem Corriere della sera)

„Wir haben Russland mit Raketen und Militärbasen umzingelt, was wir niemals tolerieren würden, wenn sie es mit uns genauso machen würden.“ (Robert F. Kennedy Jr., US-Präsidentschaftskandidat 2024)

„Um Amerikas Vorrangstellung in Eurasien zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.“ (Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981)

„Die Sowjetunion hat nun mal dem kalten Krieg verloren und mit dieser Niederlage muss Russland nun leben.“ (Markus Somm, NZZ-Standpunkte, 5. März.2022)

„Es geht um eine grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung. Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen.“ ​(US-Präsident Joe Biden, 26.3.2022)

„Wir sind uns der enormen Menge an Waffen, Munition und Materialien, die wir der Ukraine bereits zur Verfügung gestellt haben, bewusst, aber wir müssen noch mehr tun.“ (Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär)

„Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen. Dafür wurde sie entwickelt. Deshalb haben die Russen sie angegriffen.“ (Douglas MacGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater und pensionierter US-Colonel)

„Die Sanktionen werden Russland ruinieren.“ (Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin)

„Wirtschaftliche Sanktionen haben noch nie zu einer Änderung der Aussenpolitik geführt. Wenn jemand dieses Ziel hatte, dann war er wirklich naiv.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland)

„Die Unterstützung des Westens für die Ukraine ist nichts anderes als ein Versuch, das kapitalistische System vor dem Einsturz zu bewahren.“ (Benedikt Loderer, Bieler Stadtpräsident)

„Bitte vergesst nicht, dass Russland nicht Putin ist. Viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem Krieg zu tun haben. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland nicht zu eurem Feind.“ (Katharina, Übersetzerin in Moskau)

„Die Russen sind Schweine, Hunde, Verbrecher, Tiere, Unrat und Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten, und die deshalb in der Hölle brennen sollen.“ (Der mit dem Friedenspreis 2022 des deutschen Buchhandels ausgezeichnete ukrainische Autor Serhij Zhadan, in seinem neuesten Buch „Himmel über Charkiw“)

„Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.“ (Vlad Omelyan, Minister für Infrastruktur der Ukraine)

„Die Russinnen und Russen sind ein wunderbares Volk, emotionale Menschen mit grossen Herzen.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen in Deutschland keine neue Feindschaft mit den Russen wollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das, was unsere beiden Nationen gemeinsam aufgebaut haben, zerstört wird.“ (Michail Gorbatschow, letzter Generalsekretär der Sowjetunion)

„Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Statt sich der NATO anzunähern, hätte die Ukraine eine neutrale Rolle finden sollen: als Brücke zwischen Osten und Westen, was sie auch in der Vergangenheit war.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ (Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977)

„Jede Friedenslösung muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.“ (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“ (Erich Vad, deutscher Brigadegeneral a.D.)

„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ (Willy Brandt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler, anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises)

„Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.“ (Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler 1974-1982)

„Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“ (US-Präsident John F. Kennedy)

„Pazifismus ist aus der Zeit gefallen.“ (Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 1. Mai 2022)

„Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg senden müssen, so wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg senden, und diese werden kämpfen und werden sterben müssen.“ (Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine)

„Ich bin nicht bereit, für die Ukraine zu sterben, ich bin bereit, für die Ukraine zu leben. Das ist viel schwieriger, als nur zu sterben.“ (Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew)

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ (Erich Maria Remarque, deutscher Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs)

„Ich befürchte, die Welt schlafwandelt in einen grösseren Krieg hinein. Und ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“ (Antonio Guterres, UNO-Generalsekretär)

„Immer mehr Ukrainer befürworten Friedensgespräche mit Russland – das ist ein sehr gefährlicher Trend.“ (Oleksiy Danilov, Chef des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine)

„Manche von Russland besetzte Gebiete wollen möglicherweise gar nicht Teil der Ukraine sein. Würde die Ukraine sie zurückerobern, liefe es vielleicht auf eine Besatzung gegen den Willen der dortigen Bevölkerung hinaus.“ (Sir Richard Barrow, ehemaliger britischer General, in der NZZ am Sonntag, 11. März 2023)

„Ich sah Erniedrigungen russischer Gefangener, Folter, Messerstiche, man liess sie um ihr Leben betteln. Einmal sah ich, wie man mit drei Gefangenen in den Wald ging, und hörte wenig später drei Schüsse.“ (Jonas Kratzenberger, deutscher Freiwilligenkämpfer in der Ukraine, in der NZZ am Sonntag, 11. Juni 2023)

“Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs auf sich geladen. Russland ist der Täter, der Westen der Verursacher.“ (Budapester Zeitung, 7. April 2023)

„Selten gab es einen Krieg, bei dem die Rollen von Gut und Böse so eindeutig verteilt waren wie beim Überfall Russlands auf die Ukraine.“ (Fabian Hock, Tagblatt, 6.10.23)

SVP-Politik auf dem Buckel unschuldiger Kriegsopfer

Die Schweiz hätte, so die SVP, der UN-Resolution vom 28. Oktober 2023 nicht zustimmen dürfen, weil darin der Angriff der Hamas vom 7. Oktober nicht explizit verurteilt worden sei. Genau gleich äussert sich auch Arye Shalicar, der Sprecher der israelischen Armee, der diese UN-Resolution eine „Schande“ nennt. Dies war in der „Sonntagszeitung“ vom 5. November 2023 zu lesen.

Doch was genau ist der Inhalt dieser Resolution, der 120 von 193 UN-Mitgliedstaaten zugestimmt haben? Sie verurteilt „jegliche Gewalt gegen israelische und palästinensische Zivilpersonen“ (damit also auch den Angriff der Hamas), fordert die „sofortige und bedingungslose Freilassung aller Zivilpersonen“, die „illegal festgehalten“ werden, verlangt „ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen“, eine „sofortige Waffenruhe“ und eine „Einstellung aller Feindseligkeiten“. Hätte die Resolution rechtlich bindenden und nicht nur symbolischen Charakter, wären Tausende von Menschen, die inzwischen den israelischen Bombardierungen zum Opfer gefallen sind, heute noch am Leben. Wie kommt die SVP auf die absurde Idee, die Schweiz hätte dieser Resolution nicht zustimmen sollen?

Die „Schande“ ist nicht das Abstimmungsverhalten der Schweiz. Die Schande ist vielmehr, dass die SVP unbesehen die israelische Kriegsrhetorik übernimmt, nun zu alledem auch noch Ignazio Cassis mangelnde Führungsstärke vorwirft und sogar seine Abberufung als Aussenminister fordert, obwohl man ihm, statt ihn zu verurteilen, doch eigentlich für seinen Mut und seine Weitsicht dankbar sein müsste.

Überaus einseitige Berichterstattung in der Sonntagszeitung vom 5. November 2023

Ganze zwei Seiten, die prominenten und meist gelesenen Seiten zwei und drei, stellt die schweizerische „Sonntagszeitung“ vom 5. November 2023 Arye Shalicar, dem Sprecher der israelischen Armee, zur Verfügung, um seine völlig einseitige Sicht der Dinge auszubreiten. Shalicar sagt unter anderem, im Gegensatz zu Terroristen hätte sich die israelische Armee ans Kriegsrecht zu halten, und verliert kein Wort darüber, dass schon fast 10’000 Zivilpersonen, darunter ein grosser Teil Kinder, durch die israelischen Bombardierungen ums Leben gekommen sind und auch bereits mehrmals Spitäler, Flüchtlingslager, Schulen, Moscheen und Ambulanzen von Bombardierungen betroffen waren. Weiter behauptet Shalicar, Israel hätte kein Interesse, dass Zivilisten Opfer werden, und hätte deshalb die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens aufgefordert, in den Süden zu gehen, verschweigt aber, dass auch dort die Bombardierungen unvermindert weitergehen. An Zynismus nicht mehr zu übertreffen ist es, wenn Shalicar den Einsturz ganzer Wohngebäude nicht auf die Bombardierungen durch Israel zurückführt, sondern darauf, dass die betroffenen Quartier durch die Hamas untertunnelt worden seien. Schliesslich drückt Shalicar seine Zweifel an einem Schweizer Vermittlungsversuch in diesem Konflikt aus, vermutlich, weil es da aus seiner Sicht sowieso nichts zu vermitteln gibt.

Was hat die Redaktion der „Sonntagszeitung“ wohl dazu bewogen, einer so einseitigen Darstellung so viel Platz und Gewicht einzuräumen? Und dies ausgerechnet in einer Zeit, da polarisierende Meinungsbildung sowieso schon hoch im Kurs ist und nichts so wichtig wäre wie eine ausgewogene, faire, gegenüber beiden Seiten gleichermassen kritische Berichterstattung.

NZZ am Sonntag: Artikel mit tendenziösem Titel

Unter dem Titel „Die Vermittlerin, die spaltet“ berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 5. November 2023 darüber, dass Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, sowie ein weiterer Vertreter der jüdischen Dachverbände aus dem Vorstand der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS ausgetreten seien. Ihre Begründung: Rifa’at Lenzin, die Präsidentin von IRAS COTIS, sei Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina und dies stelle einen „Vertrauensbruch gegenüber der jüdischen Gemeinschaft“ dar.

Weggefährten und Bekannte von Rifa’at Lenzin, mit denen die Zeitung gesprochen hat, hätten aber ohne Ausnahme betont, dass sie nie mit antisemitischen Äusserungen aufgefallen sei. Im Gegenteil, kompetent setze sie sich stets für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus ein. Lenzin ist auch Mitglied der schweizerischen Kommission gegen Rassismus und wurde von der Universität Bern mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. Dass Lenzin auch Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina ist, gefällt Kreutner offensichtlich nicht, obwohl dies ihr gutes Recht ist, genauso, wie andere Personen Mitglieder der Gesellschaft Schweiz-Israel sind, was ebenfalls ihr gutes Recht ist.

Trotzdem der tendenziöse Titel „Die Vermittlerin, die spaltet“. Nach der Lektüre des Artikels kommt man aber zum Schluss, dass es eher die beiden jüdischen Vertreter sind, welche etwas spalten, nämlich den überparteilichen Dialog, der zurzeit doch wohl noch viel dringender nötig wäre denn je.

Was Brian Keller, der berühmteste Häftling der Schweiz, und der Nahostkonflikt miteinander zu tun haben

Brian Keller alias „Carlos“, laut NZZ vom 10. September 2022 der „berühmteste Häftling der Schweiz“, beschäftigt die Schweizer Öffentlichkeit seit Jahren. Für die einen ist er ein gewalttätiger Querulant, der Justiz und Öffentlichkeit in Atem hält. Für die anderen ist er Opfer der Medien und eines Justizversagens.

Gemäss einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Humanrights“ hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge „zu seinem eigenen Schutz“. Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 stach der 15Jährige nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken, das Opfer überlebte. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer „vorsorglichen Unterbringung“ im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom „Blick“ die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis. Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er musste über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem weiteren folgenschweren Zwischenfall kam: Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft. Am 18. August 2018 wurde er wieder zurück in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt. Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Juli 2019 schlug ein Vollzugsbeamter rechtswidrig auf Brian ein. Nachdem Brian dagegen ziemlich aggressiv reagiert hatte, wurde er am Boden gefesselt. Obwohl sich die Situation deeskalierte, versetzte der Beamte Brian zwei Fusstritte gegen den Körper und einen Faustschlag gegen den Kopf. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Seither zeigt er sich kooperativ, verbringt die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle und arbeitet als Fitnessinstruktor.

Zurzeit wird, wie der „Tagesanzeiger“ vom 1. November 2023 berichtet, der Fall des inzwischen 28jährigen Brian am Bezirksgericht Dielsdorf verhandelt. Philip Stolkin, einer von Brians Anwälten, verficht die Ansicht, dass Brian durchaus das Recht gehabt hätte, sich auch mit Gewalt gegen die dreieinhalb Jahre dauernde Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies zu wehren. Die verheerenden Auswirkungen von Einzelhaft seien seit Jahrzehnten bekannt. Zahlreiche Studien hätten die Folgen aufgezeigt: Stimmungsschwankungen, Gewalt- und andere emotionale Ausbrüche, Angstzustände, Depressionen, Denkstörungen, aber auch Herzrasen, Bluthochdruck und Verdauungsschwierigkeiten. Deshalb sei ja auch eine mehr als 15 Tage dauernde Einzelhaft gemäss einer UN-Konvention verboten und sogar als eine Form von „Folter“ definiert. Die seelische und körperliche Unversehrtheit sei das höchste Rechtsgut des Menschen und dieses dürfe er verteidigen. Brian habe keine Wahl gehabt. Deshalb habe er auf die einzige Weise reagiert, die ihm geblieben sei, und hätte verzweifelt versucht, sich die Reize selbst zu verschaffen, die der Mensch zum Leben brauche wie die Luft zum Atmen. Er hätte ständig dagegen angekämpft, dem Wahnsinn anheimzufallen, habe nächtelang unmotiviert gesungen, frühmorgens Selbstgespräche geführt, an Bluthochdruck, Schmerzen und beginnender Fettleibigkeit gelitten. Dass seine Ausbrüche eindeutig auf die Haftsituation zurückzuführen seien, zeige sich auch daran, dass sich Brian im Untersuchungsgefängnis Zürich, wo er nun die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle verbringen könne, kooperativ verhalte. „Brian ist kein Mörder“, sagte auch der Zürcher Oberrichter Christian Prinz schon vor einem Jahr, „er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.“ Und vom südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Staatspräsidenten Nelson Mandela, der selber zur Zeit der Apartheit 30 Jahre im Gefängnis verbrachte, stammen diese Worte: „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält, dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“

Was dies alles mit dem aktuellen Nahostkonflikt zu tun hat? Weit mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man kann nämlich die Situation von Brian Keller, der den grössten Teil seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat, durchaus mit der Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen vergleichen, von denen die meisten bereits seit ihrer Geburt im „grössten Gefängnis der Welt“ verbringen mussten, jeglicher Selbstbestimmung beraubt, ein Leben lang gedemütigt, von bitterer Armut, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Perspektivenlosigkeit betroffen und selbst von derzeitigen Mitgliedern der israelischen Regierung, so etwa dem Verteidigungsminister Yoav Golan, als „Tiere“ bezeichnet, die man deshalb auch als Tiere behandeln und ihnen daher auch Strom, Gas, Essen und Trinken verweigern müsse. Gewalt erzeugt Gegengewalt, diese simple Logik, die Brian Kellers Anwalt ins Feld führt, gilt im Kleinen wie im Grossen. Man kann einem einzelnen Menschen Gewalt antun oder einem ganzen Volk, im Prinzip ist es dasselbe: Früher oder später erzeugt Gewalt stets wieder neue Gewalt, Druck immer mehr Gegendruck, Widerstand immer mehr neuen Widerstand, Hass immer wieder neuen Hass. Man kann weder das Verhalten und die von Brian ausgeübten Delikte angemessen beurteilen, wenn man nicht seine ganze Vorgeschichte kennt. Und ebenso wenig kann man den Überfall von Hamasterroristen vom 7. Oktober 2023 auf jüdische Zivilpersonen angemessen beurteilen, wenn man nicht die ganze Vorgeschichte jahrzehntelanger Verfolgung, Ausgrenzung und Demütigung des palästinensischen Volkes kennt. Es wird zwar immer wieder behauptet, die Hamas sei eine reine brutale Terrororganisation ohne jegliche Menschlichkeit, der es ausschliesslich um ihre eigene Macht ginge und die nichts mit noch so berechtigten Anliegen der Bevölkerung zu tun hätte, einer Bevölkerung, die im Gegenteil ihrerseits vom Hamasregime unterdrückt, diskriminiert und deren oppositionelle Stimmen verfolgt, inhaftiert und gefoltert würden. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Organisation wie die Hamas überhaupt nur auf diesem Boden von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wachsen konnte und sonst auch kaum im Jahre 2006 von der Mehrheit der Gazabevölkerung demokratisch gewählt worden wäre. Hätten die Palästinenserinnen und Palästinenser zu diesem Zeitpunkt in einem mit Israel gleichberechtigen eigenen, autonomen und demokratischen Staat in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben können, dann hätte es so etwas wie die Hamas niemals gegeben. Ganz abgesehen davon, dass sich der israelische Ministerpräsident Netanyahu noch 2019 dafür aussprach, die Hamas ideell und finanziell zu unterstützen, um auf diese Weise die extremeren und weniger extremen Palästinenserorganisation auseinanderzuspalten und damit zu schwächen.

Doch genau an dieser Stelle kommt stets der Vorwurf, wer Gewalttaten wie den Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung zu erklären versuche, würde diese somit rechtfertigen bzw. die Schuld jemand anderem zuschieben. Das ist ein höchst verhängnisvoller Fehlschluss und würde ja bedeuten, dass man bei keinem Gewaltakt jemals einen Blick in die Vorgeschichte werfen dürfte, um herausfinden, wie es möglicherweise zu diesem Gewaltakt gekommen sein konnte. Nein, erklären ist ganz und gar nicht das Gleiche wie rechtfertigen. Glücklicherweise hat unsere Sprache hierfür auch ganz unterschiedliche Wörter, nur sollte dieser Unterschiedlichkeit auch in noch so aufgeladenen, polarisierten Diskussionen Rechnung getragen werden. Wer etwas zu erklären versucht, ist weit davon entfernt, es zu rechtfertigen. Das Erklären aber kann dazu führen, dass man besser verstehen kann, wie und wodurch es zu Verhaltensweisen oder Taten kommen kann, die irgendwann höchst zerstörerische Formen annehmen können. Deshalb ist das Erklären so wichtig. Nur durch das Erklären können wir aus der Geschichte lernen und uns davor hüten, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wer dagegen das Erklären mit dem Rechtfertigen gleichsetzt, erstickt damit jede differenzierte Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und verpasst denen, die es versuchen möchten, gleich von Anfang an einen moralischen Maulkorb.

In der Diskussionssendung „Club“ vom 31. Oktober am Schweizer Fernsehen versuchte Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, die Bombardierungen von Spitälern, Universitäten, Moscheen, Flüchtlingslagern und Ambulanzen durch die israelische Luftwaffe damit zu rechtfertigen, dass sich an diesen Orten Hamaskämpfer versteckt haben könnten, und sich somit zivile Ziele in „sogenannt militärische Ziele verwandeln“ können. „Ich weiss“, sagte Diggelmann, „das ist eine fürchterliche Sprache, aber es ist die einzige, die wir haben.“ Müsste er als „Völkerrechtler“ daraus nicht einen ganz anderen Schluss ziehen? Wenn wir tatsächlich keine andere Sprache haben, dann ist es doch spätestens jetzt, im Anblick dieses unvorstellbaren Leidens, allerhöchste Zeit, eine solche neue Sprache zu erlernen. Dies umso mehr, als selbst traditionell denkende Militärexperten schon längst zum Schluss gekommen sind, dass man die Hamas mit konventionellen militärischen Mitteln gar nicht besiegen kann und für jeden Terroristen, den man getötet hat, zehn neue aus dem Boden schiessen, genau so wie 2003 im Krieg der USA gegen den Irak, durch welchen nur noch zusätzliche, extremere Terrormilizen entstanden und sich die ursprüngliche Absicht der USA, den Terrorismus zu bekämpfen, nachgerade in ihr Gegenteil verkehrte. „Die soziale Misere und Perspektivlosigkeit im Gazastreifen“, so Mauro Mantovani, Sicherheitsexperte und Historiker an der ETH Zürich im „Tagesanzeiger“ vom 2. November 2023, „hält die radikale Ideologie am Leben und damit auch die Hamas an der Macht. Sie ist die alleinige politische Vertretung, nimmt neben dem bewaffneten Kampf auch soziale und religiöse Funktionen wahr und ist so mit der Bevölkerung untrennbar verbunden.“

Eine neue Sprache. Ein neues Denken. Man stelle sich vor: Israel hätte sich am 8. Oktober 2023 geweigert, an der Spirale gegenseitiger Gewalt weiterzudrehen, hätte eine moralisch überlegenere Position eingenommen, sich für immer zu einer gewaltfreien Konfliktlösung bekannt und auf den Angriff der Hamas mit einem umfassenden Friedensangebot reagiert. Die ganze Welt hätte ihren Augen und ihren Ohren nicht getraut. Alle Länder, die heute gegen Israel sind, hätten Israel zugejubelt. Tausende von Menschen, die sinnlos gestorben sind, wären jetzt noch am Leben. Es ist eben nicht so, wie Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in Bern, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 4. November sagte, nämlich, dass Israel, wenn es durch die Einwilligung in einen Waffenstillstände „Schwäche“ zeige, dadurch Gefahr laufen würde, „nicht zu überleben“. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es gibt letztlich nichts zwischen dem Krieg und dem Frieden. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ Und der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel sagte schon vor 2200 Jahren: „Die beste Rache ist anders zu sein als dein Feind.“ Müssen wir noch einmal 2200 Jahre lang warten, bis wir das verstanden haben?

Zürich am 2. November 2023: Tausend Stunden für den Frieden

2. November 2023, 18 Uhr, Bürkliplatz Zürich. Die GSoA, die Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, Amnesty International Schweiz sowie mehrere weitere Organisationen haben zu einer Friedenskundgebung für den Nahen Osten aufgerufen. Rund tausend Menschen sind dem Aufruf gefolgt. Peace-Fahnen, Kerzen, Musik, aus der immer wieder die Wörter „Shalom“ und „Peace“ herauszuhören sind. Man spürt förmlich die tiefe Betroffenheit der Anwesenden, es wird nur wenig geredet, alle tragen in sich die unfassbaren Bilder der letzten Tage, all dieses Unaussprechliche. Dann zwei Texte, einer aus palästinensischer, der andere aus israelischer Sicht. In beiden Texten, vorgetragen in Deutsch und Englisch: Das gleiche Leiden, die gleichen Ängste, fast genau die gleichen Worte, die gleiche Sehnsucht nach einem baldmöglichsten Ende der Gewalt, die gleiche Hoffnung auf eine neue Zeit, in der zwei Völker, die sich gegenseitig über Jahrzehnte das Leben so schwergemacht haben, endlich miteinander in Frieden, Sicherheit und gegenseitigem Respekt leben könnten. Dann eine Schweigeminute, im Gedenken an all die Opfer auf beiden Seiten, die bisher schon getötet, verschleppt, verwundet oder in die Flucht geschlagen wurden. Mein Blick schweift über den Platz, dann hinüber zur Strasse, auf der sich Autos, Trams und Busse vom Bellevue her zur anderen Seeseite bewegen. Und seltsam: Obwohl in nicht allzu grosser Distanz, ist vom ganzen dichten Abendverkehr kaum etwas zu hören, fast gespenstisch lautlos gleitet im Hintergrund alles vorüber. Als würden sie alle mitschweigen. Als gäbe es für einen kurzen Moment so etwas wie die Hoffnung, die ganze Welt könnte sich in einen Ort des Friedens und der Liebe verwandeln. Und dann, zum Abschluss der Kundgebung, „Imagine“, erstmals gesungen von John Lennon im Jahre 1971 und tragischerweise immer noch aktueller denn je: „Stellt euch vor, es gäbe keine Länder, nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion, stellt euch vor, alle Menschen lebten ihr Leben in Frieden, stellt euch vor, es gäbe keinen Besitz mehr, keinen Grund für Gier oder Hunger, stellt euch vor, alle Menschen teilten sich die ganze Welt, ihr werdet vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige, eines Tages werdet ihr alle diesen Traum mit mir teilen und die ganze Welt wird eins sein.“ Es ist nicht viel und es ist nicht genug, aber es ist auch nicht wenig: Tausend Menschen sind gekommen, haben sich für eine Stunde aus ihrem gewohnten Alltag, aus Terminen und Verpflichtungen aller Art ausgeklinkt und diese Stunde dem Frieden geschenkt. Tausend mal eine Stunde. Tausend Stunden für den Frieden.

Das Licht der Kerzen, die Hoffnung auf eine neue Zeit brennt in mir weiter, während ich mich auf den Nachhauseweg begebe. Aufgeregt drehe ich den Fernseher an, die Nachrichtensendung „Zehn vor zehn“. Da muss doch darüber berichtet werden, das darf doch nicht einfach im Nichts verhallen. Tausend Menschen, Palästinenserinnen und Palästinenser, Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Atheistinnen und Atheisten, Seite an Seite, ohne Hass, nur in tiefer Traurigkeit miteinander verbunden im Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich ist, eine Welt, von der alle hier auf dem Platz während dieser Stunde der Nachdenklichkeit so viel gespürt haben. Doch über nichts von alledem wird im Fernsehen berichtet. Es war wohl alles viel zu wenig spektakulär. Stattdessen ein ausführlicher Bericht über eine vom deutschen Vizekanzler Robert Habeck gehaltene Rede an sein Land, in welcher er eindringlich vor einem weltweit wachsenden Antisemitismus gewarnt hat. Dazu eingeblendet Bilder von propalästinensischen Demonstrationen, versehen mit dem Kommentar, hier zeige sich der Hass gegen Jüdinnen und Juden in ganz besonders beängstigendem Ausmass – obwohl auf den Plakaten, die im Vordergrund zu sehen sind, einzig die Botschaften „Free Palestine“ und „Stop Genocide“ zu lesen sind, und auch die so bedrohlich aussehenden Rauchschwaden im Hintergrund längst kein Beweis für Judenfeindlichkeit sein müssen. Dann, so Habeck, der unverzeihliche „Angriff auf eine Synagoge mit Molotowcocktails“ und das ebenso „unverzeihliche Verbrennen israelischer Flaggen“ – wobei das alles in vielen Fällen auch Einzeltäter gewesen sein könnten und dennoch der Eindruck entsteht, dies alles sei typisch für eine überwiegende Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser. Solche Beispiele aufzuzählen ist ja nicht grundsätzlich falsch, wenn auch medial extrem zugespitzt und in der Verallgemeinerung fragwürdig. Und ohne Frage hat Habeck Recht, wenn er Antisemitismus in aller Entschiedenheit verurteilt. Nur ist das alles bloss die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte, das ist die Gewalt, die dem palästinensischen Volk durch jahrzehntelange Vertreibung und Landnahme durch Israel angetan worden ist und in diesen Tagen mit der Bombardierung des Gazastreifens so erbarmungslos weitergeht. Die andere Hälfte der Wahrheit ist auch das, was der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu kürzlich sagte, nämlich, dass Israel das „Reich des Lichtes“ sei und Palästina das „Reich der Dunkelheit“. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant sagte, nämlich, dass der Kampf gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser ein Kampf gegen „Tiere“ sei und dementsprechend auch zu führen sei, nämlich, indem diesen „Tieren“ Strom, Gas, Wasser und Nahrungsmittel vorenthalten werden müssten. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Generalmajor Ghassan Alian sagte, nämlich, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser, weil sie die „Hölle“ wollten, diese auch bekommen sollten. Man muss das alles nicht miteinander vergleichen, nichts mit irgendetwas anderem rechtfertigen, nichts beschönigen und nichts entschuldigen. Aber man darf nicht nur die eine Hälfte der Wahrheit erzählen und die andere nicht. Denn dies führt nur dazu, dass die gegenseitigen Ängste, die gegenseitige Wut, die gegenseitigen Feindbilder weiter ins Unermessliche gesteigert werden und der Traum von gemeinsamem Frieden in immer weitere Ferne rückt.

Das ist das Verhängnisvolle: Spektakuläre Bilder lassen sich so viel besser verkaufen als stille Botschaften der Liebe. Mit schlechten Nachrichten lässt sich so viel mehr Geld verdienen als mit guten Nachrichten. Eine Botschaft des Hasses kann sich, mit den entsprechenden Bildern, in Sekundenschnelle so viel schneller verbreiten als eine Botschaft der Liebe, die so viel mehr Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Geduld und Zeit erfordert, Zeit, die offensichtlich in einer so schnelllebigen Medienwelt schlicht und einfach nicht mehr vorhanden ist. Wäre an der Friedensdemonstration auf dem Bürkliplatz auch nur ein Einziger der Anwesenden ausgerastet und mit einem Messer auf einen anderen losgegangen, ich bin fast ganz sicher, das hätte am Fernsehen reichlich Platz bekommen und ein einziger Gewaltbereiter hätte mehr mediale Wirkung erlangt als 999 Friedfertige. Die Medien haben eine riesige Mitverantwortung für die Art und Weise, wie sich dieser Konflikt weiterentwickeln wird. Und viel wird davon abhängen, ob sich neben den lauten Stimmen einiger weniger auch die leisen Stimmen der vielen anderen Gehör verschaffen werden. Denn das, was auf dem Bürkliplatz an diesem Donnerstagabend geschah, kann nur der Anfang sein von etwas viel Grösserem. Bis immer mehr Menschen erkennen, dass es so viel mehr gibt, was sie miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Bis wir alle wieder so werden wie die Kinder hüben und drüben aller Grenzen, miteinander verbunden in tiefster Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Bis die Liebe den Hass überwunden hat.

Geld wäre genug vorhanden

Wie im „Tagblatt“ vom 31. Oktober zu erfahren ist, sind über 15 Prozent der Bevölkerung des Kantons St. Gallen von Armut betroffen bzw. armutsgefährdet. Die Caritas St. Gallen-Appenzell befürchtet, dass diese Zahl künftig noch deutlich steigen wird und spricht von einer „sozialpolitischen Zeitbombe“. Eine deutliche Verbesserung brächte die Einführung von Familienergänzungsleistungen. Doch bereits winkt die St. Galler Regierung ab und hält in einem Communiqué fest, dass sie die Einführung von Familienergänzungsleistungen „aus finanzpolitischen Gründen nicht als angezeigt“ erachte.

Dabei wäre, wenn man die Schweiz als Ganzes betrachtet, mehr als genug Geld vorhanden. Dazu einige Zahlen: Die 300 Reichsten verfügten im Jahre 2022 über ein – von Jahr zu Jahr weiter wachsendes – Gesamtvermögen von sage und schreibe 820 Milliarden Franken, was der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz entspricht und beinahe dem jährlichen Militärbudget der USA, der mit Abstand grössten Militärmacht der Welt. 88 Milliarden Franken wurden im Jahre 2022 steuerfrei weitervererbt, das ist fast doppelt so viel, wie jährlich insgesamt an AHV-Renten ausbezahlt wird. Im Pharmakonzern Roche beträgt der höchste Lohn das 307fache des niedrigsten. Und in einzelnen Grosskonzernen verdienen CEOs bis zu 10‘000 Franken pro Stunde, während sich Arbeitgeberorganisationen schon gegen die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen im Bereich von 20 bis 22 Franken mit Händen und Füssen wehren. „Die Behauptung, es gäbe kein Geld, um die Armut zu beseitigen“, sagte der bekannte deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist eine Lüge. Wir haben Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.“ Fazit: Um die Armut wirksam zu bekämpfen, müsste man vor allem den Reichtum bekämpfen. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Drei Wochen nach den schweizerischen Parlamentswahlen: Ein selbstkritischer Blick zurück

Überfüllte Züge, Verkehrsstaus, Wohnungsnot, Gewalt auf dem Pausenplatz, überforderte Lehrkräfte, Konkurrenzdruck im Job, englischsprachige Bedienung im Strassencafé, Stromknappheit, zubetonierte Natur und Strassenlärm als Folgen einer „masslosen“ Zuwanderung; das unaufhörlich an die Wand gemalte Schreckgespenst einer „10-Millionen-Schweiz“; Vergewaltigungen, Mordfälle, Drogenhandel, Einbruchdiebstähle und Messerstechereien als angeblich typische von Ausländern begangene Delikte und die mantramässig wiederholte Behauptung, es kämen zu viele Menschen aus dem Ausland in die Schweiz, vor allem aber die „falschen“: Die Rechnung ist aufgegangen. Mit einem fast ausschliesslich auf Angstmacherei und das Schüren von Feindbildern ausgerichteten Wahlkampf ist die SVP in den Parlamentswahlen 2023 zur unbestrittenen Wahlsiegerin geworden, mit einem Wähleranteil von 27,9 Prozent, um 2,3 Prozent oder 100‘000 Stimmen mehr als vor vier Jahren, mit dem zweitbesten Resultat ihrer Geschichte und einem Gewinn von zusätzlichen neun Sitzen im Nationalrat uneinholbar weit vor allen anderen Parteien.

Dabei wäre es doch gar nicht so schwierig gewesen, die zahlreichen Widersprüchlichkeiten der SVP-Wahlkampagne aufzudecken. Nur schon das Bild, Ausländerkriminalität sei allgegenwärtig und nähme laufend weiter zu. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall: Gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik nimmt die Anzahl von Ausländerinnen und Ausländern, die eines Delikts beschuldigt werden, seit zehn Jahren kontinuierlich ab. Besonders fies, geradezu doppelbödig auch die Unterstellung der SVP, alle anderen seien an der massiven Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern schuld, nur nicht sie selber. Dabei ist es doch gerade die SVP, welche sich stets für tiefere Unternehmenssteuern ausgesprochen hat, was logischerweise zu vermehrtem Zuzug ausländischer Firmen führt, die wiederum zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland benötigen. Überhaupt ist ja eigentlich der ungebrochene Glaube an ein endloses Wirtschaftswachstum die Hauptursache der Zuwanderung, doch war von Seiten der SVP noch nie die Forderung zu hören, eine solche Wirtschaftspolitik sei grundsätzlich in Frage zu stellen. Die SVP spricht ja auch stets davon, dass unser Wohlstand erhalten bleiben oder sogar noch gesteigert werden solle, blendet aber aus, dass dieser Wohlstand ohne Hunderttausende von ausländischen Arbeitskräften in den Fabriken, den Spitälern, der Gastronomie, auf dem Bau und in der Landwirtschaft von einem Tag auf den andern wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde.

Ebenso widersprüchlich ist die SVP-Politik in Bezug auf das Flüchtlings- und Asylwesen. Kein Mensch würde freiwillig seine Heimat verlassen, wenn er dort in materieller Sicherheit und in Frieden leben könnte. Menschen verlassen ihre Heimat nur, wenn sie dort keine Existenzgrundlage mehr haben. Das wirksamste Mittel, um Migration zu reduzieren, würde daher darin bestehen, durch fairere Handelsbeziehungen, Unterstützung von Entwicklungsprojekten und vor allem auch durch Klimaschutzmassnahmen die Verhältnisse in diesen Ländern so nachhaltig zu verbessern, dass kein Mensch mehr gezwungen wäre, sein Heimatland zu verlassen. Doch ausgerechnet die SVP wehrt sich am allermeisten gegen alle diese Bemühungen für eine wirkungsvolle Ursachenbekämpfung und befürwortet sogar die Reduktion von Entwicklungshilfegeldern, obwohl bereits heute aufgrund von Angaben der Entwicklungsorganisation Oxfam die Schweiz im Handel mit Entwicklungsländern einen 50 Mal höheren Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückerstattet. Doch gründlicheres Nachdenken, kritisches Hinterfragen von schlagwortartigen Wahlversprechen, das Einordnen in komplexere Zusammenhänge, das Aufzeigen von Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Problemen – all dies scheint in einem Wahlkampf, in dem möglichst kurzfristiges und spektakuläres Aufbauschen von zusammenhangslosen Einzelinformationen das Feld beherrscht, nur wenig Platz zu haben. Besonders tragisch zeigt sich dies bei den massiven Wahlverlusten der Grünen, und dies, obwohl der drohende Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen für die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen doch eigentlich das Wahlkampfthema Nummer eins sein müsste. Aber es ist eben einfacher, mit dem Finger auf die „bösen“ Klimakleberinnen und Klimakleber zu zeigen, als sich ernsthaft und umfassend mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dies betrifft nicht nur die SVP, sondern den Wahlkampf als Ganzes. Die über 50 Millionen Franken, die für Zeitungsinserate, Werbespots, Flugblätter und Plakate verbuttert wurden, hätte man viel gescheiter dafür investiert, breit und umfassend über die eigentlichen Ursachen all jener Probleme aufzuklären, die uns, nur zu verständlich, gegenwärtig so verunsichern und uns so viel Angst machen.

Man könnte dem allem entgegenhalten, es gäbe ja da noch eine zweite Wahlsiegerin, die SP, die ihren Wähleranteil um 1,5 auf 18,3 Prozent steigern konnte. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das bürgerliche Lager im Parlament weiterhin über eine erdrückende Mehrheit verfügt und die Linke infolge der deutlichen Wahlniederlage der Grünen insgesamt sogar geschwächt worden ist. Darüber hinaus darf man nicht unterschätzen, dass die SVP, die sich ja gerne als die glaubwürdigste und konsequenteste „Volkspartei“ definiert, nun zusätzlich legitimiert durch den Volkswillen, mehr denn je einen Nimbus geniesst, der weit über die Tatsache hinausgeht, dass sie bei den Wahlen so gut abgeschnitten hat. Getragen von diesem Nimbus kann sich die SVP nun weiterhin brüsten, im Gegensatz zu den „falschen“ die „richtigen“ Schweizer Werte zu verkörpern.

Höchste Zeit, einen kritischen Blick auf die Linke zu werfen. Welches müssten die zukünftigen Strategien sein, um die eigene Politik besser „verkaufen“ und noch viel stärker als bisher ein starkes Gegengewicht bilden zu können gegen die Mehrheit des rechten Lagers? Dabei geht es nicht zuletzt um das Grundprinzip der Demokratie. Denn wenn eine einzelne politische Kraft wie die SVP das Feld so sehr beherrscht, dass alle anderen zunehmend an die Wand gedrückt werden, kann das nicht gut herauskommen und es droht alles insgesamt mehr und mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten.  

Erstens müssen wir Linken wahrscheinlich noch viel deutlicher, pointierter und radikaler auftreten als bisher. Vielleicht hatten ja die FDP und die SVP, als sie uns im Wahlkampf 2019 die „Linken und Netten“ nannten, gar nicht so Unrecht. Vielleicht sind wir ja tatsächlich zu nett und zu brav geworden, zu angepasst, zu kompromissbereit, zu weit von unseren ursprünglichen Idealen entfernt, zu sehr selber Teil geworden eines herrschenden kapitalistischen Machtsystems, das wir doch eigentlich viel grundsätzlicher und radikaler hätten bekämpfen wollen. Weshalb überlassen wir den Populismus ausschliesslich den Rechten und üben uns selber so sehr in vornehmer Zurückhaltung? Populismus, abgeleitet vom lateinischen „populus“, das Volk, muss nicht per se etwas Schlechtes sein. Lula da Silva, ein schönes Beispiel für einen Linkspopulisten, wäre wahrscheinlich ohne diese Leidenschaft, die er bei jedem seiner öffentlichen Auftritte zutage legt, nicht zum Präsidenten Brasiliens gewählt geworden. Auch Jacqueline Badran, die bei ihren Auftritten kein Blatt vor den Mund nimmt, ist ein hervorragendes Beispiel für Linkspopulismus und zeigt, dass dies auch in der „biederen“ Schweiz überaus erfolgversprechend sein kann. Schon bei den Wahlen 2019 war sie im Kanton Zürich Panaschierkönigin, das heisst, von allen Kandidatinnen und Kandidaten erhielt sie am meisten Zusatzstimmen, das beste Zeichen für überparteiliche Akzeptanz und Wertschätzung. Und bei den diesjährigen Wahlen war Jacqueline Badran mit 150‘529 Stimmen sogar die bestgewählte Nationalrätin der ganzen Schweiz und liess im Kanton Zürich sämtliche Konkurrenten von der SVP weit hinter sich. Man muss die Menschen eben nicht nur mit dem Kopf ansprechen, sondern vor allem auch mit dem Herzen.

Zweitens müssen wir Linken bestehende Missstände und Ungerechtigkeiten viel deutlicher und schonungsloser als bisher ansprechen, aufdecken und öffentlich bekannt machen. Wir dürfen die Themenbesetzung nicht dem politischen Gegner überlassen, sondern müssen sie selber bestimmen. Slogans wie „Kaufkraft“, „tiefere Krankenkassenprämien“ und „soziale Sicherheit“ genügen nicht, das ist zu wenig. Wir müssen zum Beispiel laut und deutlich anprangern, dass jede zehnte in der Schweiz lebende Person von Armut betroffen ist, während die 300 Reichsten über ein – von Jahr zu Jahr wachsendes – Gesamtvermögen von derzeit über 820 Milliarden Franken verfügen, was der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz entspricht und fast jener Summe, welche die USA, die mit Abstand grösste Militärmacht der Welt, jährlich für ihre Armee ausgeben. Dass 130‘000 Menschen in der Schweiz trotz voller Erwerbsarbeit nicht genug verdienen, um eine Familie ernähren zu können, und dies, obwohl in der schweizerischen Bundesverfassung das Recht auf einen existenzsichernden Lohn festgeschrieben ist. Dass die Unterschiede zwischen dem höchsten und dem tiefsten Lohn in der gleichen Firma – so etwa im Pharmaunternehmens Roche – bis zu 307:1 betragen. Dass einzelne CEOs von Grossunternehmen pro Stunde bis zu 10‘000 Franken verdienen, während sich Arbeitgeberorganisationen gegen die flächendeckende Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nur schon von 20 oder 22 Franken mit Händen und Füssen zur Wehr setzen. Dass weltweit nur gerade in zwei Ländern, nämlich Singapur und Namibia, die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch grösser sind als in der Schweiz. Dass man ohne Übertreibung im Zusammenhang mit der Schweiz von einer sozialen Apartheid in einem der reichsten Länder der Welt sprechen muss, wenn nämlich immer mehr Menschen auf Dinge wie Auswärtsessen in einem Restaurant, Wellnessferien in einem Hotel, Ferienausflüge oder sogar dringend nötige Zahnoperationen verzichten müssen, die für die meisten anderen Menschen ganz selbstverständlich sind. Während im früheren Südafrika an zahllosen Restaurants, Schulen, Spitälern und öffentlichen Verkehrsmitteln Schilder mit der Aufschrift „Nur für Weisse“ angebracht waren, hängen hier und heute in der Schweiz an zahllosen Restaurants, Hotels, Golf- und Tennisplätzen, Vergnügungsparks, Skigebieten, Bergbahnen, Segelyachten, Luxusboutiquen, Weinhandlungen, Theater- und Konzertsälen unsichtbare, doch umso schmerzlichere Schilder mit der Aufschrift „Nur für Reiche“. Wir müssen aber auch darüber sprechen, dass der Kapitalismus nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit die Menschen immer weiter auseinanderspaltet in Reiche und Arme, Mächtige und Machtlose, Privilegierte und Zukurzgekommene, bis hin zu der unfassbaren Tatsache, dass in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel aller Lebensmittel ungebraucht im Müll landen, während weltweit jeden Tag rund 10‘000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.

In diesem Zusammenhang müsste man auch mal die Art und Weise, wie ein Wahlkampf geführt werden soll, kritisch hinterfragen. Hätten nicht Zahlen, Fakten und Zitate betreffend soziale Ungleichheit, abgedruckt auf Werbeplakaten, möglicherweise eine viel stärkere Wirkung als all die unzähligen, sich kaum voneinander unterscheidenden strahlenden Gesichter, die unisono das Blaue vom Himmel und damit Dinge versprechen, die sie, wenn sie einmal gewählt sind, meistens ohnehin nicht einlösen werden? Die SP könnte sich auf diese Weise sogar wirkungsvoll von der Konkurrenz abheben, wenn einzig und allein auf ihren Plakaten solche Textbotschaften zu sehen wären. 

Drittens geht es auch darum, all die Lügen und Widersprüche aufzudecken, die das kapitalistische Machtsystem zusammenhalten. Die Lüge etwa, Armut sei in der Regel selbst verschuldet, die Menschen hätten sich eben nur zu wenig angestrengt, denn jeder sei schliesslich seines eigenen Glückes Schmied. Eine Lüge, die den unsichtbaren, aber unauflöslichen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum permanent verschleiert. Wenn jemand einen höheren Lohn hat als andere, obwohl er nicht härter arbeitet, wenn jemand bloss durch eine Erbschaft reich geworden ist, wenn jemand Geld verdient durch die Beteiligung an einer Firma in Form von Aktien oder Obligationen oder durch Mietzinsen aus Immobilien, welche er besitzt, dann entsteht auf allen diesen Wegen Reichtum nicht aus eigener Arbeit, sondern aus den Arbeitsleistungen, aus den Opfern und aus der Armut anderer. Jeder Franken in der Tasche der Reichen ist der gleiche Franken, der in den Taschen der Armen fehlt. „Wärst du nicht reich“, sagt der arme Mann zum reichen in einer bekannten Parabel von Bertolt Brecht, „dann wäre ich nicht arm.“ Es müsste daher nicht, wie es fälschlicherweise immer heisst, darum gehen, die Armut zu bekämpfen. Bekämpfen muss man nur den Reichtum. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Eine weitere verhängnisvolle Lüge ist jene von der „Freiheit“ und vom Gerede, wir lebten in einer demokratischen und „freien“ Welt. Tatsächlich aber sind Freiheiten, welche nur von einem Teil der Bevölkerung in Anspruch genommen werden können und auf die ein anderer Teil der Bevölkerung verzichten muss, keine echten Freiheiten, sondern bloss Privilegien der einen auf Kosten anderer. Echte Freiheit als elementares Menschenrecht, das uneingeschränkt für alle Menschen garantiert ist, kann es nur geben auf der Basis sozialer Gerechtigkeit.

Viertens geht es, bei aller Kritik am Bestehenden, vor allem auch darum, mit dem Blick auf die Zukunft Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. „Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft.“ Eine andere Welt ist möglich. Ein anderes Wirtschaftssystem ist möglich. Ein Wirtschaftssystem, das sich nicht in erster Linie an den Bedürfnissen des Kapitals und einer sowie schon viel zu reichen Minderheit orientiert, sondern an den Bedürfnissen aller Menschen über sämtliche Grenzen hinweg, an den Bedürfnissen der Natur, der Tiere, der Pflanzen und aller zukünftiger Generationen. Der Kapitalismus kann nicht das einzige mögliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell sein, denn seine ungehinderte Fortführung hätte früher oder später nichts weniger als die Selbstzerstörung der Menschheit zur Folge. Die Linke muss sich wieder viel stärker an ihrem ursprünglichen Ziel einer Überwindung des Kapitalismus orientieren, so wie es immer noch im Parteiprogramm der SP formuliert ist und vor allem von den meisten Jusos glücklicherweise immer noch voller Überzeugung verfochten wird. Denn „im Jugendidealismus“, so der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm hat er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen soll.“ Dass eine radikalere, kapitalismuskritische  Linkspolitik durchaus erfolgversprechend sein könnte, zeigt sich auch darin, dass die schweizerische Sozialdemokratie als eine der am meisten links stehenden europäischen sozialdemokratischen Parteien zugleich jene ist, welche über eines der stärksten Wählerpotenziale verfügt.

Auf dem Weg in die Zukunft darf es keine Tabus und keine Denkverbote geben. Hier müssen wir Linken unbeirrt und mutig voranschreiten. Nie dürfen wir über unseren eigenen Mut erschrecken. Visionen einer anderen Welt können gar nicht genug weit in die Zukunft hinaus gedacht werden, denn auch wenn wir sie nicht heute oder morgen verwirklichen können, so zeigen sie uns doch, gleich einem nie gänzlich zu erreichenden Fixstern, die Richtung, in die wir uns bewegen müssen. Fehlen uns solche Visionen, dann drehen wir uns bloss immer in den gleichen Kreisen. Wir müssen das Unmögliche denken, damit das Mögliche Wirklichkeit werden kann. In einer Zeit, da viele Menschen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, ihre Hoffnung auf eine bessere Welt schon längst aufgegeben, sich von der Politik verabschiedet und sich, oft bis zum Exzess, in eine „heile“ Welt privater Vergnügungen zurückgezogen haben, sind Zukunftsvisionen, die Überzeugung, dass jeder Mensch durch sein Handeln, und seien es nur winzige Schritte, etwas Positives bewirken kann, und der Glaube an das Gute im Menschen wichtiger und dringender denn je. Denn: „Was alle angeht“, so Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“

Wird es gelingen, aus dem Widerstand Kraft zu schöpfen, und werden wir genug konsequent weiterkämpfen, dann hätte der „Sieg“ der SVP am 22. Oktober schliesslich am Ende doch noch sein Gutes gehabt. Die Hoffnung ist berechtigt. Innerhalb von vier Tagen nach dem Wahlsonntag hat die SP über 700 neue Mitglieder gewonnen. Viel Arbeit liegt vor uns. Allen Menschen, die hierzulande und weltweit unter Armut, Ausbeutung und Fremdbestimmung leiden, zuliebe. Den Tieren und den Pflanzen zuliebe. Dem Frieden zuliebe. Unseren Kindern und Kindeskindern zuliebe. Der Demokratie zuliebe.

Vom Hass zur Liebe: Das Einzige, was uns Hoffnung geben kann

In einer Zeit voller Hass, Zerstörung und Kriegen fällt es oft unglaublich schwer, den Glauben an das Gute in den Menschen nicht zu verlieren. Und doch, es ist unsere einzige Hoffnung.

Einen neuen Zugang finden wir möglicherweise dann, wenn wir uns vorzustellen versuchen, dass jeder Mensch, auch der brutalste Hamas-Kämpfer, auch der israelische Aussenminister, der alle Palästinenserinnen und Palästinenser als „Hunde“ bezeichnet, und auch alle anderen weltweiten Kriegstreiber über Jahrhunderte hinweg, dass sie alle im Augenblick ihrer Geburt einmal ein Baby waren. Ein Baby, von dem wohl niemand ernsthaft behaupten könnte, es wäre schon im Augenblick seiner Geburt ein potenzieller Mörder gewesen oder auch nur im Entferntesten den Wunsch in sich getragen hätte, irgendein „fremdes“ Volk auszulöschen. Nein, wenn ein Mensch 20 oder 30 Jahre später zu einem Mörder oder Kriegsverbrecher geworden ist, dann nicht, weil er dafür geboren wurde, sondern, weil er in diesen 20 oder 30 Jahren so viele Schmerzen, so viel Hass, so viel Verachtung, so viel Gewalt und so viele Demütigungen erleiden musste, dass sich seine ursprüngliche Menschenliebe zunehmend in Hass verwandelte. Vielleicht sind sogar die schlimmsten Verbrecher genau jene, die ganz zu Beginn ihres Lebens noch am allermeisten hätten lieben wollen, und deshalb am allermeisten enttäuscht wurden, weil die äusseren Umstände dies zu verhindern vermochten. Ja, vielleicht steckt im Allerinnersten jedes noch so abgrundtiefen Hasses immer noch ein ganz tiefer, verborgener Kern unausgelebter Liebe.

„Der Mensch ist gut und will das Gute, und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte“, sagte der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren. Die „Ärzte“, eine 1982 gegründete deutsche Rockband, singen in einem ihrer bekanntesten Lieder: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“ Und Rutger Bregman schreibt in seinem im Jahre 2020 erschienenen Buch „Im Grunde gut“: „Bereits in der Wiege geben wir dem Guten den Vorzug, es liegt in unserer Natur.“ Man muss sich nur die Biografien von Menschen, die man sich als Inbegriff des „Bösen“ vorstellt, etwas genauer anschauen, um unschwer zu erkennen, wie sehr in aller Regel erlittenes Unrecht genau dazu führt, dass die betroffenen Menschen auch ihrerseits wieder umso grösseres Unrecht begehen. Aktuellstes Beispiel dafür ist Mohammed Deif, Chef des militärischen Arms der Hamas, der, wie der „Tagesanzeiger“ am 16. Oktober 2023 berichtete, hinter dem Angriff vom 7. Oktober auf Israel stecken soll. Im Jahre 2014 bombardierten die Israelis sein Wohnhaus, seine Frau und zwei seiner Kinder fanden den Tod. Kann für einen Menschen, der so etwas erleben musste, das Leben anschliessend einfach ganz normal weitergehen? Auch die Lebensgeschichte von Ahmad Mansour, Deutsch-Israeli mit palästinensischen Wurzeln, zeigt exemplarisch, wie sich eine leidvolle Kindheit und Jugendzeit auf das spätere Leben auswirken kann. „Bei mir“, sagt Mansour im Interview mit der „NZZ am Sonntag“ vom 15. Oktober 2023, „war es die Unzufriedenheit mit dem Leben. In der Schule wurde ich gemobbt, von meiner sehr autoritären Familie fühlte ich mich nicht verstanden. Ich hatte Zukunftsängste und massive Probleme mit meinem Selbstwertgefühl. Der Einzige, der gemerkt hat, dass es mir nicht gut ging, war der Imam. Er zeigte Empathie und versuchte, mir zu helfen. Er war der erste erwachsene Mensch, der ohne Wenn und Aber deutlich machte: Ich sehe dich. So entdeckte ich eine wunderbare Welt und das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und zu einer Gruppe zu gehören, die irgendwann einmal die Welt beherrschen würde und von Gott geliebt wird. So entstand in mir ein enormes Selbstwertgefühl und die Erfahrung von Stärke und Kontrolle.“

Die Geschichte von Ahmad Mansour zeigt nicht nur, dass religiöser Fanatismus aus einem tief empfundenen Mangel an Liebe entstehen kann. Sie zeigt auch, wie sehr eine in unterschiedliche Ideologien, Weltanschauungen und Religionen gespaltene Welt Voraussetzung dafür bilden kann, sich mit einer einzigen dieser Weltanschauungen oder Denkrichtungen so sehr zu identifizieren, dass die Überzeugung, der alleinigen, von Gott vorausbestimmten „Wahrheit“ verpflichtet zu sein, in letzter Konsequenz zu Fanatismus und zu abgrundtiefem Hass gegenüber allen anderen Weltanschauungen, Denkrichtungen und Religionen führen kann. Und damit sind wir wieder beim Kind im Augenblick seiner Geburt. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kind noch Teil einer Ganzheit, die in umfassender Liebe in sich verbunden ist. Erst all die künstlich geschaffenen Grenzen und Mauern zwischen Völkern, Menschen, Ideologien und Religionen führen dazu, dass sich Menschen gegenseitig entfremden und sich die ursprüngliche Liebe nach und nach in Hass gegen Andersdenkende, Andersgläubige oder Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer ethnischer Herkunft verwandeln kann. Demgegenüber malte John Lennon in seinem wunderbaren Lied „Imagine“ das Gegenbild einer Welt, in der alle diese Grenzen aufgehoben wären und die Menschen wieder zu ihrer ursprünglichen Verbundenheit zurückgefunden hätten: „Stell dir vor, es gäbe kein Himmelreich (heaven), keine Hölle unter uns, über uns nur der Himmel (sky), stell dir vor, es gäbe keine Länder, nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion, stell dir vor, alle Menschen leben ihr Leben in Frieden, stell dir vor, es gäbe keinen Besitz mehr, keinen Grund für Gier oder Hunger, stell dir vor, alle Menschen teilen sich die ganze Welt, du wirst vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige, eines Tages wirst auch du einer von uns sein und die ganze Welt wird eins sein.“

Auch Nelson Mandela, Befreiungskämpfer und späterer Präsident Südafrikas, der wegen seiner politischen Haltung während des Apartheidregimes 30 Jahre lang im Gefängnis sass, sagte: „Niemand wird geboren, um einen anderen wegen seiner Hautfarbe, seines Hintergrunds oder seiner Religion zu hassen. Den Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch Liebe.“ Dass dies kein unerfüllbarer Wunschtraum bleiben muss, haben – nebst unzähligen anderen – der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin bewiesen, über deren Lebensgeschichte das „Tagblatt“ vom 21. Oktober 2023 berichtete. Beide hatten im Nahostkonflikt gekämpft und beide hatten eine Tochter verloren. Smadar Elhanan war 13 Jahre alt, als ein Selbstmordattentäter sie mit in den Tod riss. Das war 1997. Im selben Jahr kam nur wenige Kilometer weiter ein palästinensisches Mädchen zur Welt, Abir Aramin. Zehn Jahre später war sie auf dem Schulweg, als ein israelischer Soldat ihr in den Hinterkopf schoss. Die beiden Mädchen lernten sich nie kennen. Doch ihre Väter erinnern sich gemeinsam an sie. Tag für Tag. Im Kampf für den Frieden, im Kampf dafür, dass keine weiteren Kinder im Nahostkonflikt sterben, besuchen sie beide Kriegsparteien, erzählen von ihren Mädchen, von ihrem sinnlosen Tod. Sie wollen aufrütteln und zeigen: Israelis und Palästinenser können aufeinander zugehen, miteinander sprechen, sich befreunden. Bassam Aramin sagt: „Die Hamas wird Israel niemals auslöschen können. Umgekehrt wird es Israel nicht gelingen, die Hamas zu zerschlagen. Den Preis dafür, dass gekämpft statt verhandelt wird, zahlt die Bevölkerung, in Israel wie in Palästina.“ Und Rami Elhanan sagt: „Mir kommt es manchmal vor, als sässe die ganze Welt auf einem Balkon und schaut zu, wie sich die beiden Völker massakrieren. Beide Seiten wetteifern darum, wer das grössere Opfer ist, verweisen auf ihre Wunden und betteln um Unterstützung. Das ist völlig irrsinnig und bringt uns keinen Schritt weiter. Wenn wir gemeinsam eine Schulklasse besuchen, kommt das einem menschlichen Erdbeben gleich. Die meisten Kinder treffen das erste Mal überhaupt auf einen Israeli und einen Palästinenser, die sich nicht bekämpfen, nicht ihren Schmerz vergleichen und nicht ihre Schuld dem anderen zuschieben.“ Und Bassam Aramin ergänzt: „Dann sehen wir, wie sich die Gesichter der Kinder verändern und so schlagen wir jeden Tag ein paar kleine, feine Risse in ihre Mauern des Hasses. Und wir werden damit nicht aufhören, auch wenn wir dafür Hass und Wut ernten. Irgendwer sagte einmal, dass die Verräter von heute die Helden von morgen sind.“

Bassam Aramin und Rami Elhanan beweisen Tag für Tag, dass auch das Gegenteil möglich ist. Dass wir alle wieder kleine Kinder werden können, die noch nichts von Gewalt, Hass und Kriegen wissen. Dass die Zeit nicht stillstehen muss. Dass genau so, wie sich Liebe in Hass verwandeln kann, auch der Hass wieder in Liebe verwandeln kann.

Eklat im UNO-Sicherheitsrat: Höchst tendenziöse Berichterstattung

Ich bin schon sehr erstaunt über den reichlich tendenziösen Kommentar von Christian Zaschka im „Tagesanzeiger“ vom 26. Oktober 2023 zum Eklat im UNO-Sicherheitsrat anlässlich einer Rede von Generalsekretär Antonio Guterres. Zaschka wirft Guterres vor, er hätte den Angriff der Hamas auf Israel nicht genug deutlich verurteilt. Dabei hat Guterres doch genau dies getan, und zwar aufs Schärfste, und dies nicht zum ersten Mal. Weiter findet es Zaschka „unerhört“, dass Guterres sagte, die Angriffe der Hamas hätten nicht „in einem luftleeren Raum“ stattgefunden, und an die „56 Jahre dauernde erdrückende Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel“ erinnerte. Kein einziger seriöser Historiker und keine einzige seriöse Historikerin würden wohl dieser Aussage widersprechen. Gleichwohl schreibt Zaschka, es sei „verständlich“, dass der israelische UNO-Botschafter angesichts der Aussagen von Guterres „vor Entsetzen ausser sich war.“ Offensichtlich bringt Zaschka der Reaktion des israelischen UNO-Botschafters, der sich zweifellos auf dem falschen Fuss erwischt gefühlt hat, mehr Verständnis entgegen als einem UNO-Generalsekretär, der sich seit vielen Jahren mutig, unerschrocken und unermüdlich für den Frieden und die Völkerverständigung einsetzt.