Jo Lang: Die seltsamen Gedankengänge eines schweizerischen Friedensaktivisten

 

Der bekannte Schweizer Friedensaktivist Jo Lang kommt im „Tagesanzeiger“ vom 3. März 2023 in einem dreiviertelseitigen Interview prominent zu Wort. Mehr als einmal stolpere ich indessen beim Lesen des Interviews über Aussagen, die mich reichlich irritieren.

So behauptet Lang, Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland würden keinen Sinn machen, solange Putin seine Truppen nicht hinter die Grenzen von vor dem 24. Februar 2022 zurückgezogen hätte. Lang muss wissen, dass dies zwar ein schöner, aber ein völlig unrealistischer Wunschtraum ist. Bis zu einem solchen Zeitpunkt können, wenn überhaupt, noch Monate oder gar Jahre unermesslichen Leidens, unzähliger Todesopfer, endloser Zerstörungen verstreichen. Nein, es gibt keinen Grund, Friedensverhandlungen nicht unverzüglich aufzunehmen. Diese hätten ja unter anderem das Ziel einer militärischen Entflechtung und damit auch eines Abzugs der russischen Truppen aus den umkämpften Gebieten – zum Beispiel unter der Zusicherung der Ukraine, von einem NATO-Beitritt abzusehen.

Weiter bezichtigt Lang Sahra Wagenknecht ihrer „stalinoiden Vergangenheit“ – ein Vorwurf, den ich bis heute selbst bei den schärfsten Gegnern Wagenknechts in Deutschland bisher noch nirgends angetroffen habe. Lang versteigt sich hier zur bedenklichen Methode, Andersdenkende, wenn man ihnen keine genug stichhaltigen Argumente entgegensetzen kann, durch persönliche Verunglimpfungen anzufeinden.

Wagenknechts Engagement für Friedensverhandlungen sei, so Lang, „unredlich“. Woher nimmt nur Lang eine solche an den Haaren herbeigezogene Behauptung? Wenn sich in den vergangenen Monaten jemand leidenschaftlich, beharrlich, aufklärend, geduldig und selbst bei grössten Widerständen stets sachlich für eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts eingesetzt hat, dann ist es Sahra Wagenknecht. 

Das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer verfasste „Manifest für Frieden“, so Lang, „verharmlose“ die russische Aggression. Auch diese Behauptung trifft nicht zu. Sowohl Sahra Wagenknecht wie auch Alice Schwarzer haben den russischen Angriffskrieg stets in aller Deutlichkeit verurteilt. Dies entbindet aber längst nicht davon, auch die Gegenseite kritisch unter die Lupe zu nehmen, so etwa die seit Jahrzehnten vorangetriebenen Bestrebungen des Westens, die NATO bis an die Grenze Russlands auszudehnen.

Was den geplanten Ostermarsch vom 10. April betrifft, macht Lang klar, dass Transparente gegen die Wirtschaftssanktionen „nicht geduldet“ würden, obwohl er als Historiker doch wissen müsste, dass Wirtschaftssanktionen stets vor allem die Schwächsten treffen, so wie sich das 1991 bei den Sanktionen der USA gegen den Irak zeigte, denen eine halbe Million Kinder infolge fehlender Nahrung und fehlender Medikamente zum Opfer fielen.

Vorsorglicherweise, so Lang, sei die Schweizerische Friedensbewegung von der Teilnahme am Ostermarsch ausgeladen worden, weil sie „demonstrativ Verhandlungen statt Sanktionen“ fordere. Was ist das für eine Friedenspolitik, bei der ein Teil der Aktivistinnen und Aktivisten darüber entscheidet, was der andere Teil denken oder nicht denken darf? Können Denkverbote allen Ernstes ein Mittel auf dem Weg zum Frieden sein, der sich doch dadurch auszeichnen müsste, unterschiedliche Meinungen zu erlauben, statt sie zu unterbinden?

Ich hoffe, dass in einer der nächsten Ausgaben des „Tagesanzeigers“ ein Vertreter jener von Joe Lang diskreditierten Schweizerischen Friedensbewegung ebenso prominent zu Wort kommt, wie das bei Jo Lang der Fall gewesen ist. Alles andere wäre einer Tageszeitung, die sich Objektivität, Meinungsvielfalt und Demokratie auf die Fahnen schreibt, unwürdig.  

Neueste Entscheide des schweizerischen National- und Ständerats: Mit einer echten Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun…

 

Die Schweiz am 1. März 2023: Der Nationalrat verwirft mit 97 zu 92 Stimmen einen Antrag auf den vollen Teuerungsausgleich bei den AHV-Renten, obwohl er in der Herbstsession einer Motion mit demselben Anliegen noch zugestimmt hatte. Der Teuerungsausgleich wäre, so die Befürworterinnen und Befürworter des Anliegens, angesichts der tiefen Minimalrenten, der aktuellen Teuerung und des drohenden Kaufkraftverlusts, bitter nötig gewesen. Dessen ungeachtet lehnt einen Tag später auch der Ständerat mit 21 zu 20 Stimmen das Geschäft ab. Und dies, obwohl der „Zustupf“ an die Rentnerinnen und Rentner bloss ein paar Franken pro Monat ausgemacht hätte. Gleichentags beantragen die Lenkungsausschüsse des Stände- und des Nationalrats für sämtliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier einen Teuerungsausgleich von 3,2 Prozent, was bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 132’000 Franken im Nationalrat und 142’500 Franken im Ständerat einen Zusatzverdienst von 4240 bis 4560 pro Jahr bedeuten würde.

Wer es bisher noch nicht für möglich hielt, dem müsste spätestens jetzt ein Licht aufgehen: Schon längst ist das, was wir immer noch so selbstgefällig als „Demokratie“ bezeichnen, zur Scheindemokratie verkommen, zur Bemäntelung einer knallharten Klassengesellschaft höchst unterschiedlicher Privilegien, zu einer Plutokratie, einer Staatsform, in der die Besitzenden und Reichen über die Besitzlosen die politische Herrschaft ausüben. Denn es sind nicht nur solche politischen Entscheide wie an diesem 1. und 2. März 2023. Es ist auch die Tatsache, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer über ein Vermögen von rund 820 Milliarden Franken verfügen, was dem jährlichen Militärhaushalt der USA entspricht, während über eine Million in der Schweiz lebender Menschen knapp unter der Armutsgrenze oder knapp daran ihr Dasein fristen. Es ist auch die Tatsache, dass die höchsten Einkommen in der Schweiz 300 Mal höher sind als die niedrigsten. Und es ist vor allem auch die Tatsache, dass die „demokratischen“ Instrumente hierzulande ein ganz und gar adäquates Abbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind: Während es im National- und Ständerat von Rechtsanwälten, Akademikerinnen und Landwirten nur so wimmelt, sucht man dort vergebens einen Bauarbeiter, eine Krankenpflegerin oder eine Fabrikarbeiterin, obwohl Angehörige dieser Berufsgruppen die weitaus überwiegende Mehrheit der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Aber es geht noch viel weiter. Jener Reichtum, der auch so viel gesellschaftliche und politische Macht verleiht, ist ja in aller Regel nicht aus eigener Kraft erarbeitet. Reiche sind reich, weil andere, die härter arbeiten und trotzdem weniger verdienen, diesen Reichtum überhaupt erst einmal erarbeitet haben. „Wäre ich nicht arm“, sagt der Arme zum Reichen in einer Parabel von Bertolt Brecht, „dann wärst du nicht reich.“ Noch deutlicher formulierte es der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: „Hinter jedem grossen Vermögen steht ein grosses Verbrechen.“ In der kapitalistischen Klassengesellschaft ist dieses „Verbrechen“ legalisiert und zeigt sich in Form von Aktiengewinnen, Erbschaften sowie allen weiteren finanziellen Beteiligungen, bei denen sich der Schweiss, die Tränen und die Schmerzen arbeitender Menschen – nicht nur hierzulande, sondern vor allem auch in der weltweiten Ausbeutung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt – unaufhörlich in das Gold, in die Früchte und in die unzähligen Luxusvergnügungen der Reichen verwandeln. 

Da muss man sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden und dies damit begründen, dass „die oben sowieso machen, was sie wollen“. Wie recht sie haben! Nur müsste die Schlussfolgerung eine andere sein: nicht, sich abzuwenden, sondern, sich mit aller verbliebenen Kraft einzumischen. Damit die Chance besteht, dass sich die herrschende Plutokratie vielleicht doch noch eines Tages in eine echte Demokratie, in eine echte Volksherrschaft verwandeln kann. 

Massaker, Gräueltaten, Zerstörungen, Vergewaltigungen: Ein kurzer Blick in die Geschichte des Kriegs…

 

Die 105 Männer der Kompanie rücken gemeinsam auf den Weiler zu. In den folgenden drei Stunden ermorden sie einen Grossteil der Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen, bei denen es sich ausnahmslos um Zivilpersonen handelt, lediglich ein Einziger ist bewaffnet. Die meisten werden in Gruppen zusammengetrieben und durch das automatische Feuer der Maschinengewehre und durch den Einsatz von Granaten getötet. Die Aktion geht einher mit der vollständigen Vernichtung der Lebensgrundlagen, indem Häuser und Ernteerträge verbrannt, das Vieh getötet und die Brunnen vergiftet werden. Zudem kommt es zu zahlreichen Vergewaltigungen.

Ein aktuelles, besonders krasses Beispiel aus dem gegenwärtigen Ukrainekrieg, welches einmal mehr die Grausamkeit der russischen Kriegsführung dokumentieren soll? Nein, weit daneben. Es handelt sich bei diesem Text vielmehr um die Schilderung des Massakers von My Lai, begangen von US-Soldaten an über 500 vietnamesischen Zivilpersonen am 16. März 1968. Wer heute die „bösen“ Russen an den Pranger stellt, vergisst zu schnell, dass Gräueltaten und Vergewaltigungen, so zynisch dies klingen mag, in jedem Krieg sozusagen an der „Tagesordnung“ sind, ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um „böse“ Russen oder „gute“ Amerikaner oder Angehörige anderer Nationalitäten handelt. Allein im Vietnamkrieg wurden, wie die „Zeit“ am 27. Februar 1976 berichtete, „tausende, wahrscheinlich Hunderttausende von vietnamesischen Frauen vergewaltigt.“

Wie ist das zu erklären? Eine interessante Analyse finden wir im Buch „Die USA im Vietnamkrieg“ von Erik Fischer. Entführungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen im Vietnamkrieg seien eine Folge der negativen Erfahrungen der Soldaten gewesen: Mangelerscheinungen von Schlaf und Nahrung, die Herausforderungen der Vegetation sowie die Gefahr eines allgegenwärtigen Todes durch einen kaum auffindbaren bzw. identifizierbaren Gegner. Dazu kämen die vielfältigen Erfahrungen des Verlusts: Verlust der Freunde und Kampfgefährten, Verlust des Vertrauens in sich selbst und seine Umwelt. Ängste und Schmerzen würden sich sodann in Wut, Hass und den Wunsch nach Rache transformieren, im Versuch, einen Platz in der Welt wieder einzunehmen, der einem genommen worden sei.

Auf einen weiteren wichtigen Aspekt weist Christoph Ege in einer auf www.grin.com veröffentlichten Seminararbeit aus dem Jahre 2006 hin: Im Vietnamkrieg hätten auf der Seite der USA so genannte „small units“ von fünf bis 25 Soldaten agiert. Um zu überleben, hätte sich der Einzelne seiner Gruppe voll und ganz anpassen müssen. So etwa sei ein Soldat, der mit seiner kleinen Einheit im Dschungel agierte und bei der Verschleppung, tagelangen Vergewaltigung und schliesslich Ermordung einer jungen Vietnamesin nicht mitmachen wollte, von seinem Vorgesetzten als „Schwuler“ und als „Küken“ bezeichnet worden und man hätte ihm sogar mit dem Tode gedroht, falls er von seiner „unmännlichen Zurückhaltung“ nicht ablassen würde. Sexuelle Machtausübung sei den Soldaten von ihren Vorgesetzten sogar explizit gefordert worden, weil diese dazu beitragen würde, die Kampfmoral, die Bereitschaft zum Ertragen von Todesängsten und die Fähigkeit zum Töten aufrechtzuerhalten. In dieser Optik soll der Krieg als Abenteuer, Spass und Ausleben von Heldentum und Männlichkeit erlebt werden, Krieg als ein Ort, wo man neue Dinge entdecken kann, ganz nach dem damals gängigen Werbespruch des Pentagons, wonach man in der US-Army lerne, „was es bedeutet, sich wie ein Mann zu fühlen.“ 

Das Fazit: Im Krieg können auch die sanftmütigsten und friedfertigsten Männer zu Bestien werden, unabhängig davon, welchem Volk oder welcher Nationalität sie angehören – Beispiele dazu gibt es in der Geschichte der Kriege seit Jahrhunderten millionenfach. Die einzige Hoffnung, dass dies für immer ein Ende hat, besteht darin, den Krieg als Mittel der Konfliktlösung zwischen Völkern und Staaten für immer aus der Welt zu schaffen. Wenn der Krieg aufhört, dann hören auch die Gewalttaten, die Zerstörungen und die Vergewaltigungen auf, von denen wir in der Ukraine, aber auch in allen anderen Ländern, wo Kriege geführt werden, tagtäglich Zeugen sind. So einfach wäre das.

Im Taumel einer sich verändernden Welt sollte man nicht vergessen, dass es auch Weisheiten gibt, die niemals „aus der Zeit fallen“…

Der „Club“ vom 28. Februar 2023 am Schweizer Fernsehen debattierte über die Frage, ob es zukünftig erlaubt werden solle, Waffen, die von der Schweiz zum Beispiel an Deutschland oder Schweden geliefert wurden, nachträglich an die Ukraine weiterzugeben. Die Befürworter einer solchen Praxis betonten, dass es nicht zu verantworten sei, die Ukraine, welche Opfer eines brutalen Aggressors geworden sei, im Stich zu lassen – Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht hin oder her. Der Gedanke, dass die Schweiz als neutrales Land dann aber auch Waffen an Russland liefern müsste, wurde weit von sich gewiesen. In der heutigen Welt einer zunehmenden Polarisierung zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und Autokratie könne die Schweiz nicht länger abseits stehen und müsse klar Partei ergreifen.

Es ist schon erstaunlich, dass selbst in einer so hochkarätig besetzten Gesprächsrunde wie jener im „Club“ an diesem 28. Februar das Bild des bösen Aggressors Russland, der „ohne jeglichen Grund“ ein friedliches, demokratisches Land überfallen habe, so unhinterfragt im Raum stehen blieb. Nicht einmal die Historiker in der Runde wiesen darauf hin, dass es zu dieser offiziellen Sicht der Dinge noch eine andere, zweite Seite geben könnte. Und die gibt es in der Tat. So lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die Ausweitung der NATO Richtung Osten bis hin zu einer möglichen Eingliederung der Ukraine von Russland zweifellos als Bedrohung empfunden werden musste. Sogar die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im Jahre 2008, ein NATO-Beitritt der Ukraine würde von Russland zweifellos als „Kriegserklärung“ wahrgenommen. Man braucht sich nur vorzustellen, wie die USA reagieren würden, wenn auf einmal Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden. Dazu kommt die globale Bedrohungslage. Während die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte verfügen, von denen ein grosser Teil ringförmig um Russland angeordnet sind, besitzt Russland gerade mal 25 Militärbasen ausserhalb seines eigenen Territoriums. Namhafte neokonservative Politiker und Ideologen innerhalb des US-amerikanischen Machtapparats werden seit Jahrzehnten nicht müde, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun auch noch den Zusammenbruch Russlands herbeizureden. So etwa sagte der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahre 2009: „Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ Dies alles soll den russischen Einmarsch in die Ukraine keineswegs rechtfertigen, aber es vermag doch aufzuzeigen, dass es  – aus der Sicht Russlands – durchaus „Gründe“ gegeben haben mag für einen „Befreiungsschlag“ aus einer zunehmend als Bedrohung empfundenen Umkreisung durch den Westen. Zumal ein letzter Versuch Putins im Dezember 2021, mit der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts auszuhandeln, von dieser ohne Begründung zurückgewiesen wurde.

Es ist schon erstaunlich, dass mit Hans-Ueli Vogt ausgerechnet ein ehemaliger SVP-Nationalrat in der „Club“-Diskussionsrunde als Einziger konsequent aus dem gängigen Freund-Feind-Bild ausbrach und davor warnte, sich als neutrale Schweiz auf nur eine einzige Seite der Konfliktparteien zu schlagen. Die Aufgabe der Schweiz, so Vogt, müsste es vielmehr sein, sich als Gesprächsvermittlerin zur Verfügung zu stellen, um auf einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine hinzuarbeiten. Genau diese Chance aber verspiele unser Land, wenn es einseitig Partei ergreife.

Man spricht heute oft von einer „Zeitenwende“. Diese „Zeitenwende“ hat offensichtlich auch dazu geführt, dass selbst die schweizerische Sozialdemokratie ihre pazifistischen Wurzeln mehr und mehr in Frage stellt, während ausgerechnet ihr politischer Hauptgegner, die SVP, die Chance der Schweiz als neutrale Konfliktvermittlerin unablässig in Erinnerung ruft. Ein Phänomen, das in Deutschland noch viel deutlicher in Erscheinung tritt, wo die Grünen trotz ihrer pazifistischen Wurzeln an vorderster Front für Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten, während sich ausgerechnet die AfD an die Seite jener stellt, die ein baldmöglichstes Ende des Kriegs fordern.

Verschiedentlich wurde im „Club“ gesagt, man müsse „umdenken“, die Zeiten hätten sich „geändert“, was eben noch Gültigkeit gehabt hätte, sei heute „aus der Zeit gefallen“, die Welt sei nicht mehr die gleiche wie zur Zeit, als die Neutralität als Grundlage des Staates in die schweizerische Bundesverfassung geschrieben worden sei. Doch im Taumel einer sich verändernden Welt sollte man nicht vergessen, dass es auch Weisheiten gibt, die niemals „aus der Zeit fallen“. Eine von ihnen ist der Pazifismus, die kompromisslose Überzeugung, dass nur eine Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege eine menschenfreundliche Zukunft sein kann heute und für alle zukünftigen Generationen, dies ganz besonders in einem Zeitalter, da die bereitstehenden Atomwaffenarsenale gleich mehrfach dafür ausreichen würden, alles menschliche Leben auf diesem Planeten für immer auszulöschen. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden die Menschen als Brüder und Schwester miteinander überleben, oder sie werden als Narren miteinander untergehen.“

Weshalb Analena Baerbock und alle ihre Gesinnungsgenossinnen und Gesinnungsgenossen offensichtlich von Psychologie noch nie etwas gehört zu haben scheinen…

 

„Die Wirtschaftssanktionen“, so die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, „werden Russland ruinieren.“ Und: „Russland wird jahrelang nicht mehr auf die Beine kommen.“ Mit solchen und ähnlichen Aussagen bewegt sich Baerbock im Fahrwasser führender US-Politiker, die seit Jahrzehnten zunächst die Sowjetunion und dann Russland als „Reich des Bösen“ bezeichnen und sich demzufolge logischerweise , auxh wenn sie dies nicht immer offen aussprechen, die Vernichtung dieses „Bösen“ auf die Fahnen geschrieben haben. Einer, der es offen aussprach, ist der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der im Juni 2009 unter anderem Folgendes zum Besten gab: „Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ Ebenfalls Klartext sprach Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa: „Ziel der USA ist Russlands Spaltung und Zerfall.“ Wie weit verbreitet diese Denkweise im Westen ist, zeigt auch folgende Aussage von Markus Somm, schweizerischer Historiker und Verleger, im März 2022: „Die Sowjetunion hat nun mal den kalten Krieg verloren und mit dieser Niederlage muss Russland nun leben.“

Baerbock, Brzezinski, Hodges, Somm und unzählige weitere ihrer Gesinnungsgenossen und Gesinnungsgenossinnen, die sich offensichtlich nichts Schöneres vorstellen können als eine Vernichtung Russlands, scheinen offensichtlich von Psychologie noch nie etwas gehört haben. Schon die banalsten psychologischen Kenntnisse müssten sie darüber aufklären, dass sich mein Gegenüber, unabhängig davon, ob es sich um eine einzelne Person oder eine Regierung oder eine ganze Nation handelt, nur umso wilder gebärdet, je mehr ich sie verletzte, angreife, demütige, verachte. So betrachtet, ist der Angriff Russlands auf die Ukraine, welche sozusagen vor der eigenen Haustür diesen selbstherrlichen, demütigenden Westen verkörpert, zwar nicht gutzuheissen, aber mindestens psychologisch nachzuvollziehen. Da haben wir es doch mit nichts anderem als einem Bär zu tun, dem so lange und so unerbittlich tödliche Wunden beigefügt worden sind, bis er buchstäblich den Verstand verloren hat und nun mit aller Kraft, die ihm noch geblieben ist, zuschlägt. Demütigung ist das beste Mittel, um einen Konflikt zu entfachen. Wer den Krieg sucht, muss seinen potenziellen Gegner nur so lange kränken, bis dieser seine Fassung verliert, losschlägt und man dann zu allem Überdruss ihm allein die Schuld in die Schuhe schieben kann. Ein Spiel, das wir schon bei raufenden Jugendlichen beobachten können und das im Kleinen wie im Grossen den genau gleichen Gesetzmässigkeiten folgt.

Der einzige Weg, dieses Muster der Konfliktbeschleunigung zu verlassen, würde darin bestehen, den potenziellen Gegner bei allen noch so gravierenden Differenzen ernst zu nehmen, ihm auf gar keinen Fall seine Existenzberechtigung abzusprechen und stets mit ihm im Gespräch zu bleiben – all das also, was im gegenwärtigen Konflikt zwischen Russland und dem Westen aufs Sträflichste vernachlässigt wird. „Man sollte nie versuchen“, sagte der frühere US-Präsident John F. Kennedy, „sich selber als Sieger und den anderen als Besiegten hinzustellen.“ Doch genau dies hat der Westen im Siegestaumel nach dem Ende des kalten Kriegs, aus dem die Sowjetunion und das spätere Russland als Verlierer hervorgegangen sind, getan. Erst wenn der Westen, allen voran die USA, seine Allmachtsphantasien aufgibt, Russland als gleichwertigen Partner in einer multipolaren Welt anerkennt und das Prinzip friedlicher Koexistenz an die Stelle gegenseitiger Vernichtungsideologien getreten ist, kann ein Frieden Wirklichkeit werden, der auch auf längere Zeit hinaus Bestand haben wird und in dem sich die Menschen hüben und drüben der heutigen Todeszonen nicht mehr als Feinde erkennen, sondern als Brüder und Schwestern auf dem Weg zu einem gemeinsamen, guten Leben für alle. 

Die vielgelobte Demokratie, die angeblich im Kampf der Ukraine gegen Russland verteidigt werden soll, wird uns zur Zeit ganz gehörig unter unseren eigenen Füssen weggezogen…

 

Gemäss Angaben der Veranstalterinnen sind am Samstag, 25. Februar 2023, rund 50’000 Menschen einem von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer lancierten Friedensappell gefolgt und haben in Berlin für eine sofortige Waffenruhe und baldmöglichste Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine demonstriert. Gespannt habe ich am Tag danach in die „Sonntagszeitung“ und in die „NZZ am Sonntag“, die beiden wichtigsten Schweizer Sonntagszeitungen, geschaut, in der Erwartung, noch Ausführlicheres über diese Kundgebung zu erfahren, über die Reden, die da gehalten wurden, über Stimmen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Demonstration, über die Wirkung, die dieser Anlass auf die politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen haben könnte. Doch Fehlanzeige auf der ganzen Linie: Kein einziges Wort, kein Bild, einfach nichts zu diesem Thema. Dafür, in der „Sonntagszeitung“, ein zweiseitiger (!) Bericht über eine von Ukrainerinnen in der Schweiz veranstaltete Modeschau mit Kleidern, die während dem Krieg genäht wurden und die nun zur Unterstützung der in der Heimat Verbliebenen verkauft werden sollen.

Dabei hätte man mit einer angemessenen Berichterstattung über die Friedensdemonstration in Berlin eine ganze Zeitung füllen können. Allein die hervorragenden Reden von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer hätten es verdient gehabt, in vollem Wortlaut wiedergegeben zu werden. Und erst recht von allgemeinem Interesse wären die Ausführungen des US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey Sachs gewesen, zugeschaltet per Videoübertragung, der die Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine aufrollte und darauf hinwies, dass die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland bereits 2014 mit dem Regierungsputsch auf dem Maidan und dem geplanten Einbezug der Ukraine in die NATO begonnen hatten und man deshalb eigentlich jetzt nicht den ersten, sondern den neunten Jahrestag dieses Kriegs begehen müsste. Interessant wäre es auch gewesen, etwas über die Beweggründe dieser doch immerhin 50’000 Menschen zu erfahren, die sich für die Teilnahme an diesem Anlass entschieden hatten. Und ganz bestimmt hätte man fairerweise auch ein paar Worte darüber verlieren müssen, dass ein so grosser Anlass so friedlich verlief und es – trotz zahlreicher Unkenrufe von allen Seiten – zu keinerlei Gewaltausschreitungen „extremer“ Gruppierungen kam. 

Man kann – seitens der Politik, aber auch seitens der mit ihr mehr oder weniger im Gleichschritt marschierenden Medien – die öffentliche Meinung auf verschiedene Arten beeinflussen. Die eine besteht darin, über gewisse Dinge zu sprechen, über andere aber nicht. Ein besonders krasses Beispiel dafür sind die Anschläge auf die Gaspipeline Nordstream 2 vom 26. September 2022, wo vieles darauf hindeutet, dass die USA, möglicherweise im Bunde mit Norwegen, dahinter stecken könnten, weitere Abklärungen und Informationen aber nach wie vor beharrlich unter dem Deckel gehalten werden. Bemerkenswert und ebenfalls von den Mainstreammedien weitgehend ausgeblendet ist die Tatsache, dass die russische Regierung im Oktober 2022 die offizielle Bitte an Bundeskanzler Scholz gerichtet hatte, russische Experten an der Untersuchung der Anschläge zu beteiligen – eine Anfrage, die bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben ist, und dies, obwohl Russland die Pipelines gebaut und finanziert hat und immer noch deren Eigentümer ist. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch Putins Ende 2021, mit der USA eine Lösung bezüglich NATO-Beitritt der Ukraine auszuhandeln, was von der US-amerikanischen Regierung in Bausch und Bogen verworfen wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative des israelischen Ministerpräsidenten Bennett anfangs März 2022, der die Ukraine und Russland beinahe dazu gebracht hatte, einer gemeinsamen Friedenslösung zuzustimmen, wenn nicht die USA und Grossbritannien interveniert und die Initiative zu Fall gebracht hätten.

Eine zweite Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, besteht darin, dem „Gegner“ unlautere Motive zu unterstellen. So waren die westlichen Führungsmächte dem Vorschlag Chinas für eine Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine von Anfang an skeptisch bis ablehnend gegenüber eingestellt, indem China vorgeworfen wurde, an der Seite Russlands zu stehen, obwohl sich China von Anfang an bewusst neutral verhalten hatte. Man schlug die Türe zu, bevor sie noch richtig aufgemacht worden wäre. Überhaupt werden Meinungsäusserungen einzelner Politikerinnen und Politiker sowie von Regierungen höchst unterschiedlich gewertet und öffentlich dargestellt, je nachdem, von welcher Seite sie kommen. Während bei Wortführerinnen und Wortführer einer Friedenslösung wie Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer oder Ex-General Erich Vad auch noch das kleinste Haar in der Suppe gesucht wird, darf die deutsche Aussenminister Analena Baerbock in aller Öffentlichkeit bekanntgeben, Deutschland befinde sich mit Russland im Krieg und Ziel müsse es sein, Russland zu ruinieren, während der ukrainische Präsident Selenski ohne mit der Wimper zu zucken vom Westen die Lieferung von international geächteten Waffen wie Streumunition und Phosphorbomben fordert und dennoch immer noch als Held im Kampf für Freiheit und Demokratie gefeiert wird.

Wer mit Tatsachen und der Wahrheit so einseitig und so liederlich umgeht, wie das die tonangebenden westlichen Führungsmächte und der grosse Teil der Mainstreammedien tun, macht sich verdächtig. Wer die Wahrheit scheut, scheint von Angst getrieben zu sein. Wer keine Angst hat, braucht auch die Wahrheit nicht zu scheuen, kann alles ehrlich offenlegen, braucht nichts unter den Teppich zu kehren und kann es – das zumindest müsste man von einer Demokratie erwarten – getrost den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Die vielgelobte Demokratie, die angeblich im Kampf der Ukraine gegen Russland verteidigt werden soll, wird uns zur Zeit ganz gehörig unter unseren eigenen Füssen weggezogen… 

Jefffey D. Sachs: „Die amerikanischen Neokonservativen haben den Einmarsch Russlands in die Ukraine provoziert“…

 

Alle, die immer noch behaupten, den Westen treffe im Ukrainekrieg keine Mitschuld, müssten, um sich eines Besseren belehren zu lassen, nur den Artikel des US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey D. Sachs in der „Berliner Zeitung“ vom 30. Juni 2022 nochmals lesen. „Der Krieg in der Ukraine“, so Sachs, „ist der Höhepunkt eines 30jährigen Projekts der amerikanischen neokonservativen Bewegung der sogenannten Neocons.“ In der Regierung Biden sässen immer noch dieselben Neokonservativen, welche sich auch schon für die Kriege der USA in Serbien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003, Syrien 2011 und Libyen 2011 stargemacht und den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert hätten. 

Die Neocon-Bewegung sei in den 1970er-Jahren rund um eine Gruppe öffentlicher Intellektueller entstanden, an vorderster Front Paul Wolfowitz. Die Hauptbotschaft der Neocons laute, dass die USA in jeder Region der Welt die militärische Vormachtstellung innehaben und den aufstrebenden regionalen Mächten entgegentreten müssten, die eines Tages die globale oder regionale Vorherrschaft der USA herausfordern könnten, vor allem Russland und China. Zu diesem Zweck sollte das US-Militär in Hunderten von Militärstützpunkten auf der ganzen Welt in Stellung gebracht werden und die USA sollten darauf vorbereitet sein, bei Bedarf Kriege nach Wahl zu führen. Die Vereinten Nationen sollten von den USA nur dann genutzt werden, wenn dies für ihre Zwecke nützlich sei. „Wolfowitz“, so Sachs, „plädierte auch für amerikanische Kriege nach eigenem Gutdünken und verteidigte das Recht Amerikas, bei Krisen, die für die USA von Belang sind, unabhängig und sogar allein zu handeln.“

Die Neocons hätten sich insbesondere auch für die NATO-Erweiterung um die Ukraine eingesetzt, noch bevor dies 2008 unter George W. Bush zur offiziellen US-Politik geworden sei. Sie hätten die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als Schlüssel zur regionalen und globalen Vorherrschaft der USA betrachtet. Eine wichtige Rolle hätte dabei Victoria Nuland gespielt, US-Botschafterin bei der NATO unter Präsident George W. Bush. Nuland sei die neokonservative Agentin par excellence gewesen. Zusätzlich zu ihrer Tätigkeit als Bushs Botschafterin bei der NATO sei Nuland von 2013 bis 2017 Barack Obamas stellvertretende Aussenministerin für europäische und eurasische Angelegenheit gewesen und hätte in dieser Funktion eine wichtige Rolle beim Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch 2014 gespielt. Zurzeit sei Nuland Bidens Unterstaatssekretärin, welche die US-Politik gegenüber dem Krieg in der Ukraine leite, einer Politik, die gemäss den Vorstellungen der Necons von der festen Überzeugung ausgehe, Russland werde durch die finanziellen Sanktionen der USA und die Waffen der NATO besiegt werden. 

Jeffrey J. Sachs ist überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg angesichts der russischen Übermacht nicht gewinnen könne. „Stattdessen“, so seine Schlussfolgerung, „besteht angesichts dieser Katastrophe die wahre Lösung darin, die neokonservativen Fantasien der letzten 30 Jahre zu beenden und die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zurückzuholen, wobei sich die NATO verpflichtet, ihr Engagement für die Osterweiterung um die Ukraine und Georgien im Gegenzug für einen tragfähigen Frieden zu beenden, der die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine respektiert und schützt.“

Worte, die schon im Juni 2022 hochaktuell waren, aber jetzt, ein halbes Jahr später, noch um ein Vielfaches aktueller sind…

Bis auch noch der allerletzte Politiker, die allerletzte Politikerin begriffen hat, dass man Frieden niemals gegeneinander, sondern stets nur miteinander schaffen kann..

 

In seiner Rede am 21. Februar 2023, kurz vor dem Jahrestag des Ukrainekriegs, kündigt der russische Präsident Wladimir Putin die Aussetzung von „New Start“ an, dem letzten grossen atomaren Abrüstungsvertrag, der die strategischen Atomwaffenarsenale Moskaus sowie der USA begrenzt. Diesen Schritt begründet Putin vor allem damit, dass etwa Frankreich und Grossbritannien ihre Atomwaffenarsenale weiter entwickeln und ihre Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichten würden. Allerdings werde man, so lässt das russische Aussenministerium verlauten, die festgelegten Obergrenzen für Atomwaffen weiterhin einhalten. An einem verantwortungsvollen Vorgehen werde festgehalten und für die Dauer der Vertragslaufzeit würden die vorgesehenen quantitativen Beschränkungen für strategische Offensivwaffen strikt eingehalten. Die Aussetzung von „New Start“ könne auch wieder rückgängig gemacht werden, dazu müsse aber Washington politischen Willen zeigen, sich gewissenhaft für eine allgemeine Deeskalation einzusetzen und Bedingungen für die Wiederaufnahme des vollen Funktionierens des Vertrags zu schaffen. Die Aussetzung von „New Start“ bezeichnet US-Aussenminister Blinken als „enttäuschend und unverantwortlich“, auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg bedauert den Entschluss und westliche Sicherheitsexperten sprechen schon vom „Beginn eines neuen Wettrüstens“ und davon, dass Putin damit die „letzten Brücken“ abgerissen hätte. Für alle, die schon immer Putin als die Inkarnation des Bösen oder geradezu des Teufels gesehen haben, ist die Aussetzung von „New Start“ ein weiterer Beweis dafür, dass Putin nicht einmal davor zurückzuschrecken scheine, die Welt in ein atomares Massengrab zu verwandeln. 

Doch wenn man jetzt Russland und insbesondere Putin rücksichtsloses imperialistisches Machtgebaren vorwirft, dann sollte man nicht vergessen, dass US-Präsident Trump am 1. Februar 2019 genau das Gleiche tat, was Putin an diesem 21. Februar 2023 getan hat. Trump erklärte an diesem Tag nämlich offiziell den Ausstieg – und nicht bloss die Aussetzung! – aus dem INF-Abrüstungsvertrag. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1987 zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion hatte den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern untersagt. Kremlsprecher Peskow warnte damals, dass die USA nach einem Ausstieg aus dem INF-Vertrag genau jene Waffensysteme entwickeln wollten, die durch das Abkommen verboten gewesen waren. Auch die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen betonte, der INF-Vertrag sei ein Kernelement der europäischen Sicherheit, und plädierte für eine Weiterführung des Vertrags. Und selbst Analena Baerbock, damals Parteivorsitzende der Grünen, sagte, der Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag sei „absolut fatal“.

Überhaupt scheint der Westen ein erstaunlich kurzes historisches Gedächtnis zu haben. Man spricht gerne und oft vom imperialistischen Machtgebaren Russlands. Und zwar so oft und so laut, dass ganz vergessen geht, dass der Begriff eines „imperialistischen Machtgebarens“, über längere Zeit betrachtet, in ungleich viel höherem Ausmass auf die USA zutrifft, welche seit 1945 nicht weniger als 44 Militäroperationen und grösstenteils völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt haben, mit insgesamt über 50 Millionen Toten und rund 500 Millionen Verletzten, von Korea, Ägypten, Kuba, Vietnam, Laos und Kambodscha über Bolivien, Angola, El Salvador, Nicaragua bis zu Libyen, Irak, Jugoslawien und Afghanistan – um nur ein paar wenige sämtlicher Schauplätze zu nennen. Gleichzeitig sah sich Russland über die ganze Zeit in der Rolle des Machtlosen, Gedemütigten, zwar immer wieder gegen die Auswüchse des US-Imperialismus protestierend, dennoch immer wieder von ihm überrollt und nie als vollwertiger Partner innerhalb einer globalen Sicherheitspolitik und eines globalen Gleichgewichts ernst genommen. Sind die feindseligen Gefühle und Rachegedanken gegenüber dem Westen, nicht nur bei Putin, sondern auch in weiten Teilen der russischen Bevölkerung, nicht zumindest ein klein wenig verständlich?

Die westlichen Medien waren voll des Lobes, als US-Präsident Joe Biden am 20. Februar Präsident Selenski in Kiew einen Besuch abstattete. Viele sprachen gar von einem „historischen“ Ereignis. So wenig braucht es also mittlerweile, um in die Geschichte einzugehen: Ein 80Jähriger, der für seinen Mut gelobt wird, sich mitten in ein Kriegsgebiet zu begeben, bei blauem Himmel die Umarmung des grossen mit dem kleinen Bruder, die inniger nicht sein könnte, ein gemeinsamer Spaziergang bei heulendem Luftalarm, der wohl ebenso zur hollywoodähnlichen Inszenierung gehört wie die Sonnenbrille auf der Nase des US-Präsidenten – denn wäre der Alarm echt gewesen, wären die wohl nicht so locker übers Strassenpflaster gebummelt, sondern hätten so schnell wie möglich in einem Bunker Zuflucht gesucht. Nein, das einzige „Historische“ an diesem Ereignis ist, dass die Medien im Bunde mit Politikerinnen und Politikern etwas „Historisches“ daraus machen. In die grosse Geschichte, über die man auch in hundert Jahren noch sprechen wird, in diese Geschichte wird erst jener Tag eingehen, an dem der Krieg als dümmstes und menschenfeindlichstes Mittel zur Lösung von Konflikten zwischen Ländern und Völkern für immer ein Ende gefunden hat und auch noch der allerletzte Politiker, die allerletzte Politikern begriffen hat, dass man Frieden niemals gegeneinander, sondern stets nur miteinander schaffen kann.   

Kameras zur Gesichtserkennung in 57 schweizerischen Bahnhöfen: So schnell wird das eben noch Undenkbare Wirklichkeit…

 

Die schweizerischen Bundesbahnen, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 17. Februar 2023, haben vor, 57 grössere Bahnhöfe mit speziellen Kameras auszustatten, welche Gesichter erkennen können. Folgende Informationen sollen damit gewonnen werden: auf welchem Weg Reisende durch den Bahnhof gehen, wie alt sie sind, welches Geschlecht sie haben und welche Grösse, was für Gepäck und Gegenstände wie Kinderwagen, Rollstuhl oder Velo sie mitführen, wie lange sie sich im Bahnhof aufhalten, welche Geschäfte sie besuchen, wie sie sich in den einzelnen Geschäften verhalten und wie viel Geld sie in Apotheken, Lebensmittelgeschäften oder an Kiosken ausgeben. Mit den gesammelten Daten sollen Rückschlüsse auf das Kaufverhalten gezogen werden, um das „Einkaufserlebnis“ zu verbessern, was wiederum zu höheren Umsätzen führen kann. Die Daten werden in der Cloud des US-Softwareherstellers Microsoft gesammelt und können daher jederzeit von Ermittlungsbehörden aus den USA angefordert werden.

Das Erschreckende an alledem ist nicht nur, dass hier mitten in der Schweiz im Kleinen ein Überwachungsstaat mit unabsehbaren Folgen und unabwägbaren Risiken etabliert werden soll. Das noch viel Erschreckendere ist, dass innerhalb so kurzer Zeit etwas möglich geworden ist, das man vor kurzer Zeit noch für völlig unmöglich gehalten hätte. Es sind keine zehn Jahre her, da erreichten uns Meldungen aus China, wo Überwachungssysteme eingeführt worden waren, welche, ebenfalls mittels Gesichtserkennung, das Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum registrieren und mit Belohnungs- und Bestrafungssystem verknüpft sind. Diese Nachrichten lösten hierzulande helles Entsetzen aus und wurden als übelstes Instrument einer Diktatur zur permanenten Überwachung und Kontrolle ihrer Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen. Zehn Jahre später, man glaubt es kaum, scheinen auch wir Schweizerinnen und Schweizer schon so digital „weichgeklopft“ zu sein, dass etwas so Unglaubliches wie die Überwachung der Menschen im öffentlichen Raum via Gesichtserkennung kaum noch auf nennenswerten Widerstand stösst. „Verhindern lässt sich die Gesichtserkennung in den Bahnhöfen wohl kaum“, schreibt der „Tagesanzeiger“. Und dies, obwohl sich in einer von der gleichen Zeitung durchgeführten Onlineumfrage 90 Prozent der Befragten dahingehend geäussert haben, dass sie das Ganze überaus problematisch fänden. Doch die Meinung der Bevölkerung scheint schon längst nicht mehr zu zählen. Man darf zwar über alles Mögliche und Unmögliche abstimmen, aber bei der Digitalisierung hört der Spass auf. Als wäre es ein Naturereignis, das sich nicht mehr abwenden lässt und nur von ein paar wenigen Ewiggestrigen in Frage gestellt würde. Als wäre die Digitalisierung eine unsichtbare Krake, die sich immer enger über unseren Köpfen zusammenzieht und das eben noch Undenkbare nach und nach zur Normalität werden lässt.

„Einmal erfasst“, warnt Laetitia Ramelet, Expertin für Technologiefolgen-Abschätzung, „können biometrische Daten eine Person ein Leben lang identifizierbar machen. Sie können Aufschluss über den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand geben – oder auch über Emotionen. Das Gesicht wird analysiert, um zu sehen, wie jemand auf ein Ereignis reagiert. Zudem können solchen Systeme die politischen Rechte beeinflussen: Die Versammlungsfreiheit kann gestört werden, wenn man weiss, dass am Bahnhof viele Überwachungskameras installiert sind und man dann möglicherweise davor zurückschrecken würde, an einer Demonstration in der Nähe des Bahnhofs teilzunehmen.“

Die SBB wollen ja angeblich mit dieser Massnahme das „Einkaufserlebnis“ in den Bahnhöfen verbessern. Ich hätte, um dieses Ziel zu erreichen, noch eine andere Idee: Wie wäre es, das Geld statt für teure Überwachungssysteme und Technologien gescheiter dafür zu verwenden, um die Mieten in den Bahnhofsläden zu reduzieren, damit dort auch Geschäfte mit geringeren Renditemöglichkeiten existieren können und die Preise in den Geschäften nicht so weit in die Höhe geschraubt werden müssen, dass immer mehr weniger zahlungskräftige Kundinnen und Kundinnen von jenem „Einkaufserlebnis“ ausgeschlossen werden, welches die SBB angeblich mit allen Mitteln fördern wollen…

Familienfrau und Familienmann: Der Beruf, auf dem alle anderen Berufe aufbauen…

 

Als Tim von der Lehrerin gefragt wurde, was seine Mutter arbeite, sagte er: „Nichts. Sie macht nur den Haushalt, putzt die Wohnung, kocht, wechselt die Windeln meiner Schwester, macht die Wäsche, spielt mit uns Kindern, macht mit mir die Hausaufgaben und geht einkaufen.“ Selbst Erwachsene, wenn sie über das Thema sprechen, reden von „berufstätigen“ und „nicht berufstätigen“ Frauen. Als wäre die Arbeit einer Mutter und Hausfrau bzw. eines Vaters nicht eine vollwertige, höchst anspruchsvolle, anstrengende, verantwortungsvolle und erst noch gesellschaftlich höchst unentbehrliche, unersetzliche Arbeit, die offensichtlich nur deshalb so wenig Ansehen geniesst, weil sie zum Nulltarif geleistet wird. 

Auch in der Diskussionssendung „Arena“ am Schweizer Fernsehen vom 17. Februar 2023 zum Thema Elternzeit ging es vor allem um wirtschaftliche Fragen und darum, wie insbesondere Frauen nach einer Geburt wieder möglichst optimal in die ausserhäusliche Arbeitswelt „integriert“ werden könnten. Doch wäre es vielleicht einen Versuch wert, das Thema für einmal aus einer gänzlich anderen Perspektive zu beleuchten, nämlich so, dass man eine berufliche Tätigkeit in der ausserfamiliären Arbeitswelt nicht als etwas automatisch „Höherwertiges“ als die Familienarbeit, sondern beides als gleichwertig ansehen würde.

So etwa sähe meine Vision aus: In der Regel würden die beiden Elternteile zusammen einen 100%-Job in der ausserfamiliären Arbeitswelt erbringen, also zum Beispiel der eine Elternteil 80 Prozent, der andere 20 oder beide je 50 oder einer allein 100. Dementsprechend würde der verbleibende 100%-Job vollumfänglich der Familien- und Hausarbeit zur Verfügung stehen. Bedingung dafür wäre freilich, dass ein 100%-Job in der ausserfamiliären Arbeitswelt als Existenzgrundlage für eine Familie ausreichen müsste, was nur durch die Einführung eines entsprechenden existenzsichernden Mindestlohns sowie durch grosszügige Kinderzulagen, einkommensabhängige Krankenkassenprämien und eine Deckelung der Wohnungsmieten zu gewährleisten wäre, eigentlich lauter Selbstverständlichkeit, die auch unabhängig von der Diskussion über Erwerbsarbeit von Eltern schon längstens hätten realisiert werden müssen. Dies brächte insbesondere auch Alleinerziehenden eine wesentliche Entlastung, wären sie doch somit nicht mehr gezwungen, nebst der Betreuungs- und Hausarbeit zusätzlich noch einer 100%igen ausserfamiliären Erwerbsarbeit nachzugehen.

Ein vollwertiges Pensum als Familienfrau bzw. Familienmann hätte viele Vorteile. Zunächst würde es dazu führen, dass dieser Beruf endlich jene Wertschätzung erführe, die er verdient hat – indem er nämlich nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel wäre, und nicht etwas Lästiges, Verpöntes oder Minderwertiges, das man so schnell wie möglich hinter sich bringen möchte, um wieder – in der ausserfamiliären Arbeitswelt – einen „richtigen“ Berufs auszuüben. Zweitens würde der ganze Stress wegfallen, mit dem heute schon die kleinen Kinder frühmorgens aus dem Bett gejagt werden, um in die Kita gebracht zu werden, der Stress auch, von dem das Einkaufen, das Kochen und die vielen anderen notwendigen Tätigkeiten begleitet sind, die noch in die kleinen verbliebenen Zwischenräume gequetscht werden müssen. Drittens wäre immer, wenn es dem Kind schlecht geht, wenn es krank ist oder aus irgendeinem Grund zu früh von der Schule nach Hause kommt, der Vater oder die Mutter zuhause, um sich um das Kind zu kümmern. Viertens könnte die Haus- und Familienarbeit, sobald die Kinder grösser sind, mit gesellschaftlichen Aufgaben wie Nachbarschaftshilfe, Carearbeit oder der Tätigkeit in einem Verein aufgestockt werden – lauter Arbeitsfelder, wo hilfreiche Hände noch so gefragt sind.

Dies alles würde dazu beitragen, dem Beruf der Familienfrau und des Familienmanns jene Bedeutung zuzumessen, die ihm tatsächlich gebührt: jenem Beruf nämlich, der die Basis aller anderen Berufe bildet und ohne den es keinen Nachwuchs für die zukünftige Arbeitswelt gäbe, aber auch nicht alle gesellschaftlichen Werte wie Fürsorge, Solidarität und Liebe und schon gar nicht all das, was die Kinder – von der Bildung ihrer körperlichen und emotionalen Kräfte bis hin zum Erwerb der Muttersprache – in ihren ersten Lebensjahren von ihren Eltern lernen. Das zutiefst Ungerechte besteht darin, dass sich Gutverdienende dieses Modell – halb Familienarbeit, halb ausserfamiliäre Erwerbsarbeit – heute schon leisten können. Es wäre nichts weniger als ein Postulat der sozialen Gerechtigkeit, materielle Bedingungen zu schaffen, die es sämtlichen Eltern ermöglichen würden, sowohl die Familienarbeit wie auch die ausserfamiliäre Erwerbsarbeit vollwertig und gleichberechtigt nebeneinander auszuüben.