SVP: Wahlkampf auf dem Buckel ausgerechnet jener, ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich in sich zusammenfallen würden…

 

„Die ständige ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ am 17. April 2023, „hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. 2022 wanderten rund 81’000 Ausländerinnen und Ausländer mehr ein, als das Land verliessen.“ Die Zuwanderung und ihre Folgen seien also nicht ohne Grund ein beliebtes Wahlkampfthema der SVP. Wahlkampfleiter Marcel Dettling spreche denn auch von einem „Versagen der links-grünen Politik“ und sage: „Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Denn schon jetzt zeigt sich, dass die masslose Zuwanderung zu immer mehr Problemen führt.“ Das sehe man beispielsweise bei der Überlastung der Autobahnen und des öffentlichen Verkehrs, bei den hohen Lebenskosten, den zubetonierten Landschaften, der Zersiedelung und den Problemen in den Schulen.

Solcher Polemik ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Vorwurf, die Zuwanderung sei eine Folge „linksgrüner Politik“, voll und ganz ins Leere greift. Ganz im Gegenteil. Wenn schon jemand „schuld“ sein soll, dann die bürgerlichen Parteien inklusive SVP, denn diese bilden in fast allen kantonalen Parlamenten und Regierungen wie auch im eidgenössischen Parlament und im Bundesrat die Mehrheit.

Wer aber ist tatsächlich „schuld“ daran, dass zunehmend deutlich mehr Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz einwandern, als im gleichen Zeitraum wieder auswandern? Es ist nicht die eine oder andere politische Partei, sondern, einfach gesagt, das – kapitalistische – Wirtschaftssystem, das im Kleinen wie im Grossen unseren Alltag, die Wirtschaft und die Arbeitswelt dominiert. Dieses kapitalistische Wirtschaftssystem beruht auf der Idee, dass die Wirtschaft, will sie nicht untergehen, beständig wachsen muss. Diese Wachstumsideologie widerspiegelt sich in den Gewinnzahlen expandierender Unternehmen, in der wachsenden Mange an Produkten und Dienstleistungen, die auf den Markt geworfen werden, in der Zubetonierung der Landschaft und dem unaufhörlich zunehmenden Verkehrsaufkommen – genau all jenen „Problemen“, welche die SVP so unermüdlich anprangert.

Die zweite Komponente ist das – ebenfalls durch die kapitalistische Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft angetriebene – Konkurrenzkampf aller gegen alle um den sozialen Aufstieg, um möglichst lukrative Jobs und eine möglichst hohe Position auf der gesellschaftlichen Machtpyramide. Dies zeigt sich darin, dass immer mehr junge Menschen an die Gymnasien drängen und eine akademische Laufbahn anstreben, während sich immer weniger junge Menschen für Jobs interessieren, bei denen man körperlich hart arbeiten, sich die Hände schmutzig machen und sich erst noch mit einem geringeren Lohn und geringerer gesellschaftlicher Wertschätzung zufrieden geben muss, so dass sich in immer mehr Bereichen der Arbeitswelt ein zunehmender Arbeitskräftemangel manifestiert.

Beides – der systemimmanente Zwang zu Expansion und Wachstum wie auch der durch zunehmende Akademisierung bedingte Arbeitskräftemangel in handwerklichen und praktischen Berufen – bewirkt, dass unser Land in steigendem Masse auf die Einwanderung von ausländischen Arbeitskräften angewiesen ist. Es ist also keineswegs so, dass die Zuwanderung die Ursache für die genannten Probleme ist, sondern es ist genau umgekehrt: Das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist der Grund für die Zuwanderung. Das Problem sind, einfach gesagt, nicht die Ausländerinnen und Ausländer. Das Problem ist der Kapitalismus.

Ehrliche Politik würde bedeuten, diese Zusammenhänge aufzudecken und nicht ausgerechnet auf dem Buckel jener Menschen Wahlkampf zu betreiben, auf die wir so sehr angewiesen sind und ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft von einem Tag auf den anderen in sich zusammenbrechen würden.

US-Imperialismus: „Wenn es jemand anderes tun würde, dann würde man es Terrorismus nennen. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel.“

 

„Es gab keinen vernünftigen Grund für den Krieg gegen Afghanistan“, sagte der US-Publizist Noam Chomsky am 20. Oktober 2021, „Osama Bin Laden war erst ein Verdächtiger, als die Vereinigten Staaten begannen, Afghanistan zu bombardieren. Wenn es einen Verdächtigen gibt, den man festnehmen will, führt man normalerweise eine kleine Polizeiaktion durch. Aber nein: Zuerst bombt man, dann prüft man, ob es einen Grund dafür gegeben hat. Wenn das jemand anderes tut, nennt man es Terrorismus. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel.“ Was Chomsky über den Afghanistankrieg sagte, gilt gleichermassen für den Vietnamkrieg 1964-1975, für die verdeckten Militäroperationen in Zentralamerika unter Präsident Reagan, für den Jugoslawienkrieg 1999, für den Irakkrieg 2003 und alle anderen rund 40 Kriege und Militärschläge, welche die USA seit 1945 geführt haben und die rund 50 Millionen Tote und rund 500 Millionen Verwundete gefordert haben. Es gab keinen Grund, zuerst bombte man, dann suchte man Rechtfertigungen, andere würden es Terrorismus nennen, aber für die USA war es Spass und Spiel – wie 1991, als ein US-Militärpilot bei der Bombardierung fliehender irakischer Soldaten begeistert ausrief, die würden ja sterben „wie Fliegen“. Als der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs anlässlich einer Konferenz des „Athenic Democratic Forum“ am 26. Oktober 2022 sagte, das gewalttätigste Land der Welt seit 1950 seien die USA, da fiel ihm sogleich der Moderator ins Wort und hinderte ihn daran, weiterzusprechen. Und Julian Assange, der im November 2007 die geheimen Richtlinien der US-Armee für das Gefangenenlager Guantanamo an die Öffentlichkeit brachte, sitzt seit April 2019 in einem Londoner Gefängnis, von wo er gegen eine Auslieferung an die USA kämpft, wo ihm eine Haftstrafe bis ans Lebensende droht.

Doch die Blutspur des US-Imperialismus geht noch viel weiter zurück. Sein erstes Opfer waren die 5 bis 7 Millionen Indigene, welche vor dem Eintreffen des „weissen Mannes“ den nordamerikanischen Kontinent bevölkerten und hernach auf brutalste Weise Krankheiten, kriegerischen Auseinandersetzungen mit den europäischen Eindringlingen, Vertreibung und Massakern zum Opfer fielen. Nicht besser erging es den Millionen von Afrikanerinnen und Afrikanern, die vom „weissen Mann“ vom 16. bis zum 19. Jahrhundert auf nordamerikanischen Plantagen unmenschlichster Zwangsarbeit unterworfen wurden und meist schon frühen Alters starben. Andere würden es Terrorismus nennen, für sie aber, die Sklavenhalter und Kolonialherren, waren es die Grundlagen und Voraussetzungen für den vielgelobten Aufstieg zur zukünftigen Weltmacht, die alle übrigen bisherigen Weltmächte um ein Vielfaches in den Schatten stellen sollte.

Der US-Imperialismus ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite, der glänzenden, steht all das, was uns an den USA immer wieder so fasziniert: das Land der unendlichen Möglichkeiten, der „American Way of Life“, unbändiger Fortschrittsglaube und Pioniergeist, künstlerische Meisterleistungen in Musik, Literatur und darstellender Kunst, technische Erfindungen und Innovationen mit weltweiter Ausstrahlung, wunderschöne Landschaften und Menschen von ausgesuchter Offenheit und Herzlichkeit. Auf der anderen Seite des Schwertes aber klebt das Blut von Abermillionen von Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte zu Opfern des US-Imperialismus geworden sind, zu Opfern seiner Machtgier und seines skrupellosen Bestrebens, die ganze Welt bis in ihre äussersten Winkel zu beherrschen. Und je nachdem, ob man sich auf der glänzenden oder auf der blutigen Seite des Schwerts befindet, wird man den US-Imperialismus glorifizieren oder ihn aber als das verdammen, was andere „Terrorismus“ nennen würden.

Imperien kommen und gehen. Kein Imperium, auch nicht das Römische Reich, das ein für die damalige Zeit unvergleichliches Machtsystem rund um das ganze Mittelmeer aufgebaut hatte, hat ewig Bestand gehabt. Auch das US-Imperium wird eines Tages seine Weltherrschaft aufgeben müssen. Könnte es sein, dass wir diesem Zeitpunkt heute schon viel näher sind, als dies eben noch denkbar erschien? Das wachsende Selbstbewusstsein der lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Länder, das Aufstreben Chinas als neuer Supermacht wie auch immer lauter werdende Stimmen aus Europa, die einen eigenständigen politischen und wirtschaftlichen Weg fordern und sich vom Gängelband der USA befreien möchten, deuten darauf hin.

Eine neue Zeit zeichnet sich am Horizont ab. Eine Zeit, in der nicht mehr einzelne Länder andere beherrschen, unterdrücken und bevormunden, sondern gleichberechtigt und mit gleich langen Spiessen miteinander kooperieren. Eine Zeit, in der Kriege für immer der Vergangenheit angehören werden, denn ohne Imperialismus und ohne das Bestreben einzelner Länder, von anderen Besitz zu ergreifen, wird auch der Krieg als Machtmittel Einzelner gegen andere ganz und gar überflüssig geworden sein. Doch wäre nichts gewonnen, wenn dann, nach einem absehbaren Ende des US-Imperialismus, einfach China in die Fussstapfen der Weltmacht Nummer eins treten würde. Das Ansinnen, ein einzelnes Land könne die ganze Welt beherrschen, hat sich im Laufe der Geschichte so oft als zerstörerisch erwiesen, dass die daraus zu lernende Lektion nur eine einzige sein kann: ein friedliches, partnerschaftliches, auf gegenseitigem Respekt beruhendes Miteinander aller Völker und aller Länder auf dieser Erde, die nicht einzelnen Starken und Mächtigen gehört, sondern uns allen. Alles andere gehört in die Mottenkiste der Vergangenheit.

Eine andere Sicht auf den Taiwankonflikt: Wer ist denn da von allen guten Geistern verlassen, Emanuel Macron oder die, welche ihn nun so lauthals kritisieren?

 

Am 10. April, auf dem Rückweg von seinem Staatsbesuch in Peking, gab der französische Präsident Emanuel Macron ein Interview, das im Folgenden Wellen ungeahnten Ausmasses schlagen sollte. Macron vertrat die Ansicht, die „grösste Gefahr für Europa“ sei, von Amerika wegen des Taiwankonflikts in eine kriegerische Auseinandersetzung mit China hineingezogen zu werden. Macron plädierte dafür, die EU müsse und könne eine eigenständige „Supermacht“ werden, anstatt immer nur den USA zu folgen. Europa müsse in der Welt einen eigenen, gleichberechtigten Platz zwischen den USA, Russland und China finden.

Was auf den ersten Blick ganz vernünftig klingt, scheint offensichtlich jenen westlichen Politikern und Meinungsträgern, die sowohl gegenüber Russland wie auch gegenüber China einen harten, kompromisslosen Kurs verfolgen, ganz gehörig in den falschen Hals geraten zu sein. Der schweizerische „Tagesanzeiger“ schreibt am 11. April: „Allerdings fällt es schwer, den französischen Präsidenten ernst zu nehmen.“ Mit seinen Worten habe er ein „umfassendes Desaster angerichtet“, indem er das „dümmste und staubigste Argument aus der gaullistischen Mottenkiste“ verwendet habe, wonach sich Europa aus der amerikanischen Bevormundung lösen müsse. „Soviel Schaden mit ein paar Sätzen anzurichten“, so der „Tagesanzeiger“, „muss man erst noch schaffen.“ Macron hätte vor seinem Besuch in Peking schon als gescheiterter Präsident gegolten, jetzt habe er auch aussenpolitisch „seinen Bankrott erklärt.“ Noch schriller die Töne aus Deutschland: Der „Spiegel“ fragt, ob Macron „jetzt völlig von Sinnen“ sei. Und die „Welt“ schreibt: „Macron scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein.“ Mit seinen Worten habe er „für Entsetzen gesorgt“ und rundum reagiere die Politik auf Macrons Äusserungen „mit Unverständnis“.

Ich denke spontan an die Art und Weise, wie in deutschen Talkshows mit Menschen umgegangen wird, welche die Schuld am Ukrainekrieg nicht einzig und allein bei Russland sehen, sondern auch die Mitschuld des Westens aufzuzeigen versuchen. Ich denke an einen Artikel, in dem der Historiker Daniele Ganser, der das gängige Feindbilddenken des Westens aufzubrechen versucht, als „Gaukler“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ gebrandmarkt worden ist. Und ich denke an die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ins Leben gerufene Friedensinitiative, die man nicht mit Argumenten, sondern nur mit der Behauptung, die beiden Frauen sässen im gleichen Boot mit Nazis und Rechtsextremisten, mundtot zu machen versucht hat. Offensichtlich scheint es nur eine einzige Möglichkeit zu geben, „richtig“ zu denken – wer es wagt, anders zu denken, ist entweder ein Verschwörungstheoretiker, ein Putinversteher, ein Chinafreund oder er ist, wie Macron, „von allen guten Geistern verlassen“ worden.

Habe ich etwas falsch verstanden? Werden die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht immer wieder damit begründet, es ginge letztlich um den Kampf für Freiheit und Demokratie in der Auseinandersetzung gegen die Autokratie und gegen die Unterdrückung von Freiheit und Menschenrechten? Doch gehört zur Demokratie nicht auch die Meinungsfreiheit, das Recht darauf, Gedanken und Ideen zu äussern, die gerade nicht oder noch nicht mehrheitsfähig sind, ganz so, wie das Emanuel Macron getan hat? Ob sich die Demokratie oder die Autokratie durchsetzt, diese Frage wird nicht so sehr auf irgendwelchen Schlachtfeldern entschieden. Sie wird vor allem in unseren Köpfen entschieden, in der Art und Weise, wie mit unterschiedlichen, widersprüchlichen und vielleicht auch unbequemen Gedanken umgegangen wird, und wie ernsthaft man sich bemüht, auch die eigenen, eingefahrenen Denkmuster in Frage stellen zu lassen. Emanuel Macron hat Türen geöffnet und dabei viel Mut bewiesen – bleibt zu hoffen, dass möglichst viele andere ihm folgen werden…

 

Wer Daniele Ganser als „Gaukler“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ bezeichnet, macht sich die Sache wohl um einiges zu einfach…

 

„Im Bann des Gauklers“ – so der Titel eines ganzseitigen Artikels in der „NZZ am Sonntag“ vom 9. April 2023. Der „Gaukler“, das ist Daniele Ganser, der seit Monaten mit seinen Vorträgen über den Ukrainekonflikt in Deutschland Halle um Halle mit Tausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern füllt.

Der Artikel ist ein Lehrstück über tendenziösen Journalismus, scheint es doch dem NZZ-Journalisten nicht so sehr darum zu gehen, sich mit Gansers Thesen ernsthaft und objektiv auseinanderzusetzen, sondern bloss darum, ihn zu diffamieren und seine Positionen ins Lächerliche zu ziehen. So heisst es im Artikel, Gansers Aussagen seien „nachweislich falsch“, ohne dass dieser Nachweis tatsächlich erbracht wird. Dafür ist dem Autor jedes Mittel recht, Ganser in ein möglichst schiefes Licht zu rücken: Ganser, der „Gaukler“, wird zusätzlich als „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ bezeichnet und es wird gesagt: „Ganser war einmal ein seriöser Historiker“ – damit suggerierend, dass er das jetzt offensichtlich nicht mehr ist. Der Journalist begnügt sich aber nicht damit, Ganser fehlende Seriosität zu unterstellen, er karikiert gleich auch noch Gansers Publikum: „Ganz vorne erhebt sich eine Frau mit schwarzem Hijab, hinter ihr ein katholischer Priester in Talar und Römerkragen“, die vor dem Eingang Wartenden „sehen aus wie aufgereihte Dominosteine“, das Lächeln einer 25jährigen Wirtschaftsingenieurin sei „breit wie der Rhein“, „Bier wird nachgefüllt, vielleicht ein Wildberry Lillet für acht Euro“, die „Fangemeinde“ klatsche „frenetisch“. Alles in allem soll damit wohl der Eindruck erweckt werden, es handle sich bei Gansers Publikum um eine diffuse, unkritische und manipulierbare Masse.

Nur zu vier Punkten aus Gansers Vortrag nimmt der Autor konkret Stellung. Der erste ist Gansers Feststellung, es gäbe Zweifel an der russischen Verantwortung für das Massaker von Butscha. Der zweite ist Gansers Behauptung, Bill Clinton hätte das mündliche Versprechen an Russland, die Nato nicht nach Osten auszudehnen, gebrochen. Der dritte lautet, George W. Bush hätte der Ukraine 2008 zugesichert, sie könne der Nato beitreten. Und der vierte besteht darin, der Putsch auf dem Maidan 2014 sei von der CIA instrumentalisiert worden, um einen gewünschten Regierungswechsel in Kiew herbeizuzwingen. Ganser, so der NZZ-Journalist, wiederhole mit diesen Behauptungen, „was Historiker längst als falsch erkannt haben“. Doch so einfach, wie es der Autor gerne hätte, ist es nicht. Was die erste Behauptung – Butscha – betrifft, gibt es tatsächlich widersprüchliche Darstellungen, wenngleich die These einer russischen Hauptschuld durchaus glaubwürdig zu sein scheint. Für die zweite und dritte Behauptung – Natoerweiterung – gibt es eine Vielzahl glaubwürdiger Quellen. Weniger eindeutig scheint die Sachlage bei der vierten Behauptung – Maidan und CIA – zu sein, wenngleich eine Vielzahl von Expertinnen und Experten auch diese These stützen. 

Wenn also der NZZ-Journalist Daniele Ganser als „Gaukler“ bezeichnet, dann müsste er all jene westlichen Expertinnen und Expertinnen, welche die alleinige Schuld am Ukrainekrieg Russland in die Schuhe schieben und jegliche Mitschuld des Westens in Bausch und Bogen verwerfen, ebenso als Gaukler bezeichnen. Man muss nicht allem, was Ganser in seinen Vorträgen vermittelt, kritiklos zustimmen. Aber auch das Gegenteil ist, um den Konflikt in seiner ganzen Komplexität zu begreifen, wenig hilfreich. Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit und Objektivität und ein bisschen weniger Polemik würde ich mir in einer renommierten Zeitung wie der „NZZ am Sonntag“ schon wünschen…

Nur Vertrauen kann die kalte Mauer der Gewalt und der gegenseitigen Selbstzerstörung durchbrechen…

 

Als der chinesische Präsident Xi Jinping Ende Februar 2023 seinen 12-Punkte-Plan zur Beilegung des Ukrainekonflikts vorlegte, beeilten sich sogleich westliche Politiker und Medien, die Glaubwürdigkeit und die Ernsthaftigkeit dieses Plans in Frage zu stellen. Weder am Fernsehen noch in den grossen Tageszeitungen wurde der Plan im Wortlaut publiziert, was es der Öffentlichkeit möglich gemacht hätte, sich selber ein objektives Bild davon zu machen. Das Einzige, was gesagt wurde, war, China würde sich vor einer Verurteilung des russischen Angriffskriegs drücken und somit einseitig für Putin Partei ergreifen. Was nicht gesagt wurde: Dass Xi Jinping auch die Nato-Osterweiterung und die massive Aufrüstung der Ukraine durch die USA seit 2008 nicht verurteilt hatte, ganz einfach deshalb, um die Glaubwürdigkeit als neutraler Vermittler nicht aufs Spiel zu setzen.

Wer sich die Mühe genommen hat, den chinesischen Friedensplan im Einzelnen anzuschauen, kann ihm alles unterstellen, nur nicht eine einseitige Parteinahme. Schon im ersten Artikel wird die Beibehaltung der Souveränität beider Konfliktparteien unmissverständlich festgehalten. Weiter wird gefordert, dass bei einer Friedenslösung die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt werden müssten. Und schliesslich soll alles Erdenkliche unternommen werden, um eine Eskalation des Konflikts bis hin zu einem möglichen Atomkrieg abzuwenden.

Wo Türen schon zugeschlagen werden, bevor sie noch richtig geöffnet wurden, kann Frieden nicht einkehren. Dieser Tage feiern wir das Osterfest, das Fest der Nächstenliebe. Alle am Ukrainekonflikt beteiligten Länder haben christliche Wurzeln. Sie alle hätten eine gemeinsame Grundlage, das Gebot der Nächstenliebe, welche auch die Feindesliebe einschliesst. Selbst den Feind zu lieben – das mag bei der ganzen Brutalität, durch welche sich dieser Krieg auszeichnet, auf den ersten Blick völlig unrealistisch und naiv klingen. Und doch ist es der einzige Weg aus der tödlichen Sackgasse, in welche sich die Konfliktparteien verrannt haben. 

Alles ist eine Frage von Vertrauen oder Misstrauen. Wer einem chinesischen Friedensplan schon misstraut, bevor er ihn richtig angeschaut hat, sät auf der anderen Seite nur noch grösseres Misstrauen. Wer jede Pressemitteilung der einen Konfliktpartei der Lüge bezichtigt, zwingt auch die Gegenseite dazu, exakt das Gleiche zu tun. Wer Atomwaffen aufstellt, weil er den Friedensbeteuerungen der Gegenseite nicht traut, bringt die andere Seite dazu, genau das Gleiche zu tun. Misstrauen führt nur immer zu grösserem Misstrauen und treibt die gegenseitige Macht- und Gewaltspirale endlos in die Höhe.

Vertrauen – und damit Friedensförderung – kann nur durch Vertrauen entstanden. Das, was man bei gelungenen Friedensgesprächen „vertrauensbildende Massnahmen“ nennt. Nur Vertrauen kann die kalte, zerstörerische Mauer der Gewalt und der gegenseitigen Selbstzerstörung durchbrechen. „Der beste Weg, um herauszufinden, ob du jemandem vertrauen kannst“, sagte der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway, „ist, ihm zu vertrauen.“ Und weshalb soll, was für zwischenmenschliche Beziehungen gilt, nicht auch für die Beziehungen zwischen Staatsgebilden oder Wirtschaftsmächten gelten? Auf den ersten Blick mag eine solche Sichtweise realitätsfremd oder gar naiv klingen. Und doch ist sie um ein Vielfaches weniger realitätsfremd und naiv als die Idee, dieser Konflikt könnte mit rein militärischen Mitteln zu einem guten Ende gebracht werden.

Sitzblockade am Gotthard: Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben – ja schon, nur sollte auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleiben…

 

„Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben“, empört sich B.M. auf Twitter über die Sitzblockade von Aktivistinnen und Aktivisten der Organisation Renovate Switzerland am gestrigen Karfreitag vor dem Gotthardtunnel. B.M. ist nicht der Einzige, der sich masslos geärgert hat. Für viele ist der Osterausflug in den Süden so etwas wie eine lange ersehnte Gelegenheit, dem „Hamsterrad“ des mühsamen Alltags wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen und sich nach langen und harten Arbeitstagen eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Auch F.D., der so etwa jeden zweiten Monat für ein Wochenende nach Mallorca fliegt, Party feiert und sich „volllaufen“ lässt, sagt, dass er es nur so schaffe, seinen „Scheissjob“ auszuhalten.

Exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys also letztlich als Folge der kapitalistischen Arbeitswelt und all der Zwänge, dem Druck und der Fremdbestimmung, die mit ihr verbunden sind. Neueste Umfragen, wonach nur ein Fünftel aller Arbeitstätigen mit ihrer Arbeitssituation vollständig zufrieden sind und sich mit ihrem Job voll und ganz identifizieren können, bestätigen das. Auch, dass immer mehr Arbeitnehmende ihr Wochenpensum reduzieren, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass für viele Menschen Lebensfreude und Vergnügen nur wenig mit der täglichen Arbeitssituation zu tun haben.

Nur sind exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys nicht die beste Lösung des Problems, sind ihre ökologischen Auswirkungen doch verheerend. Viel gescheiter wäre es, die Arbeitswelt so umzugestalten, dass sie Vergnügen und Lebensfreude nicht mehr länger ausschliesst und unterdrückt, sondern in die tägliche Arbeit einbezieht. Hierzu bedürfte es in erster Linie einer Überwindung des Konkurrenzprinzips, des weitverbreiteten Spar- und Renditedrucks, des Wachstumszwangs und der unsinnigen Idee, in immer kürzerer Zeit eine unaufhörlich wachsende Menge an Produkten und Dienstleistungen herzustellen, die am Ende gar niemand mehr braucht, die aber sowohl den Menschen wie auch der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen. Bezeichnend ist ja auch, dass man sich, wenn man Freunde trifft, meist nur über die letzten Ferien sowie die geplante nächste Ferienreise austauscht, so als fände das eigentliche Leben praktisch nur in den Ferien statt. Selten hört man Menschen in ihren Gesprächen über Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen in ihrer Arbeitswelt schwärmen, obwohl diese doch eine weitaus viel längere Zeitdauer in Anspruch nimmt. Würde es gelingen, die tägliche Arbeit zum eigentlichen „Abenteuer“ des Lebens werden zu lassen, wäre wohl die Sehnsucht nach exzessiven Auszeiten um ein Vielfaches geringer.

Da schreibt doch E.F. auf Twitter, die Autos, welche dieser Tage am Gotthard im Stau stecken, würden nichts zur Klimaerwärmung beitragen. Also nur alle anderen? Und nur gerade diese nicht? Das eigene problematische Verhalten damit zu rechtfertigen, dass es ja alle anderen auch tun, erinnert auf erschreckende Weise an die Aussage des ehemaligen CS-CEOs Oswald Grübel, der auf die Frage eines Journalisten, ob er in Anbetracht seines Jahresgehalts von 20 Millionen Franken kein schlechtes Gewissen hätte, Folgendes zur Antwort gab: „Was ist schon gerecht? Die Welt ist voller Ungerechtigkeit. Weshalb soll ich da ein schlechtes Gewissen haben?“ Über eine solche „Lausbubentaktik“ sollten wir allmählich herausgewachsen sein. Alle sind für alles verantwortlich. Denn „was alle angeht“, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“

Interessant ist auch, dass sich insbesondere das Autofahren auf überdicht befahrenen Strassen im Grunde jeglicher Vernunft entzieht. All die Osterreisenden, die jetzt wieder auf der Fahrt in den Süden in endlosen Kolonnen feststecken, wären um einiges schneller am Ziel, wenn sie die Eisenbahn benützen würden. Könnte auch da ein Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitswelt bestehen? Sind Autofahrer – der grössere Teil von ihnen sind Männer – wohl deshalb so erpicht, hinter dem Steuerrad zu sitzen, weil sie auf diese Weise nun endlich Macht und Kontrolle über etwas, und sei es nur eine Tonne Stahl und Blech, ausüben können, während doch im übrigen Leben stets nur über sie Macht und Kontrolle ausgeübt wird?

Ja, ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben. Ganz und gar einverstanden. Nur sollten wir damit so massvoll umgehen, dass auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleibt. Auch ohne Auto, Flugzeug und exzessive Strandpartys kann man wunderbare, genussvolle Auszeiten geniessen., und sei es nur das Bad in einem kalten Bergsee, ein Ameisenhaufen oder die Radfahrt von einem Dorf ins nächste. Wenn uns die Aktivistinnen und Aktivisten von Renovate Switzerland mit ihrer Sitzblockade im Osterverkehr am Gotthard dafür die Augen geöffnet haben, dann hat sich ihre Aktion mehr als gelohnt…

 

Unmenschliche Trainingsmethoden im Trampolinspringen: Sport, der nicht mit Lebensfreude verbunden ist, sollte im Leben junger Menschen keinen Platz haben dürfen…

 

Wie Recherchen des Schweizer Fernsehens zeigen, soll eine Trainerin des Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrums in Liestal BL ihre Turnerinnen und Turner der Disziplin Trampolin während Jahren verbal erniedrigt und ihnen teilweise sogar Schmerzen zugefügt haben, „Sie hat uns nie geschlagen“, berichtet eine Turnerin, „aber manchmal wäre es mir fast lieber gewesen, als dass sie mich psychisch so fertigmacht und mir sagt, dass ich aussehe wie ein Schwein und jeden Tag dicker und dicker werde.“ Und eine andere berichtet, die Trainerin sei den Sportlerinnen auf die Knie gesessen, um diese zu überstrecken – viele hätten deswegen bis heute Knieprobleme. „Manchmal“, so eine weitere Athletin, „habe ich mir gewünscht, bei einem Sprung auf den Kopf zu fallen, dass ich wenigstens eine Zeitlang nicht mehr ins Training müsste.“ Die Recherchen ergaben auch, dass nicht wenige der Trampolinspringerinnen Suizidgedanken gehabt hätten.

Zuerst die Kunstturnerinnen. Dann die Synchronschwimmerinnen. Und jetzt die Trampolinspringerinnen und Trampolinspringer. Gewalt, Schmerzen, Beleidigungen, körperliche Langzeitschäden, Suizidgedanken. Das kann wohl kein Zufall sein. Da muss ein System dahinterstecken. Dieses System, das ist das Konkurrenzprinzip. Es funktioniert ganz einfach: Wer sich bis in die Elite hochgekämpft hat, steht fortan in einem unerbittlichen globalen Wettbewerb. Das heisst: Wenn schweizerische Trampolinspringerinnen an den nächsten Europa- oder Weltmeisterschaften Erfolg haben wollen, dann müssen sie besser sein als die rumänischen oder die chinesischen Springerinnen. Und je mehr und je härter und je extremer bis an ihre Schmerzgrenze die einen trainieren, umso mehr sind die anderen, wenn sie nicht scheitern wollen, gezwungen, es ihnen gleichzutun oder sie wenn möglich noch zu übertreffen. Keine schweizerische Jugendliche würde einer rumänischen oder chinesischen Jugendlichen Leid zufügen wollen, und doch zwingt die schweizerische Jugendliche mit jeder zusätzlichen, noch härteren Trainingseinheit, ob sie will oder nicht, die rumänische oder chinesische Jugendliche zu einer noch extremeren Leistung und umgekehrt. Und weil sich dadurch die Leistungen gegenseitig immer weiter in die Höhe schrauben, wird der Aufwand, an der Spitze mithalten zu können, von Jahr zu Jahr immer grösser, die Sprünge immer schwieriger und gefährlicher, das Leiden der Athletinnen immer unerträglicher.

Man kann nun schon, wie das getan wird, mit den Fingern auf eine „böse“ und „herzlose“ belarussische Trainerin zeigen. Doch auch diese ist ein Teil des Systems. Auch sie steht unter einem gewaltigen Druck ihrer Vorgesetzten, aus ihrem Team eine möglichst grosse Leistung herauszupressen. Man müsste sich ja einmal fragen, weshalb denn schweizerische Sportverbände ausgerechnet Trainerinnen aus osteuropäischen Ländern verpflichten, obwohl ja allgemein bekannt ist, dass diese besonders drakonische Trainingsmethoden anwenden. Die Antwort ist einfach: Sie werden angestellt, eben gerade weil sie für ihre Trainingsmethoden so berüchtigt sind – um eben die grösstmögliche Leistung zu erzielen.

Der aktuelle Spitzensport hat sich in einer selbstzerstörerischen Sackgasse verirrt. War Sport ursprünglich ein Anlass für Vergnügen und Lebensfreude und diente er der allgemeinen Wohlfahrt und Gesundheit, so ist im Spitzensport alles entgegengesetzt: Er macht die Menschen krank statt gesund, zwingt sie, ihre Körper bis zum Exzess kaputtzumachen und verscheucht jegliche Lebensfreude – das zeigt sich auch darin, dass die meisten der im Bericht zu Wort gekommenen Trampolinspringerinnen, die heute zwischen 17 und 20 Jahre alt sind, ihre Karriere inzwischen beendet haben – was bei ihnen allen wohl mit viel Begeisterung und Hoffnung begonnen hat, ist zu einer Lebensphase verkommen, die sie möglichst schnell wieder vergessen möchten.

Kosmetische Korrekturen, wie sie in den betroffenen Sportverbänden heute diskutiert werden, genügen daher nicht. Auch nicht das blosse Auswechseln von Trainerinnen. Es braucht vielmehr ein radikales Umdenken, ein radikales Hinterfragen des herrschenden Konkurrenzprinzips im Spitzensport. Alle Phantasie müsste aufgewendet werden, neue Formen zur Entfaltung jugendlicher Talente zu finden, die mit dem wahnhaften Vergleichen, Bewerten und Messen von sportlichen Leistungen, vor allem in Gestalt internationaler Wettkämpfe, nichts mehr zu tun haben. Sport, der nicht mit Lebensfreude verbunden ist, sollte im Leben junger Menschen keinen Platz haben dürfen. 

Das IKRK kürzt Budget um 430 Millionen Franken und der reichste Mann der Welt besitzt ein Vermögen von 226 Milliarden Dollar…

 

SRF-News berichtet am 4. April 2023, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK in den kommenden zwölf Monaten mindestens 20 seiner weltweit 350 Standorte schliessen werde. Mehrere Programm würden beendet oder gekürzt. „Aufgrund der in den nächsten zwei Jahren voraussichtlich rückläufigen internationalen humanitären Hilfsbudgets“, so ist auf der Website des IKRK zu lesen, „muss das IKRK seine Anstrengungen gezielter auf Programme und Orte ausrichten, wo es gemäss seinem Mandat, lebensrettende Hilfs- und Schutzdienste für Menschen in bewaffneten Konflikten und Situationen von Gewalt bereitzustellen, am meisten erreichen kann. Da im laufenden Jahr bis zu 700 Millionen Franken fehlen werden, haben die obersten Entscheidungsträger des IKRK eine Kürzung von 430 Millionen Franken für 2023 und den Beginn des Jahres 2024 beschlossen.“ Dies bedeutet, so Robert Madini, Generaldirektor des IKRK, dass „wir nicht mehr die Mittel haben werden, um Menschen in schwer zugänglichen Regionen zu helfen.“

Im Klartext: Viele Menschen in Kriegsgebieten werden zukünftig auf die Unterstützung durch das IKRK verzichten müssen. Oder, noch deutlicher: Unzählige Menschen werden der Sparkeule geopfert und werden das nicht überleben. Statt „IKRK spart 430 Millionen“ müsste man eigentlich sagen: „Sparkeule opfert Menschenleben“. Wäre tatsächlich insgesamt zu wenig Geld vorhanden, würde man das ja noch einigermassen verstehen. Tatsächlich aber wäre weltweit weitaus genug Geld vorhanden, um sämtliche IKRK-Stellen zu erhalten und sämtliche IKRK-Projekte weiterlaufen zu lassen. Es ist nicht zu wenig Geld vorhanden, das Problem ist nur, dass es sich in den falschen Händen befindet. Allein der reichste Mann der Welt, der Unternehmer Bernard Arnault, besitzt 226 Milliarden US-Dollar. Dies ist sage und schreibe das 525fache dessen, was das IKRK bräuchte, um seine Projekte 2023 bis anfangs 2024 durchführen zu können. Auch das Geld, das zurzeit aufgewendet wird, um die zweitgrösste Schweizer Bank, die Credit Suisse, vor dem Kollaps zu retten, bewegt sich in dieser Grössenordnung. „Die Behauptung, es gäbe kein Geld, um das Elend in der Welt zu besiegen“, sagte der deutsche CDU-Politiker Heiner Gessler, „ist eine Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.“

„Sparmassnahmen“ oder, noch schöner, „Sanierungsmassnahmen“ haben in unserer kapitalistischen Welt schon fast einen mythischen Klang. An allen Ecken und Enden wird gespart und „saniert“, im Gesundheitswesen, bei der Bildung, beim öffentlichen Verkehr, bei sozialen Einrichtungen, und dies weltweit. Einige der eifrigsten „Sanierer“ brüsten sich geradezu damit, möglichst harte Sparmassnahmen durchzupauken. „Sparen“ ist gleichsam zum Selbstzweck geworden. Je billiger und je weniger Kosten, umso besser. Dies hat solche Ausmasse angenommen, dass schon gar nicht mehr hinterfragt wird, ob nun in diesem oder jenem Bereich tatsächlich gespart werden muss, oder ob es nicht auch eine Alternative dazu gäbe.

Und schon gar nicht wird hinterfragt, weshalb überhaupt gespart werden muss. Dabei liegt die Erklärung doch auf der Hand: Das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem sorgt dafür, dass unaufhörlich Geld aus dem öffentlichen in den privaten Bereich wandert. Gewiss, auch in umgekehrter Richtung fliesst Geld, aber viel weniger. Sonst würde sich die Zahl der Reichen und Reichsten weltweit nicht von Jahr zu Jahr in immer extremere Höhen hinaufschrauben, während gleichzeitig die Zahl der Armen weiter und weiter zunimmt – so wie beispielsweise in der Schweiz, wo die reichsten 300 Menschen über 820 Milliarden besitzen, während gleichzeitig über 700’000 Menschen von Armut betroffen sind. Ist ja klar: Wenn oben immer mehr aufgetürmt wird, muss logischerweise unten immer mehr abgezwackt werden. „Sparprogramme“ und „Sanierungsprogramme“ müsste man daher ehrlicherweise als „Zerstörungsprogramme“ bezeichnen und das, was als „Gesundschrumpfung“ hochgejubelt wird, müsste man eigentlich „Krankschrumpfung“ nennen, so wie es sich beispielsweise im Gesundheitswesen auf schon fast zynische Weise manifestiert, wo Sparmassnahmen zu nichts weniger als dazu führen, dass sowohl die Gesundheit der Patientinnen und Patienten wie auch die Gesundheit des Pflegepersonals erheblich darunter leidet. 

„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“, sagte Mahatma Gandhi. Und Albert Einstein formulierte es so: „Es gäbe genug Geld, genug Arbeit, genug zu essen, wenn wir die Reichtümer der Welt gerecht verteilen würden, statt uns zu Sklaven eines starren Wirtschaftssystems zu machen.“ Eines Wirtschaftssystems, das, wie auch Papst Franziskus sagte, „die Menschen tötet“. Und dies auch ganz leise, unsichtbar und fern aller Schlagzeilen, so wie jene weltweit über 10’000 Kinder, die Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger sterben, und all die zahllosen, namenlosen Opfer kriegerischer Konflikte, die von den jüngsten Sparmassnahmen des IKRK betroffen sein werden, Sparmassnahmen, beschlossen anfangs April 2023, über die weder das Fernsehen, noch die grossen Tageszeitungen und schon gar nicht die sozialen Medien berichtet haben, weil einer solchen Meldung offenbar in der Werteskala westlicher Wahrnehmung nicht eine genug wichtige Bedeutung zukommt…

In einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich viel wichtiger und unerlässlicher denn je…

 

„Die Neutralität schadet der Schweiz“, schreibt der ehemalige Spitzendiplomat Thomas Borer im „Tagesanzeiger“ vom 3. April 2023. Bedrohungen von aussen könnten heute am besten „in einem grossen Verband“ bekämpft werden, dies hätten Schweden und Finnland begriffen und sich daher für einen Beitritt zur NATO entschieden. Das Instrument der Schweizer Neutralität werde heute im Ausland „schlichtweg nicht mehr begriffen“. Das Waffenausfuhrverbot, gekoppelt mit dem neutralen Status der Schweiz, schädige die „Reputation bei den westlichen Staaten“. Die Eidgenossenschaft werde als egoistisch eingestuft, als ein Land, das im Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ nicht nur abseitsstehe, sondern sogar der westlichen Wertegemeinschaft „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Daher sei unsere Neutralität „obsolet“ geworden und schade der Schweiz mehr als sie ihr nütze.

Gewiss. Wenn die Neutralität bloss in einem passiven Abseitsstehen gegenüber internationalen Konflikten und Bedrohungen besteht, kann man sie ebenso gut über Bord werfen. Wird sie aber aktiv gelebt, kann sie eine riesige Chance sein, diplomatische Dienste anzubieten, welche in nichtneutralen Ländern aufgrund ihrer Befangenheit nicht mehr geleistet werden können. Selbst wenn die Schweiz noch das einzige verbliebene neutrale Land wäre, müsste sie erst recht an ihrem neutralen Status festhalten, sozusagen als letzte Bastion, wo sich die Exponenten der Kriegsparteien treffen könnten. Leider wird diese Chance immer noch nicht wahrgenommen und vergebens wartet man darauf, dass der Schweizer Aussenminister Cassis Putin und Selenski zu Friedensgesprächen nach Genf einlädt – ob die dann tatsächlich kämen, ist die andere Frage, aber versuchen müsste man es doch zumindest. Wenn die Neutralität so passiv gelebt wird, dann verstehe ich alle, die sie schon lieber heute als morgen abschaffen möchten. 

Borer spricht von einer „Wertegemeinschaft“ des Westens, der die Schweiz „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Wenn etwas veraltet ist, dann dieses Blockdenken. Diese vielbeschworene „Wertegemeinschaft“ bildet nämlich nur der geringste Teil der Weltbevölkerung. Ganz Lateinamerika, ganz Afrika und die meisten Länder Asiens gehören nicht zu dieser „Wertegemeinschaft“ und nehmen im Ukrainekonflikt fast ausschliesslich eine neutrale Haltung ein. Für sie alle kann die neutrale Schweiz ein grosses Vorbild sein, ein Land, das den Mut hat, seinen eigenen Weg zu gehen und sich nicht in den Strudel eines sich anbahnenden dritten Weltkriegs hineinziehen zu lassen.

Borer spricht auch von einem Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“. Ja wenn es so einfach wäre. Tatsache ist, dass der Westen durch seine aggressive NATO-Osterweiterung und die militärische Aufrüstung der Ukraine seit 2008 eine wesentliche Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs trägt. Tatsache ist auch, dass in der Ukraine die russischsprachige Bevölkerungsminderheit massiver Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt ist: Mehrere regierungskritische Parteien, Zeitungen und TV-Stationen wurden verboten, sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren wurden aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt, musikalische Werke russischer Komponistinnen und Komponisten dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden und ein 2019 erlassenes Sprachengesetz untersagt die Verwendung der russischen Sprache im öffentlichen Raum. Wer mit dem Argument, man müsse für das „Gute“ gegen das „Böse“ Partei ergreifen, für eine Absage an die Neutralität plädiert, verbaut sich den Blick auf alle Zwischentöne und jegliche differenzierte Meinungsbildung über einen Konflikt, der sich durch zahlreiche widersprüchliche Facetten auszeichnet und nicht simpel auf einen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ reduziert werden kann. Von einem Spitzendiplomaten wie Thomas Borer wäre eigentlich eine ausgewogenere Haltung zu erwarten.

Wenn Borer meint, die Neutralität schade der Schweiz, so mag das kurzfristig möglich sein. Langfristig aber wird die Neutralität der Schweiz höchstwahrscheinlich mehr nützen als schaden. Spätestens dann, wenn es vielleicht doch noch in absehbarer Zeit zu Friedensverhandlungen kommt und sich dafür kein anderer Ort so sehr anbieten würde wie die Stadt Genf mit ihrer jahrzehntelangen humanitären Tradition. Denn in einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich wichtiger und unerlässlicher denn je. 

Als wäre nicht auch das Muttersein ein vollwertiger, höchst anspruchsvoller und zudem gesellschaftlich höchst wichtiger, geradezu unerlässlicher Beruf…

 

Echo der Zeit, Radio SRF1, 2. April 2023: Interview mit Martin Schröder, Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes und Autor des Buchs „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ Schröder zitiert eine Studie, bei der 21’000 Bewerbungen in sechs Berufen in sechs Ländern ausgewertet wurden. Das Fazit, so Schröder: „Im Schnitt werden eher die Frauen als die Männer zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Frau an sich scheint also nicht das problematische Kriterium zu sein. Was man aber durchaus immer wieder sieht, ist, dass Mütter bzw. Frauen, welche Gefahr laufen, bald Mutter zu werden, durchaus bei gleichen Qualifikationen für weniger kompetent gehalten und weniger oft eingestellt werden.“

Kapitalismus in Reinkultur. Frauen also, die einen „richtigen“ Beruf ausgeübt oder womöglich schon einem „richtigen“ Beruf Karriere gemacht haben, werden gegenüber Frauen, die „nur“ Mütter gewesen sind bzw. „Gefahr laufen“, Mutter zu werden, bevorzugt. Als wäre nicht auch das Muttersein ein vollwertiger, höchst anspruchsvoller und zudem gesellschaftlich höchst wichtiger, geradezu unerlässlicher Beruf, der wohl nur deshalb so wenig gesellschaftliches Ansehen geniesst, weil er zum Nulltarif geleistet wird.

Dieser Sachverhalt drängt Frauen dazu, so schnell wie möglich nach einer Geburt wieder ins Erwerbsleben einzusteigen, nur um ja nicht den Anschluss zu verpassen. Also die Kinder so schnell wie möglich ab in die Kita, das hektische Hin- und Herschieben der Kinder wird finanziellen Interessen zuliebe bereitwillig in Kauf genommen, die unendlich vielen kleinen Wunder des Aufwachsens, Lernens, Forschens und Entdeckens überlässt man professionellem Betreuungspersonal und begnügt sich im Extremfall damit, die Kinder am Morgen aufzuwecken und am Abend wieder ins Bett zu bringen.

Vieles spricht dafür, zumindest eine Zeitlang auf eine ausserhäusliche Erwerbsarbeit zu verzichten und sich vollumfänglich den Kindern zu widmen. Allerdings wären hierfür mehrere Rahmenbedingungen unerlässlich. Erstens bräuchte es existenzsichernde Mindestlöhne, so dass keine Familie bzw. kein Haushalt gezwungen wäre, einem Zweit- oder Drittjob nachzugehen. Zweitens bräuchte es eine Gleichstellung von Frauen- und Männerlöhnen, so dass wahlweise der Mann oder die Frau den Familien- und Haushaltjob übernehmen oder ihn, was wohl die ideale Lösung wäre, zwischen sich aufteilen könnten. Drittens könnte der Beruf als Familienfrau oder Familienmann auch dadurch „aufgewertet“ werden und zu einer finanziellen Entlastung führen, indem grosszügiges Kindergeld ausgerichtet würde. Viertens dürfte das Kriterium, Mutter zu sein oder „Gefahr“ zu laufen, es zu werden, niemals für einen Arbeitgeber einen Hinderungsgrund bilden, eine Frau einzustellen. Fünftens müsste jedes Unternehmen verpflichtet werden, einer Frau, der die Erfahrung im ausserhäuslichen Erwerbsleben über Jahre gefehlt hat, die nötige Geduld, Zeit und Aufmerksamkeit entgegenzubringen, damit sie wieder auf den neuesten Stand gebracht werden könnte. Und sechstens sollte keine Frau – und kein Mann – für seine Familienzeit bestraft werden durch eine tiefere Rente im Alter. Die Familienarbeit müsste jeder anderen Arbeit gleichgestellt werden durch entsprechende Zuschüsse an die Altersvorsorge.

Forderungen und Ideen, die auf den ersten Blick utopisch klingen mögen. Doch das ist nur so, weil wir uns an all die bestehenden Absurditäten so sehr gewöhnt haben, dass wir uns einbilden, dies sei das einzige Mögliche. Tatsächlich aber ist diese Realität noch immer zutiefst geprägt von einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur, in der ein Banker – wohlweislich stets ein Mann – für so ziemlich den überflüssigsten Job zehn oder zwanzig Millionen Franken verdient, während sich die Mutter und Hausfrau, die so ziemlich die gesellschaftlich wichtigste Arbeit verrichtet, sich immer noch zum Nulltarif abstrampelt. Von den Kindern, die niemand gefragt hat, unter welchen äusseren Bedingungen sie aufwachsen möchten, schon gar nicht zu reden. Und doch wären gerade sie die ersten, die man fragen müsste. Denn, wie der frühere schwedische Premierminister Olof Palme sagte: „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind, und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“