Erst wenn die Gewalt des herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystems überwunden wird, kann auch jene Gewalt, die Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden…

 

Gemäss „Sonntagszeitung“ vom 2. April 2023 zeigt die neue schweizerische Kriminalstatistik, welche diese Woche veröffentlicht wurde, dass schwere Gewaltdelikte weiterhin zunehmen, vor allem auch bei den Jüngsten. So wurden 1385 Minderjährige zwischen 10 und 14 Jahren letztes Jahr einer Gewaltstraftat beschuldigt, 11 Prozent mehr als im Vorjahr und fast 50 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Ihnen werden Körperverletzung, Raub, sexuelle Nötigung oder versuchte Tötung vorgeworfen. Über 80 Prozent sind Buben. Dirk Bauer von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, der seit Jahren zum Thema Kinder- und Jugendgewalt forscht, kann sich diese Entwicklung „noch nicht schlüssig erklären“. Am ehesten sieht er die Ursachen bei den „sozialen Medien“, „problematischen Vorbildern“, „desinteressierten Elternhäusern“ und „problematischen Familienverhältnissen.“

Diese Sichtweise scheint mir zu kurz zu greifen. Die Schuldzuweisung an „soziale Medien“ oder „problematische Familienverhältnisse“ individualisiert die Problematik und lenkt davon ab, dass auch die Gesellschaft als Ganzes und die Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt eine ganz wesentliche Ursache steigender Jugendkriminalität bilden könnten. Beobachten wir diese Veränderungen, dann stellen wir nämlich fest, dass sich die Anforderungen am Arbeitsplatz, der Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg und die Schere zwischen Arm und Reich seit Jahren immer mehr verschärfen, lauter Belastungen, von denen nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Besonders stark wirkt sich dies alles auch auf die Schule aus, wo die Kinder einem laufend wachsenden Leistungsdruck ausgesetzt sind, für gute Noten und damit gute Zukunftschancen ein immer grösserer Aufwand betrieben werden muss und all jene Kinder, welche diesem Konkurrenzkampf nicht gewachsen sind, mit immer grösseren Enttäuschungen und verlorenem Selbstvertrauen auf der Strecke bleiben. Wie erbarmungslos sich dies auswirken kann, zeigt das Beispiel einer Neunjährigen im St. Galler Rheintal, die unlängst von ihrem Vater geprügelt, geohrfeigt und mit einem Essensverbot bestraft wurde, weil sie wiederholt schlechte Schulnoten nach Hause gebracht hatte.

Es ist nicht lange her, da wurde in den Medien darüber berichtet, dass psychische Probleme bei Mädchen und jungen Frauen in den vergangenen zehn Jahren massiv zugenommen hätten, so vor allem Essstörungen, Magersucht, Depressionen und Suizidversuche. Doch nur selten werden von Fachleuten oder von den Medien psychische Probleme von Mädchen und gewalttätiges Verhalten von Buben in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht, man tut so, als hätte das eine mit dem anderen nicht das Geringste zu tun. Tatsächlich aber sind das die beiden Kehrseiten der gleichen Ursache, des zunehmenden Drucks und des sich laufend verschärfenden Konkurrenzkampfs im Alltag, in der Arbeitswelt und in der Schule. Nur dass Mädchen und Buben eben der unterschiedlich darauf reagieren: Während Knaben die „Gewalt“ nach aussen tragen und anderen Menschen Schaden zufügen, fressen die Mädchen dagegen die „Gewalt“ in sich selber hinein und fügen sich selber Schaden zu. Diese „Gewalt“ aber ist nichts anderes als eine Reaktion auf die bereits vorhandene gesellschaftliche Gewalt, in der diese jungen Menschen aufwachsen. Kein Mensch ist von Natur aus gewalttätig, es sind die Umstände, die ihn dazu bringen. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Wenn wir daher die Gewalttätigkeit oder die psychischen Probleme junger Menschen wirksam bekämpfen wollen, dann müssen wir bei den Ursachen ansetzen, nicht bei den Symptomen. Irgendwelche Aufklärungs- und Präventionsprogramme nützen ebenso wenig wie individuelle Therapiemassnahmen. Denn die extremen, von der Statistik erfassten Fälle bilden nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige andere Kinder und Jugendliche leiden ebenso unter den Belastungen, dem Druck und den übertriebenen Erwartungen, denen sie täglich ausgesetzt sind – ohne aber straffällig zu werden oder auf psychologische Hilfe angewiesen zu sein. Was wir brauchen, ist nichts weniger als die Überwindung einer Leistungsgesellschaft, die schon längst aus allen Fugen geraten ist. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, eine Arbeitswelt und eine Schule, in welcher die Menschen nicht in einen permanenten gegenseitigen Überlebenskampf gezwungen werden, sondern jede und jeder Einzelne in ihrer Individualität und Einzigartigkeit wahrgenommen, geschätzt und geliebt wird. Eine Arbeitswelt, die nicht auf Konkurrenzkampf und gegenseitige Ausgrenzung ausgerichtet ist, sondern auf Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Und, nicht zuletzt, eine massive Verringerung der bestehenden Lohnunterschiede, sodass nicht alle gezwungen sind, sich verzweifelt immer weiter nach oben zu kämpfen. Erst wenn die Gewalt, die das herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ausübt, überwunden wird, kann auch jene Gewalt, welche Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden können.

Credit Suisse: Erst wenn die letzte Bank gefallen ist, werden wir merken, dass man Geld nicht essen kann…

„13 Prozent der gesamten Wertschöpfung in der Stadt Zürich“, schreibt die „NZZ am 27. März 2023, „gehen auf die Banken zurück.“ Auch die meisten Ökonomen, Politikerinnen und Bankenfachleute betonen bei jeder Gelegenheit die volkswirtschaftliche Bedeutung der Banken und rechtfertigen damit auch noch so massive staatliche Unterstützung, wenn einer dieser „systemrelevanten“ Grundpfeiler ins Wanken gerät.

Doch eigentlich handelt es sich bei alledem um einen gigantischen Trugschluss. Volkswirtschaftliche Wertschöpfung erfolgt nämlich nicht durch die Banken, sondern durch die reale Wirtschaft, durch die Fabriken, durch die Landwirtschaftsproduktion, durch die arbeitenden Menschen auf den Baustellen, in der Gastronomie und in den Spitälern. Die „Leistung“ der Banken besteht einzig und allein darin, das in der Realwirtschaft erarbeitete Geld zu horten, hin- und herzuschieben, es möglichst gewinnbringend anzulegen und es, auf was für verschlungenen und geheimnisvollen Wegen auch immer, unermesslich in die Höhe wachsen zu lassen.

„Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, sagte Bertolt Brecht. Wie recht er hatte! Auf der einen Seite fliesst hart erarbeitetes Geld aus der Realwirtschaft in die Banken, auf der anderen Seite fliessen Millionengewinne für Aktionärinnen und Aktionäre, Boni und astronomische Gehälter für die Manager sowie exorbitante Unternehmensgewinne heraus – kann man das anders bezeichnen denn als Diebstahl am Volksvermögen? Dass am Ende, wenn eine Bank trotz allem in eine Krise schlittert, wiederum öffentliches Geld herhalten muss, um die Bank zu „retten“, ist nichts anderes als doppelter und dreifacher Raub am Volksgut.

Dass diesem ganzen Unwesen nicht schon längst ein Ende bereitet worden ist, hat wohl damit zu tun, dass das Bankenwesen – und der Kapitalismus ganz generell – so etwas geworden ist wie eine neue Religion. Nicht von ungefähr gleichen viele Banken, selbst in kleineren Siedlungen, griechischen Tempeln und die schwindelerregende Höhe ihrer Verwaltungsgebäude erinnert an mittelalterliche Kathedralen. Nur scheinbar haben wir das Zeitalter monotheistischer Religionen, die das Schalten und Walten eines übermächtigen Gottes über die individuelle Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung gestellt hatten, überwunden. Ganz leise und unbemerkt hat sich eine neue Religion unserer Seelen bemächtigt: die Religion der Profitgier, die Religion der Gewinnmaximierung, die Religion der Rendite, die Religion des Geldes, die Religion des Kapitalismus.

Und wie es so ist mit Religionen: Niemand versteht so richtig die Zusammenhänge, alle verstecken sich gegenseitig hintereinander, selbst die besten „Spezialistinnen“ und „Spezialisten“ können nicht mehr erklären, wie und weshalb alles so und nicht anders funktioniert in diesem tödlichen Spiel, bei dem immer grössere Mengen an Geld, die mit der Realwirtschaft nicht mehr das Geringste zu tun haben, in immer schnellerem Tempo um den Erdball sausen. Ein System, das längst alle Vernunft verloren hat. Aber weil alle daran glauben, wird es weiterhin, auch wenn seine Mängel immer offensichtlicher zutage treten, ebenso ehrfürchtig vergöttert wie einst der Himmelvater Zeus oder die heiligen Schriften der christlichen Glaubenslehre.

Möglicherweise ist der Zerfall der Credit Suisse nur ein erster Vorbote einer noch viel grösseren Krise, die auf uns zukommen könnte. Spätestens dann werden wir uns wohl an jene Weissagung der nordamerikanischen Creek erinnern, ausgesprochen vor über tausend Jahren, oft belächelt und viel zu wenig ernst genommen, aber in diesen Tagen aktueller denn je: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“

Man muss nicht gegen feindliche Armeen kämpfen, man muss gegen den Krieg kämpfen…

 

„Die Schweiz“, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 23. März 2023, „könnte mithelfen, Leben in der Ukraine zu retten und das internationale Recht zu verteidigen, indem sie den Verbündeten erlaubt, Waffen und Munition zu liefern.“

Wie zynisch. Waffen liefern, um Leben zu retten? Ich habe immer geglaubt, Waffen seien dazu da, Menschen zu töten und Leben zu zerstören. Gibt es gute und schlechte Waffen? Sind, wie Stoltenberg wörtlich sagt, nur die Waffen in der Hand der Russen dazu da, „hohe Verluste in Kauf zu nehmen“, die Waffen in der Hand der Ukraine aber bloss dazu, „Gebiete zu befreien“? Und wie war das mit den Waffen in der Hand der Ukraine, mit denen zwischen 2014 und 2022 im Donbass Tausende von Zivilpersonen getötet wurden, waren das nun „gute“ oder „böse“ Waffen? Und die Waffen in der Hand der NATO-Truppen im Jugoslawienkrieg 1999 oder im Irakkrieg 2003? Waffen, die „getötet“ haben, oder Waffen, die „befreit“ haben? Spielt es für die einzelnen betroffenen Opfer überhaupt eine Rolle, ob die Waffe, von denen sie getötet wurden, eine „gute“ oder eine „böse“ Waffe war?

Nein, man muss nicht gegen feindliche Armeen kämpfen. Man muss gegen den Krieg kämpfen. Ich wundere mich über die Passivität der Schweiz in Bezug auf mögliche Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Mit der Freigabe einiger Schützenpanzer oder der Lieferung von Munition kann die Schweiz ohnehin nur wenig bewirken. Umso mehr dagegen könnte die Schweiz als Friedensstifterin erreichen. Ihre neutrale Stellung wäre eine ausgezeichnete Voraussetzung dafür, sich als Vermittlerin und als Standort von Friedensverhandlungen anzubieten, zumal die Schweiz auch Signatarstaat des IKRK und der UNO ist. Seit einem Monat liegt der überaus konstruktive, ausgewogene, vom Westen aber kaum ernsthaft zur Kenntnis genommene Friedensplan Chinas auf dem Tisch. Auch der brasilianische Präsident Lula da Silva hat eine Friedensinitiative angekündigt. Was hält die Schweiz, statt sich immer mehr in die Hände der NATO treiben zu lassen, davon ab, sich diesen bereits bestehenden Friedensbemühungen anzuschliessen und jene Eigenständigkeit und Unabhängigkeit an den Tag zu legen, auf welche sie in ihrer Geschichte stets so stolz gewesen ist? 

Ja, Stoltenberg hatte Recht: Die Schweiz könnte Leben retten. Aber nicht durch die Lieferung von Waffen, sondern durch den Mut und die Unerschrockenheit, aus der Logik einer Spirale von immer noch mehr und noch mehr Waffen auszubrechen und sich als Botschafterin des Friedens und des Dialogs zwischen die Fronten zu stellen. Kleine können Grosses erreichen. Aber nicht, indem sie mit dem Strom schwimmen, sondern nur, indem sie sich mit aller Kraft dagegen auflehnen.

Chinas Zwölfpunkteplan: ein taugliches Mittel zu einer baldmöglichsten Beilegung des Ukrainekonflikts – eine Chance, die sich niemand entgehen lassen sollte…

 

Als China am 24. Februar 2023 seinen Friedensplan für die Beilegung des Ukrainekonflikts vorlegte, reagierte die westliche Presse unverzüglich skeptisch bis ablehnend. So etwa setzte der „Tagesanzeiger“ das Wort „Friedensplan“ in Anführungsstriche, um damit China zu unterstellen, es mit seinem diplomatischen Vorstoss gar nicht wirklich ernst zu meinen. Allerdings versäumte es der „Tagesanzeiger“, auf die zwölf Punkte des Friedensplans im Einzelnen einzugehen. Auch die „NZZ“ fand es nicht nötig, den chinesischen Friedensplan im Detail zu erläutern und meinte stattdessen bloss, das Papier enthalte „nichts Konkretes, was über die von Putin geäusserten Statements hinausgeht“ und sei bloss ein „raffinierter Schachzug Chinas“.  Und die „Frankfurter Rundschau“ beschränkte sich in ihrer Berichterstattung auf einen einzigen der zwölf Punkte des chinesischen Friedensplans. Nicht anders tönt es einen Monat später, anlässlich des Besuchs von Chinas Staatspräsident Xi Jinping in Moskau. „Putin und Xi“, so das „Tagblatt am 22. März 2023, „begraben die Hoffnungen des Westens“. Westliche Beobachter, so das „Tagblatt“, sähen Chinas Plan nicht in Richtung Frieden, stattdessen würden die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine als zerstört manifestiert und Russland würde für seinen Angriff mit Gebietsgewinnen belohnt. Und der „Tagesanzeiger“ titelt anlässlich des chinesischen Staatsbesuchs in Moskau, die „Gesten“ seien „gross“, „die Worte schwammig“. Der chinesische Besucher helfe Putin, diesem zu zeigen, dass er mit seiner „antiwestlichen Weltsicht nicht alleine“ dastehe.

Statt ellenlange Artikel über das angeblich im gleichen Boot wie Russland sitzende China zu schreiben, hätte die westliche Presse viel besser daran getan, den chinesischen Friedensplan im Detail zu veröffentlichen, damit sich die Bürgerinnen und Bürger des „freien“ Westens selber dazu eine Meinung hätten bilden können – statt das Papier in Bausch und Bogen zu zerzausen, ohne sich im Einzelnen objektiv und unvoreingenommen damit auseinandergesetzt zu haben. 

Nun, was beinhalten die zwölf Punkte des chinesischen Friedensplans? Erstens: Das allgemein anerkannte Völkerrecht muss strikt eingehalten werden. Die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Länder muss wirksam gewahrt werden. Alle Parteien sollten gemeinsam die grundlegenden Normen für die internationalen Beziehungen aufrechterhalten und für internationale Fairness und Gerechtigkeit eintreten. Zweitens: Die Sicherheit eines Landes sollte nicht auf Kosten anderer Länder angestrebt werden. Die Sicherheit einer Region sollte nicht durch die Stärkung oder Ausweitung von Militärblöcken erreicht werden. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder müssen ernst genommen und angemessen berücksichtigt werden. Alle Parteien sollten gemäss der Vision einer gemeinsamen, umfassenden, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit und mit Blick auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in der Welt dazu beitragen, eine ausgewogene, effektive und nachhaltige europäische Sicherheitsstruktur zu schaffen. Drittens: Der Dialog sollte so schnell wie möglich aufgenommen werden, um die Situation schrittweise zu deeskalieren und schliesslich einen umfassenden Waffenstillstand zu erreichen. Viertens: Dialog und Verhandlungen sind die einzige praktikable Lösung für die Ukrainekrise. Alle Bemühungen, die zu einer friedlichen Beilegung der Krise beitragen, müssen gefördert und unterstützt werden. Fünftens: Humanitäre Massnahmen müssen gefördert und unterstützt werden. Humanitäre Massnahmen sollten den Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit folgen und humanitäre Fragen sollten nicht politisiert werden. Sechstens: Die Konfliktparteien sollten sich strikt an das humanitäre Völkerrecht halten, Angriffe auf Zivilisten oder zivile Einrichtungen vermeiden, alle Opfer des Konflikts schützen und die Grundrechte der Kriegsgefangenen achten. Siebtens: Bewaffnete Angriffe auf Kernkraftwerke sind zu unterlassen. Achtens: Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt und Atomkriege dürfen nicht geführt werden. Die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen sollte abgelehnt werden. China lehnt zudem die Erforschung, Entwicklung und den Einsatz von chemischen und biologischen Waffen durch jedes Land unter allen Umständen ab. Neuntens: Getreideexporte müssen erleichtert werden, um die globale Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Zehntens: Einseitige, vom UNO-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen müssen aufgehoben werden. Elftens: Industrie- und Lieferketten müssen aufrechterhalten und der Erhalt des weltweiten Wirtschaftssystems muss gewährleistet werden. Die Weltwirtschaft darf nicht als Werkzeug oder Waffe für politische Zwecke benutzt werden. Zwölftens: Die internationale Gemeinschaft muss Massnahmen ergreifen, um den Wiederaufbau im Konfliktgebiet zu unterstützen. China will dabei eine aktive Rolle spielen.

Nur schon der erste Punkt – die Souveränität aller Länder müsse gewährleistet werden – zeigt, dass die Behauptung westlicher Politiker und Medien, wonach der chinesische Friedensplan die Souveränität der Ukraine zerstören wolle, eine glatte Lüge ist – das Gegenteil ist der Fall! Auch die übrigen Forderungen könnten ausgewogener und unparteiischer nicht sein. Sie bilden eine gute Grundlage dafür, dass die Konfliktparteien überhaupt erst einmal miteinander ins Gespräch kommen. Die zwölf Punkte sind ja nicht in Stein gemeisselt und können im Verlaufe möglicher Gespräche falls nötig immer noch modifiziert werden. Wenn westliche Politiker und Medien jetzt schon aus allen Rohren gegen die Friedensbemühungen Chinas schiessen, dann sagt das über diese Politiker und Medien nicht viel Gutes aus und deutet darauf hin, dass sie ein weitaus grösseres Interesse daran haben, diesen Krieg bis zum bitteren Ende weiterzuführen, statt wenigstens den Strohhalm eines möglichen Schrittes in Richtung Frieden und Aussöhnung zu ergreifen.

Russland von den Olympischen Spielen 2024 ausgeschlossen? Machen wir es doch wenigstens so gut wie die alten Griechen vor über 2000 Jahren…

 

„Soll Russland an Olympia teilnehmen dürfen?“, fragt der „Tagesanzeiger“ am 21. März 2023. In einem Positionspapier, so berichtet die Zeitung, hätte der Dachverband Olympics erklärt, mit dem Angriff auf die Ukraine hätte sich die russische Regierung gegen die Werte der olympischen Bewegung gestellt, deshalb trage auch Swiss Olympic die Empfehlung des internationalen Olympischen Komitees (IOK) mit, russische und belarussische Athleten und Athletinnen von internationalen Wettkämpfen auszuschliessen. Indessen befasse sich der Exekutivausschuss des IOK zurzeit mit der Erarbeitung eines möglichen Kompromisses: Nur wer als Athlet oder Athletin den Krieg nicht aktiv unterstütze, könnte teilnehmen, jedoch seien keine russischen Flaggen, keine russische Hymne und keine russischen Erkennungszeichen zugelassen. Dieser Kompromissvorschlag sei von Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris und damit Gastgeberin an den Spielen, dezidiert abgelehnt worden: Sie wolle 2024 weder eine russische noch eine weissrussische Delegation in „ihrer Stadt“ haben. Gegnerinnen und Gegner einer Olympiateilnahme von Russland und Weissrussland argumentierten damit, dass die Sportlerinnen und Sportler dieser Länder durch ihre Sportverbände dem russischen oder weissrussischen Komitee angehörten, das vom selben Staat unterstützt werde, der den Angriffskrieg ausgelöst hätte. Nur die wenigsten Athletinnen und Athleten könnten wohl belegen, dass sie nicht von staatlicher Sportförderung profitieren würden.

Wie war das schon wieder zur Zeit des Vietnamkriegs, des Jugoslawienkriegs, des Irakkriegs und aller anderen über 40 von den USA seit 1945 durchgeführten Militäroperationen und Angriffskriege? Hat man da auch jeweils sämtliche Athletinnen und Athleten der USA und ihrer Verbündeten von den Olympischen Spielen ausgeschlossen, US-amerikanische Flaggen und Erkennungszeichen sowie die US-amerikanische Hymne verboten? Hätte man das ebenso konsequent durchgezogen, wie heute gegen Russland und Weissrussland vorgegangen wird, dann hätte es seit 1945 wohl nicht sehr viele Olympische Spiele mit Beteiligung von Athletinnen und Athleten aus den USA gegeben.

Besteht nicht die Grundphilosophie der Olympischen Spiele seit eh und je in der Idee der grenzüberschreitenden Völkerverständigung? Da waren uns die alten Griechen, die Erfinder der Olympischen Spiele, schon vor über 2000 Jahren um einiges voraus: Während der Dauer der Spiele mussten nämlich alle Kriege, welche von den griechischen Völkern untereinander geführt wurden, unterbrochen werden und selbst die Athleten der am meisten zerstrittenen Völker massen sich im friedlichen Wettstreit aneinander. Würde man 2024 auch Athletinnen und Athleten aus Russland oder Weissrussland an den Olympischen Spielen teilnehmen lassen, würde das ja nicht bedeuten, dass man deshalb den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigen oder gutheissen würde. Es würde nur heissen, dass man die weise Einsicht walten liesse, Sport und Politik voneinander zu trennen und nicht Menschen, die sich über Jahre mit grösster Leidenschaft und vielen Entbehrungen auf die weltweit bedeutendsten sportlichen Wettkämpfe vorbereitet haben, dafür zu bestrafen, dass ihre Regierungen Kriege führen oder andere Menschenrechtsverletzungen begehen. „Die Russinnen und Russen“, sagte Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau, „sind ein wunderbares Volk, emotionale Menschen mit grossen Herzen.“ Diese Erkenntnis scheint in der heute so aufgeheizten Diskussion rund um den Ukrainekrieg immer mehr verloren zu gehen, indem man alle Russinnen und Russen und dazu auch gleich noch – aus was für Gründen auch immer – sämtliche Weissrussinnen und Weissrussen in den gleichen Topf wirft. Es ist das Gegenteil dessen, was man tun müsste, um die Fäden der gegenseitigen Völkerverständigung nicht noch gänzlich abzureissen und dem Frieden eine Chance zu geben, über alle Grenzen hinweg.

Machen wir es doch wenigstens ein klein wenig so gut wie die alten Griechen. Legen wir die Waffen nieder, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in unseren Köpfen. Stellen wir der Logik des Kriegs die Logik des Friedens und der Völkerverständigung entgegen. Lassen wir die Olympischen Spiele zu einem Fest des Friedens werden, wo der Hass und das Schüren von Feindbildern keinen Platz haben sollen und sich auf wundersame Weise Feinde wieder in Freunde verwandeln…

Crédit Suisse im Sinkflug: Die Bankenkrise ist nicht nur eine Bankenkrise, sie ist auch eine Kapitalismuskrise…

„Die Zahlen der Crédit Suisse“, so der „Tagesanzeiger“ vom 16. März 2023, „sind seit Jahren schlecht, die Bank schreibt  gigantische Verluste, Kundinnen und Kunden haben Milliardenbeträge zu anderen Geldhäusern verschoben, und dieser Abfluss ist immer noch nicht gestoppt. Öl ins Feuer eine Nachricht aus Saudiarabien, wo Ammar Al Khodairy, Präsident der Saudi National Bank, des wichtigsten Aktionärs der CS, verkündet, keine zusätzlichen Gelder in die CS einzuschiessen. In der Folge muss der Handel mit CS-Aktien zeitweise ausgesetzt werden. Die Lage ist derart dramatisch, dass sich sogar die französische Premierministerin Elisabeth Borne einschaltet. Sie fordert die Schweiz auf, die Probleme der CS zu lösen. Doch aus dem schweizerischen Finanzministerium und der Finanzmarktaufsicht heisst es nur: kein Kommentar! Und das mit gutem Grund, denn jedes falsche Wort, das zum falschen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gelangt, könnte fatale Folgen haben und im schlimmsten Fall eine immer schneller drehende Negativspirale auslösen. Noch bevor die Börsen schliessen, sackt die CS-Aktie nochmals um 24 Prozent ab, diejenige der UBS um 9 und diejenige der britischen HSBC um 4 Prozent. Für die CS-Aktie ist es der grösste Tagesverlust, den sie jemals erlitten hat. Der weltbekannte Ökonom Nouriel Roubini sagt, das Problem bestehe darin, dass die CS zu gross sei, um sie scheitern zu lassen, aber auch zu gross, um gerettet zu werden.“

In der folgenden Nacht teilt die CS mit, die wolle das Angebot der Schweizerischen Nationalbank in Form einer Finanzspritze von 50 Milliarden Dollar annehmen. Doch das ist noch lange nicht das Ende des Tunnels. Nach wie vor verlassen Kundinnen und Kunden scharenweise die Bank. Zudem ist durchgesickert, dass die CS-Aktie in letzter Zeit immer mehr zu einem Spielball für Spekulanten geworden sei, zunehmende Leerkäufe seien am Werk. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt sich bei den Prämien für Versicherungen gegen ein Kreditausfallrisiko, welche bei der CS das Zehnfache dessen betragen, was von der UBS aufgewendet wird. „Woher“, fragt Bankenprofessor Teodoro Cocca, „kommen die künftigen Gewinne, um sämtliche Verbindlichkeiten bedienen zu können?“ Doch wo viel Geld verloren wird, wird, wie immer und überall im Kapitalismus, auch viel Geld gewonnen: „Über 11,7 Milliarden Franken“, so Nicola Siegrist, Präsident der Juso Schweiz, „hat die CS seit 2010 an private Aktionärinnen und Aktionäre ausgeschüttet.“ Und SVP-Nationalrat Thomas Matter erinnert in der TV-Arena vom 17. März, dass die CS in den vergangenen 20 Jahren 42 Milliarden Boni ausbezahlt hat. Die Crédit Suisse – eine Kuh, aus der auch noch der letzte Milchtropfen herausgepresst wurde, bis sie jetzt zu Tode erschöpft liegenbleibt.

Ich gebe zu: Ich verstehe vom herrschenden Finanz- und Bankensystem nur wenig und würde mich auf keine Diskussion über Inflation, Hoch- und Tiefzinspolitik, Börsenkurse und dergleichen einlassen. Aber man muss auch nicht eine Expertin, ein Experte sein, um festzustellen, dass hier – nicht nur was die aktuelle Krise betrifft, sondern auch das weltweite Finanz- und Bankensystem – so ziemlich alles ganz gehörig aus dem Ruder gelaufen ist. Banken sind privatwirtschaftliche, kapitalistische Unternehmen, die kein anderes Ziel haben, als in kürzester Zeit möglichst hohe Gewinne zu machen – zumindest trifft dies vor allem auf all jene Grossbanken zu, welche den Markt beherrschen. Dabei wird jedes Risiko auf sich genommen, um möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Das Verhältnis der einzelnen Banken zueinander ist nicht auf Kooperation ausgerichtet, sondern auf Konkurrenz. „Wenn die Haie unterwegs sind“, sagt ein Insider der Bankenbranche, „jagen sie diejenigen, die bereits bluten.“ Jetzt, in einer Krise, den CEOs die alleinige Schuld in die Schuhe zu schieben, greift zu kurz. Die Haie tun bloss ihre Pflicht, wenn sie nicht fressen, dann werden sie gefressen. In die Pflicht zu nehmen sind nicht die „schlechten“ oder „unfähigen“ Manager der einen oder der anderen Bank. In die Pflicht zu nehmen ist das kapitalistische Wirtschafts- und Geldsystem als Ganzes. Denn, wie schon Bertolt Brecht sagte: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

Und genau deshalb braucht es eine radikale Alternative. Banken sollten nicht Profitmaximierungsmaschinen im Dienste der Reichen und Mächtigen sein, sondern auf Geldgeschäfte spezialisierte Unternehmen, deren oberste Maxime die soziale Wohlfahrt ist: eine möglichst gerechte Geldverteilung anzustreben, soziale und ökologische Kriterien in den Vordergrund zu stellen, nicht auf Konkurrenz. sondern auf Kooperation ausgerichtet zu sein, eine stabile, vorausschauende Finanzpolitik anzustreben, innovative und zukunftsgerichtete Kreditsuchende vorrangig zu unterstützen, Instrumente aufzubauen, um Löhne und Preise im Gleichgewicht zu halten. Würden wir dies alles ernst nehmen – und es läge zweifellos im ureigenen Interesse sowohl der Wirtschaft, wie auch der Gesellschaft und des einzelnen Individuums -, dann wäre zweifellos die Verstaatlichung der Banken die einzige logische Konsequenz. Es ist ja höchst erstaunlich, dass sich der Bundesrat nach der letzten grossen Finanzkrise 2008 ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzte, was zeigt, dass die Idee offensichtlich gar nicht so exotisch ist, wie man das auf den ersten Blick meinen könnte. Zu hoffen bleibt, dass die gegenwärtige Krise der Crédit Suisse erneut einen Input in diese Richtung bringen könnte. Damit sich im Haifischbecken nicht mehr grosse und kleine Fische gegenseitig auffressen, sondern sich in friedlichem Gewässer bunte Fische aller Art tummeln und sich gegenseitig ihrer Verschiedenartigkeit erfreuen.

Nicht Alain Berset hat sich disqualifiziert, sondern jene, die über ihn hergefallen sind, bloss weil er ein Wort gebraucht hat, das ihnen nicht passte…

 

„Viele Politgrössen reagieren entsetzt – im Bundeshaus herrscht helle Aufregung“ – so schreibt „20Minuten“ am 14. März 2023. Doch worum geht es? Eigentlich nur um ein einziges Wort: „Kriegsrausch“. Bundesrat Alain Berset verwendete es in einem Interview mit der Zeitung „Le temps“ und meinte damit die im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg weitverbreitete Meinung, mehr Waffen könnten mit noch mehr Waffen bezwungen werden, Krieg sei nur durch Krieg zu besiegen und für Friedensverhandlungen sei die Zeit noch nicht gekommen. Berset erwähnte einen Tag später in der „NZZ am Sonntag“ vor allem auch die schweizerische Verpflichtung zur Neutralität, beruhend auf dem Engagement für Frieden, humanitäres Recht bis hin zur Chance einer friedensstiftenden Vermittlerrolle der Schweiz zwischen den Kriegsparteien.

Doch während Bersets Vision einer Friedenslösung unter schweizerischer Federführung im Nichts verhallte, stürzten sich Medien und Politiker wie ausgehungerte Hyänen auf das einzige und alleinige ominöse Wort des „Kriegsrausches“. „Berset rechtfertigt den russischen Angriff“, titelte der „Blick“ – obwohl Berset den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stets unmissverständlich verurteilt hatte. „Freund“ und „Feind“, so der Blick, seien entrüstet über Bersets Äusserung. Und die Gratiszeitung „20Minuten“ interpretierte die heftigen Reaktionen von allen Seiten als Zeichen dafür, wie tief sich Berset „in die Nesseln gesetzt“ habe.

Doch es sind nicht nur die Medien, die Sturm läuten. Auch die Politikerinnen und Politiker überbieten sich geradezu gegenseitig in der Verurteilung Alain Bersets. FDP-Präsident Thierry Burkart zeigt sich „schockiert“, Berset mache das Opfer zum Täter, seine Argumentation erinnere an Sahra Wagenknecht, dies schade dem Ansehen nicht nur der Schweiz, sondern ganz Europas. Matthias Bregy, Fraktionschef der Mitte-Partei, findet die Aussagen Bersets „inakzeptabel“ und fordert Berset auf, künftig derartige Aussagen zu „unterlassen“. EVP-Nationalrat Nik Gugger zeigt sich „zutiefst frustriert“ und meint, dass die Schweiz mit solchen Aussagen „falsche Signale“ aussende. Berset habe, so Gugger, seine Sympathien verspielt. GLP-Chef Jürg Grossen findet, Berset habe sich mit seiner Aussage „disqualifiziert“. Sogar SP-intern stösst Berset auf heftige Kritik: Co-Präsidentin Mattea Meyer und Co-Präsident Cédric Wermuth distanzieren sich von seiner Analyse. Und selbst Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, welche sich bisher konsequent gegen Waffenlieferungen eingesetzt haben, wirft Berset vor, mit seiner Forderung nach Friedensverhandlungen die „russische Propaganda“ zu übernehmen und Putin „in die Hände zu spielen“. Heute, so Glättli, würde er Berset nicht mehr zum Bundespräsidenten wählen.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass Berset mit seiner Aussage vom „Kriegsrausch“ richtig lag, dann sind es diese Reaktionen. Tatsächlich scheint der Weg zwischen denen, die auf beiden Seiten der Front nach immer mehr Waffen rufen, unbeirrt und ungeachtet aller damit verbundener Todesopfer weiterhin an einen Sieg ihres Lagers und eine Niederlage des gegnerischen Lagers glauben und keinerlei Chance sehen für einen möglichst baldigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, ziemlich schmal geworden zu sein. Wer sich, wie Berset, mutig zwischen die Fronten stellt und sich nicht scheut, unbequeme Fragen zu stellen, hat nicht Schuldzuweisungen und Unterstellungen verdient, sondern, im Gegenteil, höchsten Respekt. Nichts ist in Zeiten gefährlichen „Einheitsdenkens“ so wichtig wie Menschen, die gegen den Strom schwimmen und die andere zwingen, über ihr Verhalten nachzudenken. Man muss ja nicht sofort gleicher Meinung sein. Aber die Freiheit und der Respekt gegenüber Andersdenkenden müssen stets gewährleistet bleiben und sind als Basis für Demokratie und Meinungsvielfalt unerlässlich. Nicht Berset hat sich disqualifiziert, sondern die, welche über ihn hergefallen sind, nur weil er ein Wort brauchte, das ihnen nicht passte. 

Nicht nur in totalitären Staaten, sondern auch in sogenannt freiheitlichen Demokratien wird die öffentliche Meinung systematisch manipuliert…

 

Der deutsche Ex-General Erich Vad, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine und für sofortige Friedensverhandlungen einsetzt, wird im „Tagesanzeiger“ vom 10. März 2023 als „Liebling aller Extremisten“ und als General im Gewand einer „Friedenstaube“ bezeichnet. Er spreche vor allem „die Kräfte ganz links und ganz rechts im politischen Spektrum“ an, „von der Marxistin Wagenknecht bis zur AfD-Chefin Alice Weidel“. Er spiele seine „Dissidentenrolle“ häufig in Talkshows des deutschen Fernsehens und in Medien, welche an „alternativen Fakten“ interessiert seien. Politisch komme Vad „von ziemlich weit rechts“ und hätte sich immer wieder für Carl Schmitt, den Kronjuristen der Nationalsozialisten, begeistert.

So weit sind wir also schon. Ein unbefangener ehemaliger deutscher General, der, wie man bei seinen TV-Auftritten unschwer feststellen kann, stets ruhig und sachlich seine durch und durch überzeugenden Argumente für eine baldmöglichste Beendigung des Ukrainekriegs vorbringt, wird in die Nähe von „Extremisten“ gerückt, ihm gleichsam ungesagt unterstellend, er sei selber ebenfalls ein „Extremist“, umso mehr, als er politisch „von weit rechts“ komme. Während es gleichzeitig niemandem in den Sinn zu kommen scheint, jene politischen Exponentinnen und Exponenten wie Agnes Strack-Zimmermann oder Andrij Melnyk, welche massive Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten und nicht einmal vor der Gefahr eines möglichen dritten Weltkriegs zurückschrecken, als „Extremistinnen“ oder „Extremisten“ zu bezeichnen.

Es ist die beliebte Taktik der Mainstreammedien, unbequeme Stimmen in die Nähe von – linkem oder rechtem – Extremismus zu rücken und ihnen damit jegliche Legitimation abzusprechen. So ist im erwähnten Artikel des „Tagesanzeigers“ nicht einfach von „Sahra Wagenknecht“ die Rede, sondern von der „Marxistin Wagenknecht“. Auch in der Berichterstattung über die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte Friedenskundgebung vom 25. Februar 2023 in Berlin war vor allem davon die Rede, dass mit diesem Anlass rechtsextremen Gruppierungen eine öffentliche Plattform geschaffen worden und durch Wagenknecht und Schwarzer der AfD und ihren Gesinnungsgenossen in die Hände gespielt worden sei. Während kaum je etwas zu lesen oder zu hören war über die Inhalte der von Wagenknecht und Schwarzer gehaltenen Reden und schon gar nicht über die Ausführungen des über Videobotschaft zugeschalteten US-Ökonomen Jeffrey D. Sachs, welcher auf anschauliche Weise die Mitschuld des Westens am Ausbruch des Ukrainekonflikts erläuterte. Bezeichnend auch, dass Erich Vad im Artikel des „Tagesanzeigers“ als „Dissident“ bezeichnet wird, der „alternative Fakten“ – in Anspielung an die umstrittene Informationspolitik Donald Trumps – verbreite. Als handle es sich bei Wagenknecht, Schwarzer und Vad um ein paar uneinsichtige, vom „richtigen“ Weg abgekommene Spinner oder Irrläuferinnen. Dabei denken nach neuesten Umfragen immerhin mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung genau so wie sie.

Die Beispiele zeigen, dass nicht nur in totalitären Staaten, sondern auch in sogenannt freiheitlichen Demokratien die öffentliche Meinung systematisch manipuliert wird. Man steckt zwar unbequeme Menschen wie Wagenknecht, Schwarzer oder Vad nicht ins Gefängnis und belegt sie auch nicht mit einem Redeverbot. Aber man rückt sie in die Nähe extremistischen Gedankenguts, verknüpft sie mit diffamierenden Begriffen oder stellt ihnen in TV-Talkshows eine zahlenmässig genug grosse Übermacht entgegen, welche ihnen jedes Wort im Munde umdreht, bevor sie es überhaupt noch gesagt haben, um ihnen auf diese Weise jegliche Legitimation schon zum Vornherein unter den Füssen wegzuziehen. Die Aufgaben der öffentlichen Berichterstattung und Meinungsbildung in einer Demokratie wären aber eine ganz andere: vorurteilsfrei und unvoreingenommen mit unterschiedlichen Meinungen umgehen, einander ernsthaft zuhören, zu verstehen versuchen, was der andere meint, nicht gegeneinander, sondern miteinander der Wahrheit auf die Spur kommen. Wollen wir den Krieg im Grossen auf dem Schlachtfeld überwinden, dann müssen wir auch den Krieg im Kleinen in unseren Köpfen und in der Art und Weise der medialen Berichterstattung und der öffentlichen Meinungsbildung überwinden.

Eine Friedenskonferenz in Genf – weshalb es nicht wenigstens versuchen?

 

Schon erstaunlich, wie die SP-Fraktion im National- und Ständerat die Kurve gekriegt hat von einer Partei, die eben noch jegliche Waffenlieferungen in Kriegsgebiete bekämpft hatte, hin zu einer Partei, welche die Lieferung von Schweizer Rüstungsgütern aus Ländern wie Deutschland, Schweden oder Spanien an die Ukraine ermöglichen möchte.

Noch erstaunlicher aber ist die Argumentation, mit der dieses Unterfangen begründet wird. So sagte die SP-Vertreterin Priska Seiler Graf in der Nationalratsdebatte: „Die Ukraine verteidigt unsere Werte.“ Interessant. Ich habe gar nicht gewusst, dass schweizerische und ukrainische Werte so sehr übereinstimmen. Habe ich etwas falsch verstanden? Oder ist es Priska Seiler Graf entgangen, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder Europas ist? Ist ihr entgangen, dass die ukrainische Regierung alle oppositionellen Parteien, Fernsehstationen und Zeitungen verboten hat? Ist ihr entgangen, dass 2019 ein Sprachengesetz in Kraft gesetzt wurde, welches das Ukrainische zur alleinigen Amtssprache erklärt und die Verwendung der russischen Sprache in der Öffentlichkeit unterbindet? Ist ihr entgangen, dass sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren aus den Bibliotheken der Ukraine entfernt wurden und dass die öffentliche Aufführung musikalischer Werke russischer Komponistinnen und Komponisten verboten worden ist? Und ist ihr entgangen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl politischer und militärischer Exponenten der Ukraine auch heute noch den nationalsozialistischen Politiker Stepan Bandera glorifiziert, welcher im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet hatte und unter anderem für Verhaftungen und Massenhinrichtungen von Juden und Jüdinnen mitverantwortlich gewesen war? Und dies alles sollen also Werte sein, welche die Ukraine und die Schweiz miteinander teilen?

Aber selbst wenn sich die ukrainischen und die schweizerischen Werte noch so sehr gleichen würden, wären Waffenlieferungen an die Ukraine immer noch nicht zu befürworten. „Wenn jemand glaubt, dass er Benzin einsetzen muss, um ein brennendes Haus zu löschen, dann ist er einfach ein Idiot“ – der das sagte, ist nicht etwa Putin oder einer seiner Generäle. Es ist Maxim Goldarb, Vorsitzender der Union der linken ukrainischen Kräfte, einer jener Organisationen, welche von der ukrainischen Regierung verboten wurden. In der Tat: Angesichts sinnloser Zerstörung und Gewalt, der Tag für Tag Hunderte von Menschen zum Opfer fallen, gibt es nur eine einzige vernünftige Alternative: einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, um weiteres Blutvergiessen zu beenden.

Ja, die Schweiz muss die Ukraine unterstützen. Aber nicht, indem sie weiteres „Benzin“ in die schon viel zu hohen Flammen giesst. Im Gegenteil: Nur wenn auf Waffenlieferungen verzichtet wird, besteht die Chance, dass die Schweiz eine konstruktive Rolle als Friedensvermittlerin zwischen den Konfliktparteien einnehmen kann. Weshalb lädt nicht unser Aussenminister zu einer Friedenskonferenz nach Genf ein? Ob es gelingt, kann niemand zum Vornherein sagen, aber auch ausschliessen kann man es nicht. Weshalb es nicht wenigstens versuchen? Diplomatie statt Waffen, Neutralität statt einseitiger Parteinahme, Abbau von Feindbildern statt dem Schüren von Hass und einseitiger Schuldzuweisungen – wären nicht gerade dies genau jene Werte, welche die Schweiz bisher ausgezeichnet haben und die weiterzupflegen gerade heute dringender nötig wären denn je? 

ChatGPT: Ein Schritt zu mehr Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung oder möglicherweise doch eher das Gegenteil davon?

Bittet man ChatGPT einen Artikel über sich selbst zu schreiben, lautet der erste Absatz so: „ChatGPT ist ein bahnbrechendes Sprachmodell, das eine neue Ära der Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen einläutet. Dieses Modell hat sich als äusserst effektiv erwiesen, um eine breite Palette von Themen und Anforderungen abzudecken.“

Nun, ich mache die Probe aufs Exempel und will von ChatGPT wissen, wie der Ukrainekrieg entstanden sei. „Der Konflikt“, bekomme ich zur Antwort, „begann im Jahre 2014, als die russische Regierung die Halbinsel Krim annektierte und separatistische Kräfte in der Ostukraine unterstützte.“ Also eine eindeutige Schuldzuweisung an die Adresse Russlands und kein Hinweis auf eine mögliche Mitschuld des Westens in Form der NATO-Osterweiterung, des Maidan-Regierungsputschs anfangs 2014, der von ukrainischen Verbänden in der Ostukraine begangenen Menschenrechtsverletzungen und der massiven Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in der Ukraine. Immerhin räumt ChatGPT ein, dass „im Februar 2015 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet“ worden sei, „die Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und den Separatisten aber seither immer mehr zugenommen“ hätten. Mit keiner einzigen Silbe wird die Rolle der USA thematisiert, welche die Ukraine ab 2008 zu einer NATO-Mitgliedschaft gedrängt, die ukrainische Armee auf NATO-Standards getrimmt, trainiert und aufgerüstet haben.

Meine zweite Frage lautet: „Was sind die Ursachen des weltweiten Hungers?“ Als Antwort werden genannt: Armut, Klimawandel, Kriege, politische Instabilität, Ungleichheit, Diskriminierung, mangelnde Infrastruktur, übermässiger Fleischkonsum in den „entwickelten“ Ländern. Abgesehen vom letzten Punkt werden die Ursachen für den Hunger also ausschliesslich in den betroffenen Ländern selber geortet. Dass der Nahrungsmittelüberfluss in den reichen Ländern einen direkten Zusammenhang hat mit der Mangelernährung in den armen Ländern, wird, abgesehen vom Fleischkonsum, mit keinem Wort erwähnt, auch nicht die koloniale Vorgeschichte als Hauptursache der heutigen Ungleichheiten, auch nicht die Rolle der globalen Nahrungsmittelkonzerne und schon gar nicht die Tatsache, dass im Kapitalismus – ein Begriff, den ChatGPT nicht zu kennen scheint – die Güter eben nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können.

Meine dritte Frage lautet: „Weshalb gibt es Armut?“ Folgende Gründe werden aufgeführt: Mangel an Bildung und beruflichen Möglichkeiten, Mangel an Ressourcen und Infrastruktur, wirtschaftliche Instabilität und Diskriminierung. Tatsächlich aber ist Armut bloss stets die Kehrseite überbordenden Reichtums. Es ist kein Zufall, dass extreme Armut überall dort auftritt, wo auch extremer Reichtum auftritt, die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, so treffend auf den Punkt gebracht in Bertolt Brechts Parabel vom armen Mann, der zum reichen Mann sagt: „Wär ich nicht arm, dann wärst du nicht reich.“ Nichts von alledem scheint ChatGPT zu interessieren.

Mein Fazit: Wer sich mit ChatGPT „informieren“ will, muss wissen, dass er bestenfalls nur die Hälfte der Wahrheit erfährt. Fatal wäre es, dieses Schreib- und Informationsinstrument zu benutzen im Glauben, damit objektiv und umfassend informiert zu werden. Man könnte es noch krasser formulieren: Tatsächlich handelt es sich bei ChatGPT um nichts anderes als eine Form von Gehirnwäsche, indem herrschendes Mehrheitswissen und -denken zur vermeintlichen „Wahrheit“ erhoben wird, gespiesen aus Millionen von anonymen Quellen, von denen am Ende niemand mehr weiss, von wem, von wo und aus welcher Zeit sie stammen, sozusagen eine Buchstabensuppe, die, wie es ein Kritiker von ChatGPT kürzlich treffend sagte, stets immer wieder neu aufgewärmt wird, ohne dass etwas wirklich Neues, Kreatives, Unerwartetes, Überraschendes dabei herauskommt. Wird sich ChatGPT immer weiter ausbreiten, so werden sich auch die Sprache und das Denken all jener, die es benützen, gegenseitig immer näher angleichen und wo eben noch unterschiedlichste Farben leuchteten, wird alles nach und nach in einem gleichförmigen Grau verschwinden. In der Tat, ChatGPT hat in seiner eingangs zitierten Selbstbeschreibung zweifellos recht: Es wird tatsächlich eine „neue Ära der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine einläuten.“ Die Frage ist nur, ob diese neue Ära neue Formen von Demokratie, Kreativität und Selbstbestimmung hervorbringen wird oder doch möglicherweise eher das Gegenteil davon.