Die Panzer, die schon bald gegen die russischen Truppen hinwegrollen werden, scheinen auch über die Demokratie hinwegzurollen…

 

Nachrichtensendung „10 vor 10“ am Schweizer Fernsehen am 24. Januar 2023: Deutschland habe sich, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz lange Zeit „zögerlich“ gezeigt hätte, nun doch dazu durchgerungen, Kampfpanzer vom Typ Leopard an die Ukraine zu liefern. Reaktionen gäbe es von verschiedenen „Playerinnen“ und „Playern“, so zum Beispiel von der FDP-Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die den Entscheid sehr „begrüsse“. Auch CDU-Chef Friedrich Merz zeige sich „zufrieden“. Und der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, danke der deutschen Regierung für ihren Mut, fordere aber im gleichen Atemzug die baldige Entsendung von Kampfjets.

Gleichentags die „Tagesthemen“ auf ARD: Auch auf diesem Sender wird, wen wunderts, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die so etwas wie die Siegerin des Tages zu sein scheint, interviewt. Sie spricht von einem „wichtigen Tag“ für die Ukraine. Eingeblendet wird auch der polnische Ministerpräsident Mateus Morawiecki, der das bisher „zu zögerliche“ Verhalten Deutschlands kritisiert. Zu sehen ist auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der von der Notwendigkeit spricht, schneller und schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern. Für Amira Muhammed Ali von der „Linken“ bleiben gerade noch vier Sekunden, in denen sie die Frage aufwirft, ob nun wohl bald schon deutsche Soldaten in der Ukraine kämpfen würden. Umso länger dann das Interview mit Oleksii Makeiev, dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, der sich über die wachsende Koalition von Ländern, die Panzer liefern wollen, sichtlich freut.

Und dann noch ZDF mit der Nachrichtensendung „heute“. Im Trailer zur Sendung ist von einer nun in Gang gekommenen „Dynamik in der Kampfpanzerdebatte“ die Rede. Wieder treten der polnische Ministerpräsident Mateus Morawiecki und der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf, die beide bezüglich Waffenlieferungen an die Ukraine auf entschlossenes Handeln der Westmächte drängen. Auch Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, begrüsst den Entscheid, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Amira Muhammed Ali von den „Linken“ bekommt jetzt immerhin acht Sekunden und sagt, dass dieser Krieg gegen eine Atommacht auch nicht mit zusätzlichen Kampfpanzern zu gewinnen sei. Schliesslich wird aus Washington ZDF-Korrespondent Elmar Theressen zugeschaltet, der den republikanischen Abgeordneten Lindsay Graham zitiert, wonach der Moment für Deutschland gekommen sei, „zu glänzen und sich als Kraft für das Gute zu beweisen.“ Ein Wunder, dass nicht auch hier noch Marie-Agnes Strack-Zimmermann auftritt…

Zaghaft erwähnte die Sprecherin der ARD-„Tagesthemen“, immerhin stünden 45 Prozent der deutschen Bevölkerung der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine ablehnend gegenüber. Eigentlich hätte sie noch erwähnen müssen, dass der Anteil der Befürworterinnen und Befürworter bei 44 Prozent liegt. Doch wenn immerhin die Hälfte der deutschen Bevölkerung eine ablehnende Haltung einnimmt, weshalb bekommen sie dann in den Fernsehnachrichten nicht auch die Hälfte der Sendezeit? Weshalb dürfen Stoltenberg, Strack-Zimmermann, Melnyk und Morawiecki und Makeiev minutenlang reden, die Vertreterin der „Linken“ aber nur gerade mal ein paar Sekunden und Sahra Wagenknecht, Rolf Mützenich, Jürg Tödenhofer, Erich Vad oder Alice Weidel nicht einmal eine einzige Sekunde? Und weshalb erwähnt niemand den Aufruf an Olaf Scholz zum Verzicht auf eine Lieferung von Panzern, der unter anderem von Reinhard Mey, Alexander Kluge, Dieter Nurh, Gerhard Polt, Alice Schwarzer und Martin Walder initiiert worden ist und für den innerhalb kürzester schon eine halbe Million Unterschriften gesammelt worden sind? 

Lange habe ich geglaubt, die Medien in demokratischen Ländern würden unterschiedlich Meinungen innerhalb der Bevölkerung angemessen vertreten und einen gesellschaftspolitisch unentbehrliches Gegengewicht und Korrektiv zu Machtballungen in Politik und Wirtschaft bilden. Der gestrige Abend hat mich endgültig eines Besseren belehrt. Die Panzer, die schon bald gegen die russischen Truppen hinwegrollen werden, scheinen auch über die Demokratie hinwegzurollen…

Der Krieg in der Ukraine: Blindwütige gegenseitige Zerstörung oder Kipppunkt in eine neue Zeit?

 

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Je mehr Waffen die eine Seite in die Schlacht wirft, umso mehr Waffen muss die andere Seite in die Schlacht werfen. Jeder Panzer und jede Rakete auf der einen Seite der Front schreit nach einem zusätzlichen Panzer und einer zusätzlichen Rakete auf der anderen Seite der Front. Je mehr Zerstörungen die eine Seite anrichtet, umso mehr Zerstörungen muss die andere Seite anrichten. Je mehr Menschen auf der einen Seite verletzt werden oder sterben, umso mehr Menschen werden auf der anderen Seite verletzt oder müssen sterben. Etwas Dümmeres und Selbstzerstörerisches kann man sich nicht vorstellen. „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Lauthals ging es bei der Ramstein-Konferenz vom 20. Januar 2023, an der rund 50 westliche Verteidigungsminister teilnahmen, um die Lieferung zusätzlicher Panzer an die Ukraine. Eine völlig abstrakte Diskussion fernab jeder Realität auf dem Schlachtfeld. Denn so berauschend die Bilder von Panzern, die in hohem Tempo auch schwierigstes Gelände durchjagen, auch sein mögen: Das ist nur die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite, das sind zerschossene Wohnhäuser, vor denen in klirrender Kälte jene Menschen kauern, die zuvor in diesen Häusern gelebt haben. Der Soldat, der sich mit zerfetztem Bein im knietiefen Schlamm wälzt, keine Kraft mehr hat, seine Kollegen um Hilfe zu rufen, und in Todesangst feindliche Soldaten auf sich zurasen sieht. Die Kinder, deren Schulen und Spielplätze dem Erdboden gleichgemacht wurden und die am gleichen Tag die Nachricht erhalten haben, ihre Väter seien an der Front ums Leben gekommen.

Kein einziger der feinen Herren im Anzug und mit Krawatte, die an der Ramstein-Konferenz teilnahmen, weder der US-Verteidigungsminister Austin noch der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow, und schon gar nicht Joe Biden oder Wolodomyr Selenski werden jemals selber in einen jener Panzer steigen, deren Lieferung sie so lautstark fordern, und sich ins Schlachtgetümmel stürzen. „Ich dachte immer“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Meine Vision: Die Ukraine und Russland hören auf, das umstrittene Land in der Ostukraine zu zerstören, das sie angeblich so lieben. Stattdessen bauen sie es gemeinsam wieder auf. als Brüder. Und sie lassen die dort lebenden Menschen frei darüber entscheiden, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören oder eine eigene, unabhängige Republik bilden möchten. Sowohl die Ukraine wie auch Russland könnten dabei nur gewinnen, höchstes weltweites Ansehen, das Leben ihrer Landsleute und ihrer Nachbarn, ein Leben in Frieden und Wohlstand für alle. Nicht eine wachsende Zahl von Waffen sollte der Westen liefern, sondern das Knowhow und das Prestige seiner besten und fähigsten Diplomatinnen und Diplomaten, um den Kriegsparteien eine Plattform zu bieten, auf der sie zu einer Einigung finden könnten, ohne dass die eine oder die andere Seite dabei ihr Gesicht verlieren müsste.

In der Parabel des Kaukasischen Kreidekreises von Bertolt Brecht streiten sich eine Gouverneurin und ihre Magd . Beide behaupten, die wahre Mutter des Kindes zu sein. Mit Kreide zieht der Richter einen Kreis und stellt das Kind in die Mitte. Wem es gelingen würde, das Kind auf seine Seite zu ziehen, so der Richter, soll als wahre Mutter des Kindes anerkannt sein. So ziehen die beiden Frauen am Kind, jede an einem Arm. Als das Kind vor Schmerzen zu weinen beginnt, lässt die Magd es los. Die Gouverneurin frohlockt und wähnt sich schon als wahre Mutter. Doch der Richter spricht das Kind dennoch der Mutter zu, die bewiesen hätte, dass ihre Liebe zum Kind stärker ist als der Wunsch, es um alles in der Welt zu besitzen. Eine Geschichte, die uns hoffnungsvoll in eine Zukunft blicken lässt, in der die Liebe und die Sorge um das Wohl anderer die weit höheren und bestimmenderen Werte sein werden als Habgier, Gewalt und Eroberungslust. Der Krieg in der Ukraine hat uns in eine finstere Vergangenheit zurückgeworfen und lässt uns noch einmal alle Fehler begehen, die wir schon tausendmal begangen haben. Er könnte aber auch zu einem Kipppunkt werden, in der die alte Zeit in eine neue Zeit umschlägt, in der so etwas wie Kriege und blindwütige gegenseitige Zerstörung für immer der Vergangenheit angehören. Das liegt nicht nur an Putin, Selenski, Scholz und Biden. Es liegt an uns allen. 

Lüzerath: Nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird…

 

„Wie ist es im Jahre 2023 möglich, dass wir uns noch immer auf dem Weg befinden, der ins Nichts führt?“, rief Greta Thunberg den Demonstrantinnen und Demonstranten zu, die tagelang massiver Polizeigewalt getrotzt haben, um gegen den geplanten Abbau von Braunkohle in der Gegend von Lüzerath anzukämpfen. Doch könnte das mediale Scheinwerferlicht, das in diesen Tagen auf den Ereignissen von Lüzerath gelegen hat, leicht davon ablenken, dass der „Weg, der ins Nichts führt“, ganz und gar nicht bloss gerade an diesem einzigen Ort der Welt geschieht.

Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind erneut rund 150 Tier- und Pflanzenarten für immer ausgestorben. Nicht weil es sich dabei um ein unausweichliches Naturgesetz handelt, sondern weil multinationale Konzerne, getrieben von Profitmaximierung und Wachstumssucht, auch noch die letzten Tropenwälder vernichten, halbe Weltmeere leerfischen und mit immer aggressiveren Methoden das Äusserste aus der Erde herauspressen. Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind wieder unzählige Frachtflugzeuge und Containerschiffe weltweit unterwegs, um endlos wachsende Mengen von Gütern aller Art zwischen den Kontinenten hin- und herzuschieben, in so grosser Zahl, dass immer mehr davon, kaum in den reichen Ländern angekommen, auch schon wieder im Müll landet. Hier und heute, an diesem 15. Januar 2023, sind wieder Hunderte von russischen und ukrainischen Soldaten ums Leben gekommen in einem Krieg, in dem es, wovon man selten spricht, auch ganz stark um wirtschaftliche Interessen geht, befindet sich doch in der Ostukraine eines der grössten Lithiumvorkommen Europas und stehen für mehrere US-Grosskonzerne, die sich bereits 17 Millionen Hektar ukrainisches Agrarland unter den Nagel gerissen haben, äusserst handfeste Interessen auf dem Spiel. Heute, an diesem 15. Januar 2023, werden nahezu 15’000 Kinder unter fünf Jahren weltweit gestorben sein, weil sie nicht genug zu essen haben, nicht weil insgesamt auf der Erde zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern weil sie dermassen ungerecht verteilt sind und die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen lässt. Und das ist nur eine ganz kleine Auswahl dessen, was kapitalistische Wirtschaftsinteressen an jedem einzelnen Tag an Leiden und Zerstörungen weltweit anrichten.

Es sei denn, die Bewegung von Lüzerath, deren Zeuginnen und Zeugen wir in diesen Tagen geworden sind, weite sich aus zu einer weltweiten Bewegung für den Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der nicht mehr die Interessen des Kapitals und seiner Selbstvermehrung an oberster Stelle stehen, sondern die Interessen der Menschen, der Natur und aller zukünftiger Generationen. Dass die traditionellen politischen Parteien, selbst die einst so idealistisch angetretenen Grünen, nichts anderes sind als Gefangene des kapitalistischen Machtsystems, haben wir nun zur Genüge erfahren. Da ist nichts mehr zu erwarten. Antikapitalistische politische Arbeit muss sich, wenn sie tatsächlich etwas bewirken will, über nationale Grenzen hinaus organisieren. So wie der Kapitalismus international organisiert und vernetzt ist, so muss auch eine politische Bewegung, die ihn überwinden will, international vernetzt sein, alles andere ist reine Symptombekämpfung. Es geht nicht nur um Braunkohle. Es geht auch nicht nur um den Klimawandel. Es geht um die Zukunft als Ganzes und das gute Leben für alle, heute, morgen und übermorgen. Damit diese Tage bei Lüzerath nicht das Ende gewesen sind, sondern erst der Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird…

Europäischer Strommarkt: Wie die Fahrt auf einer Achterbahn…

 

„Wer derzeit die Tagespreise an den europäischen Strommärkten verfolgt“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 5. Januar 2022, „muss sich vorkommen wie auf einer Achterbahn. Ende August kostete eine Megawattstunde für den nächsten Tag 725 Euro, Ende Jahr war es nach einigen Berg-und-Tal-Fahrten noch ein Bruchteil davon: sieben Euro. Inzwischen sind die Preise schon wieder auf deutlich über 100 Euro geklettert.“ Nutzniesser, so das „Tagblatt“, seien die grossen Energiekonzerne. So erwarte die BKW für 2022 ein „ausserordentliches Resultat“, wie der Energiekonzern mitteile. Man gehe von einem Betriebsgewinn von rund einer Milliarde Franken aus, nach 395 Millionen im Vorjahr. Der wesentliche Grund für die Gewinne seien die „extremen Verwerfungen an den Energiemärkten“. Allerdings sei auch das Gegenteil möglich, so stünden die Axpo und die Alpiq derzeit vor gravierenden Liquiditätsproblemen…

Wie heisst es immer so schön? Die „Freie Marktwirtschaft“ beruhe auf einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und sei deshalb das beste und einzige Wirtschaftsmodell um eine optimale Verteilung von Ressourcen und Gütern innerhalb einer Volkswirtschaft herzustellen. Tatsache ist jedoch, dass sich dieses Versprechen je länger je deutlicher als gigantischer Trugschluss erweist. Hätten alle an einem „freien Markt“ Beteiligten die gleich langen Spiesse, würde das Ganze vielleicht tatsächlich funktionieren. In der Realität aber sind diese Spiesse höchst unterschiedlich lang und die Folge ist, dass sich die Güter eben nicht gleichmässig verteilen und stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich kaufen zu können.

Würde die „freie Marktwirtschaft“ tatsächlich zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht über 800 Millionen Menschen weltweit hungern, während multinationale Nahrungsmittelkonzerne Milliardengewinne scheffeln, 40 Prozent der gekauften Lebensmittel in den reichen Ländern des Nordens im Müll landen und durch Spekulation an den globalen Nahrungsmittelbörsen die Lebensmittelpreise dermassen in die Höhe getrieben werden, dass sich immer mehr Menschen in den armen Ländern selbst die einfachsten Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. Würde die „freie Marktwirtschaft“ zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, wie das zum Beispiel in Grossstädten wie Zürich, Paris, London oder Berlin der Fall ist, viel zu viele Luxuswohnungen gebaut, während günstiger Wohnraum für Minderbemittelte immer mehr zur Seltenheit wird. Würde die „freie Marktwirtschaft“ zum Wohle der Menschen funktionieren, dann würden nicht, infolge der unterschiedlichen Bodenpreise, Wohnorte und Arbeitsorte immer weiter auseinandergerissen, was früher oder später zu einem Totalkollaps des gesamten Verkehrssystems führen muss. 

Dies sind nur wenige Beispiele, unzählige weitere könnten hinzugefügt werden. Sie alle zeigen, dass es eine Illusion wäre anzunehmen, die „freie Marktwirtschaft“ diene in erster Linie den Bedürfnissen der Menschen.. Sie dient in erster Linie dem Kapital und seiner Selbstvermehrung. Früher oder später werden wohl radikale Gegenmassnahmen unausweichlich sein, werden doch die Berg-und-Tal-Fahrten des „freien Marktes“ immer verrücktere Ausmasse annehmen. Eine mögliche radikale Gegenmassnahme wäre die Verstaatlichung all jener Unternehmen, die für die allgemeine Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit und Energie zuständig sind. Gewiss ein Vorhaben, das zurzeit noch auf erbitterten Widerstand von verschiedenster Seite stossen würde. Doch sollte es beim Blick in die Zukunft nicht schon zum Vornherein Denkverbote geben. Vielleicht gibt es ja noch andere, bessere Ideen. Fest steht nur, dass der Schaden, den die „freie Marktwirtschaft“ heute schon weltweit anrichtet, so immens ist, dass jede Alternative dazu, so verrückt sie im Moment erscheinen mag, dennoch um ein Vielfaches besser wäre. 

Selenski vor dem US-Kongress: Auch die absurdesten und widersprüchlichsten Aussagen von Standing Ovations weggespült…

22. Dezember 2022: Der ukrainische Präsident Selenski vor dem US-Kongress. Noch bevor er richtig zu reden angefangen hat: Standing Ovations. „Entgegen aller Widrigkeiten und Schwarzmalereien ist die Ukraine nicht gefallen. Die Ukraine lebt und ist quicklebendig.“ Dann spricht er davon, Europa sei heute stärker und unabhängiger als je zuvor. „Wir haben keine Angst und niemand in der Welt sollte Angst haben.“ Weiter geht es mit der Forderung, der Kreml müsse „nicht nur in den Köpfen“, sondern auch „auf dem Schlachtfeld“ besiegt werden, und dass „dieser Kampf“ nicht „eingefroren“ oder „verschoben“ werden könne, denn „von den Vereinigten Staaten bis China, von Europa bis Lateinamerika und von Afrika bis Australien“ seien die Teile der Welt „zu sehr miteinander verbunden und voneinander abhängig“, so dass niemand abseits stehen und sich sicher fühlen könnte. Und dann das: „Bevor ich nach Washington D.C. gekommen bin, war ich an der Front bei Bachmut. Letztes Jahr lebten dort noch 70’000 Menschen. Heute sind nur noch wenige Zivilpersonen übrig. Jeder Zentimeter dieses Landes ist von Blut getränkt. Stündlich ertönen Geschützdonner. Die Schützengräben wechseln mehrmals am Tag den Besitzer – in heftigen Kämpfen manchmal sogar im Handgemenge.“

Nebst allen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in der immer wieder von Stand Ovations unterbrochenen Rede sind es zwei Aussagen, die besonders ins Auge stechen: Die erste ist, dass weder die Ukraine noch irgendwer in der Welt Angst haben sollte. Was denkt sich wohl das Kind, das mit seiner Mutter in einem schon halb zerbombten, eiskalten Keller Schutz gesucht hat und keine Sekunde lang sicher sein kann vor einer nächsten Bombe, bei einer solchen Aussage? Kann es allen Ernstes Krieg geben ohne Angst? Wenn das Selenski für sich allein gemeint hat, dann ist es seine Sache. Wenn er es aber für das ganze ukrainische Volk gemeint hat, ist es eine reine Farce, eine unbeschreibliche Beleidigung all jener Menschen, die seit Monaten täglich um ihr Leben zittern müssen, nicht nur in halb zerbombten Kellern, sondern auch in Schützengräben und in Panzern. Die furchtlosen Helden der Armee waren stets schon und sind es, solange es Kriege gibt, eine reine Fiktion, von der Zivilbevölkerung gar nicht zu reden.

Die zweite Aussage, die ins Auge sticht: Dass die Ukraine „lebe“ und „quicklebendig“ sei. Selenski scheint sich der Unerhörtheit dieser Aussage offensichtlich nicht bewusst zu sein und berichtet sogar von seinem Besuch in Bachmut, wo von den ehemals 70’000 Bewohnerinnen und Bewohnern nicht mehr viel übrig geblieben und der Boden „von Blut durchtränkt“ sei. Das also ist sein „lebendiges“, „quicklebendiges“ Volk? Was wohl all jene, die in diesem Krieg schon Angehörige verloren haben oder selber schon verletzt wurden, bei einer solchen Aussage Selenskis denken mögen?

Schaut man sich Selenskis Rede genauer an, dann strotzt diese von Floskeln, unbegründeten Behauptungen und reinen Durchhalteparolen ohne jeglichen realen Hintergrund. Aber etwas anderes ist ja auch gar nicht zu erwarten. Krieg ist etwas so Widersinniges, Absurdes, Widersprüchliches, dass auch die Sprache all jener, welche den Krieg zu rechtfertigen versuchen, nicht anders sein kann als ebenso absurd, widersinnig und gewalttätig.

Hört man Selenski zu, dann scheint es zwei Sorten von Ukrainerinnen und Ukrainern zu geben. Das eine, das sind die, die „keine Angst“ haben und die „quicklebendig“ sind. Das andere sind die, welche jede Nacht um ihr Leben zittern, im eiskalten Schützengraben stehen oder mit amputierten Beinen in einem notdürftig aufgestellten Feldlazarett liegen. Doch die Angehörigen des US-Kongresses, welche Selenskis Rede hörten und ihr frenetisch zujubelten, sehen nur die angstfreie, quicklebendige Seite der Realität. Würde nicht der ukrainische Präsident vor ihnen stehen, sondern ein jämmerlich weinendes ukrainisches Kind, das soeben seine Eltern durch einen Bombenangriff verloren hat, dann würden vielleicht auch die Mitglieder des US-Kongresses das Ganze mit ein wenig anderen Augen anschauen. 

Was Selenski verkörpert, ist die brutalste Form der Klassengesellschaft: Ein Teil der eigenen Bevölkerung wird geopfert, damit der andere Teil „angstfrei“ und „quicklebendig“ leben kann. Die einen haben den Job zu leiden und zu sterben, die anderen haben den Job, siegreich einer goldenen Zukunft in „Freiheit“ und „Demokratie“ entgegenzugehen. Wie weit sind wir da von echter Gleichberechtigung entfernt, wie lange noch lassen es sich so viele Menschen gefallen, für andere verheizt und von den Interessen anderer vereinnahmt zu werden? Was muss noch geschehen, bis endlich alle Soldaten der Welt aufstehen und sich für immer ihrer Waffen entledigen? „Ich dachte immer, alle Menschen seien gegen den Krieg“, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque“, bis ich herausfand, dass es auch solche gibt, die für den Krieg sind, diejenigen, die selber nicht hingehen müssen.“

Zum Krieg gehört die Rhetorik des Kriegs. Selenski beherrscht sie zweifellos meisterhaft. Er kann die grössten Absurditäten von sich geben, Dinge miteinander verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben, Parolen ohne jeden realen Hintergrund hinausposaunen – trotzdem ist ihm der Jubel, ja geradezu die frenetische Begeisterung seiner Zuhörerinnen und Zuhörer sicher. Wohl nicht zuletzt, weil er in seinem Rollkragenpullover so sympathisch und „volkstümlich“ daherkommt. Ganz am Rande war zu hören, ein paar wenige Kongressabgeordnete hätten demonstrativ auf ihr Handy gestarrt und sich bewusst dem Applaus der Masse versagt. Das braucht in so kriegerischen Zeiten schon eine ganz schöne Portion Mut. Wie sehr wäre zu wünschen, dass noch viel, viel mehr Menschen aufstehen und sich dem allgemeinen Kriegsgeheul und einer so verhängnisvollen Kriegslogik verweigern, die weder mit „Freiheit“ noch mit „Demokratie“ etwas zu tun hat, sondern nur mit blinder Zerstörung, unendlichem Leiden und dem Schüren von Hass auf Generationen hinaus.

Ukraine: Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet…

 

Russland hätte im Ukrainekrieg gemäss Aussagen von Präsident Selenksi bisher 99’000 Soldaten verloren, berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 21. Dezember 2022. Über die eigenen Verluste würden keine Zahlen genannt, doch der amerikanische Generalstabchef Mark Milley schätze, dass die Opferzahlen auf ukrainischer Seite etwa gleich hoch seien wie diejenigen auf russischer Seite. „Die Kämpfe von Bachmut, wo täglich schätzungsweise 50 bis 100 Russen und etwa ebenso viele Ukrainer ums Leben kommen, sowie weiter südlich in Orten wie Marinka oder nördlich Kreminina“, so der „Tagesanzeiger“, „verlaufen ohne deutliche Gewinne für Ukrainer und Russen – mit Sicherheit aber mit Tausenden von Toten. Das zähe, blutige Ringen könnte auch angesichts der verstärkten Befestigungen symptomatisch sein für den weiteren Kriegsverlauf.“ Kein Wunder, leide darunter auch zunehmend die Moral innerhalb der kämpfenden Truppen. Soeben habe deshalb das ukrainische Parlament eine Verschärfung der Strafen für Deserteure und Befehlsverweigerer beschlossen, da es an der Front wiederholt zu selbständigem Verlassen des Kampffeldes oder zur Weigerung komme, die Waffe zu benutzen. Besonders betroffen sei auch die Zivilbevölkerung, der Gouverneur von Luhansk spreche von einer „humanitären Katastrophe“ und berichte von Frauen und Kindern, die ohne Strom und Heizung im Keller leben müssten und im Kampf gegen die Kälte gezwungen seien, ihre eigenen Möbel zu verbrennen.

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Wer kann am Ende auch nur den entferntesten „Nutzen“ daraus ziehen, dass hier Tag für Tag Hunderte von Menschen für ein paar Meter Geländegewinn geopfert werden, ein paar Meter Geländegewinn, die letztlich nichts anderes bedeuten, als das ganze Dörfer und Städte auf lange Zeit hinaus zerstört und unbewohnbar gemacht werden? Wer noch auch nur im Entferntesten dachte, Krieg könne, je nach Umständen, auch etwas „Richtiges“ oder „Sinnvolles“ sein, und wer noch immer darauf pochte, man müsste eben unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Kriegen, der müsste angesichts dieses Wahnsinns, der sich gegenwärtig vor unseren Augen in der Ukraine abspielt, wohl definitiv eines Besseren belehrt werden. „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel zieht, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur das Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Doch ausgerechnet jetzt, wo dieser Krieg ein alles Bisherige überschattende Brutalität angenommen hat, sind die Stimmen all jener, die zu Friedensverhandlungen und einem Ende des Kriegs aufgerufen hatten und die schon von Anfang an schwach und zaghaft waren, nun noch gänzlich verstummt. Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet. Als hätten wir uns in diesen 300 Tagen seit dem 23. Februar 2022 so nach und nach an den Krieg gewöhnt, als wäre er zu einer Art „Normalität“ geworden, die nun ganz einfach, ohne dass man dagegen etwas tun könnte, weitergehe bis zu ihrem bitteren Ende.

Doch Kriege sind nicht Naturereignisse, denen wir hilflos ausgeliefert wären. Kriege sind von Menschen gemacht und können ebenso auch wieder von Menschen beendet werden. Wenn die ganze Welt entschieden und geeint auftreten und das Ende dieses Kriegs fordern würde, dann wäre es durchaus denkbar. „Jene, die den Frieden lieben“, sagte Martin Luther King, „müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“ Hierzu aber bedarf es einer gänzlich neuen Sichtweise. Alle möglichen bisherigen Ansätze zu einer friedlichen Lösung sind dadurch vereitelt worden, dass stets die Schuldfrage im Vordergrund stand. Sah Russland die ganze Schuld bei der Machtpolitik des Westens und einem möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO, lag anderseits aus der Sicht des Westens die alleinige Schuld bei den völkerrechtswidrigen Expansionsgelüsten Russlands. Eine Friedenslösung wird erst möglich, wenn die Schuldfrage überwunden wird und nicht mehr in die Vergangenheit geschaut wird, sondern einzig und allein in die Zukunft: In eine Zukunft, in der ein gutes Leben für alle auf diesem Flecken Erde möglich sein soll, unabhängig davon, zu welcher Nation sich die einen oder die anderen zugehörig fühlen, und unabhängig davon, wo die einzelnen territorialen Grenzen hindurchlaufen.

Schweizerische Bundespolitik: Und über allem schweben unsichtbar die ungeschriebenen Gesetz der „Freien Marktwirtschaft“

 

„Nur 140 Stimmen hat Alain Berset bei der Wahl zum Bundespräsidenten für das Jahr 2023 bekommen“, schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 17. Dezember 2022. Zurückzuführen sei dies vor allem darauf, dass er im Innendepartement „nach zehn Jahren bei weitem nicht erreicht hat, was er erreichen wollte – zumindest nicht in den beiden wichtigsten Dossiers, dem Gesundheitswesen und den Sozialversicherungen.“

Dass ein Bundesrat in seinem Departement viel weniger erreicht, als er ursprünglich hätte erreichen wollen, gilt allerdings nicht nur für Alain Berset. Und es ist auch nicht bloss das Unvermögen oder das Versagen dieses Bundesrates oder jener Bundesrätin, wenn wichtige politische Geschäfte über Jahre nicht so richtig vom Fleck kommen. Denn die ungeschriebenen, allesbeherrschenden Kräfte, Mechanismen und Prinzipien der „Freien Marktwirtschaft“ – ungebremstes Wirtschaftswachstum, Gewinn- und Profitmaximierung auf Kosten sozial Schwächerer und der Wettbewerb als Massstab aller Dinge – sind so umfassend, wirkungsvoll und mächtig, dass ein einzelner Bundesrat, eine einzelne Bundesrätin im Kampf dagegen noch kleiner und mächtiger ist als der vielbewunderte David im Vergleich zum übermächtigen Goliath.

Nicht nur was Bundesrätinnen und Bundesräte betrifft, sondern ganz generell im politischen Tagesgeschäft ist es üblich, bei sämtlichen ungelösten Problemen dem politischen Gegner die Schuld in die Schuhe zu schieben. Am augenfälligsten zeigt sich dies jeden Freitagabend in der Diskussionsrunde „Arena“ am Schweizer Fernsehen, wenn die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Parteien gegeneinander die Klingen kreuzen: kein Argument der einen Seite, das nicht sogleich zum Gegenargument der anderen Seite wird oder umgekehrt. Doch dies alles lenkt bloss vom eigentlichen „Hauptschuldigen“ ab, dem Machtsystem der kapitalistischen „Freien Marktwirtschaft“, das sozusagen wie eine unsichtbare Gottheit über allem schwebt und auch im heftigsten Geplänkel der irdischen Kontrahentinnen und Kontrahenten nie ernsthaft in Frage gestellt wird.

So gesehen gaukeln die verschiedenen politischen Parteien bloss eine demokratische Vielfalt vor, während sie doch tatsächlich nur einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei sind. Betrachten wir die kleineren und grösseren Probleme, die uns heutige beschäftigen, von den steigenden Krankenkassenprämien, Lebenskosten und Wohnungsmieten über die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zu der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel, dann scheint es doch auf der Hand zu liegen, dass wir ganz offensichtlich in einem Zug sitzen, der immer schneller in eine falsche Richtung fährt. Solange wir nur an den Symptomen herumbasteln und uns nicht an die eigentlichen Ursachen der Probleme heranwagen, ist das, wie wenn wir in diesem immer schneller fahrenden Zug ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung machen würden und der Eindruck entstünde, grosse Fortschritte erzielt zu haben – während der Zug dennoch weiterhin unvermindert in die falsche Richtung weiterfährt.

Um beim Bild des fahrenden Zuges zu bleiben: Das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre, die Notbremse zu ziehen, alle bisherigen ungeschriebenen Gesetze der „Freien Marktwirtschaft“ und alle damit verbundenen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse radikal zu hinterfragen, um sodann den Zug in eine neue Richtung lenken zu können, an deren Ende nicht ein Abgrund droht, sondern ein gutes Leben für alle verwirklicht sein wird. Heute noch erscheint uns dies als Illusion jenseits aller politischen Machbarkeit, als naive Träumerei einiger weniger realitätsfremder Weltverbesserer. Doch viel naiver als solche Träumerei ist der Glaube, es soll nur alles weiterhin so bleiben, wie es ist. Denn, wie Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ 

„Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne“ – doch vielleicht haben sie schon zu früh gefeiert…

 

„Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne“, titelt der „Tagesanzeiger“ am 16. Dezember 2022. Gemeint ist, dass National- und Ständerat beschlossen haben, in einzelnen Kantone erlassene und durch Volksabstimmungen legitimierte Mindestlöhne zwischen 20 und 23 Franken pro Stunde durch allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge auszuhebeln. So müssen sich beispielsweise Angestellte im Coiffeurgewerbe, in der Gastronomie, in Tankstellenshops oder in der Uhren- und Mikrotechnikindustrie in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Basel-Stadt und Tessin darauf einstellen, Ende des Monats wieder weniger Geld im Portemonnaie zu haben. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.

Das ist nicht nur, sozusagen durch die Hintertür, ein Totalangriff auf die Demokratie, hat doch das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten, dass Kantone das Recht darauf hätten, Mindestlöhne zu erlassen. Es ist vor allem auch ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die mit harter Arbeit zu geringem Lohn täglich eine unverzichtbare Leistung zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstands erbringen. Auf rund 40 Franken beläuft sich zurzeit der durchschnittliche Stundenlohn in der Schweiz, da sind die 20 oder 22 Franken, die gegenwärtig von einzelnen kantonalen Mindestlohnbestimmungen vorgegeben sind, nicht viel mehr als ein Almosen – von noch tieferen Löhnen in jenen Kantonen, die keine Mindestlohnbestimmung kennen, ganz zu schweigen. Wenn man bedenkt, wie sehr in einer funktionierenden Wirtschaft sämtliche berufliche Tätigkeiten voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind und kein Unternehmen einen Gewinn abwerfen könnte ohne die unermüdliche Arbeit aller seiner Angestellten, dann müsste die Diskussion über Mindestlöhne eigentlich genau in die entgegengesetzte Richtung gehen. Und man müsste sich fragen, ob all das Geld, das aus den Unternehmen in die Taschen von Firmenbesitzern, Managern, Aktionärinnen und Aktionären fliesst, nicht fairerweise in die Taschen der Arbeiterinnen und Arbeiter fliessen müsste, welche alle diese Gewinne überhaupt erst dadurch möglich machen, dass sie für ihre Arbeit so viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre.

Am gleichen Tag, an dem über den Beschluss von National- und Ständerat betreffend Aushebelung kantonaler Mindestlohnvorschriften berichtet wird, ist zu erfahren, dass die schweizerische Uhrenindustrie von einem akuten Arbeitskräftemangel betroffen ist und bis 2026 rund 4000 Fachkräfte fehlen werden. Auch in der Gastronomie, im Gesundheitswesen und in vielen handwerklichen Berufen wie etwa den Spezialistinnen und Spezialisten der Solartechnologie zeichnet sich ein immer akuterer Fachkräftemangel ab. Kann man etwas anderes erwarten in einem Land, wo Menschen durch Erbschaften, Kapitalgewinne und Börsenspekulation weitaus reicher werden als durch ehrliche, harte Arbeit und wo das Gefälle zwischen den höchsten und den tiefsten Einkommen, welches heute schon bei 300:1 liegt, laufend noch weiter zunimmt? 

Heute noch feiern die Bürgerlichen ihren „Etappensieg gegen Mindestlöhne“. Gut möglich, dass sie schon in naher Zukunft bitterlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie zu früh gefeiert haben – spätestens dann, wenn sie in einem Restaurant sitzen und nicht mehr bedient werden, wenn sie auf ihrem Hausdach eine Solaranlage installieren möchten, aber keine Firma finden, die das in nützlicher Frist bewerkstelligen könnte, wenn sie vergeblich auf ein bestelltes Paket warten, weil es längst nicht mehr genug Postbotinnen und Postboten gibt, wenn ihre kaputte Uhr, ihr kaputtes Auto und ihre Heizung von niemandem mehr repariert wird oder wenn sie sich ihre Haare schneiden lassen möchten, aber vor der verschlossenen Tür ihres Coiffeursalons stehen bleiben, wo jetzt ein Schild hängt, dass man wegen Personalmangels niemanden mehr bedienen könne…

Ukrainekonflikt: Nur wenn wir aus der Geschichte lernen, können wir es vermeiden, immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen…

 

Die Forderung des französischen Präsidenten Emanuel Macron nach Friedensgesprächen im Ukrainekonflikt, die nicht zu einer Demütigung Russlands führen dürften, sondern die Sicherheiten Russlands gebührend berücksichtigen müssten, sei aus historischer Sicht nachvollziehbar – so Jean-Pierre Maulny, Vizedirektor des Pariser Thinktanks Institut des Relations Internationales et Stratégiques, zitiert in einem Artikel des „Tagesanzeigers“ vom 13. Dezember 2022. Denn wozu eine Politik der Demütigung führen könne, so Maulny, hätte man am Beispiel des Versailler Vertrags sehen können, mit dem Deutschland die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschoben, das Land zu immensen Reparationszahlungen verpflichtet und Deutschland wirtschaftlich erdrosselt worden sei, was schliesslich den Aufstieg Hitlers und damit den Zweiten Weltkrieg zur Folge gehabt hätte. Dennoch lehnt Maulny Macrons Forderungen nach Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt ab; „Das ist ein Fehler, der sich zwar erklären lässt, aber nicht gemacht werden darf. Denn Macron ist nicht Historiker, sondern Präsident. Er darf seine Rolle nicht verwechseln.“

Politiker und Politikerinnen sollen nicht zugleich auch Historikerinnen und Historiker sein dürfen? Was für eine gefährliche und verhängnisvolle Forderung. Ist doch gerade nichts so wichtig, als aus der Geschichte zu lernen, um nicht immer und immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen und immer und immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wir brauchen nicht weniger Politikerinnen und Politiker, die zugleich auch Historikerinnen und Historiker sind, sondern viel, viel mehr von ihnen. Geschichtliches Bewusstsein und die Kenntnis über geschichtliche Zusammenhänge sollten sogar die Grundvoraussetzung sein für die Ausübung jeglichen politischen Amtes, vor allem aber für die allerhöchsten und verantwortungsvollsten Ämter in einer demokratischen Gesellschaft.

Was herauskommt, wenn geschichtliches Verständnis und Bewusstsein abhanden gekommen sind, können wir mittlerweile tagtäglich miterleben. Ohne geschichtlichen Hintergrund wird die Realität zur Lüge und die Lüge zur Realität. Die Lüge nämlich, der Ukrainekrieg hätte unvermittelt und ganz überraschend am 24. Februar mit dem Überfall eines brutalen Aggressors auf ein unschuldiges, demokratisches Land begonnen, aus reiner Menschenverachtung, blindwütiger Eroberungslust und ohne jegliche Vorgeschichte. Und gleichzeitig mit dieser Lüge das Schweigen darüber, dass der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 das Versprechen abgegeben hatte, die NATO auf keinen Fall in Richtung Osten auszudehnen – ein Versprechen, das in der Folge mit jedem Land, das in die NATO aufgenommen wurde, stets wieder aufs Neue gebrochen wurde. Das Schweigen darüber, dass Wladimir Putin im Jahre 2001 dem Westen einen Beitritt Russlands zur NATO und noch 2008 eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zwischen Russland und Europa vorgeschlagen hatte. Das Schweigen darüber, dass der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahre 2009 gesagt hatte, Ziel müsse die Errichtung einer neuen „Weltordnung“ sein, die „auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands“ zu errichten sei. Das Schweigen darüber, dass 2014 auf dem Kiewer Maidan unter höchstwahrscheinlicher Beteiligung der CIA eine russlandfreundliche Regierung weggeputscht und durch eine NATO- und EU-freundliche Regierung ersetzt wurde. Das Schweigen darüber, dass die Ukraine ab 2014 von den USA systematisch aufgerüstet und regelmässige gemeinsame Trainings und Manöver durchgeführt wurden. Das Schweigen darüber, dass noch Ende 2021 Putin der US-Regierung vorgeschlagen hatte, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, was von der westlichen Seite in Bausch und Bogen verworfen wurde. 

Wahrscheinlich sähe die Welt ganz anders und viel friedlicher aus, wenn alle Politikerinnen und Politiker zugleich auch Historikerinnen und Historiker wären. Erstaunlicherweise sagte sogar der ukrainische Präsidentenberater Oleksiy Arystowitsch: „Die nationale Idee der Ukraine ist, sich selbst  und andere zu belügen. Denn wenn man die Wahrheit sagt, bricht alles zusammen.“ Wenn man etwas aus der Geschichte lernen kann, dann dies: Dass Kriege noch nie etwas anderes gebracht haben als Tod, Elend, Verderben und Zerstörungen. Noch nie ist jemals ein Krieg gewonnen worden. Kriege kann man nicht gewinnen, man kann sie nur verlieren. Die alleinige Schuld am Ukrainekrieg Russland in die Schuhe zu schieben, ist ebenso töricht und fern jeder Realität, als die alleinige Schuld dem Westen in die Schuhe zu schieben. Lösen lässt sich der Konflikt nie und nimmer auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein am Verhandlungstisch, wo beide Seiten sich nicht bloss gegenseitig alle Schuld in die Schuhe schieben, sondern bereit sind, ebenso die eigenen Fehler und Versäumnisse einzugestehen. „Jede Friedenslösung“, sagte Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau, „muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein.“ Dafür ist es allerhöchste Zeit. Denn, wie schon der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“    

Künstliche Intelligenz bei der Schreibproduktion: Ohne Kreativität gäbe es keinen Fortschritt und wir würden ewig die gleichen Muster wiederholen…

 

Künstliche Intelligenz schreitet auch in der Schreibproduktion unverzüglich voran. „Wenn ich ChatGPT bitte, mir einen Vorschlag zu machen, wie sich ein Buch über Produktivität im digitalen Zeitalter gliedern lässt“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 12. Dezember 2022, „dann dauert es keine 20 Sekunden, bis diese Gliederung vor mir steht. Grosse Sprachmodelle wie GPT-3, LaMDA, Stable Diffusion, Bild- und Videogeneratoren wie Dall-e oder Codegeneratoren wie GitHub Copilot beginnen uns Menschen auch auf dem Feld der Kreativität zu schlagen – in Ausmass, Präzision und vor allem Schnelligkeit. Generative KI wird uns auch in unserem Menschenbild herausfordern. Die bisherigen Göttinnen und Götter, die Menschen, werden vom Thron gestossen. Das tut weh. Es ist eine schwere narzisstische Kränkung für die Menschheit, dass Technologie nun können soll, was bislang uns allein vorbehalten war.“

Es ist nicht bloss eine narzisstische Kränkung – eine solche wäre ja sogar noch heilsam, wenn das bisherige Verhalten des Menschen bloss sein Narzissmus gewesen wäre. Nein, es ist viel mehr und noch viel schlimmer. KI in der Schreibproduktion bedeutet nämlich früher oder später nichts weniger als das Ende jeglicher Kreativität, dieses grössten aller Schätze, die der Mensch der Maschine voraus hat. Verfechterinnen und Verfechter der digitalen Schreibproduktion behaupten zwar bis heute, auch der Computer sei zu Kreativität imstande. Sie tippen als Beweis zehn Wörter in ein Schreibprogramm und geben diesem den Auftrag, aus diesen zehn Wörtern ein Gedicht zu kreieren – und siehe da, es ist möglich. Und doch hat dies mit echter Kreativität nichts zu tun. Denn alle Vorgaben für das Schreiben des Gedichts wurden von Menschen erdacht, das neue Produkt ist so gesehen nicht etwas grundsätzlich Neues, das alles Bisherige überspringt und eine neue Wirklichkeit schafft. 

Nicht nur kann eine Maschine niemals im ursprünglichen Sinne des Begriffs kreativ sein. Zusätzlich bedroht sie auch die eigentliche Grundbegabung der Kreativität, die in jedem Menschen als mehr oder weniger verborgenes Talent vorhanden ist. Die Entfaltung von Kreativität setzt Zeit, Musse, ja geradezu Langeweile voraus, Zeiten, die es dem Menschen erlauben, aus dem Alltagstrott auszubrechen und in andere Wirklichkeiten einzutauchen. Gerade dies wird in einer Zeit, da sich laufend alles beschleunigt und die digitale Welt es erlaubt, hundert Dinge gleichzeitig zu erledigen, immer schwieriger. Echte Kreativität aber muss geübt werden – wenn hierfür nicht mehr genügend Musse und genügend Langeweile vorhanden sind, dann droht sie zu verkümmern.

Doch es geht nicht nur um die Kreativität. Es geht auch um die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Die von Menschen gemachten Programm künstlicher Intelligenz widerspiegeln bloss die bestehende Gesellschaftsordnung, als gäbe es hierzu keine Alternative. Echter gesellschaftlicher Fortschritt aufgrund von unkonventionellen Ideen und Visionen ist aber nur möglich, wenn das Bestehende radikal in Frage gestellt wird. Und genau dies, das radikale Hinterfragen des Bestehenden, scheint immer seltener zu werden, was sich auch zunehmend bei akademischen Semester- oder Doktorarbeiten zeigt, die häufig bloss Zusammenfassungen – oder sogar Kopien – bereits bestehender Arbeiten sind und nur selten von Grund auf neue Ideen in die Welt setzen, eben genau deshalb, weil die zur Verfügung stehende Zeit meistens so dicht ausgefüllt ist, dass noch nicht entdeckte verborgene Schätze, die nur auf langen und schwierigen Wegen zu finden wären, gar nicht ans Tageslicht gelangen.

Ob die bisherigen „Göttinnen“ und „Götter“ der Kreativität, die Menschen, tatsächlich von ihrem Thron gestossen werden oder nicht, liegt einzig und allein an uns selber. Ob wir uns ganz und gar der Maschine ausliefern lassen wollen oder ob wir das Zepter in der Hand behalten und die Maschine nur nach Bedarf und von Fall zu Fall und stets mit der nötigen Distanz gebrauchen wollen. „Das wahre Zeichen der Intelligenz“, sagte Albert Einstein, „ist nicht Wissen, sondern Phantasie.“ Und der maltesische Naturwissenschaftler und Schriftsteller Edward de Bono sagte: „Es besteht kein Zweifel, dass Kreativität die wichtigste menschliche Ressource ist. Ohne Kreativität gäbe es keinen Fortschritt und wir würden ewig die gleichen Muster wiederholen.“