Alle zeigen mit dem Finger auf Katar – doch was ist allen anderen weltweit Millionen von Opfern von Ausbeutung, unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfällen und frühem Tod?

 

Zu Recht steht Katar wegen der katastrophalen Wohn- und Arbeitsverhältnisse vorwiegend nepalesischer Wanderarbeiter auf den Baustellen der Fussballweltmeisterschaften am Pranger. Doch der einseitige Blick auf Katar lenkt bloss davon ab, dass Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle in der gesamten kapitalistischen Welt von Brasilien bis Deutschland, von den USA bis China, von Zentralafrika bis Russland durchaus nicht eine Ausnahme sind, sondern ganz und gar der „Normalfall.“

Gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verunfallen weltweit jedes Jahr rund 313 Millionen Menschen bei der Arbeit, davon 2,3 Millionen tödlich, das sind jeden Tag 6400. Sie verunfallen und sie sterben, weil sie zu viel, zu lange, zu hart oder zu gefährlich arbeiten müssen. Und so wie auch der kapitalistische Profitmaximierungswahn und das Tempo der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft laufend zunimmt, so nimmt eben auch die Zahl der Arbeitsunfälle von Jahr zu Jahr weiter zu. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen in Deutschland zwischen 2020 und 2021 um nicht weniger als 39 Prozent zugenommen! Eine starke Zunahme verzeichnen auch Berufskrankheiten wie zum Beispiel Allergien, Schwerhörigkeit und Rückenleiden. Der wohl grösste Skandal liegt aber wohl darin, dass nach wie vor weltweit rund 160 Kinder zwischen fünf und 17 Jahren Arbeiten verrichten müssen, für welche normalerweise Erwachsene zuständig wären. 

Weshalb sprechen alle von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen beim Bau der Weltmeisterschaftsstadien in Katar, aber niemand von den weltweit Abermillionen Menschen in allen übrigen Ländern der Welt, die ebenso unter viel zu harten Arbeitsbedingungen leiden, in viel zu engen Unterkünften leben müssen, oft kaum Zugang zu fliessendem Wasser haben, oft ungenügend ernährt sind und viel zu früh sterben müssen?

Die Antwort findet sich leicht: Im Falle von Katar treffen „Opfer“ und „Nutzniesser“ im gleichen Schaufensterlicht aufeinander. Am gleichen Ort, wo die Ausbeutung stattfindet, findet auch das Vergnügen derer statt, die von dieser Ausbeutung profitieren, sei es finanziell, oder indem sie in schönen, schnell und billig gebauten Stadien die Spiele verfolgen können. Alles liegt im gleichen Scheinwerferlicht, niemand kann wegsehen, alles ist sichtbar. So ganz anders ist das mit der Ausbeutung, der eine Textilarbeiterin in Bangladesch, ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Bananenpflückerin in Honduras ausgeliefert sind, mit überlangen Arbeitszeiten, geringem Lohn, gröbster Behandlung durch Vorgesetzte, katastrophalen Wohnverhältnissen. Diejenigen, die von solchen Formen von Ausbeutung profitieren, die multinationalen Konzerne und die Konsumentinnen und Konsumenten in den reichen Ländern, befinden sich eben nicht in unmittelbarer Nähe, im gleichen Scheinwerferlicht. Nutzniesser und Opfer sind fein säuberlich voneinander getrennt, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, am anderen Ende der bis zur Unkenntlichkeit unsichtbar gemachten Lieferketten könnte es so etwas geben wie Ausbeutung, unmenschliche Arbeitsbedingungen oder frühen Tod.

Wer im Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft einen „Boykott“ gegenüber Katar gefordert hat, müsste ehrlicherweise auch einen Boykott gegen das gesamte weltweite kapitalistische Ausbeutungssystem fordern, gegen das globale Finanzsystem, gegen die Banken, gegen multinationale Konzerne, gegen Rohstoffhändler und gegen Börsenspekulanten – alles andere ist scheinheilig. 

„Die im Lichte sieht man“, so der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „doch die im Dunklen, die sieht man nicht.“ Höchste Zeit, dass nicht nur einige ausgewählte Plätze, die gerade im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gestellt werden. Denn selbst wenn bei einer weiteren zukünftigen Fussballweltmeisterschaft oder einem anderen Grossereignis auf die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen geachtet würde, so wäre das noch längst nicht das Ende, sondern nur erst ein winziger Anfang von ein klein wenig mehr sozialer Gerechtigkeit.  

Die SP und die Bundesratswahlen in der Schweiz: Als hätte es nie die Vision einer Überwindung des Kapitalismus gegeben…

 

Eifrig wird in diesen Tagen, nicht nur innerhalb der SP, diskutiert, wer sich am besten für die Nachfolge der als Bundesrätin zurückgetretenen Simonetta Sommaruga eignen könnte. Dabei fällt auf, dass kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet, man reduziert die Kandidierenden fast ausschliesslich auf ihr Geschlecht, auf ihr Alter, wie viele jüngere Kinder sie haben und wie lange sie schon über Erfahrung in einer Regierungsbehörde verfügen. Ebenfalls fällt auf, dass, abgesehen von Elisabeth Baume-Schneider, der man sowieso am wenigsten Chancen einräumt, sämtliche Kandidierende dem sogenannten „Reformflügel“ der SP angehören, jener Ausrichtung also, die sich dezidiert von allzu „linken“ und gesellschaftskritischen Positionen der SP abzugrenzen pflegt.

Dabei wäre doch gerade in der heutigen Zeit eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideale der Sozialdemokratie dringender nötig denn je. Was innerhalb der Sozialdemokratie fast gänzlich eingeschlafen ist, das ist die Grundsatzdebatte, inwieweit das kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt noch in der Lage ist, die drängenden Probleme unserer Zeit von der zunehmenden sozialen Ungleichheit, der wachsenden Armut über den durch gegenseitigen Konkurrenzkampf sich laufend verschärfenden Druck am Arbeitsplatz bis hin zur existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel auch nur einigermassen in den Griff zu bekommen. Ebenso fehlt fast gänzlich eine grundlegende Auseinandersetzung mit Fragen der vom kapitalistischen Weltwirtschaftssystem angetriebenen Ausbeutung der armen durch die reichen Länder wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ fast 50 Mal mehr erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Alle diese Fragen werden in der „Realpolitik“, der sich auch die SP weitgehend verschrieben hat, fast gänzlich ausgeklammert und man hängt noch immer der Illusion nach, die politischen Herausforderungen innerhalb der eigenen nationalen Grenzen lösen zu können ohne den Blick auf die globalen Verflechtungen, wo alles mit allem zusammenhängt und, wie Friedrich Dürrenmatt sagte, all das, was alle angehe, „nur von allen gelöst werden kann.“ Tatsächlich wird die Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns, einer eigentlichen „Zeitenwende“, immer unausweichlicher. Denn „man kann Probleme“, so Albert Einstein, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Das im Parteiprogramm der SP festgeschriebene und leider immer wieder totgeschwiegene Ziel einer „Überwindung des Kapitalismus“ ist daher alles andere als ein Fehler und hat nichts mit Nostalgie oder einer naiven, unrealistischen Weltsicht zu tun. Nein, es ist das wichtigste aller in diesem Programm genannten Ziele und müsste eigentlich über allen anderen stehen. Die, welche dafür verantwortlich sind, dass dieser Passus im Parteiprogramm Eingang gefunden hat, nämlich die Jusos, haben nichts falsch gemacht, sondern im Gegenteil das einzig Richtige. Denn „im Jugendidealismus“, so der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen darf.“ 

Am 19. November werden sich über 100 Jusos in Basel zu einer Parteiversammlung treffen, an der es unter anderem um die Bundesratswahlen gehen wird. Der Versammlung liegt ein Antrag der Geschäftsleitung vor, wonach sich die SP aus dem Bundesrat zurückziehen sollte, falls bei den Gesamterneuerungswahlen im Dezember 2023 nicht drei linke Bundesräte oder Bundesrätinnen gewählt würden. Eine Beteiligung an einer bürgerlich dominierten Regierung, so die Begründung des Antrags, schwäche die linken Kräfte, die zwar noch im Bundesrat vertreten wäre, aber von einer bürgerlichen Mehrheit dominiert würde. Nebst diesem Antrag der Geschäftsleitung liegt ein noch weiter gehender Vorschlag vor, welche den sofortigen Rücktritt der SP-Bundesräte bzw. SP-Bundesrätinnen aus der Regierung fordert. Die Einbindung in ein bürgerlich dominiertes Regierungsgremium bedeute nämlich stets eine Zerreissprobe für die Glaubwürdigkeit der SP-Politik, was sich jüngst bei der Abstimmung über die AHV-Revision gezeigt habe, bei der die Partei eine Nein-Parole ausgegeben, SP-Bundesrat Alain Berset aber für ein Ja gekämpft habe. Auch wenn diese beiden Anträge, wenn sie denn an der Juso-Parteiversammlung überhaupt angenommen werden, innerhalb der SP-Gesamtpartei wohl kaum eine Chance haben, so stossen sie doch eine wichtige, notwendige Diskussion an. Die Diskussion nämlich, mit welchen Methoden, Instrumenten und auf welchem Weg linke Politik am glaubwürdigsten und wirkungsvollsten vorangetrieben werden kann.

„Der vernünftige Mensch“, so der britische Schriftsteller George Bernard Shaw, „passt sich der Welt an, der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt von den unvernünftigen Menschen ab.“ Wie viel Unheil muss wohl noch geschehen, bis die Erwachsenen, so „vernünftig“ und „realistisch“ sie auch sein mögen, endlich erkennen, dass sie von den Träumen, Idealen und Visionen junger Menschen so viel mehr lernen können als diese von ihnen? Ist doch der Widerstand gegen den Kapitalismus nichts „Naives“ und „Unrealistisches“, sondern das einzige wirklich Realistische in einer Welt, in der die sozialen Gegensätze, die Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen grösser sind als je zuvor…

Von den afrikanischen Minenarbeitern über die brasilianischen Prostituierten bis zu den Soldaten in der Ukraine: Die Grossen hören erst dann auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen…

 

„Wenn es oft regnet“, so Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik European Council on Foreign Relations, in der „Sonntagszeitung“ vom 13. November 2022, „dann sind dauernde Wechsel um den Gefrierpunkt besonders belastend für die Soldaten, da Gewand und Ausrüstung durchnässt werden, dann einfrieren, dann wieder durchnässt werden, dann wieder einfrieren. Wenn es an der Front kalt wird, werden Soldaten oft krank. Hautkrankheiten wie Läusebefall treten häufig auf, wenn Kleidung nicht mehr regelmässig gewaschen werden kann, weil sie nicht trocknet. Die Parasiten übertragen oft auch andere Krankheiten. Auch der sogenannte Schützengrabenfuss ist eine Krankheit, die Soldaten aus Wintereinsätzen kennen. Wenn Schuhe undicht sind oder Socken über mehrere Tage und Wochen feucht bleiben, können an den Füssen Kälte-Nässe-Schäden auftreten.“ Worte, die drastisch schildern, was auf die im Ukrainekrieg kämpfenden Soldaten beim bevorstehenden Wintereinbruch zukommen wird. Und dies alles gesteuert aus fernen Kommandozentralen und Präsidentenpalästen, wo hinter dicken Mauern und gut geschützt über Leben und Tod auf dem Schlachtfeld entschieden wird. „Ich dachte immer“, schrieb der deutsche Dichter Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Doch nicht nur im Krieg werden das Leben und die Gesundheit der Menschen aufs Spiel gesetzt, bloss damit andere aus sicherer Entfernung ihre Machtpositionen festigen und ihre fetten Profite einstreichen können. Milliarden von Menschen weltweit sind Opfer von Ausbeutung jedwelcher Art. Denken wir an die Textilarbeiterinnen in Bangladesch, die am Ende eines 15stündigen Arbeitstags von ihren Aufsehern verprügelt werden, weil sie ihr Tagessoll an genähten Kleidern nicht erfüllt haben. Denken wir an die philippinischen Hausmädchen in Dubai, die in der Küche oder auf dem Flur ihrer Peinigerinnen und Peiniger schlafen müssen, weil ihnen kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht. Denken wir an die nepalesischen Wanderarbeiter in Katar, die bei Temperaturen von bis zu 50 Grad die Stadien für die Fussballweltmeisterschaft bauen mussten. Denken wir an die Minenarbeiter im Kongo, die trotz unmenschlicher Arbeit tief unter der Erde nur einen winzigen Bruchteil dessen verdienen, was weltweit Rohstoffspekulanten an Gewinnen in astronomischer Höhe einfahren. Denken wir an all die Prostituierten, die brutaler Männergewalt ausgeliefert sind und jeden Tag um ihr Leben bangen müssen. Denken wir an Kunstturnerinnen, die schon in frühestem Mädchenalter dermassen hart trainieren müssen, dass ihre Körper oft lebenslang unter Schmerzen und Beeinträchtigungen zu leiden haben. Denken wir an Köchinnen, Bauarbeiter, Krankenpflegerinnen, Fabrikarbeiter, Zimmermädchen, Kellnerinnen, Angestellten im Supermarkt, auf Kreuzfahrtschiffen, im Brücken- oder Tunnelbau oder in der Schönheitspflege, die alle, selbst in den „reichen“ Ländern des Nordens, schwerste und oft gefährliche Arbeit verrichten, erschöpfendem Zeitdruck unterworfen sind und dennoch nur einen Bruchteil dessen verdienen, was in den Taschen jener verschwindet, welche aus „sicherer Distanz“ und „hinter dicken Mauern“ aus all der Plackerei ihren höchst gewinnbringenden Nutzen ziehen. Man hätte, um Erich Maria Remarques Zitat leicht abzuwandeln, wohl kaum einen vernünftigen Menschen gefunden, der das Prinzip der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zugunsten von Machtgewinn und Profitmaximierung für gut befunden hätte. Bis man auf jene stiess, die dennoch daran Gefallen gefunden hatten. Es waren die, welche nicht selber in die Fabriken, in die Bordelle, auf die Baustellen bei 50 Grad Hitze und auch nicht in die Minen, auf die Zuckerrohrplantagen und als Hausangestellte in die Villen der Reichen und Reichsten hingehen mussten, sondern nur ihr eigenes süsses Leben fern von allen Qualen und allem Leiden anderer leben konnten. 

„Divide et impera“ – teile und herrsche, so lautete die oberste Maxime der Machtpolitik im Römischen Reich vor über 2000 Jahren. Es war das Prinzip, die einzelnen Regionen des Reichs stets in gegenseitiger Feindschaft zu halten, denn hätten sich diese gemeinsam gegen die Regentschaft des zentralistischen Kaisertums aufgelehnt, so wäre es diesem wohl über kurz oder lang an den Kragen gegangen. Getreu diesem Prinzip ist es dem weltweiten Macht- und Ausbeutungssystem der herrschenden Eliten bis heute gelungen, die Lüge aufzubauen, Formen der Ausbeutung am einen Ort hätten nichts zu tun mit Formen der Ausbeutung an einem anderen. Tatsächlich aber sind die Zimmermädchen in einem Schweizer Hotel, die Prostituierten in Rio de Janeiro oder Kinshasa, die Minenarbeiter in Ecuador oder Bolivien, die Perlentaucherinnen in Bahrain und die Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine Opfer des einen und selben weltweiten Systems von Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt, das sich wie ein Netz unendlich vieler unsichtbarer Fäden über die ganze Welt hinwegzieht. All jene, die behaupten, das eine hätte mit dem andern nichts zu tun, wissen sehr wohl, weshalb sie diese vermeintliche Wahrheit verbreiten. Würden sich nämlich alle über die Kontinente hinweg Ausgebeuteten in gegenseitiger Solidarität zusammenschliessen, dann käme der ganze Schwindel ans Licht und es wäre nicht nur das Ende jeglicher Ausbeutung, sondern zugleich auch das Ende aller Kriege. Denn, wie der deutsche Dichter Friedrich Schiller schon vor über 200 Jahren sagte: „Die Grossen hören erst dann auf zu herrschen, wenn die Kleinen aufhören zu kriechen.“ Einfacher und zugleich revolutionärer kann man es gar nicht sagen…

Weltklimakonferenz in Sharm al-Sheikh: Ohne Überwindung des Kapitalismus gibt es keine Überwindung der Klimakrise

 

Über Tausende von Kilometern sind sie aus allen Himmelsrichtungen herbeigeflogen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 27. Weltklimakonferenz in Sharm al-Sheikh. Und in alle Himmelsrichtungen werden sie bald auch schon wieder, unverrichteter Dinge, in alle Himmelsrichtungen auseinanderfliegen. Das Spektakulärste zwischen Anflug und Abflug war noch eine gigantische Lasershow an der Pyramide von Gizeh. Aber sonst? Klimapolitische Fortschritte? Oder gar ein Durchbruch? Alles Fehlanzeige. Eher das Gegenteil: die totale Ernüchterung, nichts, was auch nur im Entferntesten etwas zu tun haben könnte mit einem Durchbruch oder gar einem Neubeginn. Und dies trotz einer Begrüssungsrede von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, die eindringlicher nicht hätte sein können: „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle“, sagte er, „und kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei, ihn zu verlieren.“ Eine Aussage, die mehr als begründet ist, wenn man sich die neuesten Zahlen anschaut, wonach die CO2-Emissionen weltweit im Jahre 2022 gegenüber 2017 um weitere 3,9 Prozent zugenommen haben, der höchsten Zunahme seit fünf Jahren. Doch eigentlich stand das Scheitern der Weltklimakonferenz schon fest, bevor sie noch begonnen hatte. Und dies ist nicht einmal besonders verwunderlich…

Denn das eigentliche Problem ist nicht der Klimawandel. Das eigentliche Problem ist der Kapitalismus. Er hat die Erde befallen wie eine schwere, tödliche Krankheit. Ein Wirtschaftssystem, dessen innerster Kern das Prinzip endlosen Wachstums ist und in dem die Arbeit der Menschen, die Bodenschätze und die Rohstoffe, die Erde und die Natur, das Wasser und die Luft einer unaufhörlich sich steigernden, sich in alle Richtungen ausdehnenden Profitmaximierung unterworfen werden, muss zwangsläufig in einen unlösbaren Konflikt mit den natürlichen Grenzen unseres Planeten gelangen, in eine tödliche Spirale, die nicht nur das Klima erfasst, sondern auch dazu führt, dass in der Gier nach dem schnellen Profit riesige Flächen von Tropenwäldern niedergebrannt, halbe Meere leergefischt und einst fruchtbarste Erde durch Monokulturen, Pestizide und Überdüngung unfruchtbar gemacht werden und gleichzeitig Bodenschätze und Rohstoffe in einer Art und Weise ausgebeutet werden, als wäre unsere Generation die letzte auf diesem Planeten. Ein Raubzug ohnegleichen, ein Krieg gegen die Erde, gegen die Natur und gegen jene rund 150 Tier- und Pflanzenarten, die Tag für Tag für immer aussterben. „Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum könne andauernd weitergehen in einer endlosen Welt“, sagte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Kenneth E. Boulding, „ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“ Und auch der britische Historiker Eric Hobsbawn sagte schon im Jahre 2009: „Entweder hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf oder es passiert eine schreckliche Katastrophe. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.“

Der Kapitalismus, ein Monster, das drauf und dran ist, uns mit Haut und Haaren aufzufressen. Doch die Wahnidee endlosen Wachstums ist nur die eine Klaue des Monsters. Die andere ist die soziale Umverteilung, die Spaltung in Reich und Arm, in Profiteure und Opfer, in Ausbeuter und Ausgebeutete, sodass sich heute Millionen von Menschen, vor allem in den nördlichen Ländern, ein Leben in nie dagewesenem Luxus leisten können, während Hunderte von Millionen, vor allem in den südlichen Ländern, so wenig verdienen, dass sie sich nicht einmal eine einzige anständige Mahlzeit pro Tag leisten können. Auch dies steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel. Wären nämlich alle Güter des täglichen Bedarfs, die Einkommen und die Vermögen weltweit gerecht verteilt, dann gäbe es nicht so viele Reiche, welche sich all jene Luxusvergnügungen vom Zweit- und Drittauto über die Segelyacht, dem Wohnwagen, dem Swimmingpool im eigenen Garten, dem Helikopterflug zum Gletscherskifahren bis zur Flugreise auf die Malediven und einer Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer oder in baldiger Zukunft vielleicht schon den Weltraumflug zum Mond leisten können, lauter Luxusvergnügungen, welche so hohe schädliche Emissionen zur Folge haben, dass, wenn sich sämtliche Erdbewohnerinnen und Erdbewohner so verhielten, unser Planet wohl jetzt schon unbewohnbar geworden wäre. Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam zufolge wird bis zum Jahr 2030 das reichste Prozent der Weltbevölkerung doppelt so viele Emissionen verursachen als die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. „Eine kleine Elite“, so Oxfam-Klimaexpertin Nafkote Dabi, „gönnt sich einen Freifahrtschein für die Zerstörung unseres Klimas.“

Deshalb brauchen wir nicht weitere Weltklimakonferenzen, sie nützen sowieso nichts. Was wir brauchen, ist eine internationale Konferenz zur Überwindung des Kapitalismus. Daran sollten nicht nur Politikerinnen und Politiker teilnehmen, denn man darf die Politik nicht den Politikerinnen und Politikern überlassen, lassen sich Probleme doch, wie Albert Einstein sagte, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind“. An der Konferenz zur Überwindung des Kapitalismus müssten vor allem jene vertreten sein, die am meisten unter den verheerenden Auswirkungen des kapitalistischen Monsters leiden, Menschen aus den südlichen Ländern, Arbeiterinnen, Fischer, Bäuerinnen. Aber auch Kinder und Jugendliche aus aller Welt. Und Philosophen, Poetinnen, Künstler. Dies wäre eine zu grosse Aufgabe für sie alle? Nun gut, aber was wäre denn eine bessere Lösung? Dem Kapitalismus einfach das Feld überlassen, bis auch noch das letzte Tier und die letzte Pflanze und viel früher noch der letzte Mensch ausgestorben wäre? Die Alternative zum Kapitalismus ist doch gar nicht so etwas Kompliziertes. Im Gegenteil, es ist doch einfach das Leben. Soziale Gerechtigkeit, Frieden, Einklang zwischen Mensch und Natur und das gute Leben für alle. Wenn uns jemand einreden wollte, das wäre so schwierig und so kompliziert, dann könnte das nur jemand sein, der einen ganz egoistischen Nutzen davon hat, dass alles so bleibt, wie ist. Doch auch er müsste einsehen, dass es gar nicht mehr lange so weitergehen kann wie bisher. Und auch er müsste ein existenzielles Interesse daran haben, dass sich alles zutiefst verändert, bevor es definitiv zu spät ist. „Der Kapitalismus“, sagte der französische Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“ 

Toni Brunner und die Bundesratswahlen: Wer gehört zur Schweiz und wer nicht?

 

„Bedenken Sie“, schreibt Ex-SVP-Parteipräsident Toni Brunner in seiner Gastkolumne im „Tagblatt“ vom 7. November 2022 zum Thema Bundesratswahlen, „die Grünliberalen kommen logischerweise erst dann ins Spiel, wenn sie drei- bis viermal bei eidgenössischen Wahlen bewiesen haben, dass sie effektiv zur Schweiz gehören und konstant sind. Sie sind zu neu und zu jung, als dass man jetzt schon ernsthaft über solcherlei Umkrempelungen der Parteien in der Regierung reden müsste. Für Experimente ist jetzt definitiv der falsche Zeitpunkt.“

Aha, Toni Brunner will uns also allen Ernstes erklären, wer zur Schweiz gehört und wer nicht. Was für eine Anmassung. Sie erinnert an die dunkelsten Zeiten der neueren Schweiz, als es etwa hiess, Frauen gehörten nicht in die Politik, oder als, zur Zeit des Nationalsozialismus, viele Schweizer die Meinung vertraten, Jüdinnen und Juden hätten in der Schweiz nichts verloren, oder, als man über unliebsame, „linke“ Mitbürgerinnen und Mitbürger geheimdienstlich gesammelte Fichen anlegte oder ihnen empfahl, die Schweiz mit einer Einwegfahrkarte in Richtung Moskau zu verlassen. Eigentlich war ich der Ansicht, diese Zeiten seien lange vorbei. Und dann diese Aussage von Toni Brunner.

Doch er sagt ja nicht nur das. Er wirft den Grünliberalen auch vor, zu „jung“ und zu „unerfahren“ zu sein, um Regierungsverantwortung übernehmen zu können. Hat Brunner nicht mitbekommen, was für ein Riesenpotenzial zur Gestaltung unserer Zukunft gerade in jungen, „unverbrauchten“, kreativen und phantasievollen Menschen liegt, die noch anders denken können als so, wie die Mehrheit denkt? Gewiss, es braucht in der Politik sowohl jüngere wie auch ältere Persönlichkeiten. Aber wenn die Älteren meinen, sie könnten es alleine, ohne die Jüngeren und „Unerfahreneren“, bewerkstelligen, dann vergeben sie eine Riesenchance, ihre eigenen Positionen und Denkvorstellungen aufgrund neuer, ungewohnter und unkonventioneller Ideen stets wieder neu zu hinterfragen. Fortschritt entsteht nicht aus sturem Festhalten an Altem, scheinbar „Bewährten“, sondern nur durch all jene, die ihre Träume und Visionen von einer anderen, gerechteren und friedlicheren Welt noch nicht verloren haben. „Im Jugendidealismus“, so Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.“

Und noch etwas sagt Toni Brunner. Nämlich, dass jetzt der „falsche Zeitpunkt für Experimente“ sei. Dabei sind doch die weltweit treibenden und massgebenden politischen Kräfte, die nicht nur für zunehmende soziale Spaltungen und die Verarmung und Ausgrenzung breiter Bevölkerungsschichten verantwortlich sind, sondern auch für den Klimawandel mit seinen existenziell bedrohlichen Auswirkungen, nichts anderes als ein riesiges, weltumspannendes Experiment auf Kosten der Menschen und der Natur. Nichts ist gerade in der heutigen Zeit und angesichts dieser immensen Herausforderungen so wichtig wie eine neue Sicht, ein neues Denken, neue „Experimente“, nachdem die bisherigen Rezepte offensichtlich versagt haben. „Man kann Probleme“, so Albert Einstein, „nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch sie entstanden sind.“

Zurück zu Brunners Aussage, die Grünliberalen müssten noch beweisen, dass sie zur Schweiz gehörten. Ja, vielleicht gehören sie ja tatsächlich nicht zu jener Schweiz, die Brunner offensichtlich meint, zur Schweiz der unersättlichen Rohstoffgiganten und Finanzkonzerne, zur Schweiz, in der die Saläre der Bestverdienenden jene der am schlechtesten Verdienenden um das Dreihundertfache übersteigen, zur Schweiz, in der die 300 Reichsten mit über 800 Milliarden ein Gesamtvermögen besitzen, welches der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes entspricht, zu jener Schweiz, die im Handel mit den Ländern des Südens fast 50 Mal so viel erwirtschaftet, wie sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Vielleicht gehören sie damit umso mehr zu einer Schweiz, die sich nicht so wichtig nimmt, die bereit ist, ihren Reichtum und Wirtschaftskraft mit denen zu teilen, die auf der Schattenseite sind, und in der es endgültig der Vergangenheit angehört, darüber ein Urteil zu fällen, wer zu diesem Land gehören darf und wer nicht…

Ukrainekrieg: Schuldzuweisungen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen abzulenken…

 

Frontseite der „NZZ am Sonntag“ vom 6. November 2022: Ein schwarzer Balken mit der Schlagzeile „Die Saat des Krieges“, links davon das Bild einer russischen Rakete in einem ukrainischen Kornfeld, rechts davon das Bild einer vom Hunger gezeichneten Frau mit ihrem Baby am Horn von Afrika, dazu der Kommentar: „Ein ukrainischer Bauer und eine Ziegenhirtin am Horn von Afrika: Sie sind einander nie begegnet, und doch sind ihre Leben verbunden durch den russischen Überfall auf das Nachbarland. Er kann seine Felder nicht bestellen, sie ihre Familie nicht ernähren.“

Endlich hat man einen Schuldigen gefunden! Russland also soll Schuld sein, dass die Menschen in Afrika oder anderswo an Hunger leiden, wer denn sonst. So schnell scheint vergessen gegangen zu sein, dass schon lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine weltweit Hunderte Millionen von Menschen an Hunger litten und jeden Tag über 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Ich kann mich nicht erinnern, dass dies in den westlichen Medien jemals so grosse Schlagzeilen gemacht hätte. Aber eben, daran waren ja auch nicht die Russen Schuld, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem, das immer noch auf kolonialer Ausbeutung beruht und in dem die Güter stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was einen stetig wachsenden Überfluss am einen Ort und einen stetig wachsenden Mangel an vielen anderen Orten zur Folge hat.

Wie einfach, wie bequem. Seit dem 24. Februar 2022 trägt an allen Übeln der Welt einzig und allein Russland die Schuld. So schnell wird alles vergessen gemacht, was zuvor gewesen war. Man spricht von einem der grössten Verbrechen seit Jahrzehnten und vergleicht das Vorgehen Russlands in der Ukraine sogar mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus – und niemand erinnert daran, dass es noch keine 20 Jahre her sind, als die USA einen völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak anzettelten, dem im Laufe der folgenden Jahre über eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Niemand erinnert an die unvorstellbaren Massaker und Kriegsverbrechen, die von den USA während des Vietnamkriegs begangen wurden. Und niemand zählt die über 40 Kriege und Militäroperationen auf, welche seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA verübt worden sind, mit insgesamt über 50 Millionen Todesopfern. 

Ja, die „Guten“ und die „Bösen“. Das Bild, das uns jetzt täglich eingehämmert wird, bis es auch noch die Allerletzten glauben. Wie schön und wie einfach. Das Schlimme daran ist nicht nur, dass es eine grandiose Verfälschung der historischen Realität bedeutet. Das Schlimme ist vor allem, dass es uns, die „Guten“, blind macht für unsere eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen. Und sich alles nur noch zuspitzt auf die simple Botschaft, es ginge bloss darum, Russland so schnell wie möglich militärisch in die Knie zu zwingen, und dann wäre die Welt wieder in Ordnung.

Ich hätte mir auch eine andere Frontseite der „NZZ am Sonntag“ vorstellen können. Im schwarzen Balken die Schlagzeile „Die Saat des Kapitalismus“. Links davon das Bild eines bis auf die Knochen abgemagerten afrikanischen Kleinkinds, rechts davon entweder ein von Nahrungsmitteln aus aller Welt überquellender westeuropäischer Supermarkt oder der Blick in ein Luxusrestaurant irgendwo in Berlin, Paris oder Zürich, wo üppigste Mahlzeiten zu horrenden Preisen aufgetischt werden, oder das Bild einer Mülltonne irgendwo in Spanien oder Grossbritannien, angefüllt mit Lebensmitteln, die weggeworfen worden sind, obwohl sie noch längst geniessbar gewesen wären. Dazu der Kommentar: „Ein zu Tode gehungertes Kind in Afrika und der Gast in einem europäischen Luxusrestaurant: Sie sind einander nie begegnet und doch sind ihre Leben verbunden durch das kapitalistische Weltwirtschaftssystem, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.“ Oder man hätte in den schwarzen Balken ganz einfach auch folgendes Zitat von Papst Franziskus schreiben können: „Kapitalismus tötet.“

Doch nicht nur das hungernde Kind und der Gast im Luxusrestaurant sind sich noch nie begegnet. Auch der kongolesische Minenarbeiter, der unter unmenschlichen Bedingungen all jene für unsere Computer und Handys unentbehrlichen Metalle aus der Erde schürft, und jene Menschen in den reichen Ländern, welche diese Geräte tagtäglich benutzen, sind sich noch nie begegnet. Ebenso wenig wie sich Textilarbeiterinnen in Bangladesch, die zu Hungerlöhnen arbeiten müssen, und die Konsumentinnen und Konsumenten in den Boutiquen und Modegeschäften des Westens jemals begegnet sind. In einer so verrückten Welt, in der nicht einmal die drohende Klimakatastrophe und die drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen Anlass genug sind, um ein immer noch von endlosem Wachstumszwang getriebenes Wirtschaftssystem radikal zu hinterfragen.

Werden sich die Täter und Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems tatsächlich eines Tages begegnen, wäre das vielleicht der Anfang einer neuen Zeit. Die Hoffnung, dass die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden endlich Wirklichkeit werden könnte, die aber mit einem Ende des Ukrainekriegs noch längst nicht erfüllt wäre, sondern damit erst so richtig beginnen würde…

Von der deutschen Ampel über Georgia Meloni bis zu Biden und Trump: Die Regierungen kommen und gehen, doch der Kapitalismus bleibt

 

In der Schweiz stehen Ersatzwahlen in den Bundesrat an und kürzlich wurden die aktuellsten Meinungsumfragen für die kommenden Parlamentswahlen publik. In Deutschland steht die derzeitige „Ampelkoalition“ in der Kritik, weil zahlreiche Wahlversprechen längst noch nicht eingelöst worden sind. In Italien steht mit der Postfaschistin Georgia Meloni zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Regierungsmacht. In Schweden regiert zukünftig eine Koalition von Christdemokraten, Liberalen und sogenannten „Moderaten“. In Grossbritannien ist nach nur 45 Tagen Amtszeit die Premierministerin Liz Truss zurückgetreten. In Israel konnte der Ex-Premier Netanjahu die Parlamentswahlen klar für sich entscheiden. In den USA stehen Demokraten und Republikaner für die Wahlen ins Repräsentantenhaus und in den Senat in den Startlöchern. Und in Brasilien hat Lula da Silva dank einer hauchdünnen Mehrheit die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden können.

Demokratie, wie sie leibt und lebt. Die schlechteste aller Staatsformen, wie Winston Churchill einmal scherzend meinte, aber immer noch besser als alle anderen. Und der deutsche Schriftsteller Heinrich Mann schrieb: „Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.“ Schön und gut, und doch entbindet uns dies alles nicht davon, auf diese „am wenigsten schlechte“ aller möglicher Staatsformen immer wieder einen kritischen Blick zu werfen und sie an den Resultaten zu messen, die sie tatsächlich hervorbringt.

Fragen wir nach der Effizienz der traditionellen, von unterschiedlichen Parteien und politischen Strömungen getragenen Demokratie westlicher Länder, so fällt sogleich ein eklatanter Widerspruch auf zwischen den jeweiligen Wahlversprechungen der einzelnen Parteien, Regierungskandidatinnen und Regierungskandidaten auf der einen Seite und dem, was sie dann, wenn sie erst einmal an der Macht sind, auch tatsächlich umsetzen und erreichen. So etwa gibt es wohl kaum ernsthafte Politikerinnen und Politiker, die ihren Wählerinnen und Wählern nicht alles Blaue vom Himmel herunter versprechen, von sozialer Gerechtigkeit und mehr Umweltschutz über faire Löhne, günstige Wohnungen, gerechte Bildungschancen bis zum Kampf gegen Korruption, Wohlstand und ganz allgemein einem guten Leben für alle. Doch schauen wir uns die Realität an, so scheinen die meisten der schönen Worte, sind erst einmal die Wahlen vorüber, schnell wieder in Vergessenheit geraten.

Die Erklärung ist einfach. Die tatsächlich entscheidende Macht ist eben sehr ungleich verteilt. Man bildet sich zwar ein, Politikerinnen und Politiker, Staatspräsidentinnen und Staatspräsidenten würden ihre Länder regieren. Tatsächlich aber ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, die Banken und die Konzerne, das Geld, welche den Takt vorgeben, nach dem sich alles auszurichten hat, jene heimliche Macht, die hinter und in allem steckt und unser Leben weit mehr bestimmt als jedes noch so schöne und wohlklingende Programm einer politischen Partei.

So etwa werden in allen kapitalistischen Ländern – egal, welche Partei gerade an der Macht gewesen ist oder sich gegenwärtig noch an der Macht befindet – die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser, selbst in so wohlhabenden Ländern wie der Schweiz sind mehr als ein Zehntel der Bevölkerung von Armut betroffen, während sich beispielweise nur schon die Vermögen der 300 Reichsten von Jahr zu Jahr um über 100 Milliarden Franken vermehren. Ebenso eklatant sind die Unterschiede zwischen tiefsten und höchsten Einkommen, die, wenn wir wiederum die Schweiz als Beispiel nehmen, in einem Verhältnis von 1 zu 300 stehen. Die Folge ist eine Klassengesellschaft, in der immer grössere Teile der Bevölkerung an den Rand gedrängt werden und von einer „Demokratie“, von der sie selber rein gar nichts profitieren, innerlich Abschied nehmen. Immer schmerzlicher auch, wie im gegenseitigen Wettbewerb und Verdrängungskampf zwischen den einzelnen Unternehmen wie auch zwischen ganzen Volkswirtschaften der Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, in möglichst kurzer Zeit eine möglichst grosse Leistung zu vollbringen, kontinuierlich zunimmt, mit verheerenden Folgen für die Gesundheit der Menschen. Auch schwebt die drohende Arbeitslosigkeit wie ein Damoklesschwert über den Menschen und treibt sie dazu, auch geradezu unmenschliche Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Produzieren und herausquetschen auf Teufel komm unter einem stets sich selber überbietenden Wachstumszwang hat auch zur Folge, dass die Warenberge immer höher anwachsen, wobei die Güter nicht zu denen fliessen, die sie am dringendsten bräuchten, sondern zu denen, die am meisten Geld haben, um sie kaufen zu können. Das heilige Prinzip des Kapitalismus, möglichst viel Arbeit und möglichst viele Rohstoffe in möglichst kurzer Zeit in möglichst viel Geld zu verwandeln, hat in letzter Konsequenz auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zur Folge.

So sehr alle diese von der kapitalistischen Wirtschaftsmacht verursachten und weiter vorangetriebenen Entwicklungen die Menschen immer stärker belasten und früher oder später sogar das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten in Frage stellen könnten, so wenig vermag die traditionelle Partei- und Regierungspolitik der kapitalistischen „Demokratien“ daran grundlegend und wirkungsvoll etwas zu ändern. Anders gesagt: So lange sich „Demokratie“ bloss innerhalb des vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmens bewegt und diesen nicht grundlegend in Frage stellt, müssten wir eigentlich von einer „Scheindemokratie“ sprechen. Zwar gaukeln uns die „demokratischen“ Parteien eine scheinbare Vielfalt vor, tatsächlich aber sind sie bloss einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei, zu der es weit und breit keine radikale Alternative gibt. Mit ihrem Fokus auf das „Tagesgeschäft“ lenken Parteien und Regierungen von den tatsächlichen, grossen, wichtigen und letztlich lebensbedrohenden Probleme ab, werden zu reinen Handlangern des Kapitals, liefern sich bloss gegenseitige Scheingefechte und fressen die Energie und die Phantasie, die wir dringendst bräuchten, um den Kapitalismus nicht bloss ein wenig zu reformieren, sondern radikal zu überwinden. Mit anderen Worten: Regierungen kommen und gehen, aber der Kapitalismus bleibt.

Damit plädiere ich nicht für die Einführung einer Diktatur. Ganz im Gegenteil: Die „schlechteste“ aller Staatsformen, die immer noch besser ist als alle anderen, muss mutig vorangetrieben werden. Sie darf keine Tabus kennen, auch nicht und ganz besonders nicht den Kapitalismus als die ganze, grosse, übermächtige „Religion“ unserer Zeit. „Eine Demokratie“, sagte der ehemalige deutsche Bundespräsident Walter Scheel, „ist immer auf dem Weg zu sich selbst, sie ist nie fertig.“ Dies bedeutet auch einen anderen Umgang mit Mehrheiten und Minderheiten. Die traditionelle „Mehrheitsdemokratie“ geht davon aus, dass stets die Mehrheit Recht hat, auch wenn sie bloss 50,1 Prozent der Wahl- oder Stimmbevölkerung erreicht hat. „Der Fortschritt aber“, so der britische Schriftsteller Gilgert Chesterton, „zeigt, dass vielmehr die Minderheit immer Recht hat.“ In den Minderheiten, die noch nicht mehrheitsfähig sind, schlummern die besten Ideen, die noch unverbrauchte Phantasie und das kritische Denken, die Welt könnte auch von Grund auf ganz anders sein als so, wie ist – eigentlich dieses unermessliche Potenzial, das Kinder und Jugendliche, die noch nicht gänzlich von der Erwachsenenwelt vereinnahmt sind, stets von Neuem von einer schöneren, friedlicheren und gerechteren Welt träumen lässt. 

Bis zu jener Demokratie, die sich nicht auf das gegenseitige Wetteifern um Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen beschränkt, sondern zur tatsächlichen Lösung unserer existenziellen Gegenwarts- und Zukunftsfragen aufbricht, ist wohl noch ein weiter Weg. Wahrscheinlich könnten uns all jene, die mit der heutigen Politik voller Oberflächlichkeit und Selbstdarstellung am wenigsten am Hut haben, am besten helfen, diesen Weg zu finden. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: „Die Demokratie muss den Schwächsten die gleichen Chancen zusichern wie den Stärksten.“ Die Schwächsten, das sind nicht nur die Bedürftigen und all jene, die für wenig Lohn schwerste Arbeit verrichten müssen, es sind auch die Kinder und die Jugendlichen, es sind auch die Menschen im Süden, auf deren Kosten die nördlichen Länder ihren Reichtum aufgebaut haben, es ist auch die Natur, es sind auch die Tiere in den Schlachthöfen, es sind all die Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir heute so blindlings zerstören. Und deshalb lässt sich der Kapitalismus als Herrschaftsform der Reichen gegen die Armen, der Starken gegen die Schwächen nicht mit einer echten Demokratie gleicher Rechte für alle vereinbaren. Nur eine Überwindung des Kapitalismus kann den Weg freimachen für eine echte Demokratie anstelle der heutigen Scheindemokratie…  

Wettbewerb am falschen Ort: Der lange Leidensweg bis zur Einführung einer Einheitskrankenkasse…

 

„Nur auf den ersten Blick wäre eine Einheitskrankenkasse das günstigere Modell“, sagt Santésuisse-Direktorin Verena Nold in „20minuten“ vom 4. November 2022, „die Verwaltungskosten machen lediglich fünf Prozent der Gesamtkosten aus. Eine Einheitskasse könnte bei den Verwaltungskosten fast in keinem Bereich Einsparungen erzielen, insgesamt würde es eher teurer werden – und zudem andere Nachteile bringen: So hätten wir keine freie Wahl des Krankenversicherers mehr.“

Eine Aussage, die sich nur schwer nachvollziehen lässt. Es liegt doch auf der Hand, dass eine Einheitskrankenkasse gegenüber 58 Einzelkassen, von denen jede ihren eigenen Verwaltungsapparat hat, weit geringere Verwaltungskosten hätte. Gut vergleichbar ist die AHV, welche mit Verwaltungskosten von 1,3 Prozent des Gesamtaufwands auskommt, also fast vier Mal weniger als sämtliche Krankenkassen. Zudem käme es zu einer massiven Reduktion bei den Managergehältern, von denen die zehn schweizweit am höchsten zwischen 480’000 und 955’000 Franken liegen. Ebenfalls würden all jene Werbekosten wegfallen, mit denen sich heute die einzelnen Krankenkassen ihre Kundschaft gegenseitig abspenstig zu machen versuchen. Auch die weitverbreitete Praxis, wegen der finanziellen Belastung keine Risikopatientinnen und Risikopatienten aufzunehmen, würde wegfallen, die Einheitskrankenkasse wäre offen für alle, ganz unabhängig von ihrem Gesundheitszustand . Schliesslich hätte eine Einheitskrankenkasse den immensen Vorteil, dass ihre Verhandlungsposition bei Tarifverhandlungen mit der Pharmaindustrie, der Ärzteschaft und den Spitälern viel stärker wäre, als dies beim heutigen Wildwuchs an sich gegenseitig konkurrenzierender Kassen der Fall ist. Zwar können sich Krankenversicherer heute schon zusammenschliessen und bei den Grundversicherungen gemeinsam verhandeln. Nur ist das mit einem riesigen Aufwand und vor allem erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden. Denn sie müssen in jedem Fall vorher bei der Rechtskommission der Wettbewerbskommission ein sogenanntes Widerspruchsverfahren anstrengen, um nicht gegen das Wettbewerbsrecht zu verstossen.

Ja, der „Wettbewerb“ ist bei allem stets die höhere Instanz, die heilige Kuh, der alles andere untergeordnet wird. Dies zeigt sich auch in der Aussage von Santésuisse-Direktorin Verena Nold, wenn sie sagt, dass einer der grössten Nachteile einer Einheitskrankenkasse darin bestünde, dass „wir keine freie Wahl der Krankenversicherer mehr hätten.“ Im Klartext: Wir leiden zwar immer stärker unter höheren Prämien, aber Hauptsache, es ist Wettbewerb. Ein Wettbewerb, der sich vor allem auch in der jährlichen Werbeschlacht manifestiert, mit der die einzelnen Versicherer ihren Konkurrenten möglichst viel Kundschaft abzujagen versuchen, mit möglichst tiefen Prämien, die oft nicht einmal kostendeckend sind – um dann später gezwungen zu sein, die Preise wieder hochzufahren. Ein reines Nullsummenspiel, das an einen Supermarkt erinnert, wo einzelne Produkte zu nicht einmal gewinnbringenden Preisen angeboten werden, nur um möglichst viele Kundinnen und Kunden anzulocken und damit den Gesamtumsatz zu steigern. Hauptsache, Wettbewerb herrscht, egal mithilfe welcher Opfer und Absurditäten auch immer…

Viermal hat die Schweizer Bevölkerung über die Einführung einer Einheitskrankenkasse abgestimmt, viermal sagte sie Nein: 1994 mit 77 Prozent, 2002 mit 73 Prozent, 2007 mit 71 Prozent und 2014 mit 61,5 Prozent. Rechnet man die Ja-Quote in der gleichen Tendenz weiter, so müsste eigentlich im Jahre 2023 eine Zustimmung von knapp über 50 Prozent erreicht sein. Diese Annahme wird auch durch eine von der „Handelszeitung“ im Mai 2017 durchgeführte Umfrage bestätigt, wonach sich 62 Prozent der Befragten sowohl für eine Deckelung der Prämien bei zehn Prozent des Haushaltseinkommens wie auch für eine Einführung einkommensabhängiger Prämien, 55 Prozent für eine Gratisversicherung für Kinder und nicht weniger als 67 Prozent für die Einführung einer Einheitskrankenkasse in der Grundversicherung ausgesprochen haben. Dass Umfragen und Abstimmungsergebnisse so weit auseinanderliegen, hat wohl damit zu tun, dass bei Abstimmungen in der Regel von den betroffenen Interessenverbänden so viel grobes Geschütz aufgefahren wird, dass Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen geradezu zuwiderhandeln. Besonders eklatant zeigte sich dies bei der Abstimmung über die Vorlage „6 Wochen Ferien pro Jahr“ im Jahre 2012, die von 66,5 Prozent der Stimmenden abgelehnt wurde. Im Falle der Abstimmungen über eine Einführung einer Einheitskrankenkasse ist dies sogar noch ganz besonders absurd, haben doch die Prämienzahlenden mit ihrem Geld genau jene Abstimmungskampagnen der Kassen finanziert, die dazu führen, dass am Ende die Prämien noch weiter steigern. Es ist eben offensichtlich doch so, wie es der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht dereinst sagte: „Die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.“

„Die Einführung einer Einheitskrankenkasse müsste heute neu diskutiert werden“, schreibt Alexander Däniken in der „Luzerner Zeitung“ vom 20. Oktober 2022, „2014 scheiterte das Anliegen mit fast 62 Prozent Neinstimmen. Damals aber betrug eine Prämie für Erwachsene durchschnittlich 264 Franken, nächstes Jahr werden es 397 Franken sein.“ Im Hinblick auf eine erneute Abstimmung dürfen wir also wohl aus gutem Grund optimistisch sein. Bei der Einführung des Frauenstimmrechts hatte es schliesslich auch nicht auf Anhieb geklappt. Und so wie wir uns heute eine Gesellschaft ohne gleichberechtigte Teilhabe der Frauen nicht mehr vorstellen können, so werden wir uns auch irgendwann ein Gesundheitswesen nicht mehr vorstellen können, in dem masslos Geld für Bürokratie, Werbekampagnen und Spitzenlöhne von Managern verpulvert wird, das am Ende denen, die es am dringendsten bräuchten, so schmerzhaft fehlt.   

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann nicht verstanden werden ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie geschieht…

 

Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erleben häusliche Gewalt – dies das Resultat einer kürzlich veröffentlichten Elternbefragung, welche durch die Universität Freiburg im Auftrag der Organisation „Kinderschutz Schweiz“ durchgeführt wurde. Zehn Prozent der Kinder erleiden sogar überaus schwere Gewalt, jährlich kommt es zu rund 1600 Spitaleinweisungen, die Kinder müssen wegen Prellungen, Knochenbrüchen, Blutergüssen, Ohrverletzungen und weiteren Folgen von Faustschlägen und Gewaltanwendungen mit Schlagstöcken, Kabeln oder anderen schweren und harten Gegenständen behandelt werden. Aber auch psychische Gewalt in Form von Beschimpfungen, Strafandrohungen und Liebesentzug sind weit verbreitet.

Woher kommt diese Gewalt und wie kann sie möglichst wirksam bekämpft werden? Schauen wir uns bei öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen um, die sich für die Rechte der Kinder und ihren Schutz vor Gewalt einsetzen, dann stossen wir auf eine ganze Palette von Präventionsmassnahmen und Hilfsangeboten, von Elternkursen, Sensibilisierungskampagnen, Beratungsstellen bis hin zum Nottelefon und zur psychologischen Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher. Im Fokus steht dabei in der Regel die individuelle Situation innerhalb der einzelnen Familie.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat aber nicht nur eine private, individuelle, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Komponente. Nicht selten geben Eltern die Gewalt, die ihnen selber im Alltag widerfährt, an ihre Kinder weiter. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Kinder vor allem dort am meisten verbreitet ist, wo auch die Eltern unter einem besonders hohen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Druck stehen. Diese Rahmenbedingungen, die ebenfalls Formen von Gewalt darstellen, können, wenn es um das Phänomen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht, nicht einfach ausgeklammert werden. Auch Armut, Verschuldung, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Druck und Stress am Arbeitsplatz, Demütigungen durch Vorgesetzte und der Wettkampf um den sozialen Aufstieg sind Formen von Gewalt. Ein besonderes „Kampffeld“ und eine häufige Quelle von Gewalt – vor allem in Form von Liebesentzug – bilden all die Orte von der Schule bis zum Sport und zum Musikunterricht, wo Eltern ihre eigenen Erwartungen in die Kinder hineinprojizieren, alles Erdenkliche zur Leistungsförderung unternehmen und dann zutiefst enttäuscht sind, wenn die Kinder die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen – die betroffenen Kinder fühlen sich dann in ihrem Selbstwert zutiefst verletzt und vermissen jene Zuwendung und Liebe, auf die sie gerade in so schwierigen Situationen umso mehr angewiesen wären. Tragischerweise sind von allen diesen Formen physischer und psychischer Gewalt stets die Schwächsten der Gesellschaft am meisten betroffen, die, welche sich am wenigsten dagegen wehren können und dem allem schutzlos ausgeliefert sind, die Kinder und Jugendlichen.

Deshalb genügen auch die ausgeklügeltsten Präventionsmassnahmen und Elternkurse nicht, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Betrachtungsweise muss tiefer greifen. Nicht nur die einzelnen betroffenen Eltern müssen sensibilisiert werden, die Gesellschaft als Ganzes muss sensibilisiert werden. Es geht darum, ob wir eine gewaltfreie Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn ja, hat dies weitreichende Konsequenzen und stellt unsere ganze kapitalistische Leistungsgesellschaft und das endlose Streben nach immer höheren Profitraten, um aus den Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herauszuquetschen, radikal in Frage. Denn es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die dafür büssen müssen, dass nicht Liebe und Respekt, sondern der Wettkampf aller gegen alle die oberste Maxime der Gesellschaft ist. Die Gewalt, unter der die Kinder leiden, ist die gleiche Gewalt, unter der auch die Natur leidet, die Tiere, die Erde, die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und weltweit alle Menschen, die von Armut, Hunger und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Je mehr wir uns einer egalitären Gesellschaft nähern, in der die materiellen Güter, die Lebensbedingungen, die Arbeit, die Einkommen und die Vermögen möglichst gleichmässig auf alle verteilt wären, umso mehr würde gewiss auch all jene Gewalt verschwinden, die, in welcher Form auch immer, unseren heutigen Kindern und Jugendlichen angetan wird. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Massive Verluste der Schweizerischen Nationalbank: Ein globales Finanzsystem wie das Kaninchen vor der Schlange von Krise zu Krise

 

142 Milliarden Franken: So viel Geld wie in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 hat die schweizerische Nationalbank SNB noch nie verloren. Zu spüren bekommen das vor allem auch die Kantone, welche letztes Jahr von der SNB 6 Milliarden Franken erhielten und dieses Jahr nun leer ausgehen werden. Dies bedeutet, dass einzelne Kantone gezwungen sein werden, Sparmassnahmen zu ergreifen oder Steuersenkungen zurückzustellen.

„Wer in hohem Masse den Launen des Finanzmarktes ausgesetzt ist“, so kommentierte die Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF am 31. Oktober 2022 das Finanzdebakel der SNB, „bekommt das derzeit empfindlich zu spüren. Es müsste ein kleines Wunder an den Finanzmärkten geschehen, damit die SNB bis Ende Jahr doch noch wenigstens 50 Milliarden Gewinn schreiben könnte. Das Problem liegt darin, dass die SNB mit ihren riesigen Devisenbergen den Stürmen an den Finanzmärkten dermassen ausgeliefert ist, dass schon kleinste Zuckungen zu riesigen Verlusten führen können. Zuckungen in die andere Richtung könnten allerdings schon im nächsten Jahr wieder für hohe Gewinne sorgen. Nur sind Börsenprognosen in diesen unsicheren Zeiten noch weniger aussagekräftig als sonst.“

Launen des Finanzmarkts. Ein mögliches Wunder. Stürme an den Finanzmärkten. Schon kleinste Zuckungen. Spontan kommt mir dabei das Bild eines Kaninchens in den Sinn, welches zu Tode erstarrt vor der Schlange sitzt, die jeden Moment blitzschnell zubeissen könnte. Oder das Bild eines Erfinders, der ein Monster geschaffen hat, das immer grösser geworden ist und ihn nun auf einmal aufzufressen droht. Denn das globale Finanzsystem ist nicht erst seit der Ukrainekrise ein riesiges Monster voller „Zuckungen“, „Stürmen“ und „Wunder“, das hat sich schon seit Jahrzehnten in Form zyklisch auftretender Finanzkrisen, Börsenzusammenbrüchen, usw. immer wieder gezeigt. Laien haben schon längst keine Chance mehr, bezüglich globales Finanzsystem den Durchblick zu haben. Aber haben die Bankers, Ökonominnen und Börsenspekulanten einen so viel grösseren Durchblick? Hat sich da im Laufe von Jahrzehnten nicht ein so weit verzweigtes, weltumspannendes, komplexes und ineinander verflochtenes System herausgebildet, das niemand mehr, wenn er ehrlich ist, in seiner ganzen Tragweite noch zu verstehen vermag? „Weder ein Makler“, schrieb Bertolt Brecht, „der an der Chicagoer Börse ein Leben lang gearbeitet hat, noch Geschäftsleute von Wien bis Berlin konnten mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, dass dies alles schlechthin unerklärlich ist.“ Das war vor 70 Jahren. Und trifft das nicht für heute, da virtuelles, erfundenes, spekulatives Geld in Sekundenbruchteilen um den Globus saust und schon weit höhere Ausmasse angenommen hat als alles „echte“, aus der Realwirtschaft gewonnene Geld, nicht erst recht zu?

Ganz laienhaft gefragt: Müsste Geld nicht vor allem den Bedürfnissen der Menschen dienen statt umgekehrt? Müsste Geld nicht vor allem ein Tauschmittel sein und nicht ein Machtmittel? Müssten nicht Börsengewinne, Spekulation und Devisengeschäfte sowie alle anderen Geschäfte, die das Geld von der Arbeit, von der Erde und von den Bedürftigen in die Taschen der Reichen und Mächtigen wandern lassen, schlicht und einfach verboten werden? Müssten nicht Banken, Finanzinstitute, Versicherungen und alle weiteren Unternehmen, die auf Kosten der Allgemeinheit Gewinne machen, vollumfänglich in den Dienst der Gesellschaft gestellt, verstaatlicht oder zumindest unter staatliche Aufsicht gestellt werden? Müsste man nicht auch den Sinn und Zweck von Zinsen, die stets zu einem Machtgefälle zwischen Schuldnern und Gläubigern führen, radikal in Frage stellen? Müsste nicht an die Stelle des Denkens und Handelns in Wachstumszahlen das Denken und Handeln in Kreisläufen treten? Müssten Banken nicht, statt Machtgebilde im Dienste der reichen Eliten, vielmehr ganz einfach Drehscheiben sein, um Geldflüsse stets dorthin zu lenken, wo sie einem guten Leben für alle, nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auch weltweit den grössten Nutzen bringen?

Meistens ist es nur die Macht der Gewohnheit, die uns davon abhält, neu zu denken. Wenn erst einmal das kapitalistische Wirtschaftssystem überwunden sein wird, werden sich spätere Generationen wohl höchst verwundert die Augen reiben, wenn sie die Bilder jener Banken sehen werden, die wie ägyptische Pyramiden, griechische Tempel oder mittelalterliche Kathedralen in den Himmel ragten als Zeichen einer Zeit, und in der das Geld mehr verehrt wurde und zugleich mehr Schaden anrichtete als alles andere in der Welt. „Die Leute“, sagte Bertolt Brecht, „glauben vor allem an Bestehendes und daran, dass wohl ein tieferer Grund vorhanden sein müsse, dass es noch bestehe, und dieser Grund ist doch oft nur der, dass alle daran glauben.“