Das Christentum – eine Irrlehre?

Erstmals haben sich ehemalige Schülerinnen und Schüler der evangelikalen Privatschule Domino Servite über die Misshandlungen, die sie während ihrer Zeit bei der evangelischen Gemeinde Hof Oberkirch im sanktgallischen Kaltbrunn über sich ergehen lassen mussten, öffentlich geäussert. Dies hat eine heftige Debatte in den Medien ausgelöst. Zeitgleich ist die öffentliche Auseinandersetzung mit sexuellen Übergriffen durch katholische Priester in vollem Gange, Kirchenaustritte häufen sich. Doch eigentlich müsste man nicht nur über Missstände in der katholischen Kirche, über evangelische Freikirchen, freikirchlich ausgerichtete Schulen und deren Erziehungspraktiken diskutieren. Eigentlich müsste über christliche Erziehungsmethoden, über Religionsunterricht und letztlich über die zentralen Botschaften christlicher Lehre ganz allgemein eine breite und selbstkritische öffentliche Debatte stattfinden.

Aufgewühlt erzählte mir eines Tages die Mutter eines siebenjährigen Mädchens, ihr Kind könne am Abend nicht mehr einschlafen. Der Grund war, dass die Lehrerin im Religionsunterricht den Kindern erzählt hatte, mit jedem bösen Wort und bei jedem bösen Gedanken, den ein Kind habe, würde sich in seinem Herzen ein kleiner schwarzer Fleck bilden. Und darüber sei der liebe Gott traurig, weil so viele Menschen schon ganz schwarze Herzen hätten. Das war nicht in einer Freikirche, sondern im ganz „normalen“ Religionsunterricht an einer öffentlichen Schule. Fortan also würde das Mädchen in beständiger Angst leben vor seinen eigenen Gedanken und seinen eigenen Gefühlen und damit letztlich vor sich selber. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Kind antun kann.

Diese verhängnisvolle, lebensfeindliche Kernbotschaft der christlichen Lehre von der „Erbsünde“: Dass der Mensch sündig geboren werde und nur dadurch erlöst werden könne, dass er sich zur christlichen Religion bekenne und sich Gott, dem „Allmächtigen“, anvertraue. Dabei ist doch gerade das Gegenteil der Fall: Wenn etwas nicht sündig ist, dann ist es das zur Welt gekommene Kind in seiner ganzen Vollkommenheit und Unverdorbenheit. Wenn man etwas als sündig bezeichnen müsste, dann wären es gewiss nicht die Kinder, sondern all jene Erwachsenen, welche anderen Menschen Schaden zufügen, sich auf Kosten anderer bereichern, gegeneinander Kriege führen oder aus reiner Profitgier die natürlichen Lebensgrundlagen und damit die Zukunft ihrer eigenen Kinder und Kindeskinder zerstören. Genau deshalb sagte ja auch Jesus zu den Erwachsenen: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ Nur hat die spätere christliche Kirche als Machtinstrument im Bunde mit den Reichen und Mächtigen ihrer Zeit diese Botschaft genau ins Gegenteil verkehrt und die christliche Lehre dafür missbraucht, den Menschen Angst einzuflössen, sie zu unterjochen und ihnen vorzugaukeln, sie müssten nur möglichst hart arbeiten, nur möglichst gehorsam sein, nur sämtliche Ungerechtigkeiten stillschweigend erdulden, nur möglichst keine dummen Fragen stellen und nur alle Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen oben und unten, zwischen Mann und Frau, zwischen Erwachsenen und Kindern als unveränderbaren Ausdruck einer göttlichen Ordnung akzeptieren – um dann, hätten sie alle diese Leiden auf sich genommen, wenigstens nach ihrem Tode mit dem Zutritt zum Paradies belohnt zu werden.

Wenn die christliche Lehre eine Zukunft haben soll, dann nur, wenn sie zu ihren Ursprüngen zurückkehrt und das oberste, über allen anderen stehende Gebot der Nächstenliebe und der gegenseitigen Verantwortlichkeit und Solidarität praktisch handelnd in die Tat umsetzt, die Menschen befreiend und ihnen Mut machend, mit ihren eigenen besten Kräften die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Alles, was Angst macht, alles, was den Menschen einzureden versucht, sie seien von Natur aus sündige Wesen, alles, was kritisches Denken zu verhindern versucht, alles, was Menschen voneinander abhängig macht, alles, was ihre individuelle Lebensentfaltung und das Grundvertrauen in ihre eigenen Kräfte und Begabungen zu verhindern versucht, muss der Vergangenheit angehören. Das Paradies darf nicht länger als jenseitiges Trostpflaster dienen für auf dieser Erde erlittenes Unrecht. Das Paradies muss hier und heute auf dieser Erde Wirklichkeit werden. Denn wir haben keine andere Erde, alles Übrige ist reine Spekulation.

30. September 2023: Klimademo in Bern

Heute beginnt die Klimademo schon auf dem Hauptbahnhof in Zürich. Der Extrazug um 12.31 Uhr ist bereits zum Bersten voll und immer noch drängen Hunderte in die Wagons. Ein etwa 14Jähriger strahlt übers ganze Gesicht und sagt zu seinem Papa: Wenn dann von allen Seiten so volle Züge nach Bern kommen, wie viele Tausende werden es am Ende wohl sein? Man sieht es den fröhlichen Gesichtern im Zug an, man spürt es förmlich bei den vielen angeregten Gesprächen: Das wird wohl ein ganz besonderer Tag werden…

Und es wird ein ganz besonderer Tag. Als der Zug wegen eines Haltesignals brüsk bremsen muss, entschuldigt sich der offensichtlich gutgelaunte Zugbegleiter über den Lautsprecher und meint ganz spontan, es sei nun mal halt so, „wie es ist“. Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Bern wünscht er allen eine erfolgreiche Demo. Und auch der Lokführer scheint, als er die Menschenmasse in der Nähe des Bahnhofs sieht, ganz begeistert zu sein und lässt zur Begrüssung ein langgedehntes Hornsignal erklingen.

Als ich die versammelte Menge erreiche, hat sich diese bereits dermassen aufgestaut, dass fast eine Stunde verstreicht, bis ein wenig Bewegung in die Reihen der geduldig Wartenden kommt. Später werde ich erfahren, dass die Schlange vom Bollwerk bis zum Bundeshausplatz über 1,3 Kilometer lang war und die Ersten bereits im Ziel eintrafen, bevor die Letzten überhaupt gestartet waren. Auf einmal sind sie alle wieder da, die Leute von den Gewerkschaften, von der SP, von den Grünen, von Greenpeace, vom HEKS, Médecins sans frontières, Jusos, Kommunistinnen und Kommunisten, die Bewegung für den Sozialismus, Amnesty International, der WWF, zahlreiche weitere Umwelt- und Naturschutzorganisationen, Helvetas, der VPOD, der Gewerkschaftsbund, der Verkehrsclub, Caritas, Public Eye, die Alpeninitiative, die Gletscherinitiative, die Kleinbauernvereinigung, die GSoA – über 140 verschiedene Organisationen, die sonst jede für sich und nicht selten auf fast verlorenem Posten kämpfen, jetzt marschieren sie Seite an Seite durch die Berner Innenstadt, was für eine Vielfalt von Flaggen in verschiedensten Farben und mit verschiedensten Symbolen, neben den unzähligen Transparenten bis hin zu winzigen Pappschildern, auf denen Kinder ihre Zukunftsträume einer blühenden Erde voller wundervoller Tiere und Pflanzen aufgemalt haben. Das ist die erste Lektion dieses Tages: Dass man gemeinsam so viel stärker ist, als wenn jeder nur für sich alleine kämpft, und dass alles, was uns verbindet, so viel wichtiger ist und so viel mehr Kraft erzeugt als das, was uns voneinander trennt.

Die zweite Lektion ist, dass man nie aufgeben soll. So viel Resignation hatte sich in den letzten paar Jahren breitgemacht, so viele Träume waren wie Seifenblasen zerplatzt, so viele junge Menschen hatten begonnen, an ihren eigenen Idealen zu verzweifeln, sich immer öfters zu fragen, wozu denn der ganze Aufwand gut sein solle und ob es nicht viel gescheiter wäre, einfach das Leben an jedem einzelnen Tag möglichst zu geniessen, statt stets nur an die Zukunft zu denken und sich alle Lebensfreude zu vermiesen. Ein gefundenes Fressen für all jene, die den Klimawandel immer noch als Hirngespinst abtun, immer noch an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum glauben, immer noch nicht bereit sind, von Machtstreben und rücksichtslosem Profitdenken auf Kosten der Natur und zukünftiger Generationen abzurücken, und mit Genugtuung festgestellt haben, dass die weltweiten Klimastreiks von Mal und Mal weniger Menschen auf die Strassen zu locken vermochten. Und jetzt das. Nicht das Ende, sondern, ganz im Gegenteil, ein neuer Anfang. Auf einmal ist alles wieder da, wie in unseren schönsten Träumen. Und man kann sich nichts sehnlicher wünschen, als dass die Kraft, welche sich diese zehntausenden Menschen heute in Bern gegenseitig geben, so lange wie möglich ausreichen wird, um all die Hindernisse, die noch auf uns zukommen werden, nach und nach zu überwinden. Denn gewiss kommt eine neue Zeit. Aber sie kommt nicht von alleine. Sie braucht, um Wirklichkeit zu werden, jeden und jede Einzelne von uns, so winzig und scheinbar unbedeutend auch die einzelnen Schritte auf unseren täglichen Wegen sein mögen.

Die dritte Lektion ist, dass alles mit allem zusammenhängt. Ein junger Elektrotechniker, Mitglied der Unia und Kommunist, ruft es uns in seiner eindringlichen Rede auf dem Bundeshausplatz in Erinnerung: Das eigentliche Problem ist nicht der Klimawandel. Das eigentliche Problem ist die Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten endloser Profitmaximierung. Der Klimawandel ist nur eine von den zahlreichen zerstörerischen Folgen eines Wirtschaftssystems, das auch in allen anderen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen unaufhörlichen Schaden anrichtet. Ohne Überwindung des Kapitalismus gibt es auch keine Überwindung des Klimawandels. Oder, wie es auf vielen der mitgetragenen Transparente immer wieder zu lesen ist: System Change, not Climate Change.

Die vierte Lektion ist, dass Politik auch anders sein kann. Was für ein Kontrast zwischen dem Feuer und der Leidenschaftlichkeit, mit der junge Menschen Klimastreiks organisieren, moderieren und ihre Statements abgeben, auf der einen Seite – und der Ideen- und Leidenschaftslosigkeit, mit der Politikerinnen und Politiker der traditionellen Art oft jahrelang die immer gleichen Probleme vor sich herschieben, ohne sie wirklich einer Lösung näherzubringen. „Im Jugendidealismus“, sagte der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.“ Darin liegt die eigentliche Chance für unsere Zukunft: Dass diese nicht mehr länger von berechnendem „Vernunftdenken“ Erwachsener gestaltet wird, sondern aus den Träumen und Sehnsüchten nach einer Welt voller Frieden und Gerechtigkeit, die jedes Kind mit seiner Geburt in unsere Wirklichkeit hineinträgt.

Müsste ich dies alles mit einem einzigen Wort zusammenfassen, dann wäre dies die Liebe. Denn Liebe ist nicht nur das, was zwei Menschen miteinander verbinden kann. Liebe ist auch die Liebe zu den Kindern. Die Liebe zu all den Menschen, die in Zukunft noch auf dieser Erde leben werden. Die Liebe zu Tieren und Pflanzen. Die Liebe zur Erde. Die Liebe zur Natur. Die Liebe zu all jenen Menschen, die frieren, hungern, leiden, kein Dach über dem Kopf haben, geschlagen und ausgebeutet werden, nur weil sie zur „falschen“ Zeit am „falschen“ Ort geboren wurden. Und deshalb ist das alles so wichtig: Wir alle, 60’000 Menschen aus allen Ecken und Enden des Landes, sind nicht deshalb hierher gekommen, um dann wieder nachhause zu gehen. Wir sind gekommen, mitten ins Herz der Schweiz, um hier zu bleiben.

Digitale und analoge Welt zusammenführen

Wer, wie ich, immer noch vielerorts mit Bargeld bezahlt, über kein Twintkonto verfügt, seine Bus- und Zugsbillette nach wie vor am Bahnhofsautomaten löst, zuhause noch ein Festnetztelefon hat, sein Handy nicht Tag und Nacht überall dabei hat, nicht seine täglich absolvierten Schritte zählt, im Internet keine Gesundheitschecks absolviert, immer noch eine Agenda ausschliesslich in Form eines Büchleins führt, seine Tageszeitung in der Printausgabe liest, Bücher in der Buchhandlung kauft, noch nie ein E-Book gelesen hat, noch über kein elektronisches Patientendossier verfügt, seine Schuhe und Kleider immer noch im lokalen Fachgeschäft kauft und zum Wandern und Radfahren noch nie ein GPS-Navigationssystem verwendet hat, muss sich heutzutage gegenüber jüngeren, „aufgeschlosseneren“ und „fortschrittlicheren“ Menschen schon fast dafür entschuldigen, sich immer noch an so vielen „alten Zöpfen“ festzuklammern.

Dabei läge doch in der Zusammenführung der digitalen und der analogen Welt die grösste Chance für einen tatsächlich qualitativen Entwicklungsschritt. Denn nicht alles, was früher anders war, war deshalb schlechter. Heutige Jugendliche können sich eine Welt ohne Computer, ohne Smartphone, ohne Internet schon gar nicht mehr vorstellen. Wer aber in einer ausschliesslich analogen Welt aufgewachsen ist, verfügt auch heute noch über die Erinnerung an eine Zeit, die in vielerlei Hinsicht vielfältiger, erlebnisreicher, vor allem aber viel ruhiger, gemächlicher und bedächtiger war als die heutige. Weshalb muss stets das eine gegen das andere ausgespielt werden? Weshalb versuchen wir nicht, das Beste aus den beiden Welten herauszugreifen und das, was keine echte Steigerung an Lebensqualität bringt, kritisch zu hinterfragen oder vielleicht sogar beiseitezulassen?

Auch ich schätze es, Emails schreiben zu können, um rasch und unkompliziert Informationen zu bekommen oder weiterzugeben. Auch ich benütze gern und oft Suchmaschinen für Recherchen zu jeglichem noch so weit hergeholtem Thema, auf das ich sonst nirgendwo eine Antwort finde. Auch den Familienchat auf dem Smartphone schätze ich sehr, um immer über die wichtigsten Neuigkeiten auf dem Laufenden zu sein. Texte, Zeitungsartikel oder ganze Bücher zu schreiben, könnte ich mir ohne digitale Instrumente heute beim besten Willen nicht mehr vorstellen. Rasch und überall die nächste Zugsverbindung herauszufinden, auch das eine tolle Sache. Und da gäbe es wohl auch noch einiges mehr aufzuzählen…

Doch dies alles darf nicht ausschliessen, mögliche Übertreibungen und Auswüchse kritisch zu hinterfragen. Führt allzu häufiges Onlineshopping nicht dazu, dass lokale Fachgeschäfte früher oder später nicht mehr konkurrenzfähig sind und wertvolle Arbeitsplätze, aber auch zwischenmenschliche Kontakte zwischen Verkaufspersonal und Kundschaft mehr und mehr verloren gehen? Was soll ich, wenn es kein Bargeld mehr gibt, dem Strassenmusikanten oder der Strassenmusikantin in ihren Hut legen? Ist ein Kino- oder Theaterbesuch nicht viel erlebnisvoller als das Konsumieren einer Unmenge an Spielfilmen auf einem winzigen Display? Worin besteht die Förderung der Lebensqualität, wenn ich am Abend weiss, wie viele Schritte ich an diesem Tag zurückgelegt und wie sich meine Blutwerte innerhalb der letzten 24 Stunden verändert haben? Drohen wir nicht unseren Orientierungssinn und die Landkarten im eigenen Kopf zu verlieren, wenn wir, beim Wandern, Rad- oder Autofahren, bloss Ausgangspunkt und Zielort in ein GPS-Navigationssystem einzugeben brauchen, um uns dann blindlings von ferngesteuerten Anweisungen leiten zu lassen? Wird die Bereitschaft des Bergsteigers oder der Bergsteigerin, unnötige Risiken einzugehen, nicht dadurch viel grösser, dass sie sich in der Illusion wiegen, jederzeit und überall innerhalb weniger Minuten gerettet werden zu können? Setzen wir nicht möglicherweise unsere eigene Kreativität aufs Spiel, wenn wir Herausforderungen wie das Verfassen eines Texts, die Planung einer Sitzung oder das Organisieren einer Geburtstagsparty immer öfters einer KI überlassen? Setzt uns die Erwartung unserer Freunde oder unseres Chefs, mittels Smartphone überall und jederzeit erreichbar zu sein, nicht masslos unter Druck? Und wozu dienen die Hunderten von Fotos und Filmen, die wir in den Ferien aufnehmen, umso mehr, als ja ohnehin die Zeit, die wir bräuchten, um uns später alles wieder anzusehen, ins Unermessliche steigen würde?

Übertriebene Digitalisierung kann möglicherweise auch gesellschaftliche Entwicklungen beflügeln, die mit einer Steigerung an Lebensqualität auch nicht mehr das Geringste zu tun haben. Die Zeit, die wir im Verlaufe eines Tages in der digitalen Welt verbringen, fehlt dann in der analogen Welt von konkreten menschlichen Begegnungen, dem sozialen Kontakt, dem Pflegen von Freundschaften, aber auch ehrenamtlichen Tätigkeiten, aktiver Gestaltung der Lebensumgebung und politischer Arbeit umso mehr. Das Hin- und Herschicken von Emails innerhalb von Sekundenbruchteilen führt nicht selten zu Überreaktionen, Missverständnissen, gegenseitigen Beschuldigungen oder sogar Streitigkeiten und Hass, die sich in einem persönlichen Gespräch, bei dem man sich gegenseitig in die Augen schaut, sogleich in Luft auflösen würden. Das Konsumieren von „Kurzfutterinfos“ mit möglichst spektakulären Schlagzeilen und Bildern in den sozialen Medien oder ganz allgemein im Internet kann zu einer gefährlichen Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung des Zeitgeschehens führen und Hintergrundwissen sowie das Einordnen von Einzelereignissen in grössere Zusammenhänge, wie es in analogen Zeiten die besondere Stärke der Printmedien war, geradezu verunmöglichen. Besonders verhängnisvoll sind die Auswirkungen auf dem Gebiet des Tourismus: Ein Wasserfall im bernischen Lauterbrunnen wird in den sozialen Medien dermassen hochgepusht, dass Touristinnen und Touristen aus aller Welt nur deshalb hierher anreisen, um diesen Wasserfall zu fotografieren und dann so schnell wie möglich wieder abzureisen, nicht ohne, wie Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes zunehmend beklagen, riesige Müllberge zu hinterlassen oder gar ohne anzuklopfen in Privathäuser eindringen, um dort eine Toilette aufzusuchen – während Schweiz Tourismus Millionen Franken investiert, um in möglichst vielen Ländern Influenzerinnen und Influenzer ausbilden, um noch mehr Reisende in die Schweiz zu locken. Auch dem GPS-Tracking, mit dessen Hilfe der aktuelle Aufenthaltsort des Ehemanns oder der Kinder jederzeit nachverfolgt werden kann, kann man wohl, in Bezug auf die Lebensqualität, nicht wirklich etwas Positives abgewinnen, im Gegenteil: Kinder, die rund um die Uhr überwacht und kontrolliert werden, drohen dadurch weitgehend ihre Selbstständigkeit, eines der wichtigsten Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung, zu verlieren. Und dabei haben wir noch nicht einmal von all den unsichtbaren, unheimlichen und bedrohlichen Tendenzen gesprochen, auf digitalem Weg Personendaten zu sammeln und für kommerzielle Zwecke zu verwenden. Schliesslich haben digitale Systeme, die immer grösser und komplexer werden, auch immer verheerendere Auswirkungen, wenn sie auf einmal ausfallen, wie Vorfälle in jüngster Vergangenheit – von der Swisscom über den gesperrten Geldbezug durch Kreditkarten bis zum Ausfall von Sicherheitssystemen der SBB – immer wieder gezeigt haben.

Nicht zuletzt hat die zunehmende Digitalisierung auch weitreichende ökologische Folgen, obwohl dies kaum je thematisiert wird. Denken wir nur an die Verschwendung natürlicher Ressourcen und die Entsorgung nicht mehr gebrauchter elektronischer Geräte, deren Lebensdauer sich infolge der immer weiter beschleunigenden technischen Entwicklung laufend verkürzt. Und je mehr Daten gespeichert werden müssen, umso mehr Rechenzentren braucht es. Schon heute sind das Internet, Rechenzentren und private Computer gemeinsam für mehr CO2-Emissionen verantwortlich als der gesamte globale Flugverkehr.

Die Lehre der „Dialektik“ definiert gesellschaftlichen Fortschritt so, dass sich zu einer These jeweils eine Antithese bildet und in einem nächsten Schritt dann die These und die Antithese zu einer neuen Synthese verschmelzen. Übertragen auf die Digitalisierung würde dies bedeuten: Die These lautet, in analogen Zeiten sei alles besser gewesen. Die Antithese behauptet, Digitales sei Analogem stets überlegen. Die Synthese würde heissen: Nehmen wir aus beiden Welten das Beste, führen wir die analoge und die digitale Welt zusammen, beide sind unvollkommen und können voneinander lernen. Das wäre dann möglicherweise ein echter Entwicklungsschritt, bei dem sich die Menschen nicht zu Sklavinnen und Sklaven der einen oder anderen Denkrichtung machen lassen, sondern zukünftige Entwicklungen gemeinsam, autonom und selbstbestimmt gestalten. 

Larissa und die Pferde die von Wolke zu Wolke flogen

Kaum hat der Tag begonnen, brennt das Feuer im Rücken auch schon wieder. Die achtzehnjährige Larissa, mitten in der Ausbildung zur Bereiterin, stösst nach dem Ausmisten der Pferdeställe eine Schubkarre voller Pferdemist über den Hof. „Aber das geht doch auch im Laufschritt, oder nicht?“, brüllt ihr Chef von der anderen Seite des Hofes herüber, „trödeln kannst du, wenn dein Arbeitstag zu Ende ist.“ Larissa beisst auf die Zähne und setzt zum Laufschritt an, quer über den ganzen Hof, mit einer Schubkarre voller Pferdemist, die sich anfühlt wie eine Tonne Zement. Und das noch weitere fünf Mal – ihr Chef schaut zu und scheint sich über den Anblick geradezu zu amüsieren.

Zwölf Stunden später, nach einer Mittagspause von einer halben Stunde und nachdem sie vier Tonnen Heuballen ganz alleine abladen musste, fragt sich Larissa einmal mehr, wie sie das alles bis zum Ende ihrer Ausbildung durchstehen soll. Hundemüde setzt sie sich ans Steuer ihres Autos, muss jetzt noch fast 20 Kilometer bis nachhause fahren. Am schlimmsten ist die Müdigkeit jedes Mal in diesem grauslichen, viel zu langen Tunnel, wenn dann auch noch stinkende Abgase ins Innere des Fahrzeugs dringen…

Und schon ist es passiert – ein ohrenbetäubendes Krachen weckt Larissa aus ihrem Sekundenschlaf, wie im schlimmsten aller möglichen Träume sieht sie die Tunnelwand unmittelbar hinter dem Fenster des Beifahrersitzes vorbeirauschen und gerade noch kann sie das Steuer herumreissen, um das Allerschlimmste zu verhindern. Mit kreischenden Bremsen ist das Auto hinter ihr gerade noch zum Stillstand gekommen. Erbarmungsloses Hupen im tausendfachen Echo des von Scheinwerfern wie von Blitzen durchzuckten Tunnels durchdringt, als wäre nicht alles Bisherige schon schlimm genug, Larissa bis ins Innerste, dazwischen eine ebenso bedrohlich klingende Männerstimme, die fast so klingt wie die Stimme ihres Chefs heute Morgen, ob es denn nicht auch im Laufschritt ginge, zum Trödeln sei allemal später noch genug Zeit…

Eigentlich hätte sich Larissa von diesem Schock wenigstens einen Tag lang ein wenig erholen müssen. Aber nicht mitten in der Ausbildung zur Bereiterin. Und schon gar nicht mit diesem Chef, den sie, hätte sie sich am nächsten Tag kurzfristig von der Arbeit abgemeldet, wohl zur Weissglut getrieben hätte und wahrscheinlich auch dazu, ihr dies noch tagelang vorzuhalten und sie vielleicht noch mehr zu schikanieren, als er dies sowieso schon jeden Tag tat.

Die Ausbildung zur Bereiterin dauert drei Jahre und ist nicht nur körperlich, sondern auch was psychologisches, naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen betrifft, höchst anspruchsvoll. Zu den täglichen Arbeiten gehören das Füttern, Tränken, Putzen und Bewegen der Tiere wie auch die Versorgung kranker und verletzter Pferde, das Anlegen von Bandagen zum Schutz der Gelenke, das Auskratzen der Hufe, das Bürsten und Striegeln, das Sauberhalten der Ställe, der Ausrüstung und der Anlagen. Die zukünftige Bereiterin muss die Tiere in verschiedensten Reit- und Dressurtechniken trainieren und ihnen die verschiedenen Gangarten beibringen können. Sie muss Fohlen und Stuten nach der Geburt adäquat versorgen können und, als etwas vom Wichtigsten, zu jedem Tier ein persönliches Vertrauensverhältnis aufbauen. Auch das Longieren der Tiere gehört zu ihren Aufgaben, ebenso wie auch das tiergerechte und nicht ungefährliche Verladen und Transportieren. Auch muss sie sich in der individuellen Tierfütterung, in Tier- und Umweltschutzfragen sowie in der Gesundheitsvorsorge und im – überaus anspruchsvollen – Erkennen von Krankheitsbildern ebenso auskennen wie in Zuchtmethoden, Besamungstechniken, Hygienemassnahmen und Fragen des Weidemanagements. Sie muss fähig sein, Pferde für Ausstellungen, Prüfungen und Wettkämpfe vorzubereiten. Und sie muss in der Lage sein, Reiterinnen und Reiter in Bezug auf Anlagebewirtschaftung, Planung und Durchführung von Ausbildungsmassnahmen und Grunderziehung des Pferdes professionell zu beraten. Zu alledem muss die zukünftige Bereiterin auch noch die Kunst des Voltigierens beherrschen, akrobatische Kunststücke auf dem Pferderücken, stets verbunden mit der Gefahr abzustürzen und sich schwere Verletzungen zuzuziehen.

Doch trotz aller dieser immensen Anforderungen ist die Bereiterin, hat sie ihre Ausbildung erst einmal erfolgreich abgeschlossen, mit einem durchschnittlichen Monatslohn von 3500 Franken und Tiefstlöhnen von 2700 bis 2800 Franken bei bis zu 50 Arbeitsstunden pro Woche einer der am schlechtesten bezahlten Jobs in der Schweiz.

Und das alles nur, damit dann sonntags die Schönen und Reichen aus der Stadt ihre gesunden, wunderschön glänzenden, perfekt trainierten Pferde ausreiten können, wie Königinnen und Prinzen dies schon seit Jahrhunderten tun, hoch über dem gewöhnlichen Volk thronend. Wer bei alledem immer noch behauptet, so etwas wie die Klassengesellschaft gehöre doch schon längst der Vergangenheit an, hat sich wahrscheinlich kaum je Gedanken darüber gemacht, wie es frühmorgens, wenn die Schönen und Reichen noch schlafen, in all den Ställen und auf all den Höfen landauf landab zu- und hergeht, wo nicht nur Larissa, sondern noch viele, viele andere im Laufschritt Schubkarren mit zentnerschwerem Pferdemist vor sich herschieben und am Abend so kaputt sind, dass sie in grauslich langen, stinkenden Tunnels auch unter grösster Anstrengung ihre Augen nicht mehr offen zu halten vermögen.

Ob Larissa ihre Lehre zu bringen wird? An manchen Tagen glaubt sie daran, an anderen nicht. Nur manchmal denkt sie ein bisschen wehmütig an die Zeit zurück, als sie sich jeden Abend mit ihrem Spielpferdchen aus Plüsch in ihr Bett verkroch, in ihrem Kinderzimmer voller Pferdebilder an allen Wänden, eines schöner als das andere, und fast jede Nacht davon träumte, eine kleine Prinzessin zu sein auf einem schneeweissen, von Wolke zu Wolke fliegenden Pferd. 

Das Dreirad auf einem Stück Papier unter dem Weihnachtsbaum

Nein, sagt sie zu ihrem Kind, das schon wieder vor einem übervollen Gestell stehen geblieben ist und jetzt triumphierend eine Tüte Gummibärchen in der Hand hält. Leg das zurück. Aber die Wägelchen der anderen Leute sind doch auch randvoll und unseres ist immer noch fast leer, antwortet das Kind verständnislos. Ja, sagt die Mutter, aber die anderen, das sind nicht wir. Im Einkaufswagen liegen jetzt eine Tube Zahnpasta, ein Paket Spaghetti, zwei Tomaten, eine Gurke, eine Flasche Essig und die Wurst, die ihr eine gute Freundin, welche im Supermarkt arbeitet, soeben heimlich zugesteckt hat, da sie nur noch halb so viel kostet, weil ihr Ablaufdatum schon überschritten ist und sie sonst im Müll landen würde.

Der Blick in die anderen Einkaufswagen, wo all die Träume aufgetürmt sind, welche sie Tag für Tag zu verdrängen versucht, ist wie Feuer, das durch den ganzen Körper geht. Und ob sie will oder nicht: Immer und immer wieder ziehen die selben Bilder an ihrem inneren Auge vorüber. Das Dreirad, das sich ihr Kind für Weihnachten so sehnlichst wünschte, bis ihr nichts anderes einfiel, als es auf ein Stück Papier zu zeichnen, in Geschenkpapier einzuwickeln und es unter den winzigen Plastikweihnachtsbaum zu legen, den sie mit dem letzten Rest des Monatsgeldes gekauft hatte. Das ist ein Gutschein, erklärte sie dem enttäuschten Kind, den kannst du dann vielleicht in einem oder in zwei Jahren einlösen, wenn wir genug Geld haben werden, um ein richtiges Dreirad zu kaufen. Der Stapel mit den noch nicht bezahlten Rechnungen für das Bügeleisen, die Winterjacke und die Reparatur eines Wasserhahns, der nicht mehr funktionierte. Das Formular, mit dem sie eine Erhöhung des Sozialhilfebeitrags hätte beantragen wollen, das jetzt aber zerrissen auf dem kleinen Küchentisch liegt, weil auf einmal die Wut darüber, aller Voraussicht nach sowieso einmal mehr eine Absage zu erhalten, so viel stärker war als jegliche Vernunft. Die fast unerträglichen Schmerzen im Unterkiefer, die sie seit Wochen quälen und den letzten Rest an Lebensfreude verderben, seit sie weiss, dass sie wahrscheinlich schon alt und grau geworden sein würde, bis sie sich die dringend notwendige Zahnoperation auch nur im Entferntesten würde leisten können.

Jetzt stehen sie und ihr Kind in der Schlange vor der Kasse. Die Zahnpasta hat sie inzwischen wieder zurückgelegt, man kann sich die Zähne auch mit Wasser putzen. Die Dame vor ihr äugt sichtlich befremdet in ihren fast leeren Einkaufswagen, während sie selber eine Riesenmelone und fünf Tafeln Schokolade auf das Laufband legt. Gleich werden auch das Paket Spaghetti, die zwei Tomaten, die Gurke, die Flasche Essig und die abgelaufene Wurst auf dem Laufband liegen. Und bei jedem Handgriff, mit dem die Kassierin die Dinge über den Scanner zieht, wird hinter der unsichtbaren Mauer, welche den Profit und das Elend fein säuberlich voneinander trennt, auf dem Bildschirm in der Buchhaltungsabteilung des Supermarkts die Kurve des heutigen Umsatzes ein ganz klein wenig in die Höhe steigen, bis sie dann am Ende des Jahres aller Voraussicht nach einmal mehr einen neuen Rekordstand erreichen wird. Jedes Paket Spaghetti, jede Tomate, jede Gurke, jede Flasche Essig und jede noch so abgelaufene Wurst machen die Reichen noch ein bisschen reicher und die Schmerzen derer, die sich nicht einmal eine Zahnpasta geschweige denn ein kleines Dreirad zu Weihnachten leisten können, noch ein bisschen unerträglicher.

Die Frau an der Kasse würde ja noch so gerne einen Teil dessen, was sich jetzt im Einkaufskorb der vorangegangenen Kundin angesammelt hat, in die Einkaufstasche der alleinerziehenden Mutter legen, die gerade die paar letzten Münzen aus ihrem fast leeren Portemonnaie geklaubt hat. Doch das geht nicht. Die Mauer der sozialen Apartheid im reichsten Land der Welt ist unüberwindbar. Und nicht nur das. Wo immer es beginnt und wo immer es endet, all die unzähligen Ketten von den Fabriken, den Laufbändern im Supermarkt, den Tränen verzweifelter Mütter in der Nacht bis hinauf zu den Chefetagen multinationaler Konzerne und den mächtigsten Politikern, die dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist: Fast immer ist am Ende ganz oben ein Mann und fast immer ist am Ende ganz unten eine Frau. Noch weiter unten ist nur ein dreijähriger Bub, der jetzt gerade von einem Gummibärchen träumt und davon, dass sich ein auf Papier gezeichnetes Dreirad so wie in den Märchen, welche ihm seine Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen erzählt, vielleicht doch noch eines Tages in ein richtiges schönes kleines Dreirad verwandeln könnte.

Als einziger Gast in einem kleinen Hotel auf dem Lande: Als wäre die Zeit stillgestanden

Im hessischen Biebesheim steht der Wirt eines kleinen Hotels hinter der Empfangstheke auf einem Hocker vor einem Gestell voller Ordner und scheint so intensiv etwas zu suchen, dass er nicht einmal bemerkt hat, dass soeben ein Gast angekommen ist. Und dann, durch eine halb geöffnete Tür zum Speisesaal, sehe ich auch schon den Grund: Dort sitzen, mitten im leeren Saal, zwei jüngere Männer in Anzug und Krawatte an einem Tisch voller Aktenberge, vermutlich Finanzprüfer oder etwas in der Art. Hat der Patron seine Buchhaltung nicht ordnungsgemäss geführt? Ist er verschuldet? Oder droht gar eine Betriebsschliessung?

Am nächsten Morgen geniesse ich den Kaffee, ganz alleine im sonst leeren, überraschend geräumigen Speisesaal. Ich bin offensichtlich der einzige Gast. Der Wirt und zwei Frauen mit Kopftuch bedienen mich. Ich bekomme einen Teller mit fünf Käsesorten, Aufschnitt, Wurst, Gurken und Oliven. Dazu Brötchen und ein Rührei. Wie kann sich das bloss rechnen? Der Speisesaal erinnert mich an ein potemkinsches Dorf, eine Theaterkulisse, eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Mehrere langgezogene Tische sind gedeckt, Teller, Gläser, bunte Papierservietten. Als wäre die Zeit stillgestanden. Als ginge jeden Augenblick die Türe auf und Dutzende von Gästen würden hereinströmen. Auf Gestellen an den Wänden stehen kunstvoll Geschirr, Zinnbecher, Figuren aus Ton und Gips. Dazwischen hängen Landschaftsbilder, gemalt in den kitschigsten Farben, und verschiedenfarbige Wimpel, vermutlich von Fussballmannschaften. Die Decke, mit Stuckaturen versehen, ist in ein dunkles Weinrot getaucht. Alles mit viel Liebe und Sorgfalt aufgebaut. Ja, es muss ganz augenscheinlich eine andere Zeit gegeben haben. Eine Zeit, da der Familienausflug höchstens bis zum nächsten Dorf oder zur nächsten Stadt ging. Eine Zeit, in der das Feierabendbier in der Stammkneipe noch das höchste der Gefühle war. Bevor alles plattgewalzt wurde.

Plattgewalzt durch eine Tourismusindustrie, die es geschafft hat, dass sich die Menschen seither millionenfach wie ferngesteuerte Mücken nur noch dorthin bewegen, wo ihnen das grösste Ferienvergnügen zum billigsten Preis vorgegaukelt wird. Plattgewalzt durch wachsende soziale Ungleichheit und eine zunehmend härtere Arbeitswelt, die ihren Opfern nur zwei Möglichkeiten lässt: Jenen, die es bezahlen können, Badeferien in Mallorca und den anderen, die sich nicht einmal mehr die Mahlzeit in einer Gaststube ihres eigenen Dorfes leisten können, am Ende nur das Sofa, eine Flasche Bier und mit einem romantischen Spielfilm die trügerische Flucht in die Scheinwelt ihrer Sehnsüchte.

Als wäre bei alledem nicht sowieso schon viel zu viel Lebensfreude verloren gegangen und zu viel Lebenswerk zerstört worden: Ich sehe immer noch den verzweifelten Blick des Wirtes auf seine Ordner. Und ich sehe immer noch durch die halbgeöffnete Tür die beiden Finanz- oder Steuerbeamten, die schon ganz ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch schnippen, weil sich der Wirt schon viel zu lange um seinen einzigen Gast gekümmert hat.

Die Kellnerin von Karlsruhe

Karlsruhe, Freitagabend, in einem Restaurant in der Innenstadt. Die junge Kellnerin eilt flink wie ein Wiesel von Tisch zu Tisch, kaum haben sich neue Gäste gesetzt, schon werden sie freundlichst bedient. Ist das Glas leer, schon steht sie da und fragt dich, ob du noch einen Wunsch hättest. Und ohne je ihr Lächeln, ihre unentwegte Sorge um das Wohl der Gäste zu verlieren. Doch auf einmal fällt mir auf: An einem der Tische stehend, hat ihre Hand an einer Metallstange Halt gesucht und sie hat ihren linken Fuss über den rechten gelegt, wohl um ihm eine kleine Pause zu gönnen. Knöchelschmerzen? Brennende Fusssohlen? Das wiederholt sie immer wieder und immer ist es der linke Fuss, das kann kein Zufall sein. Auch nicht, als sie sich kurz darauf mit der rechten Hand an den Rücken greift. Und wohl auch nicht, als sie wenig später ihren linken Oberschenkel reibt. Wie viele Stunden ist sie wohl schon auf den Beinen? Und wie viele Stunden werden es wohl noch sein? Wie viele Kilometer ist sie heute schon gelaufen, schwere Tablette durch die Gästereihen hindurch balancierend, und wie viele Kilometer werden es noch sein? Wie viele Male wird sie ihren linken Fuss noch über den rechten legen und mit ihren Händen die Schmerzen im Rücken und in den Beinen ein klein wenig zu lindern versuchen, bis sie sich dann irgendwann endlich einmal setzen darf? Doch schon eilt sie zum nächsten Tisch, auf der rechten Hand ein Tablett voller Gläser und Flaschen. Am Tisch daneben räumt sie ab und während sie auf dem linken Arm fünf leergegessene Teller im Gleichgewicht behält, nimmt sie mit der rechten Hand eine neue Bestellung auf. Und nichts von ihrem zauberhaften Lächeln hat sie verloren.

Bis zu sechs Stunden müssen Kellnerinnen und Kellner arbeiten, ohne Anspruch auf eine Pause. Ab einer Arbeitszeit von sechs Stunden gibt es eine Pause von 15 Minuten. Übersteigt die Arbeitszeit neun Stunden, gibt es eine Pause von 45 Minuten. Die maximale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden. So steht es im deutschen Gastronomie-Arbeitsgesetz. Viele Angestellte leisten aber, freiwillig oder unfreiwillig, darüber hinaus weitere Überstunden und schuften nicht selten bis zu 14 Stunden pro Tag, oft noch mehr. Das komme den Beschäftigten sehr zugute, wird oft gesagt, viele würden „mit Freude“ länger arbeiten, so könnten sie den mehr als dürftigen Stundenlohn von 9,35 Euro ein wenig aufbessern und erst noch zusätzliches Trinkgeld verdienen. Wie zynisch: Würden sie pro Stunde drei Euro verdienen, dann würden sie wahrscheinlich ganz freiwillig und „mit Freude“ so lange arbeiten, bis sie tot umfallen würden. Arbeitsgesetze, so heisst es offiziell, seien dazu da, um vor Ausbeutung zu schützen. Man könnte es auch anders sagen: Arbeitsgesetze scheinen vor allem hierfür da zu sein, um Ausbeutung zu legitimieren und das Verrückte – weil es ja im Gesetzbuch steht – als normal erscheinen zu lassen.

Dabei gibt es kein einziges stichhaltiges Argument dafür, dass eine Kellnerin, die einen solchen Knochenjob leistet und am Ende solcher Arbeitstage vor lauter Schmerzen vielleicht nicht einmal mehr den wohlverdienten Schlaf in Ruhe geniessen kann, soviel weniger verdient als ihr Chef, der hinter der Theke Bier ausschenkt, oder ihr Arbeitgeber, der irgendwo in einem klimatisierten Büro eines Verwaltungsgebäudes den ganzen Tag lang vor dem Computer sitzt und sich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie sich brennende Fusssohlen oder Schmerzen im Rücken und in den Beinen nach sechs, neun oder 14 Stunden Knochenarbeit anfühlen. Oder die meisten der Gäste, die jetzt gerade in diesem Restaurant gemütlich und entspannt auf ihren Stühlen sitzen und sich exquisiteste Speisen und teuerste Weine auftragen lassen, die sich sie, die Kellnerin, selbst dann nicht leisten könnte, wenn sie zwanzig Stunden am Tag arbeiten und ihre Füsse, ihre Beine und ihren Rücken vor lauter Schmerzen nicht einmal mehr spüren würde. Nein, wäre die Welt gerecht, dann müsste die Kellnerin wohl um einiges mehr verdienen als ihr Chef, ihr Arbeitgeber und die meisten ihrer Gäste, die sich von ihr bedienen lassen und zwar tausend Blicke haben für ihre Handys, in die sie pausenlos hineinstarren, aber keinen einzigen Blick für die Schmerzen einer Kellnerin, die, immer noch lächelnd, das Leben ihrer Gäste so bedingungslos versüsst.

Dass dies alles an einem wunderschönen Spätsommerabend in Karlsruhe und an unzähligen anderen Orten möglich ist, ohne dass es nicht längst schon zu einem Generalstreik oder einer landesweiten Revolution gekommen ist, hat wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass sich die Menschen über eine viel zu lange Zeit an viel zu viele Absurditäten gewöhnt haben und es ihre Phantasie schon gar nicht mehr zulässt, sich eine Welt vorzustellen, in der alles ganz anders wäre.

175 Jahre schweizerische Bundesverfassung: Zum Feiern wohl noch zu früh

Am 12. September 2023 fanden in Bundesbern die Feierlichkeiten zum 175jährigen Bestehen der schweizerischen Bundesverfassung statt. Doch für einen derartig bedeutungsvollen Festakt, so schreibt der „Tagesanzeiger“, sei die „Unzufriedenheit am Ende erstaunlich gross gewesen“. Viele hätten sich an der Inszenierung der Feier gestört, vor allem an der „Verhunzung“ der Landeshymne durch den Kabarettisten Joachim Rittmeyer, gegen die sich wenigstens noch SVP-Nationalrat Thomas Aeschi als Einziger im Saal zur Wehr gesetzt habe, indem er „mit voller Brust“ dagegen angesungen habe, natürlich mit dem richtigen Text. Auch FDP-Ständerat Martin Schmid hätte dem Festakt vorgeworfen, „die Institutionen zu wenig ernst zu nehmen“. Auf besonderes Missfallen sei die Moderation durch die beiden Clowns Gilbert und Oleg gefallen sowie das Fehlen der traditionell von Claude Longchamps getragenen Fliege. Am Ende der Feier seien mehr oder weniger alle zerstritten gewesen.

Statt das 175jährige Bestehen der Bundesverfassung bloss zu feiern und sich anschliessend darüber zu streiten, ob die Feier nun angemessen gewesen war oder nicht, hätte man sich wohl besser die wichtigsten Artikel dieses Werks wieder einmal gründlich und selbstkritisch anschauen sollen. So heisst es zum Beispiel in Artikel 2, die Schweiz fördere die „gemeinsame Wohlfahrt“, sorge für eine möglichst „grosse Chancengleichheit“ und setze sich ein für die „dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“. Artikel 6 besagt, dass jede Person „nach ihren Kräften“ zur Bewältigung der öffentlichen Aufgaben beizutragen habe. Artikel 41 fordert, dass „jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält, Erwerbsfähige ihren Lebensunterhalt durch Arbeit bestreiten können und Wohnungssuchende eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können.“ Und in Artikel 54 steht, der Bund setze sich für ein „friedliches Zusammenleben der Völker“ ein.

Wohlklingende Wunschvorstellungen, die allerdings von der heutigen Realität meilenweit entfernt sind. Von „gemeinsamer Wohlfahrt“ können die über eine Million in der Schweiz lebenden Menschen, die von Armut betroffen sind, nur träumen – in dem Land, das weltweit in Bezug auf die Unterschiede zwischen Arm und Reich nur noch von zwei Ländern übertroffen wird, nämlich Singapur und Namibia. „Chancengleichheit“ ist in Anbetracht der Tatsache, dass die Chance von Kindern akademisch gebildeter Eltern auf eine akademische Laufbahn siebenmal höher ist als jene von Kindern aus der Arbeiterschicht, ebenfalls eine reine Farce. Auch die „dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ ist unmöglich zu verwirklichen innerhalb einer immer noch und sogar je länger je mehr auf Profitmaximierung und Wachstum ausgerichteten Wirtschaft. Die Kopfprämie in der Krankenversicherung, wonach eine Kassierin im Supermarkt eine ebenso hohe Krankenkassenprämie zu bezahlen hat wie ein Stararchitekt, verstösst klar gegen die Forderung, jede Person solle zur Bewältigung öffentlicher Aufgaben einen „ihren Kräften entsprechenden Beitrag“ leisten. „Notwendige Pflege für alle“ wäre ja schön, aber Fakt ist, dass sich immer mehr Menschen nicht einmal mehr dringend nötige Zahnoperationen leisten können. „Den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit bestreiten zu können“, müsste ebenfalls eine Selbstverständlichkeit sein, doch 130‘000 Menschen in der Schweiz verdienen trotz voller Erwerbstätigkeit so wenig, dass sie davon nicht leben können. „Eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen“ war wohl in der DDR im Jahre 1980 die Regel, nicht aber in der Schweiz des Jahres 2023: Bezahlbare Wohnungen werden für immer mehr Menschen zur unerschwinglichen Mangelware. Und auch die Forderung, die Schweiz setze sich für ein „friedliches Zusammenleben der Völker“ ein, scheint an den heutigen politischen Machtträgern mehr oder weniger spurlos vorbeigegangen zu sein. Jedenfalls war von Aussenminister Ignazio Cassis bis jetzt noch nie zu hören, dass er sich mit Vehemenz für eine Friedenskonferenz zur Lösung des Ukrainekonflikts eingesetzt hätte. Wahrscheinlich hat auch er, der sich jüngst damit gebrüstet hat, keine Zeitungen mehr zu lesen, auch die schweizerische Bundesverfassung noch nie wirklich gründlich gelesen.

Zum Feiern scheint es tatsächlich noch etwas allzu früh gewesen zu sein. Da müssten den schönen Worten schon noch ein paar gute Taten folgen. Mit oder ohne Neuschreibung der Landeshymne. Mit oder ohne Clowns. Und mit oder ohne Fliege des berühmtesten Meinungsforschers des Landes. Was wohl jene, welche 1848 die schweizerische Bundesverfassung schrieben, gedacht hätten, wenn sie gewusst hätten, wie es 175 Jahre an diesem 12. September in den ehrwürdigen Hallen im Herzen einer der ältesten Demokratien der Welt zu- und hergehen würde?

Und immer noch werden die gleichen Märchen über den Reichtum und die Armut von Generation zu Generation weitererzählt…

 

Da behauptete doch unlängst einer dieser Multimillionäre allen Ernstes, die wahren Milchkühe seien die Reichen, sie würden nämlich mit ihren hohen Steuerabgaben den Sozialstaat hauptsächlich finanzieren und deshalb verdankten wir ihnen letztlich unseren Wohlstand. Nur hat er vergessen zu erwähnen, woher denn dieses Geld, das sie angeblich so grosszügig verteilen, ursprünglich gekommen ist. Aus Erbschaften zum Beispiel – gesamtschweizerisch fast 90 Milliarden Franken jährlich. Oder aus Aktiengewinnen – die gesamtschweizerisch insgesamt eine höhere Summe ausmachen als sämtliche Einkommen aus Arbeit. Oder aus Immobilienbesitz. Oder aus überdurchschnittlich hohen Löhnen auf Kosten der weniger gut Verdienenden. Kurz: Aus lauter Quellen, wo sich Geld angesammelt hat, welches auf die eine oder andere Weise nicht von ihnen selber, sondern von unzähligen anderen Menschen erarbeitet wurde.

Die Reichen hätten sich ihren Reichtum aus eigener Kraft verdient? Fehlanzeige. Es ist fast ausschliesslich geklautes Geld. Geld, das sich am einen Ende so gigantisch auftürmt, weil es an so vielen anderen Orten so schmerzlich fehlt. Armut und Reichtum sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen – kapitalistischen – Medaille. Genau so, wie es der arme Mann zum reichen in der Parabel von Bertolt Brecht sagte: „Wärst du nicht reich, dann wär ich nicht arm.“ Doch immer noch reden Politikerinnen und Politiker, Wirtschaftsleute und Verantwortliche von Sozial- und Hilfsorganisationen stets nur davon, es ginge darum, die Armut zu bekämpfen. Falsch. Es geht darum, den Reichtum zu bekämpfen. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Wer behauptet, die Reichen würden den Sozialdienst und unseren Wohlstand finanzieren, hat nur insofern nicht ganz Unrecht, als tatsächlich ein progressives Steuersystem höhere Einkommen und Vermögen höher belastet. Ja, sie geben einen Teil des „Geklauten“ tatsächlich der Gesellschaft wieder zurück, aber das Allermeiste behalten sie für sich selber, denn sonst wären sie ja nicht so unglaublich reich und könnten sich nicht so unzählige Luxusvergnügen leisten wie Kreuzfahrten, das Übernachten in den besten Luxushotels der Welt oder den jährlichen Flug auf die Malediven und so vieles mehr, von dem die ärmere Hälfte der Bevölkerung nicht einmal zu träumen wagt.

Die Reichen trügen eine „Bürde“, die schwer auf ihren Schultern laste. Auch so eine aus der Luft gegriffene Behauptung. Nein, Reiche tragen keine Bürden. Wenn jemand eine Bürde trägt, dann die rund 140’000 Menschen in der Schweiz, die trotz voller Erwerbsarbeit zu wenig verdienen, um davon eine Familie ernähren zu können. Vollends absurd schliesslich die auch oft gehörte Behauptung, Reiche würden mehr bezahlen, als sie verdienen. Wenn das tatsächlich so wäre, dann müssten sie ja alle schon längst verhungert sein.

Die absurdeste Behauptung aber, um den eigenen Reichtum zu rechtfertigen, stellte der genannte Multimillionär mit der Aussage auf, Reiche seien eben ganz „besondere“ Menschen, würden sich von der Masse abheben und gezielt andere Wege gehen. Als wäre zukünftiger Reichtum bereits in den Genen angelegt und bleibe denen, die es nie zu grösserem Reichtum bringen, nichts anderes übrig, als sich mit ihrer Situation abzufinden und erst noch das Gefühl zu haben, selber daran schuld zu sein.

In solchen Momenten denke ich: Eigentlich befinden wir uns, sozialpolitisch gesehen, in dem, was man durchaus als „Entwicklungsland“ bezeichnen könnte: Elementarste wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge werden kaum je thematisiert, auch nicht – und ganz besonders nicht – von denen, die sich „Wirtschaftswissenschaftler“ und „Wissenschaftlerinnen“ nennen und von denen einer kürzlich allen Ernstes die These aufstellte, der Schweizer Bevölkerung sei es materiell noch nie so gut gegangen wie heute – ohne zu erwähnen, dass die hohen Durchschnittseinkommen und Durchschnittsvermögen nichts anderes sind als die Folge der immer weiter in die Höhe schnellenden Spitzenvermögen und Spitzeneinkommen, was all denen, die unvermindert am unteren Ende dieser Skala verharren – jener Million Menschen in der Schweiz, welche von bitterer Armut betroffen sind -, nicht einmal auch nur der schwächste Trost sein kann.

Ja. Ein Entwicklungsland, wo immer noch, seit Generationen, die gleichen Märchen über den Reichtum und die Armut weitererzählt werden. Und das Verrückte ist: Fast alle glauben es, selbst die Armen und Bestohlenen selber. Wie lange noch?

Der namenlose Spitzenakrobat ohne Publikum

Vier Visiere, je etwa 45 Meter hoch, stehen seit ein paar Monaten auf dem Baugrund des geplanten Hochhauses, um die Ausmasse des Gebäudes zu markieren, vier Türme aus einem Stahlrohrgerüst, schmal und schwankend in die Höhe ragend, gesichert durch Drahtseile an jeder Ecke. Nun, da der Baubeginn unmittelbar bevorsteht, müssen die Visiere wieder abgebaut werden. Und als ich heute zufällig an der Stelle vorbeikomme, traue ich meinen Augen kaum…

Zuoberst auf einem der schwankenden Stahlrohrtürme steht ein Bauarbeiter und ist damit beschäftigt, die Stahlrohre von oben nach unten auseinanderzuschrauben und mithilfe eines Seils in die Tiefe zu lassen. Er balanciert auf zwei Brettern, die auf den obersten Stangen aufliegen. Eine Herkulesaufgabe in schwindelerregender Höhe, hat doch jede der Stangen, die er unter Aufbietung aller seiner Kräfte auf die jeweilige nächstuntere Stange legen muss, ein Riesengewicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er die zwei Bretter, sobald die oberen Stangen abgetragen sind, auf die nächstunteren Stangen zu legen vermag, die sich etwa zwei Meter unterhalb der Stelle befinden, wo er jetzt gerade steht. Muss er sich den schräg angebrachten Querstangen hinunterzuhangeln versuchen? Aber wie soll er gleichzeitig die Bretter von oben nach unten bringen können? Und wenn eines unten ist, wie holt er dann das andere? Aber noch mehr beschäftigt mich die Frage, wie er überhaupt zuoberst auf den Gerüstturm gelangen konnte. Er musste sich über 45 Meter hinauf Stange um Stange hinaufgehievt haben, um jeweils wieder die nächsten zwei Meter zur nächsthöheren Stange zu überwinden. Und die Bretter, die jetzt zuoberst liegen, zog er die gleich mit in die Höhe oder gelangten die erst ganz am Schluss auf die oberste Stelle, aber wie kam dann das Seil in die Höhe, musste er dieses mit hinauf schleppen, von Stange zu Stange in immer gefährlicherer Höhe balancierend? Und das alles in einer Hitze von weit über 30 Grad…

In keinem Zirkus habe ich jemals eine solche Nummer gesehen. Und doch gibt es da weit und breit kein Publikum, keinen Applaus, keine Standing Ovations. Der Bauarbeiter, der heute dieses Gerüst abträgt, tut schlicht und einfach seine Arbeit, an der äussersten Grenze körperlicher Belastbarkeit, tödlicher Gefahr ausgesetzt. Wie unzählige andere Arbeiterinnen und Arbeiter, hierzulande und weltweit, die Tag für Tag ohne jeglichen Applaus und ohne jegliches Publikum still und fleissig namenlos ihre Schwerstarbeit verrichten. Damit dann andere, wenn die Visiere abgetragen und das neue Hochhaus dort gebaut sein wird, mit dem Vermieten von Büros, Geschäftslokalen und Wohnungen um ein Vielhundertfaches dessen an Profiten einfahren werden, als der namenlose Spitzenakrobat dieses 16. August 2023 jemals auf seinem Lohnkonto sehen wird. Darüber, wie der Kapitalismus funktioniert, braucht man keine Bücher und keine wissenschaftlichen Arbeiten zu lesen. Es genügt, an all den Brennpunkten, wo seine Widersprüche so gnadenlos aufeinanderprallen, nicht achtlos vorüberzugehen…