Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann nicht verstanden werden ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie geschieht…

 

Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erleben häusliche Gewalt – dies das Resultat einer kürzlich veröffentlichten Elternbefragung, welche durch die Universität Freiburg im Auftrag der Organisation „Kinderschutz Schweiz“ durchgeführt wurde. Zehn Prozent der Kinder erleiden sogar überaus schwere Gewalt, jährlich kommt es zu rund 1600 Spitaleinweisungen, die Kinder müssen wegen Prellungen, Knochenbrüchen, Blutergüssen, Ohrverletzungen und weiteren Folgen von Faustschlägen und Gewaltanwendungen mit Schlagstöcken, Kabeln oder anderen schweren und harten Gegenständen behandelt werden. Aber auch psychische Gewalt in Form von Beschimpfungen, Strafandrohungen und Liebesentzug sind weit verbreitet.

Woher kommt diese Gewalt und wie kann sie möglichst wirksam bekämpft werden? Schauen wir uns bei öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen um, die sich für die Rechte der Kinder und ihren Schutz vor Gewalt einsetzen, dann stossen wir auf eine ganze Palette von Präventionsmassnahmen und Hilfsangeboten, von Elternkursen, Sensibilisierungskampagnen, Beratungsstellen bis hin zum Nottelefon und zur psychologischen Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher. Im Fokus steht dabei in der Regel die individuelle Situation innerhalb der einzelnen Familie.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat aber nicht nur eine private, individuelle, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Komponente. Nicht selten geben Eltern die Gewalt, die ihnen selber im Alltag widerfährt, an ihre Kinder weiter. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Kinder vor allem dort am meisten verbreitet ist, wo auch die Eltern unter einem besonders hohen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Druck stehen. Diese Rahmenbedingungen, die ebenfalls Formen von Gewalt darstellen, können, wenn es um das Phänomen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht, nicht einfach ausgeklammert werden. Auch Armut, Verschuldung, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, Druck und Stress am Arbeitsplatz, Demütigungen durch Vorgesetzte und der Wettkampf um den sozialen Aufstieg sind Formen von Gewalt. Ein besonderes „Kampffeld“ und eine häufige Quelle von Gewalt – vor allem in Form von Liebesentzug – bilden all die Orte von der Schule bis zum Sport und zum Musikunterricht, wo Eltern ihre eigenen Erwartungen in die Kinder hineinprojizieren, alles Erdenkliche zur Leistungsförderung unternehmen und dann zutiefst enttäuscht sind, wenn die Kinder die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen – die betroffenen Kinder fühlen sich dann in ihrem Selbstwert zutiefst verletzt und vermissen jene Zuwendung und Liebe, auf die sie gerade in so schwierigen Situationen umso mehr angewiesen wären. Tragischerweise sind von allen diesen Formen physischer und psychischer Gewalt stets die Schwächsten der Gesellschaft am meisten betroffen, die, welche sich am wenigsten dagegen wehren können und dem allem schutzlos ausgeliefert sind, die Kinder und Jugendlichen.

Deshalb genügen auch die ausgeklügeltsten Präventionsmassnahmen und Elternkurse nicht, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Betrachtungsweise muss tiefer greifen. Nicht nur die einzelnen betroffenen Eltern müssen sensibilisiert werden, die Gesellschaft als Ganzes muss sensibilisiert werden. Es geht darum, ob wir eine gewaltfreie Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn ja, hat dies weitreichende Konsequenzen und stellt unsere ganze kapitalistische Leistungsgesellschaft und das endlose Streben nach immer höheren Profitraten, um aus den Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr herauszuquetschen, radikal in Frage. Denn es sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen, die dafür büssen müssen, dass nicht Liebe und Respekt, sondern der Wettkampf aller gegen alle die oberste Maxime der Gesellschaft ist. Die Gewalt, unter der die Kinder leiden, ist die gleiche Gewalt, unter der auch die Natur leidet, die Tiere, die Erde, die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und weltweit alle Menschen, die von Armut, Hunger und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Je mehr wir uns einer egalitären Gesellschaft nähern, in der die materiellen Güter, die Lebensbedingungen, die Arbeit, die Einkommen und die Vermögen möglichst gleichmässig auf alle verteilt wären, umso mehr würde gewiss auch all jene Gewalt verschwinden, die, in welcher Form auch immer, unseren heutigen Kindern und Jugendlichen angetan wird. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Massive Verluste der Schweizerischen Nationalbank: Ein globales Finanzsystem wie das Kaninchen vor der Schlange von Krise zu Krise

 

142 Milliarden Franken: So viel Geld wie in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 hat die schweizerische Nationalbank SNB noch nie verloren. Zu spüren bekommen das vor allem auch die Kantone, welche letztes Jahr von der SNB 6 Milliarden Franken erhielten und dieses Jahr nun leer ausgehen werden. Dies bedeutet, dass einzelne Kantone gezwungen sein werden, Sparmassnahmen zu ergreifen oder Steuersenkungen zurückzustellen.

„Wer in hohem Masse den Launen des Finanzmarktes ausgesetzt ist“, so kommentierte die Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF am 31. Oktober 2022 das Finanzdebakel der SNB, „bekommt das derzeit empfindlich zu spüren. Es müsste ein kleines Wunder an den Finanzmärkten geschehen, damit die SNB bis Ende Jahr doch noch wenigstens 50 Milliarden Gewinn schreiben könnte. Das Problem liegt darin, dass die SNB mit ihren riesigen Devisenbergen den Stürmen an den Finanzmärkten dermassen ausgeliefert ist, dass schon kleinste Zuckungen zu riesigen Verlusten führen können. Zuckungen in die andere Richtung könnten allerdings schon im nächsten Jahr wieder für hohe Gewinne sorgen. Nur sind Börsenprognosen in diesen unsicheren Zeiten noch weniger aussagekräftig als sonst.“

Launen des Finanzmarkts. Ein mögliches Wunder. Stürme an den Finanzmärkten. Schon kleinste Zuckungen. Spontan kommt mir dabei das Bild eines Kaninchens in den Sinn, welches zu Tode erstarrt vor der Schlange sitzt, die jeden Moment blitzschnell zubeissen könnte. Oder das Bild eines Erfinders, der ein Monster geschaffen hat, das immer grösser geworden ist und ihn nun auf einmal aufzufressen droht. Denn das globale Finanzsystem ist nicht erst seit der Ukrainekrise ein riesiges Monster voller „Zuckungen“, „Stürmen“ und „Wunder“, das hat sich schon seit Jahrzehnten in Form zyklisch auftretender Finanzkrisen, Börsenzusammenbrüchen, usw. immer wieder gezeigt. Laien haben schon längst keine Chance mehr, bezüglich globales Finanzsystem den Durchblick zu haben. Aber haben die Bankers, Ökonominnen und Börsenspekulanten einen so viel grösseren Durchblick? Hat sich da im Laufe von Jahrzehnten nicht ein so weit verzweigtes, weltumspannendes, komplexes und ineinander verflochtenes System herausgebildet, das niemand mehr, wenn er ehrlich ist, in seiner ganzen Tragweite noch zu verstehen vermag? „Weder ein Makler“, schrieb Bertolt Brecht, „der an der Chicagoer Börse ein Leben lang gearbeitet hat, noch Geschäftsleute von Wien bis Berlin konnten mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, dass dies alles schlechthin unerklärlich ist.“ Das war vor 70 Jahren. Und trifft das nicht für heute, da virtuelles, erfundenes, spekulatives Geld in Sekundenbruchteilen um den Globus saust und schon weit höhere Ausmasse angenommen hat als alles „echte“, aus der Realwirtschaft gewonnene Geld, nicht erst recht zu?

Ganz laienhaft gefragt: Müsste Geld nicht vor allem den Bedürfnissen der Menschen dienen statt umgekehrt? Müsste Geld nicht vor allem ein Tauschmittel sein und nicht ein Machtmittel? Müssten nicht Börsengewinne, Spekulation und Devisengeschäfte sowie alle anderen Geschäfte, die das Geld von der Arbeit, von der Erde und von den Bedürftigen in die Taschen der Reichen und Mächtigen wandern lassen, schlicht und einfach verboten werden? Müssten nicht Banken, Finanzinstitute, Versicherungen und alle weiteren Unternehmen, die auf Kosten der Allgemeinheit Gewinne machen, vollumfänglich in den Dienst der Gesellschaft gestellt, verstaatlicht oder zumindest unter staatliche Aufsicht gestellt werden? Müsste man nicht auch den Sinn und Zweck von Zinsen, die stets zu einem Machtgefälle zwischen Schuldnern und Gläubigern führen, radikal in Frage stellen? Müsste nicht an die Stelle des Denkens und Handelns in Wachstumszahlen das Denken und Handeln in Kreisläufen treten? Müssten Banken nicht, statt Machtgebilde im Dienste der reichen Eliten, vielmehr ganz einfach Drehscheiben sein, um Geldflüsse stets dorthin zu lenken, wo sie einem guten Leben für alle, nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auch weltweit den grössten Nutzen bringen?

Meistens ist es nur die Macht der Gewohnheit, die uns davon abhält, neu zu denken. Wenn erst einmal das kapitalistische Wirtschaftssystem überwunden sein wird, werden sich spätere Generationen wohl höchst verwundert die Augen reiben, wenn sie die Bilder jener Banken sehen werden, die wie ägyptische Pyramiden, griechische Tempel oder mittelalterliche Kathedralen in den Himmel ragten als Zeichen einer Zeit, und in der das Geld mehr verehrt wurde und zugleich mehr Schaden anrichtete als alles andere in der Welt. „Die Leute“, sagte Bertolt Brecht, „glauben vor allem an Bestehendes und daran, dass wohl ein tieferer Grund vorhanden sein müsse, dass es noch bestehe, und dieser Grund ist doch oft nur der, dass alle daran glauben.“ 

Übermässiger Reichtum, astronomische Kapitalgewinne, millionenschwere Erbschaften: Nicht nur ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit, sondern auch auf die Demokratie und die gesellschaftliche Teilhabe…

 

Die 30jährige österreichische Millionenerbin Marlene Engelhorn hat unlängst grosses Aufsehen erregt, weil sie ihre Erbschaft von mehreren Millionen Euro aus moralischen und sozialen Gründen nicht einfach für sich behalten, sondern in irgendeiner Form an die Gesellschaft zurückgeben möchte. Im Interview mit der „NZZ am Sonntag“ vom 30. Oktober 2022 plädiert sie für eine radikale Reform des Erbrechts. Im Einzelnen fordert sie „eine umfassende Besteuerung von Überreichtum, etwa durch Steuern auf Erbschaften, Schenkungen, Vermögen und eine progressive Kapitalertragssteuer sowie eine bessere Ausstattung der Behörden, die sich um Steuerflucht und -hinterziehung kümmern.“

Zu Recht hat Marlene Engelhorn ein schlechtes Gewissen, wenn sie in den Genuss einer Erbschaft von mehreren Millionen Euro gelangen würde, für welche sie selber nie etwas geleistet hat. Ihre Forderungen nach einer umfassenden Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften sind daher nur allzu verständlich. Doch das eigentliche Problem liegt nicht bei einem unzulänglichen Steuersystem, sondern darin, dass überhaupt so viel Reichtum geschaffen werden kann, dem keine entsprechende Leistung gegenübersteht. Wäre der Reichtum von Anfang an gerecht verteilt, dann bräuchte es auch keine steuerlichen Instrumente aller Art, um diesen Missstand im Nachhinein einigermassen auszugleichen.

An dieser Stelle müssen wir uns fragen, wie übertriebener Reichtum denn überhaupt entsteht. Erstens durch die Einkommensunterschiede in der kapitalistischen Arbeitswelt. Hohe und niedrige Löhne sind nicht so sehr Ausdruck tatsächlich erbrachter Arbeitsleistungen, sondern definieren sich aus der Position in der Hierarchie von Berufen und Unternehmungen. Die besser Verdienenden verdanken ihren höheren Lohn nicht so sehr ihrer Arbeitsleistung, als vielmehr dem Umstand, dass viele andere weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Die zweite Quelle von übertriebenem Reichtum sind die Einkommen aus Kapitalbeteiligung. Auch hier sind es nicht echte Arbeitsleistungen, die Reichtum schaffen, im Gegenteil: Aktionärinnen und Aktionäre verdanken ihre Gewinne ausschliesslich der Arbeit anderer, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen. Wenn die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ihre Vermögen innerhalb eines einzigen Jahres um mehr als 100 Milliarden Franken vermehren, dann ist kein Rappen davon ehrlich verdient – und dieses Reichwerden auf Kosten anderer ist in der Schweiz mittlerweile dermassen weit verbreitet, dass die Einkommen aus Kapital jene aus Arbeit bereits weit übertreffen. Die dritte Quelle für übertriebenen Reichtum sind die Erbschaften: Der in der einen Generation angehäufte Reichtum, der sozusagen „überflüssig“ war und für den eigentlichen Lebensunterhalt gar nicht gebraucht wurde, wird an die nächste Generation weitergereicht, ohne dass diese hierfür eine besondere Leistung erbringen muss.

Ob Reichtum aufgrund ausbeuterischer Lohnunterschiede, aufgrund von Kapitalgewinnen oder aufgrund von Erbschaften: Stets handelt es sich auf die eine oder andere Weise um „gestohlenes“ Geld, das bei den ärmeren und weniger vermögenden Bevölkerungsschichten einzig und allein aus dem Grunde fehlt, weil es bei den reicheren Bevölkerungsschichten in dermassen sündhaftem Ausmass angesammelt wird. „Wärst du nicht reich“, sagte der arme Mann zum reichen in einer Parabel des deutschen Schriftstellers Bertolt Brecht, „dann wäre ich nicht arm.“ Noch deutlicher der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: „Hinter jedem grossen Vermögen steckt ein grosses Verbrechen.“ Erbschaftssteuern, Reichtumssteuern, Kapitalgewinnsteuern und dergleichen sind nicht mehr als winzige Trostpflaster, um das begangene Unrecht ein klein wenig zu minimieren: „Der Sozialstaat“, so der US-Ökonom Thomas Sowell, „ist der älteste Trickbetrug der Welt. Zuerst nimmst du den Menschen still und heimlich das Geld weg und dann gibst du ihnen einen Teil davon mit grossem Getöse wieder zurück.“

Marlene Engelhorns Bereitschaft, auf ihre Erbschaft zu verzichten, ist löblich. Auch ihren Forderungen nach einer stärkeren Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften kann nicht widersprochen werden. Doch dies allein kann nicht genügen. Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie Reichtum und Armut entstehen und wie beides gegenseitig voneinander abhängt. Und dass man nicht die Armut wirksam bekämpfen kann, solange man nicht auch den Reichtum bekämpft. Das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern vor allem auch eine Frage der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe. „Wir leben in einer Zeit“, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss, „in der die wachsende Ungleichheit die Gesellschaft zerreisst.“ 

„Glücklicherweise“, so beschrieb Gottfried Keller die Schweiz um 1860, „gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben.“ Manchmal kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sich das Rad der Geschichte in die falsche Richtung bewegt…

Wann endlich gibt es eine internationale Geberkonferenz nicht nur für den Wiederaufbau der Ukraine, sondern auch für die Bekämpfung des weltweiten Hungers?

 

„So viel Leid an einem Ort habe ich noch nie erlebt“, so der schweizerische Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis nach seinem Besuch in der Ukraine am 20. Oktober 2022. Und im Interview mit dem schweizerischen „Tagblatt“ vom 29. Oktober sagt er: „Der Wiederaufbau ist die grösste Hoffnung, die wir den Menschen in der Ukraine geben können, er liefert eine Perspektive. Dafür müssen wir jetzt handeln: Bis Ende Jahr sollte die Plattform definiert werden, um die unmittelbare Hilfe für diesen Winter, aber auch die Finanzierung des Wiederaufbaus zu koordinieren und in die Tat umzusetzen. Es ist eine riesige Aufgabe: Damit die ukrainischen Behörden überhaupt weiter funktionieren können, sind Milliarden pro Monat nötig.“

Wenn Ignazio Cassis noch in keinem anderen Land so viel Leid gesehen hat, dann wäre ihm dringend anzuraten, auf einer seiner nächsten Auslandsreisen den Jemen, Afghanistan, Syrien, Äthiopien oder eines der anderen 39 Länder, wo derzeit schlimmste Bürgerkriege, verheerende Dürren und Hungersnöte herrschen, zu besuchen. In Jemen sind rund 20 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, 65 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden an Hunger und Mangelernährung. Besonders stark betroffen sind Kinder unter fünf Jahren: Insgesamt sind rund 2,2 Millionen Kinder akut unterernährt. Darüber hinaus sind rund 1,3 Millionen schwangere und stillende Mütter unterernährt. „Immer mehr Kinder gehen im Jemen hungrig zu Bett“, sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell, „dadurch besteht für sie ein erhöhtes Risiko für körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen oder sogar den Tod.“ In etlichen Städten gibt es kein sauberes Trinkwasser mehr, denn es fehlt an Treibstoff für die Pumpen. Auch die Abwassersysteme sind zusammengebrochen. 15 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder einer Abwasserversorgung. Viele Krankenhäuser mussten schliessen oder wurden zerbombt. Ärztliche Hilfe ist vielerorts unerreichbar.

In Afghanistan ist rund die Hälfte der Bevölkerung von Hunger bedroht, 95 bis 97 Prozent der Bevölkerung leben in bitterer Armut, 30 Prozent der Kinder berichten, dass sie jeden Abend hungrig zu Bett gehen. In Syrien leben 90 Prozent der Bevölkerung in Armut, 12,4 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. In Äthiopien wissen 17 Millionen Menschen nicht, wann sie ihre nächste Mahlzeit haben werden, 13 Prozent der Kinder sind unterernährt, ebenso die Hälfte aller schwangeren und stillenden Frauen. Zehn Millionen Äthiopierinnen und Äthiopier haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Seit vier Jahren gab es keine Regenzeit, die Dürre hat den Menschen alles genommen, das Vieh, die Ernte, ihren Lebensunterhalt. Was trotz allem noch wächst, wird von millionenfachen Heuschreckenschwärmen weggefressen. Fast drei Millionen Menschen sind im eigenen Land auf der Flucht. Weltweit haben rund 811 Millionen Menschen nicht genug zu essen und 45 Millionen Menschen in 43 Ländern sind von Hungersnöten bedroht. Die Hauptursachen sind Bürgerkriege, fehlende Mittel für humanitäre Hilfe aufgrund von teilweise rigorosen Sparmassnahmen in den Geberländern und die Folgen des Klimawandels in Form von Dürren, Trockenzeiten, Hitze und Überschwemmungen. 

Und doch steht trotz dieser schier unbeschreiblichen Not kein einziges dieser Länder auch nur annähernd so stark im Fokus der westlichen Öffentlichkeit wie die Ukraine. Die jemenitischen, syrischen, afghanischen und äthiopischen Kinder sterben lautlos, ohne dass ihr qualvolles Sterben auch nur eine einzige Schlagzeile in einer westlichen Zeitung oder am Fernsehen zur Folge hätte, geschweige denn eine internationale Geberkonferenz auslösen würde, wie sie vom schweizerischen Bundespräsidenten zugunsten der Ukraine initiiert wurde und für den Wiederaufbau nach dem Krieg gigantische Summen in Aussicht stellt, von der die Menschen in Syrien oder dem Jemen nicht einmal zu träumen wagen.

„Solange der Krieg andauert“, so Wolodomir Selenski in den „Euronews“ vom 9. Mai 2022, „braucht es monatlich eine Unterstützung von fünf bis sieben Milliarden Dollar. Später, für den Wiederaufbau, benötigen wir mehr als 600 Milliarden Dollar.“ Gleichzeitig würden schon, wie eine Studie der UNO ergab, jährlich 14 Milliarden Euro zusätzlich an Geldern genügen, um den weltweiten Hunger bis 2030 wirkungsvoll eindämmen zu können.

So oft ist, im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, von „Solidarität“ die Rede. Doch wo ist unsere Solidarität mit all jenen Millionen von Menschen in Dutzenden südlichen Ländern, die unverschuldet hungern, leiden und sterben aufgrund der Folgen jahrhundertelanger, bis in die Gegenwart reichender Folgen kolonialer Ausbeutung, aufgrund des hauptsächlich von den reichen Ländern des Nordens verursachten Klimawandels und aufgrund von Bürgerkriegen, in denen sowohl wirtschaftliche Interessen der Grossmächte wie auch Waffenlieferungen aus dem Ausland eine wichtige Rolle spielen. 

Nicht nur die „Solidarität“, sondern auch die „Wertegemeinschaft“ ist im Zusammenhang mit finanzieller Unterstützung für die Ukraine ein gern benützter Begriff. Doch von einer echten Wertegemeinschaft sind wir wohl noch Lichtjahre entfernt, solange Solidarität nicht gleichbedeutend ist mit weltweiter Verantwortlichkeit gegenüber jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde über alle Grenzen hinweg. Denn ein Kind in Äthiopien hat genau das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Leben wie ein Kind in der Ukraine, in Russland oder in der Schweiz. Von „Wertegemeinschaft“ zu sprechen und damit bloss einen Staatenbund zu meinen, der sich machtpolitisch gegenüber anderen Staaten abzugrenzen versucht, ist ein unverzeihlicher Hohn auf die Menschlichkeit.

Politiker und Politikerinnen, die in den letzten Wochen und Monate unter grossem Getöse und im grellen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zum ukrainischen Präsidenten Selenski gereist sind, um sich von den Kriegszerstörungen ein Bild zu machen, müssten ebenso andächtig und betroffen im Jemen oder in Afghanistan jenen Strassen entlang gehen, wo hungernde Kinder in zerlumpten Kleidern um einen Bissen Brot betteln, Bäuerinnen ihre vom Klimawandel zerstörten Getreidefelder zeigen und ihnen ein Mann von seiner Frau erzählt, die soeben verstarb, weil das nächste Krankenhaus durch einen Bombenangriff zerstört wurde.

Viel wahrscheinlich aber ist, dass keiner unserer Politiker und keine unserer Politikerinnen eine solche Reise unternehmen wird, weiterhin die Hälfte der Welt im Dunklen bleiben wird und die endlose Geschichte von Macht und Ohnmacht, Oben und Unten, Reichtum und Armut endlos weitergeht. Doch wie lange noch?

Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt: Drei Mal war das Fenster offen und drei Mal wurde es zugeschlagen – nicht von Russland…

 

Gemäss Medienmitteilungen vom 28. Oktober 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin seine Bereitschaft zu Friedensverhandlungen im Ukrainekonflikt bekräftigt. Allerdings, so Putin, hätte sich die Ukraine unter dem Einfluss der USA gegen solche Gespräche entschieden. Womit er recht haben dürfte, hat doch Selenski höchstpersönlich anfangs Oktober ein Dekret erlassen, wonach Verhandlungen mit Putin explizit verboten seien. „Damit“, so „Focus“ am 13. Oktober, „scheinen alle Verhandlungen gesperrt.“

Dies ist das dritte Mal, dass sich im Ukrainekonflikt ein Fenster zu Friedensverhandlungen geöffnet hat – und es war nicht Russland, welches dieses Fenster immer wieder zugeschlagen hat. Bereits im Dezember 2021 suchte Putin aufgrund der Spannungen und Konflikte im Donbass sowie des drohenden NATO-Beitritts der Ukraine das Gespräch mit der US-Regierung. Die Antwort von Präsident Biden war kurz und unmissverständlich: Dies seien keine Themen, die zwischen dem Westen und Russland verhandelt würden. Der SPD-Politiker Klaus Dohnany vertritt heute noch die Ansicht, der Ukrainekrieg hätte verhindert werden können, wenn die US-Regierung auf diesen Diskussionsvorschlag eingegangen wäre.

Vom zweiten Fenster für mögliche Friedensgespräche spricht die US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ im März 2022. Die Zeitschrift zitiert Stellen aus der US-Administration, wonach es beinahe zu einem Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland gekommen wäre. Grundlage dieses Friedensschlusses wären ein Rückzug aus allen seit dem 24. Februar von Russland besetzten Gebieten und ein Verzicht der Ukraine auf einen NATO-Betritt gewesen. Diese Friedenslösung sei aber vom britischen Premierminister Boris Johnson, der zu diesem Zweck extra nach Kiew reiste, mit Rückendeckung der USA torpediert worden. Johnson hätte Selenski davor gewarnt, mit einem „Kriegsverbrecher“ Verhandlungen zu führen, und gesagt, dass der Westen noch nicht bereit sei für ein Ende des Kriegs.

Nun also das dritte Fenster. Und zum dritten Mal wird es zugeschlagen und wieder nicht von Russland. Wie wenig Bereitschaft zu Friedensverhandlungen von der ukrainischen Seite her vorhanden ist, zeigt eine Aussage von Mykhailo Podolyak, dem einflussreichsten Berater von Präsident Selenski, Mitte Oktober 2022: „Zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kann es nur kommen, wenn eine andere Partei in Russland an die Macht kommt oder wenn die Ukraine Russland besiegt hat, sodass der Verhandlungsprozess von der Ukraine definiert und Russland als Ultimatum gestellt wird.“ Dies passt haargenau zu Selenskis Position, wonach es früher noch um Frieden gegangen sei, jetzt aber nur noch um den Sieg. Wobei die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock sogar noch einen Schritt weitergeht und findet, dass es darum gehen müsse, Russland zu „ruinieren“. Doch wie stellen sich all die Hardliner, die einen Sieg des Westens über Russland einer Friedenslösung mit der Berücksichtigung gegenseitiger Interessen vorziehen, das denn vor? Wie wird sich Russland nach einer solchen totalen Niederlage und einer so grossen Schmach denn verhalten? Wird eine solche Demütigung nicht nach blinder Rache rufen, mit vielen, jetzt noch unabsehbaren Folgen? Wird Putin das überleben oder werden dann nicht erst recht jene Hardliner ans Ruder kommen, die Putin schon heute vorwerfen, er sei zu „weich“, und die am liebsten jetzt schon Atomwaffen ins Spiel bringen möchten. 

Westliche Politiker und Medien werden nicht müde, Putin als den alleinigen Bösewicht hinzustellen und ihm insbesondere auch vorzuwerfen, an einer Friedenslösung nicht interessiert zu sein – ein Vorwurf, der ganz offensichtlich viel mehr auf jene zurückfällt, die ihn so hartnäckig verbreiten. Dabei müsste man doch jeden noch so winzigen Zipfel, egal von welcher Seite er kommt, ergreifen, um dem Frieden und einem Ende sinnlosen Blutvergiessens und sinnloser Zerstörung so schnell wie möglich eine Chance zu geben. Ist doch, wie schon der römische Philosoph Cicero sagte, auch noch der „ungerechteste Frieden immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Gewiss muss dann früher oder später aus dem „ungerechten Frieden“ auch ein „gerechter Frieden“ werden, aber ein Ende von Zerstörung und militärischer Gewalt wäre immerhin ein erster unentbehrlicher Schritt in die richtige Richtung…

Skandal: Arbeiterinnen und Arbeiter haben eine bis um fünf Jahre tiefere Lebenserwartung als Akademikerinnen und Akademiker…

 

Aufgrund von Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen (EES) lässt sich, wie das schweizerische „Tagblatt“ am 26. Oktober 2022 berichtet, feststellen, dass Akademikerinnen und Akademiker eine um fünf Jahre (Männer) bzw. zweieinhalb Jahre (Frauen) höhere Lebenserwartung haben als Arbeiterinnen und Arbeiter. Zudem verfügen Arbeiterinnen und Arbeiter über eine schlechtere Gesundheit als Akademikerinnen und Akademiker: Diese leben 8,8 Jahre (Männer) bzw. 5 Jahre (Frauen) länger bei guter Gesundheit als Männer und Frauen, die nur über einen obligatorischen Schulabschluss verfügen. Die Schere zwischen tendenziell gesünderen Akademikerinnen und Akademiker und tendenziell kränkeren Arbeiterinnen und Arbeitern hat sich zudem im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre erheblich vergrössert, „Je nach Bildungsniveau“, so resümiert das „Tagblatt“, „variiert nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Gesundheit.“

Doch die geringere Lebenserwartung und die schlechtere Gesundheit im Alter sind längst nicht die einzigen Benachteiligungen von Menschen, die „nur“ die Volksschule besucht haben, gegenüber jenen, die über einen akademischen Abschluss verfügen. Es beginnt nämlich schon ganz früh, spätestens in der Schule, wo Kinder, die weniger gut und schnell rechnen, lesen und schreiben können, die Erfahrung machen müssen, dass sie weniger „wertvoll“ und „wichtig“ sind als andere – auch wenn sie in anderen Bereichen über noch so viele Begabungen und Fähigkeiten verfügen. Der schon in frühem Alter aufgedrückte Stempel, weniger „wertvoll“ oder gar weniger „intelligent“ zu sein als andere, kann sich oft lebenslang negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein auswirken und demzufolge auch – weil psychische und physische Gesundheit eng zusammengehören – auf das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit.

Es geht weiter mit dem Einstieg in die Berufswelt. Während die zukünftigen Akademikerinnen und Akademiker noch gemütlich im Gymnasium sitzen, sind die Jugendlichen, die „nur“ eine Berufslehre absolvieren, schon auf der Baustelle dem Wind und dem Wetter ausgesetzt, kümmern sich um alte und kranke Menschen oder füllen im Supermarkt Gestelle auf, bis sie vor lauter Rückenschmerzen kaum mehr richtig schlafen können. 

Ist erst einmal der Arbeiter im Strassengraben und der Akademiker auf seinem Lehrstuhl an der Universität, dann kommen diese unsäglichen Lohnunterschiede dazu, die alles noch weiter verschlimmern. Weniger verdienen heisst ja nicht nur, am Ende des Monats weniger Geld in der Lohntüte zu haben. Eine kleinerer Lohn wirkt sich auf das gesamte Leben aus, auf die Lebensweise, auf die Lebensqualität. Weniger Lohn heisst konkret: eine kleinere Wohnung, weniger Platz für die Kinder, kein Garten, dafür in unmittelbarer Nähe eine dichtbefahrene Strasse, Lärm und Abgase. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Freizeitaktivitäten wie Fitnesstraining, feines Essen im Restaurant, Ferien im Wellnesshotel oder am Meer – lauter Dinge, die für andere, besser Verdienende, selbstverständlich sind. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Geschenke, Spiel- und Sportgeräte, Freizeitkurse, Musikunterricht oder Ferienlager für die Kinder, was für die betroffenen Eltern ganz besonders schmerzlich ist und sich häufig mit dem Gefühl verbindet, im Kampf um den sozialen Aufstieg selbstverschuldet auf der Strecke geblieben zu sein. Auch dies eine überaus schlechte Voraussetzung für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Gesundheit. Umso mehr, als die unbefriedigende soziale Situation nicht selten Anlass für Ersatzbefriedigungen aller Art sein kann, von der Spielsucht über den Nikotinkonsum bis hin zum Alkohol. 

Kommt dazu, dass ausgerechnet geringer verdienende Arbeiterinnen und Arbeiter in hohem Masse von besonders schweren und oft auch gefährlichen Tätigkeiten betroffen sind, welche ihre Gesundheit zusätzlich belasten und nicht selten für lebenslange Gebrechen oder frühen Tod verantwortlich sind. Denken wir nur an Strassen- und Bauarbeiter, Maurer, Zimmerleute, Paketboten, Krankenpflegerinnen, Angestellte im Supermarkt, Malerinnen, Gerüstbauer, Fliessbandarbeiter, Friseusen, Köche oder Serviceangestellte – lauter Arbeiten, bei denen man übermässig schwere Lasten heben, Rücken und Arme viel zu stark belasten, überlang stehen muss oder mit Chemikalien und giftigen Substanzen zu tun hat, welche Haut und Atemwege gefährden. Auch von den schweizweit jährlich rund 170’000 Arbeitsunfällen sind fast ausschliesslich Arbeiterinnen und Arbeiter betroffen und höchst selten eine Akademikerin oder ein Akademiker.

Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, leiden Arbeiterinnen und Arbeiter und ganz generell Beschäftigte in untergeordneten Positionen erheblich darunter, dass sie auf ihre Arbeitssituation fast keinen Einfluss haben und den Anordnungen ihrer Vorgesetzten mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Meist arbeiten sie hart, nicht selten sind sie gezwungen, Überstunden zu leisten – und sehen am Ende des Tages dennoch nur wenig von dem, was sie geleistet haben, sondern müssen im Gegenteil mit ansehen, wie ihre Chefs oder die Aktionäre der Firma ein viel luxuriöseres Leben führen als sie selber, während sie selber sich nebst dem geringen Lohn auch noch mit viel geringerer Wertschätzung abfinden müssen. Keine Frage, dass Demütigungen dieser Art in der Seele tiefe Spuren hinterlassen und sich letztlich auch wieder auf die Gesundheit negativ auswirken.

„Klügere Menschen“, so die englische Philosophin Rosalind Arden in einem am 26. Oktober 2022 auf 3sat ausgestrahlten Dokumentarfilm über das Phänomen der Intelligenz, „leben länger und gesünder, werden besser bezahlt und haben sogar stabilere Partnerschaften.“ Dies würde ja dann heissen, dass alle Menschen, welche schlechter bezahlt sind, daran selber Schuld wären, weil sie eben nicht so „klug“ seien. Offensichtlich fühlen sich akademisch gebildete Menschen wie Rosalind Arden gescheiter als all die Menschen, welche für sie Häuser bauen oder Strassen, über die sie täglich fahren, und gescheiter als all die Menschen, die ihre Autos und ihre Heizungen reparieren, ihre Haare frisieren oder das Brot backen, das sie essen. Was für eine grenzenlose Überheblichkeit! Und was für eine masslose Beleidigung all jener Menschen, die mit grösstem Geschick, präzisester Fleissarbeit, unendlicher Hingabe und bewundernswertem Sachverstand Tag für Tag all jene Arbeiten verrichten, die so schlecht bezahlt sind und dennoch das Fundament bilden, ohne welches die ganze Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde.

Wundern wir uns bei so vielen seelischen Wunden, bei so viel Demütigung, bei so viel Missachtung existenzieller Lebensbedürfnisse immer noch darüber, dass Arbeiterinnen und Arbeiter weniger lange leben und schneller krank werden als Akademikerinnen und Akademiker? Kann eine Gesellschaft als Ganzes gesund sein, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nur deshalb länger gesund sein darf, weil ein anderer so viel früher von Krankheit und Tod betroffen ist? Lässt sich das mit der Grundidee der Demokratie und der gleichen Rechte für alle tatsächlich vereinbaren? Müsste nicht alles unternommen werden, um die Früchte der Arbeit, die gesamthaft geleistet wird, auch wieder auf alle möglichst gerecht zu verteilen?

„Es gibt viele Arten zu töten“, lesen wir beim deutschen Schriftsteller Bertolt Brecht, „man kann den Menschen das Brot entziehen, man kann sie in den Krieg führen oder man kann sie durch Arbeit zu Tode schinden.“ Wie recht er hatte! Hier und heute, selbst im reichsten Land der Welt: Jahr für Jahr Tausende von Menschen, die frühzeitig krank werden und frühzeitig sterben. Nicht weil sie „dümmer“ sind als andere. Sondern weil der gnadenlose Kampf um den sozialen Aufstieg, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit von Einkommen und Lebensbedingungen und die rücksichtslose Anhäufung von Reichtum auf Kosten anderer in unseren Köpfen immer noch so tief verwurzelt sind und als „normal“ empfunden werden, dass zwar über jeden Verkehrsunfall, jeden Mord und jeden tödlichen Absturz eines Bergsteigers ausführlich berichtet wird, nicht aber über das lautlose Sterben all jener, die nichts anderes getan haben, als sich ein Leben lang unter grössten Entbehrungen für den Reichtum und die Interessen anderer abzurackern…

Serhij Zhadan: Friedenspreis für Kriegstreiber?

 

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Serhij Zhadan. In seiner im schweizerischen „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022 veröffentlichten Dankesrede plädiert Zhadan für den Krieg als bestes Mittel, um Frieden zu schaffen. Zudem äussert er sich ausführlich über die Funktion der Sprache in kriegerischen Zeiten. „Wir alle“, sagt er, „sind über unsere Sprache miteinander verbunden. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.“

Das muss hellhörig machen. Denn was Zhadan „Sprache“ nennt, hat ganz offensichtlich zwei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten. Nicht umsonst erliess das ukrainische Parlament am 25. April 2019 ein neues Sprachengesetz. Demzufolge gilt das Ukrainische als alleinige Staatssprache. In den Schulen, der öffentlichen Verwaltung, unter leitenden Angestellten, in der Wissenschaft, in der Kulturszene, in Regierung und Parlament darf nur noch Ukrainisch gesprochen werden. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden 100 Millionen Bücher russischsprachiger Autorinnen und Autoren entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Ebenso dürfen Werke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Und dies, obwohl die Muttersprache von 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung das Russische ist. Das Sprachengesetz hat die Ukrainerinnen und Ukrainer zutiefst in Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse gespalten. Was der ukrainischsprachigen Bevölkerungsmehrheit an Bedeutung, Einfluss und Macht in Gestalt ihrer Sprache zugesprochen wurde, ist der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit in gleichem Masse abgesprochen, weggenommen und geraubt worden. 

Was also meint Zhadan, wenn er von der „verbindenden Kraft der Sprache“ spricht? Obwohl er selber in der Ostukraine geboren wurde, ist die Sprache, die er meint, doch ganz offensichtlich das Ukrainische. In dieser Sprache, die ihm soviel „Kraft spendet“, die ihn mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern „verbindet“ und in der er die „Wahrheit“ verkünden kann, sagt er dann, beispielsweise in seinem jüngsten Werk, dem „Himmel über Charkiw“, so ungeheuerliche Dinge wie „Brennt in der Hölle, ihr Schweine!“ Gemeint sind natürlich die Russen. Diese bezeichnet er, wie die Onlineausgabe der „Zeit“ und das Internetportal „Telepolis“ berichtet haben, nicht nur als „Schweine“, sondern auch als „Hunde“, „Verbrecher“, „Tiere“ und „Unrat“. Auch bezeichnet er die Russen als „Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten.“

Ob die Jury des Deutschen Buchhandels Zhadans Bücher, bevor sie ihm den Friedenspreis verliehen hat, auch tatsächlich gelesen hat? Wenn nicht, wäre es schlimm. Wenn ja und sie ihm dennoch den Preis zugesprochen hätte, wäre es noch viel schlimmer. Denn das Schüren von Feindbildern und von Hass ist das Allerletzte, was dem Frieden dienlich ist, und das Allerletzte, was wir in der heutigen Zeit brauchen können. Ja, Hass und Feindbilder sind gegenwärtig eine bittere Realität, leider. Aber Literatur, und erst recht eine preisgekrönte Literatur, sollte nicht einfach ein Abbild der Realität sein. Literatur und Kriegstreiberei müssten sich in ihrem tiefsten Wesen widersprechen. Literatur muss über die Realität hinausragen, neue Perspektiven der Menschlichkeit eröffnen, Brücken schlagen statt sie zu zerstören, dem Hass die Liebe entgegensetzen, der Intoleranz die Toleranz, dem Feindbilddenken die Feindesliebe. Dann, ja dann hätte sie einen Friedenspreis verdient.

Zurück zum „Tagesanzeiger“ vom 24. Oktober 2022, der hier stellvertretend für wohl zahllose weitere westliche Medien steht, die über die Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan berichtet haben: Auf einer ganzen Zeitungsseite lang ist Zhadans Dankesrede abgedruckt worden, aber vergebens sucht man einen redaktionellen Kommentar, der auf die dunkle, hässliche, russenfeindliche, rassistische Seite des Preisträgers hätte hinweisen können. Im Gegenteil: Der Text trägt, in grossen Lettern, den Titel „Weil wir unbedingt Frieden wollen“. Und darunter das Bild von Zhadan, wie er mit gefalteten Händen dasteht, so als würde er für den Frieden beten. Wenn es stimmt, dass sich immer mehr Menschen nur noch aufgrund von Schlagzeilen und Bildern informieren, dann hat es wieder einmal funktioniert in diesen düsteren Zeiten, wo uns sogar übelste Kriegspropaganda in Form preisgekrönter Literatur schmackhaft gemacht wird. 

Wenn das, was russische Medien betreiben, Kriegspropaganda ist, was ist dann das, was westliche Medien betreiben, wenn sie uns Menschen, die einem ganzen Volk Hass und abgrundtiefe Verachtung entgegenbringen, als Friedensengel, Freiheitskämpfer und Helden verkaufen – und sich schon bald niemand mehr vorzustellen wagt, es könnte alles auch ganz anders sein?

Der Rücktritt der britischen Premierministerin Liz Truss und weshalb sich Probleme, die durch den Kapitalismus entstanden sind, nicht mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen…

 

„Helen O’Connor“, berichtet die schweizerische „Wochenzeitung“ an 20. Oktober 2022, „kam 1990 aus Irland nach London, um sich zur Krankenpflegerin ausbilden zu lassen. Damals seien die Arbeitsbedingungen und die Löhne noch richtig gut gewesen. Aber in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sie miterlebt, wie der National Health Service (NHS) nach und nach zurechtgestutzt, auf Spardiät gesetzt und teilprivatisiert wurde. Die Stipendien sind um rund zwei Drittel gekürzt worden, sodass sich angehende Pflegerinnen und Pfleger heute verschulden und ihr Studiendarlehen zurückzahlen müssen. Jedes Jahr geben etwa ein Viertel der Studierenden auf, derzeit sind in der Pflege rund 40’000 Stellen nicht besetzt. Für jene, die im Job bleiben, wird es immer schwieriger. Nicht nur müssen sie aufgrund des Personalmangels härter arbeiten, die Sparprogramme der vergangenen Jahre haben auch dafür gesorgt, dass die Reallöhne laufend geschrumpft sind. Zudem sind durch die steigende Inflation unzählige NHS-Angestellte selber hilfsbedürftig geworden. In manchen Spitälern gibt es schon sogenannte Hygienebanken, wo sich die Angestellten mit gespendeten Toilettenartikeln versorgen können.“

Doch nicht nur im Gesundheitswesen, auch in vielen anderen Branchen ächzt und stöhnt das Land an allen Ecken und Enden. „Im Frühsommer“, so die „Wochenzeitung“, „hat die grösste Streikwelle seit Jahrzehnten begonnen. In unzähligen Sektoren haben die Leute die Arbeit niedergelegt, um angesichts der steigenden Inflation für höhere Löhne zu kämpfen, an manchen Tagen wurde das Land praktisch lahmgelegt. Das landesweite Bahnnetz ist seit Juni bereits an acht Tagen stillgestanden. Die Dockarbeiterinnen und Dockarbeiter von Liverpool und Felixstowe – dem grössten Containerhafen des Landes – haben zum ersten Mal seit den Neunzigerjahren gestreikt. Auch über 100’000 Pöstlerinnen und Pöstler der Royal Mail sind zum ersten Mal seit 13 Jahren in den Ausstand getreten. Dazu kommen Arbeitsniederlegungen von Müllarbeitern, Unilektorinnen, Strafverteidigern, Reinigungspersonal und Callcenterangestellten. Bald könnten sich auch Hebammen, Zivilbeamte und Feuerwehrleute der wachsenden Bewegung anschliessen.“ Diese Entwicklung lässt sich nicht erst seit dem Brexit, der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg beobachten, wenngleich dadurch die bereits zuvor herrschenden Missstände zweifellos zusätzlich verschärft worden sind.

Gleichzeitig geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf: 177 Milliardäre gibt es inzwischen in Grossbritannien. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen knapp die Hälfte aller Vermögen, während Millionen von Menschen nur noch dank den Verteilstationen mit Gratisessen überleben können und kürzlich sogar die Meldung Schlagzeilen machte, Schulkinder würden, um den ärgsten Hunger zu stillen, ihre Radiergummis essen. Das Gleiche zeigt sich auch in anderen „wohlhabenden“ Ländern des Westens, wenn auch nicht überall im gleichen Ausmass. Überall vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr. Selbst in einem so „reichen“ Land wie der Schweiz, wo über 700’000 Menschen von Armut betroffen sind, während sich die Vermögen der 300 Reichsten in nur gerade einem einzigen Jahr schon wieder um mehr als 100 Milliarden Franken vergrössert haben. Dies alles kann kaum purer Zufall sein. Nein, letztlich ist der Hauptschuldige an dieser Entwicklung nichts und niemand anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, seine Profit- und Wachstumsideologie, sein Zwang, aus den Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung herauszupressen und die aus alledem resultierende soziale Ungleichheit. 

Das beste Beispiel für die These, dass sich vom Kapitalismus geschaffene Probleme nie und nimmer mit kapitalistischen Rezepten lösen lassen, ist die soeben zurückgetretene und kläglich gescheiterte britische Premierministerin Liz Truss. Wie in einem schlechten Film vergangener Zeiten wehrte sie sich bis zuletzt erbittert gegen höhere staatliche Zuschüsse an Notleidende und wollte Steuersenkungen ausgerechnet für die Reichen durchboxen, um, so ihre Begründung, Wirtschaftswachstum zu fördern. Im Unterhaus verkündete Truss noch vor wenigen Tagen die drei Ziele ihres Regierungsprogramms, sie lauteten schlicht und einfach „Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum“. Ob ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass Wachstum der Wirtschaft, des Bruttosozialprodukts und des Geldes im Kapitalismus stets auch Wachstum von Armut, Hunger, Elend und Verzweiflung bedeuten? „Probleme“, sagte schon Albert Einstein, „lassen sich niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“ Ist das so schwer zu begreifen?

Vielleicht wird ja in einem Geschichtsbuch des Jahres 2100 zu lesen sein, dass am 20. Oktober 2022 das Ende des kapitalistischen Zeitalters eingeläutet worden sei, an dem Tag, an dem zum wiederholten Male und in immer kürzerer Folge eine britische Regierung, sich an längst hinfällig gewordenen Dogmen festklammernd, gescheitert war. In diesem Land, wo der Kapitalismus nicht nur sein Ende fand, sondern wo er auch, mit dem transatlantischen Sklavenhandel und den aus ihm herausgequetschten Gewinnen als Grundstein für die beginnende kapitalistische Weltordnung, begonnen hatte. Wenn die heutigen Krisen etwas Gutes haben könnten, dann dies: Dass die Einsicht, dass nur eine Überwindung des Kapitalismus den Weg zu einer gerechten, friedlichen und lebenswerten Zukunft freimachen kann, immer stärker und unaufhaltsamer um sich greifen wird. Doch „der Kapitalismus“, so der französische Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selber zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Pilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“  

Luisa Neubauer bei „Markus Lanz“: Eigentlich wäre nicht Luisa Neubauer ein Fall für den Verfassungsschutz, sondern all jene, die sich immer noch keinen Deut darum kümmern, den Klimawandel in den Griff zu bekommen.

 

18. Oktober 2022, ZDF, „Markus Lanz“: Auf den Einwand, klimapolitische Massnahmen bräuchten Zeit und seien nicht von heute auf morgen umzusetzen, sagt die Klimaaktivistin Luisa Neubauer: „Die Wahl zwischen Zeit und Demokratie haben wir nicht. Wenn wir die fundamentalen Krisen dieser Zeit nicht in den Griff bekommen, wie stellen Sie sich dann vor, sollen intakte Demokratien in einer zwei Grad wärmeren Welt aussehen, in der uns die Krisen um die Ohren fliegen, von Notstand zu Notstand.“ Auf diese Aussage hagelt es in den sozialen Medien Kritik bis hin zu Beschimpfungen übelster Art, gipfelnd in der Aussage, die Worte von Luisa Neubauer zeugten von „Demokratieverachtung“ und wären ein Fall für den „Verfassungsschutz“. Auch die schweizerische „Weltwoche“ mischt sich in die Diskussion ein und schreibt: „Wieder einmal schürte die deutsche Klima-Zelotin Panik und legitimierte das Aushebeln der Demokratie.“ 

Dabei wäre die Aussage von Luisa Neubauer doch der beste Anlass, um über das Wesen der Demokratie in unserer so krisenvollen Zeit vertieft nachzudenken. Sie sagt ja mit keinem Wort, dass die Demokratie falsch wäre. Sie sagt nur, dass die herkömmlichen demokratischen Abläufe viel zu schwerfällig seien und wir diese Zeit, bevor wir von den schlimmsten Folgen des Klimawandels eingeholt würden, schlicht und einfach nicht mehr hätten. Demokratie ist gut und wichtig, aber nur, wenn sie dazu dient, das Überleben der Menschheit auch noch in zwanzig oder fünfzig Jahren zu gewährleisten. In einer echten Demokratie müssten auch alle zukünftig Geborenen eine Stimme haben, ja in letzter Konsequenz auch alle Tiere und Pflanzen. Eine Demokratie, welche dies alles nicht berücksichtigt, ist keine echte Demokratie, sondern eine Diktatur der heute Lebenden über die zukünftig lebenden Menschen, eine Diktatur der reichen Menschen des Nordens über die armen Menschen des Südens, die vom Klimawandel weit stärker betroffen sind, obwohl sie weitaus weniger dafür verantwortlich sind, eine Diktatur der Interessen des Kapitals und der Profitmaximierung über die Interessen der Menschen und der Natur. Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes besagt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die zukünftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Wer der Meinung ist, Luisa Neubauer sei ein Fall für den Verfassungsschutz, hat diesen Gesetzesartikel offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen. Eigentlich wäre nicht Luisa Neubauer ein Fall für den Verfassungsschutz, sondern all jene, die sich immer noch keinen Deut darum kümmern, den Klimawandel mit allen nur erdenklichen Mitteln in den Griff zu bekommen.

Zu Recht weisen Luisa Neubauer und andere Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten immer wieder darauf hin, dass nicht Massnahmen gegen den Klimawandel, sondern, im Gegenteil, die Unterlassung solcher Massnahmen das eigentlich Undemokratische sind. Denn sollten die schlimmsten Zukunftsszenarien Wirklichkeit werden, dann werden derart gravierende Verteilkämpfe und soziale Unruhen ausbrechen, dass die Beibehaltung demokratischer Verhältnisse irgendwann wohl nur noch eine schöne Erinnerung an längst vergangene Zeiten sein wird. Möglichst rasche und effiziente Massnahmen gegen den Klimawandel sind daher die einzige und beste Garantie für die Weiterführung der Demokratie. „Die Demokratie“, so Luisa Neubauer bei „Markus Lanz“, „ist eines der wichtigsten Werkzeuge, die wir haben. Die Menschen mit ihren Ideen und ihrem Wissen, das ist das heilige Gut, das wir haben. Sie zu schützen, ist doch das Innerste von dem, wofür wir einstehen.“ Ob jene, die sich wie Aasgeier auf einzelne herausgepickte Sätze von Luisa Neubauer gestürzt haben, diese Sätze ebenso aufmerksam und wissbegierig zur Kenntnis genommen haben? Und ob all jenen, die ständig das Wort Demokratie im Munde führen, wohl bewusst ist, dass sie sich selber, indem sie andere Menschen beleidigend und beschimpfend an den Pranger stellen, höchst undemokratisch verhalten? Vielleicht werden sie ja doch noch eines Tages dafür dankbar sein, dass junge Menschen wie Luisa Neubauer ihre ganze Lebenskraft, ihr ganzes Verantwortungsbewusstsein, ihre ganzen Talente und Begabungen Tag für Tag hingeben, um aus der Erde einen Ort zu machen, wo es auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch eine lebenswerte Zukunft gibt. 

Der Krieg in der Ukraine: Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit…

 

„Der kleine Ort Kupjansk südlich von Charkiw“, so lese ich im „Tagesanzeiger“ vom 19. Oktober 2022, „war ein halbes Jahr von der russischen Armee besetzt, und wenn man der 63jährigen Natalja Alexejewa glauben will, war das keine schlechte Zeit, besser zumindest als heute, nach der Befreiung durch die ukrainische Armee.“ Sie hätte immer alles gehabt, so die 63Jährige, Gas, Telefon, Fernsehen, und die russischen Soldaten hätten sich „vorbildlich benommen.“ Die zuvor praktisch unbeschädigte Stadt hätte erst durch den Einmarsch der Ukrainer gelitten: Der Markt läge jetzt in Trümmern und sei geplündert worden, die Strassen aufgerissen und viele Häuser beschädigt.

Meldungen solcher Art kommen in den westlichen Mainstreammedien, wo die Russen stets als die „Bösen“ und die Ukrainer als die „Guten“ dargestellt werden, nur selten vor. Doch dieses einseitige Bild von den „Bösen“ und den „Guten“ bekommt schnell einmal Risse, wenn man sich die Mühe nimmt, hinter die Fassade der vermeintlichen „Wahrheit“ zu schauen und das gängige Feindbild kritisch zu hinterfragen.

Ein zentraler Punkt ist die Frage nach der Kriegsschuld. Die offizielle, durch die westlichen Mainstreammedien verbreitete Sicht lautet, dass dieser Krieg am 24. Februar 2022 begann und die alleinige Schuld dafür bei Russland liegt. Die für den Westen höchst unangenehme Geschichte, dass dieser Krieg schon viel früher begann und wesentlich vom Westen mitverschuldet wurde, wird tunlichst ausgeblendet: „Im Jahr 2014“, so US-Senator Richard H. Blake, „benötigte die Ukraine finanzielle Hilfe. Russland und die EU unterbreiteten konkurrierende Finanzvorschläge. Die Ukraine entschied sich für das russische Hilfspaket, was eine sofortige Reaktion auslöste. Die CIA und der britische MI6 organisierten einen gewaltsamen Staatsstreich, durch den der rechtmässig gewählte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, gestürzt wurde.“ 

Im Folgenden setzten die USA alles daran, die Ukraine ins westliche Militärbündnis der NATO einzubinden. Dazu der amerikanische Publizist Noam Chomsky: „Ab 2014 begannen die USA und die NATO, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO. Das ist kein Geheimnis. Es war ganz offen. Kürzlich prahlte der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, damit. Er sagte, dies sei genau das, was seit 2014 geschehen sei, eine sehr bewusste, starke Provokation, die zu einer Situation führen würde, die jeder russische Führer als untragbar ansehen müsste.“ Chomsky ist nicht der Einzige, der in der NATO-Osterweiterung eine unnötige und gefährliche Provokation Russlands sah. Schon 1997 hatte der US-Historiker George F. Kennan gewarnt: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Robert Hunter, ehemaliger NATO-Botschafter der USA, teilte diese Auffassung: „Die Hauptschuld an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs trifft die USA, insbesondere wegen der Expansion der NATO.“ Und sogar die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gab bereits im Jahre 2008 zu bedenken: „Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“

Die geplante NATO-Osterweiterung bis an die Grenze Russlands ist nicht, wie es immer wieder beschönigend heisst, ein Bündnis zu reinen Verteidigungszwecken. Dass Russland allen Grund hatte, sich dadurch bedroht zu fühlen, können wir uns leicht vergegenwärtigen, wenn wir uns für einen Moment vorstellen, Kanada und Mexiko würden sich militärisch mit Russland verbünden – kaum auszudenken, dass die USA dies sang- und klanglos akzeptieren würden. Dass die NATO mehr ist als ein reines Verteidigungsbündnis, geht auch aus folgenden Worten des ehemaligen US-Sicherheitsberaters MacGregor hervor: „Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen.“ Noch deutlicher äusserte sich Zbigniew Brzezinski, ebenfalls ehemaliger US-Sicherheitsberater: „Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ Und sagte nicht unlängst auch die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, Ziel müsse es sein, Russland zu „ruinieren“?. Bei alledem soll sich Russland allen Ernstes vom Westen nicht bedroht fühlen? 

Trotz alledem wäre, wie der US-Ökonomie Jeffrey Sachs meint, ein Friedensschluss sogar noch im März 2022 durchaus in Reichweite gelegen: „Es gibt allerdings einen Ausweg, der offen zutage liegt: Dass die NATO sagt, wir nehmen die Ukraine nicht in die NATO auf. Diese Lösung hätte den Krieg verhindert und sie hätte den Krieg bereits im März zu einem Ende gebracht, als Russland und die Ukraine unter der Vermittlung der Türkei bei einer Lösung nahe waren und das auch öffentlich sagten. Ich bin der Auffassung, dass die USA diese Verhandlungslösung verhindert haben.“ Ähnlich äussert sich der SPD-Politiker Klaus Dohnany, der darauf hinweist, dass Putin noch im Dezember 2021 die US-amerikanische Regierung ersucht habe, bezüglich den Status der Ukraine Gespräche aufzunehmen, was Präsident Biden mit der Begründung, zu diesem Thema gäbe es keinen Verhandlungsspielraum, zurückgewiesen hätte. Wäre es zu Verhandlungen gekommen, so Dohnany, hätte der Ukrainekrieg wahrscheinlich verhindert werden können. 

„Schneiden Sie mit einem Rüstmesser, ausgehend oben von der Mitte des Kreises, schräg nach rechts unten an den Rand der runden Standfläche“, so Leserbriefschreiber F.M. im „Tagesanzeiger“ vom 19. Oktober 2022. Und weiter: „Dasselbe wiederholen Sie symmetrisch nach links unten. Was sehen Menschen vom Rest des Korkzapfens? Von vorne und hinten: ein Dreieck. Von rechts und links ein Rechteck und von oben und unten einen Kreis. Alle haben recht und behaupten, im Besitze der Wahrheit zu sein. Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit.“ Dem ist nichts beizufügen.