Grosse Unzufriedenheit vieler Beschäftigter mit ihrer Arbeitssituation und weshalb die Sehnsucht nach sinnerfüllter Tätigkeit nicht bloss ein schöner, unerfüllter Wunschtraum bleiben sollte…

 

Gemäss einer Umfrage des Beratungsunternehmens PwC ist nur die Hälfte aller Berufstätigen in der Schweiz mit ihrem Job zufrieden. Begründet wird dies mit dem Wunsch nach mehr Lohn und einer „erfüllenden Tätigkeit“. Und laut einer vom Institut LINK im Auftrag von JobCloud im August 2022 durchgeführten Umfrage sind es sogar nur 40 Prozent, welche ihren Job lieben. Arbeitnehmende, so das Fazit der Studie, strebten vor allem nach „persönlicher Entfaltung“ und einer „sinnstiftenden Tätigkeit“, sie wünschten sich „mehr Autonomie“ sowie „Sicherheit am Arbeitsplatz“; die „Liebe zum Beruf“ bleibe oft auf der Strecke. „Wir wissen“, so Daniel Villa, CEO von JobCloud, „dass die Sinnhaftigkeit im Job zu grösserer Zufriedenheit in allen Bereichen führen kann. Wer einen Job findet, den er liebt, wird nicht mehr das Gefühl haben, arbeiten zu müssen.“

Es gibt wohl eine ganze Reihe von Gründen, die dazu führen können, dass viele Jobs unattraktiv sind und nicht jene „sinnstiftende und erfüllende Tätigkeit“ erlauben, welche sich die meisten Menschen zu wünschen scheinen. Da bleibt eben die „Liebe zum Beruf“, die in allen Lebensbereichen zu grösserer Zufriedenheit führen könnte, nur allzu oft auf der Strecke. 

So ist es zum Beispiel die Monotonie mancher beruflichen Tätigkeit, die einer Sinnerfüllung im Wege stehen kann. Wenn die Fabrikarbeiterin acht oder neun Stunden täglich nichts anderes tut, als Kartonstücke zu Schachteln zusammenzufalten, oder wenn man von früh bis spät vor dem Bildschirm sitzt und nichts anderes tut, als eingegangene Zahlungen zu kontrollieren, dann handelt es sich hierbei wohl kaum um Tätigkeiten, die etwas mit „Liebe zum Beruf“ zu tun haben könnten. Oder wenn man, wie das Zimmermädchen im Hotel oder der Paketbote, permanent unter einem immensen Zeitdruck arbeiten muss, dann versteht man den Wunsch der betroffenen Beschäftigten nach einem Jobwechsel nur allzu gut. Oder wenn man, wie die Malerin, der Koch oder der Landarbeiter auf dem Gemüsefeld, extremen körperlichen Belastungen ausgesetzt ist, dann liegt es nahe, sich nach einer weniger anstrengenden Arbeit umzusehen. Auch der Bauarbeiter, der bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte schwerste körperliche Arbeit zu verrichten hat, träumt begreiflicherweise nicht selten von einer weniger strengen Arbeit in einem gut geheizten oder gut klimatisierten Raum. Auch der Wettbewerbsdruck am Arbeitsplatz, das permanente Vergleichen und Bewerten der Umsatzzahlen der einzelnen Angestellten, wie es zum Beispiel in der Verkaufsbranche üblich ist, trägt wohl kaum dazu bei, „Liebe zur Arbeit“ möglich zu machen, dies umso weniger, als mit den Ranglisten an jedem Monatsende stets auch die Angst verbunden ist, den Arbeitsplatz möglicherweise zu verlieren. Schliesslich kann auch übergrosse Verantwortung, wie sie leitende Angestellte oder Chefs und Chefinnen von Unternehmen zu tragen haben, dazu führen, dass die tägliche Arbeit nicht so sehr als „sinnstiftende Tätigkeit“, sondern als oft geradezu unerträgliche Belastung wahrgenommen wird. Alle diese Faktoren bedeuten nicht nur individuelle Unzufriedenheit vieler Berufstätiger, sondern wirken sich letztlich auf alle Lebensbereiche aus, haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und tragen möglicherweise auch wesentlich zu den steigenden Gesundheitskosten bei.

Schon der russische Schriftsteller Leo Tolstoi beschäftigte sich vor über 120 Jahren mit diesem Thema. Er schrieb: „Das einzige Mittel, um zu leben, ist Arbeit. Um arbeiten zu können, muss man die Arbeit lieben. Um die Arbeit lieben zu können, muss sie interessant sein.“ Die Arbeit sollte man lieben können. Mit ihr verbringen wir die meiste Zeit unseres Lebens. Sie muss interessant sein, muss unserem Leben einen Sinn geben. Künstlerinnen und Künstler kommen diesem Idealbild wohl am nächsten, auch wenn sie nicht frei sind von ökonomischem Druck, aber wenigstens können sie während ihrer Arbeitszeit einer Tätigkeit nachgehen, bei der Selbstverwirklichung im besten Sinne möglich ist.

In einer idealen Welt würden aber nicht nur Künstlerinnen und Künstler, sondern alle Menschen ihre Arbeit lieben. Diese ideale Welt lässt sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen, aber wir können uns ihr wenigstens schrittweise nähern. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, all jene Jobs, die am wenigsten Freude machen, umzulagern in eine Art von „Gemeinschaftsdienst“. Konkret: Gearbeitet wird in sämtlichen Jobs nur noch vier Tage pro Woche, am fünften Tag leisten alle einen Arbeitseinsatz in einem jener „Knochenjobs“, die niemand erledigen würde, wenn er freiwillig wählen könnte, von der Kehrichtabfuhr über die Strassenreinigung bis zur Landarbeit, von Hilfsarbeiten in der Fabrik über das Saubermachen öffentlicher Toiletten bis zu Aufräumarbeiten im Wald. So könnten die am wenigsten begehrten Jobs eliminiert bzw. auf möglichst viele Schultern gleichmässig verteilt werden. Und vielleicht würde das sogar diese Jobs ein wenig erträglicher machen, wenn man sie nur während eines einzigen Tages pro Woche verrichten würde und niemand mehr gezwungen wäre, sie Tag für Tag bis zur Pensionierung auszuüben.

Der zweite Schritt würde in der Einführung eines generellen Mindestlohns bestehen, zum Beispiel im Umfang von 5000 Franken monatlich. Einen wesentlichen Faktor von beruflicher Unzufriedenheit bilden nämlich die gigantischen Lohnunterschiede, von denen ausgerechnet all jene betroffen sind, welche die unattraktivsten Tätigkeiten verrichten. Wie soll jemand mit seiner Berufssituation zufrieden sein, wenn er, obwohl er schwerste Arbeit verrichtet, mit ansehen muss, dass andere, die viel weniger strenge Arbeit verrichten, dennoch fünf oder zehn Mal mehr verdienen. Ein solcher Mindestlohn wäre nichts mehr als eine reine Selbstverständlichkeit und würde auf der simplen Idee beruhen, dass es für den Erfolg von Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes sämtliche berufliche Tätigkeiten braucht und dass deshalb auch alle an diesem Erfolg angemessen beteiligt werden müssen. 

Der dritte Schritt würde darin bestehen, dass die wöchentlichen Arbeitszeiten – ohne Abzug vom Lohn – in der Weise abgestuft würden, dass Jobs mit übermässiger psychischer oder körperlicher Belastung während einer geringeren Arbeitszeit ausgeübt werden müssten. Dies würde bedeuten, dass zum Beispiel ein Koch pro Woche einen Tag weniger arbeiten müsste und dennoch den vollen Lohn hätte. Dies würde freilich die Attraktivität der jeweiligen beruflichen Tätigkeiten nicht erhöhen, aber sie würde eine enorme Erleichterung mit sich bringen und den Betroffenen mehr Freizeit und Erholungsmöglichkeiten verschaffen.

Zu Recht stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie man das denn alles finanzieren könnte und woher das nötige Geld kommen sollte. Erstaunlicherweise stellt aber niemand die Frage, woher denn das viele Geld kommt, welches all jene Menschen verdienen, für die Monatslöhne von über 10’000 Franken ganz selbstverständlich sind, bis hin zu den Millionensalären der Spitzenverdiener. So lange in einem Land wie der Schweiz schon mehr Geld durch den Besitz von Aktien verdient wird als durch Arbeit, müsste eigentlich genügend Geld vorhanden sein, um anständige Mindestlöhne und innovative, menschenfreundliche Arbeitsmodelle zu verwirklichen. „Geld“, sagte der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist in Hülle und Fülle vorhanden wie Dreck, es ist nur am falschen Ort.“ Was Geissler auf Deutschland bezog, gilt für die Schweiz erst recht.

Zurück zu den drei skizzierten Schritt auf dem Weg zu jener idealen Welt, in der nicht nur ein paar wenige, sondern alle Menschen in ihrer „sinnstiftende Erfüllung“ fänden. Freilich würden diese drei Schritte noch längst nicht genügen. Denn das Grundproblem ist das kapitalistische Leistungsprinzip, wonach jeder und jede Einzelne, jedes Unternehmen und jede Branche permanent in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen, der jedes Unternehmen dazu zwingt, das Optimum aus den arbeitenden Menschen herauszuquetschen, auf Kosten ihrer Zufriedenheit, ihres Anspruchs auf lebenswerte Arbeitsbedingungen und ihrer Gesundheit. Nur eine Transformation vom Konkurrenzprinzip hin zum Prinzip der Gemeinschaft und der Kooperation kann Verhältnisse schaffen, in der „sinnstiftende“ Arbeit vollumfänglich möglich wird. Eine solche Forderung mag hier und heute utopisch oder geradezu naiv klingen. Doch letztlich ist sie weit weniger naiv als die Idee, eine Arbeitswelt, in der immer mehr Menschen in ihrer täglichen Arbeit keinen Sinn und keine Erfüllung ihres Lebens mehr finden, sei eine erfolgversprechende Voraussetzung für eine gesunde und lebenswerte Zukunft für uns alle.   

Hätte man die Anliegen und Visionen der Klimabewegung früher ernstgenommen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Autobahnen setzen und an Brückengeländern festkleben…

 

14. Oktober 2022. Eine Frau sitzt auf der Strasse. Vor ihr baut sich ein Lastwagen auf. Es ist keine junge Klimaaktivistin, sondern die 48jährige Mutter und Universitätsprofessorin Julia Steinberger, die da den Verkehr blockiert. Es ist die sechste Aktion der Kampagne Renovate Switzerland innert zehn Tagen in der Schweiz. Die Sympathisantinnen und Sympathisanten agieren stets nach dem gleichen Muster. Sie tragen orange Signalwesten, setzen sich hin, halten Plakate noch, verursachen einen Stau. Sie warten, bis Polizisten sie von der Strasse tragen und verhaften…

„Blockaden“, sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli in der „NZZ am Sonntag“ vom 16. Oktober 2022, „stellen Nötigungen und Störungen des öffentlichen Verkehrs dar. Wenn man deliktisches Handeln als Aktivismus oder zivilen Ungehorsam bezeichnet, verlässt man die Ebene des Rechts und begibt sich auf diejenige der Politik.“ Und die ETH empfiehlt ihren Angestellten, „mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen zurückhaltend zu sein, denn eine klare politische Positionierung kann Ihrer Glaubwürdigkeit als unabhängige Forscher beeinträchtigen.“

Als begänne Politik erst in dem Augenblick, wo sich jemand in einer orangen Weste auf die Strasse setzt und den Verkehr behindert. Tatsache ist doch, dass alles Politik ist. Nicht nur die Sympathisantinnen und Sympathisanten von Renovated Switzerland und ähnlichen Gruppierungen sind Aktivistinnen und Aktivisten, wir alle sind Aktivistinnen und Aktivisten, ob wir wollen oder nicht, die Frage ist nur, auf welcher Seite wir stehen – auf der Seite des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums festhält und auf dem besten Wege ist, unseren Planeten an die Wand zu fahren, oder auf der Seite jener, die immer verzweifelter dagegen ankämpfen und immer häufiger zu Methoden greifen, die an die Grenze der „Legalität“ gehen, nicht weil ihnen das so viel Spass macht, sondern weil alles, was sie vorher versucht haben, bis jetzt nichts genützt hat. Und auch all jene, die sich angesichts dieser Polarisierung in vornehmes Schweigen und Passivität hüllen, auch sie sind Aktivisten und Aktivistinnen, ob sie wollen oder nicht. Denn auch Schweigen ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für die Beibehaltung des bestehenden Macht- und Denksystems und dass sich daran nur ja nichts grundlegend ändern soll. Denn, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sagt: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Und auch der deutsche Schriftsteller Erich Kästner kam zum gleichen Schluss: „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur jene Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.“

Das führt uns zur Frage, was denn „legal“ und was „illegal“ sei. Ist es „legal“, so viele Rohstoffe zu verschleudern und so viel CO2 in die Luft zu blasen, dass schon in wenigen Jahrzehnten halbe Erdteile unbewohnbar sein werden? Ist es „illegal“, sich in einer orangen Weste auf eine Strasse zu setzen und friedlich gegen die unaufhörlich wachsenden Verkehrslawinen zu protestieren? Oder ist es möglicherweise genau umgekehrt? „Falsch“, sagte Leo Tolstoi, „hört nicht auf, falsch zu sein, weil die Mehrheit daran beteiligt ist.“ „Normales“ – im Sinne dessen, was die überwiegende Mehrheit der Menschen tun und denken – und „Legales“ – im Sinne übergeordneter Menschenrechte – brauchen ganz und gar nicht identisch zu sein. So heisst es zum Beispiel im Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung: „Die schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.“ Und im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht sogar: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Versagt der Staat in dieser existenziellen Verpflichtung, dann müsste man doch wenigstens sämtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Klima- und Umweltbewegungen das Recht zugestehen, genau das zu praktizieren, was in der Verfassung des Staates steht, aber von eben diesem Staat missachtet und versäumt wird.

„Wo Unrecht zu Recht wird“, sagte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, „wird Widerstand zur Pflicht.“ Es ist schon interessant. Täglich verfolgen wir gegenwärtig die Geschehnisse im Iran, wo Mädchen und Frauen unter Lebensgefahr auf die Strassen gehen und gegen das frauenfeindliche Regime der Mullahs protestieren. Und unsere Sympathien sind ungeteilt auf der Seite dieser mutigen und so starken Bewegung. Auch all jene russischen Männer, die sich der von Putin angeordneten Mobilmachung verweigern, geniessen unsere Sympathie. Wenn aber junge Frauen und Männer hierzulande auf die Strasse gehen, um gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen anzukämpfen, begegnen wir ihnen mit Ablehnung und mit der moralischen Belehrung, sie hätten sich gefälligst an unsere demokratischen Spielregeln zu halten. Fällt es uns so viel schwerer, Demokratie im eigenen Land zu praktizieren, als demokratischen Bewegungen in anderen Ländern zuzujubeln?

Unkonventionelles, Störendes, „Illegales“, Widerspenstiges sollte doch nicht in allererster Linie dazu da sein, im Namen falsch verstandener „Legalität“ bekämpft und an den Pranger gestellt zu werden, sondern müsste im Gegenteil dazu dienen, die Gesellschaft permanent von innen her zu erneuern. So viele Eltern berichten davon, wie viel sie von ihren Kindern gelernt hätten, durch ihre offenen, kritischen, unbequemen und ehrlichen Fragen, ihrem Widerstand, dem Durchbrechen von Normen. Genau das wäre doch die Aufgabe einer Gesellschaft als Ganzes, denn nicht der blinde Gehorsam bringt die Menschen voran, sondern der Ungehorsam, der alles immer wieder von Neuem in Frage stellt. Hätte man den Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung schon vor drei oder vier Jahren aufmerksamer zugehört, hätte man sie ernstgenommen, wäre man auf ihre wunderbaren Visionen einer friedlichen und lebenswerten Zukunft eingegangen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Strassen setzen und an Brückengeländern festkleben und warten, bis sie von der Polizei weggetragen werden und alle mit den Fingern auf sie zeigen…

Keine US-Mikrochips nach China: „Eine Strangulierung mit der Absicht zu töten“…

 

„Der Handel mit China wird zur Waffe“, titelt das schweizerische „Tagblatt“ am 15. Oktober 2022. Es geht um die massive Beschränkung der Exporte von Superchips aus den USA nach China. Dies, so der Ökonomienobelpreisträger Paul Krugman, sei die „derzeit grösste geopolitische Story: das harte Vorgehen gegen die chinesische Halbleiterindustrie.“ Und das „Center for Strategic and International Studies“ meint, Biden bezwecke die „Strangulierung grosser Teile der chinesischen Technologieindustrie, eine Strangulierung mit der Absicht zu töten.“ Das sieht auch der EU-Chefdiplomat Josep Borrell nicht anders: Die Welt, die gerade entstehe, so Borrell, werde geprägt durch die strategische Rivalität zwischen den USA und China, es sei „eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird, alles: Energie, Investitionen, Informationen oder Migrationsströme.“

Handel als Waffe. Den Konkurrenten strangulieren. Ihn töten. Eine Welt des Wettbewerbs, in der alles zur Waffe wird. Unwillkürlich erinnert man sich bei diesen Worten an eine Aussage der deutschen Aussenministerin Analena Baerbock, die unlängst erklärte, Ziel müsste es sein, die russische Wirtschaft zu „ruinieren“. Doch was bleibt am Ende übrig, wenn sich alle gegenseitig stranguliert und ruiniert haben, sei es mit Bomben, Raketen und Panzern, sei es mit den „friedlichen“ Mitteln von Handel, Wirtschaft und Wettbewerb?

Eine Wirtschaft, die dazu dient, andere zu strangulieren und zu ruinieren, ist so ziemlich die äusserste und letzte Perversion, die dem „Homo sapiens“ in den Sinn kommen kann. Jedes Eichhörnchen, das im Sommer Nüsse sammelt, um im Winter einen genug grossen Vorrat zu haben, versteht mehr von Wirtschaft als Politikerinnen und Wirtschaftsführer, die ökonomisches Handeln dafür missbrauchen, anderen Schaden zuzufügen und die Existenzgrundlage anderer Menschen, Völker oder Staaten zu zerstören. Wirtschaft hätte keine andere Aufgabe, als jedem Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Sicherheit und Wohlergehen zu gewährleisten, ohne übertriebenen Reichtum und ohne übertriebene Armut und im Einklang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, so dass dieses Wohlergehen auch für alle kommenden Generationen gewährleistet ist. Was jedes Land aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften kann, soll es aus eigener Kraft produzieren und erwirtschaften, nicht zuletzt, um die Transportwege für die Güter möglichst kurz zu halten. Was ein Land aus eigener Kraft nicht zu produzieren und zu erwirtschaften vermag, soll zwischen den Ländern in gegenseitigem Einvernehmen und zu fairen Preisen ausgetauscht werden. Fairer Handel bei gleichzeitig grösstmöglicher Sparsamkeit zwecks Schonung der natürlichen Ressourcen müsste die Devise sein. Dies wäre das Gegenteil des heute weltweit herrschenden Wachstumszwangs, der alle Länder in einen zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt und ausgerechnet jene Länder mit einem hohen Bruttosozialprodukt und einem überdurchschnittlichen Lebensstandard belohnt, denen es am besten und am skrupellosesten gelingt, andere für sich auszubeuten und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Unbegreiflich. Was an Liebe, Solidarität, Teilen und gegenseitiger Anteilnahme in jeder Familie und jeder Freundschaft, ob in Brasilien, im Kongo, in Portugal oder in Vietnam, selbstverständlich ist, wird von denen, die in Politik und Wirtschaft weltweit das grosse Sagen haben, Tag für Tag mit Füssen getreten und ins Gegenteil verkehrt. Die ganz „gewöhnlichen“ Menschen beherrschen das Handwerk der Liebe. Weshalb soll das, was sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen so sehr bewährt hat, nicht auch Massstab sein für die ganz grossen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten und Völkern? „Es wird“, sagte Papst Franziskus, „in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.“

Eigentlich wäre es schon mehr als höchste Zeit. Denn die grossen Bedrohungen unserer Zeit von der sozialen Ungerechtigkeit über den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte bis hin zum Klimawandel lassen sich schon längst nicht mehr in der Weise lösen, dass jedes Land auf eigene Weise vorgeht. „Was alle angeht“, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“ Wenn wir nicht endlich die Grenzen zwischen den Ländern und Völkern und die Grenzen in unseren Köpfen überwinden, dann wird das für die Zukunft der Menschheit wenig Gutes verheissen. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder als Narren miteinander untergehen.“

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Hautfarbe – aber von der Diskriminierung der Werktätigen spricht niemand…

 

90 Organisationen und Vereine beteiligten sich am 18. Juni 2022 an der Zurich Pride, rund 40’000 Menschen waren gekommen um mitzumachen und weit über Zürich hinaus ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, das dieses Jahr den Fokus auf die rechtliche Situation und die Herausforderungen von Trans-Menschen legte. Es sei an der Zeit, so die Organisatorinnen und Organisatoren, dass lesbische, schwule, bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen auch Trans-Menschen unterstützten, denn gerade sie erlebten häufig dann, wenn sie ihre Identität offenbarten, Ablehnung aus der Familie, dem Arbeitsumfeld und der Gesellschaft.

LGTBQ-Aktivistinnen und -Aktivisten kämpfen für die gesellschaftliche Gleichstellung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten. Frauen setzen sich für Lohngleichheit und gegen Benachteiligungen bei der Altersvorsorge ein. Menschenrechtsorganisationen engagieren sich für die Rechte von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Andere prangern die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Alters oder ihres Gesundheitszustandes an. Sie alle kämpfen gegen Diskriminierungen aller Art, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Und das weltweit, denken wir nur an die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA oder, ganz aktuell, an die Protestbewegung iranischer Mädchen und Frauen gegen jegliche Bevormundung und Unterdrückung durch das Mullah-Regime. Eigentlich müssten alle diese Kämpfe längst überflüssig sein, denn schon 1948 wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten: „Alle Menschen haben die gleichen Rechte ohne Unterschied, unabhängig von der ethischen Zugehörigkeit, der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion, des Alters und des Gesundheitszustands.“ Fast 75 Jahre also haben nicht genügt, um dieses so selbstverständliche Ziel zu verwirklichen – umso dringender nötig alle heutigen Bestrebungen, um diesem grundlegenden Recht aller Menschen auf Gleichberechtigung ohne jegliche Diskriminierung doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.

Und doch wären wir auch dann noch immer nicht ganz am Ziel. Denn interessanterweise wird neben der Diskriminierung der Frauen, der Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft oder anderer sexueller Orientierung eine mindestens so weit verbreitete Form von Diskriminierung ganz besonderer Art kaum je thematisiert. Ich meine die Diskriminierung der Werktätigen. Offensichtlich haben wir uns an diese Form der Diskriminierung so sehr gewöhnt, dass sie uns gar nicht mehr besonders stört. Gewiss, es gibt die Gewerkschaften, die sich für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen stark machen. Aber die sprechen kaum je von Diskriminierung, so wie man etwa im Zusammenhang mit Frauen von Diskriminierung spricht.

Und doch ist es Diskriminierung. Und was für eine. Wenn Menschen, die bei Wind und Wetter schwerste körperliche Arbeit verrichten, nur einen Bruchteil jenes Lohnes bekommen, dessen sich andere erfreuen, die behaglich in einem gut geheizten oder klimatisierten Büro sitzen, und wenn im gleichen Land, so wie das beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, die höchsten Einkommen 300 Mal höher sind als die niedrigsten, dann soll das nicht Diskriminierung sein? Was denn sonst? Dass in diesem Zusammenhang kaum je von Diskriminierung gesprochen wird, hat mit mindestens drei Glaubenssätzen zu tun, die sich tief in unser Denken und die öffentliche Wahrnehmung eingefressen haben. Der erste Glaubenssatz lautet: Lohnunterschiede, auch wenn sie noch so hoch sind, lassen sich stets logisch erklären und rechtfertigen. Dieser Glaubenssatz lässt sich durch nahezu jedes Lohnbeispiel auf einen Schlag widerlegen, sind es doch gerade die am schwersten Arbeitenden, die sich mit den niedrigsten Löhnen zufrieden geben müssen. Der zweite Glaubenssatz lautet, dass die schulische Selektion, welche dazu führt, dass das eine Kind später einmal als Bauarbeiter tätig sein wird, das zweite als Floristin und das dritte als Bankdirektor, etwas „Gerechtes“ sei, weil ja bloss die Kinder aufgrund ihrer Begabungen, Stärken und Fähigkeiten ihren zukünftigen Berufswegen zugeteilt würden. Tatsache ist, dass gewisse Begabungen wie Rechnen, Lesen und Schreiben die Türen für eine goldene Zukunft weit öffnen, während diese Türen für jene Kinder, die beispielsweise über viel Phantasie, viel Mitgefühl für Mitmenschen oder überdurchschnittlich grosse Kraft verfügen, auf Nimmerwiedersehen zugeschlagen werden. Ist das nicht eine der schlimmsten Formen von Diskriminierung? Dass angeborene Fähigkeiten und Begabungen dafür missbraucht werden, den zukünftigen Platz auf der Gesellschaftspyramide zu begründen? Der dritte Glaubenssatz lautet: Wer sich genug anstrenge, werde auch Erfolg haben, wer daher keinen Erfolg habe, hätte sich halt zu wenig anstrengt. Tatsache ist, dass das schulische Selektionssystem so angelegt ist, dass stets nur ein Teil der Kinder auf die „obersten“ Plätze gelangen können, ganz unabhängig davon, wie sehr sich die Kinder anstrengen. Eine besonders schlimme Form von Diskriminierung, drückt sie dem Kind, das schon mit dem schulischen Misserfolg fertig werden muss, zusätzlich noch den Stempel auf, es sei selber daran Schuld.

Eine gravierende Form von Diskriminierung erleben auch all jene Menschen, die als „Ausländerinnen“ und „Ausländer“ in unser Land kommen und infolge mangelnder Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen mit Jobs auf den untersten Rängen der Arbeitswelt Vorlieb nehmen müssen. Die Diskriminierung liegt nicht nur darin, dass ihnen Jobs auf den höheren Rängen der Gesellschaftspyramide verwehrt sind, sondern darin, dass sie weit geringer entlohnt sind und weit weniger gesellschaftliche Wertschätzung erfahren als andere, obwohl sie eine so wichtige Arbeitsleistung erbringen, dass ohne sie die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt nicht einen Tag lang funktionieren würde.

Höchste Zeit, eine Brücke zu schlagen von der bisherigen Diskriminierungsdiskussion hin zur Diskussion über alle jene gravierenden Ungleichheiten und Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Arbeitswelt, die weit von jeglichen Menschenrechten und von jeglicher Gleichberechtigung entfernt ist, die uns in Zusammenhang mit Frauenrechten, Rechten von Menschen unterschiedlicher Sexualidentitäten oder anderer Hautfarbe als selbstverständlich erscheinen. Anders gesagt: Erst eine Auflösung der kapitalistischen Klassengesellschaft auf allen Ebenen und damit ein Ende des Kapitalismus vermag der Diskriminierung auf sämtlichen Ebenen der Gesellschaft und der Arbeitswelt ein Ende bereiten. 

Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen.

 

Gemäss einer in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 30. August 2022 veröffentlichten Umfrage halten es 87 Prozent der Deutschen für richtig, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen. 77 Prozent sind der Meinung, dass der Westen Verhandlungen über eine Beendigung des Ukrainekriegs anstossen sollte. Und 62 Prozent finden es falsch, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Ich bin mir fast ganz sicher, dass eine entsprechende Umfrage, würde man sie in anderen Ländern durchführen, ganz ähnliche Resultate erbringen würde. Doch eigentlich bräuchte es nicht einmal gross angelegte Umfragen: Schon der gesunde Menschenverstand würde genügen, um zu wissen, dass du Menschen an jedem beliebigen Ort in jedem beliebigen Land fragen kannst, mit aller grösster Gewissheit würde die überwiegende Mehrheit zur Antwort geben, dass sie lieber im Frieden als im Krieg leben würden. Doch dessen ungeachtet wüten derzeit weltweit über vierzig Kriege und einer davon droht sich im aller schlimmsten Fall zu einem dritten Weltkrieg auszuweiten. Wie ist das möglich, dass die Sehnsucht der überwiegenden Mehrheit aller Menschen und die Realität so weit auseinanderklaffen?

Wenn wir unser Augenmerk auf den Ukrainekrieg richten, dann könnten wir obige Frage vielleicht damit beantworten, dass in einem so autokratisch regierten Land wie Russland die Meinung der Bevölkerung sowieso keine Rolle spiele und eine kleine Machtelite über die Köpfe der Menschen hinweg eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik betreibe. Doch damit würden wir es uns wohl zu einfach machen. Denn auch westliche Länder, allen voran die USA, betreiben seit Jahrzehnten eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik, vom Vietnamkrieg über den Irakkrieg bis zur Osterweiterung der NATO, welche massgeblich zum Ausbruch des Ukrainekriegs beigetragen hat. 

Nein, die Ursachen für das Auseinanderklaffen zwischen der Friedenssehnsucht der allermeisten Menschen und der Tatsache, dass es im Verlauf der neueren Geschichte der Menschheit wohl noch nie eine Zeit ohne Kriege gegeben hat, liegt tiefer. Ich vermute, es hat etwas zu tun mit den Mechanismen der Selektion, die darüber entscheidet, welche Menschen in einer Gesellschaft, auch in einer grundsätzlich demokratischen, in die höheren Positionen und damit an die Schalthebel von Wirtschaft und Politik gelangen. Es sind eben nicht die besonders sanftmütigen, sensiblen, feinfühligen, rücksichtsvollen, hilfsbereiten Menschen, die sich im Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg erfolgreich behaupten, sondern die selbstbewussten, ehrgeizigen, vor allem auf den eigenen Erfolg und das eigene Vorwärtskommen bedachten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sämtliche Politikerinnen und Politiker gefühllos, machtgierig und auf den eigenen Erfolg bedacht sind, aber der Anteil „machtgieriger“ Menschen ist unter Politikern und Politikerinnen zweifellos weitaus grösser als in der Gesamtbevölkerung.

Wenn erst einmal die Machtgierigsten in die höchsten Positionen gelangen, dann wird es brandgefährlich. Denn von der Macht um jeden Preis bis zum Krieg um jeden Preis ist nur noch ein kleiner Schritt. Putin und alle seine Atombomben schwingenden Hintermänner, Selenski und sein mehrheitlich nationalistisches und russenfeindliches Parlament, Biden mit der US-Rüstungsindustrie und massiven wirtschaftlichen Grossmachtinteressen im Hintergrund – man könnte schon sagen: Wehe, wenn sie losgelassen. Dass am Ende in der Hand einer kleinen Minderheit Wildgewordener das Schicksal der gesamten Menschheit liegt, welche sich nichts sehnlicher wünscht als ein gutes Leben in Frieden für alle, ist eine grenzenlose, unsägliche Verachtung all dessen, was Humanität bedeuten könnte und müsste.

Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen. Die Kriegsführer hüben und drüben sind sich viel ähnlicher, als ihnen lieb sein mag. Gegenseitige Drohgebärden, Aufrüstung, Mobilisierung, Eskalation, Vergeltung, Rache, Abschreckung durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen – beide Seiten bedienen sich des exakt gleichen Vokabulars, der exakt gleichen Logik, hantieren mit dem gleichen Arsenal, als wären sie gegenseitige Spiegelbilder. Da kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, ob man nicht am besten Putin, Selenski, Biden und alle anderen Kriegstreiber und Scharfmacher in einen Boxring schicken sollte, wo sie dann ihren finalen Kampf austragen könnten – und der Rest der Menschheit endlich in Frieden weiterleben könnte.

Wenn es tatsächlich so wäre, dass durch eine „falsche“ Selektion die „falschen“ Leute an die Schalthebel der Macht gelangen bis hin zur Schaltzentrale über Krieg und Frieden bis hin zur Schaltzentrale über die Vernichtung oder das Weiterleben der Menschheit, dann gäbe es darauf eigentlich nur eine einzige Antwort: Es braucht einen Aufstand der Sanftmütigen, der Sensiblen, der Hilfsbereiten, der Feinfühligen, der Fürsorglichen. „Jene, die den Frieden wollen“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg wollen.“ Und auch der amerikanische Schriftsteller William Faulkner appellierte an die Friedfertigen und Sanftmütigen: „Scheut auch nicht, eure Stimme für Ehrlichkeit und Wahrheit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben. Wenn die Menschen auf der ganzen Welt dies täten, würde das die Erde tiefgreifend verändern.“ Eine tiefgreifende Veränderung, die nicht nur dem Krieg ein Ende bereiten würde, sondern auch der Anfang wäre eines neuen Zeitalters sozialer Gerechtigkeit, respektvollen Umgangs mit der Natur und eines guten Lebens für alle…

Die „NZZ“ und der Ukrainekrieg: Betreiben heutige Journalisten keine Recherchen mehr, bevor sie etwas in die Zeitung schreiben?

 

„Der Krieg in der Ukraine“, so schreibt Markus Bernath in der „NZZ am Sonntag“ vom 9. Oktober 2022, „hat die Nato und ihre Mitglieder wieder zur Besinnung gebracht. Allen ist jetzt bewusst, welche Aufgabe die atlantische Allianz erfüllt: die Sicherheit ihrer Länder gegen einen Aggressor wie Russland verteidigen, gemeinsam die Ukraine unterstützen. Auch die Uno hat die Chance, erneuert und gestärkt aus dem Ukrainekrieg hervorzugehen, diesem schwersten Bruch von internationalem Recht seit Hitlers Eroberungskriegen.“

Betreiben heutige Journalisten keine Recherchen mehr, bevor sie etwas in die Zeitung schreiben? Kann sich der Autor des Artikels tatsächlich nicht mehr an den anfangs 2003 von den USA angezettelten Krieg gegen den Irak erinnern, dem über eine halbe Million von Menschen zum Opfer fielen? Claus Kress, Direktor des Instituts für internationales Strafrecht an der Universität Köln, beurteilt den Irakkrieg wie folgt: „Der Einsatz der Koalition der Willigen im Irakkrieg war nach meiner Überzeugung, die von sehr vielen Völkerrechtlern geteilt wird, völkerrechtswidrig. Dass dennoch keine Sanktionen gegen die USA und die mit ihnen Verbündeten verhängt wurden, hat damit zu tun, dass es völkerrechtlich nicht ohne weiteres möglich ist, gegen den derzeit mächtigsten Staat der Welt mit Sanktionen zu reagieren, die man sich wünschen würde. Denn die Vereinigten Staaten gehören zu den fünf grossen Mächten, die im Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügen, mit dem sie eine Entscheidung des Rats insbesondere in einem heiklen Konflikt, der sie selber betrifft, verhindern können.“ Und auf Wikipedia lesen wir: „Der Irakkrieg gilt bei den meisten Völkerrechtlern und Historikern wegen dem fehlenden UN-Mandat als völkerrechtswidriger, illegaler Angriffskrieg. Akteure aller Seiten verübten im Kriegsverlauf und während der folgenden Besetzung des Irak Kriegsverbrechen an Soldaten und Zivilpersonen.“ Damit nicht genug: Der Irakkrieg ist nur einer von 44 Militärschlägen, die von den USA seit 1945 verübt wurden, die meisten von ihnen völkerrechtswidrig, Militäranschläge sowie verdeckte Operationen, die insgesamt über 50 Millionen Todesopfer forderten. Allein der Vietnamkrieg zwischen 1960 und 1975, in dem die vietnamesische Bevölkerung unter entsetzlichen Gräueltaten zu leiden hatte, wird wohl als eines der verheerendsten Beispiele von Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen.

Wie kann es sein, dass dies alles vergessen wird und auf einmal nur Russland als alleiniger und schlimmster Übeltäter dasteht? Die Erklärung ist einfach: Nicht die Wahrheit, sondern die Macht der Mächtigen dominiert die öffentliche Meinung. Wie Claus Kress so treffend sagt: Sanktionen, die als Antwort auf den völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak mehr als gerechtfertigt gewesen wären, wurden nicht ergriffen, weil die USA der „mächtigste Staat der Welt“ sind. Es wäre auch niemandem in den Sinn gekommen, über US-Bürgerinnen und US-Bürger Einreiseverbote zu verhängen oder Auftritte von amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern auf europäischen Konzert- und Theaterbühnen zu verbieten – während all dies heutzutage im Umgang mit Russinnen und Russen geradezu selbstverständlich ist. Wie sehr das Recht des Stärkeren schon längst an die Stelle allgemeingültiger Menschenrechte getreten ist, zeigte nicht zuletzt Donald Trump in seinem Wahlkampf für die US-Präsidentschaftswahlen 2016, als er prahlte, er könnte jederzeit auf die Strasse gehen und eine x-beliebige Person erschiessen und würde dennoch zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Man stelle sich einmal vor, Wladimir Putin würde so etwas sagen! Das Recht des Stärkeren zeigt sich auch darin, wie mit „Kriegsverbrechern“ und anderen „Übeltätern“ umgegangen wird: Während Milosevic und Karadzic vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag landeten und sowohl Gaddafi wie auch Bin Laden zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, sah sich keiner all jener US-Präsidenten, die für völkerrechtswidrige Angriffskriege, Kriegsverbrechen oder die Anwendung von Foltermethoden verantwortlich waren, jemals mit einer Anklage oder einer Bestrafung konfrontiert, im Gegenteil, alle von ihnen geniessen nach wie vor höchstes Ansehen.

Damit soll nicht gesagt sein, die russische Invasion in die Ukraine sei nicht deutlich und klar zu verurteilen. Aber man braucht doch nicht deswegen gleich die ganze Geschichte auf den Kopf zu stellen. Wer all die Verbrechen, die im Namen des US-Imperialismus begangen wurden, einfach verleugnet und verschweigt, macht sich die Sache allzu einfach. Auch und gerade in den westlichen, demokratischen Ländern dürfen die Medien auf keinen Fall bloss zu Sprachrohren der Starken und Mächtigen werden. Sie sollten in allererster Linie seriöser Wahrheitsfindung dienen, dem Hinterfragen bestehender Feindbilder, dem Bau von Brücken zwischen unterschiedlichen Meinungen und dürften nie und auf keinen Fall die historischen Zusammenhänge aus den Augen verlieren. 

Ukraine: Es gibt noch eine andere Seite der Wahrheit…

 

Selten genug sind in der westlichen Presse Berichte, die von der üblichen Sichtweise – hier die „gute“ Ukraine, dort die „bösen“ Russen – abweichen. Einer von ihnen stammt vom Kriegsreporter Kurt Pelda, erschienen im schweizerischen „Tagblatt“ vom 8. Oktober 2022. Pelda zeigt, dass es neben der offiziellen „Wahrheit“, die uns täglich von den Medien vermittelt wird, auch noch eine andere Wahrheit gibt.

„Nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner der von der Ukraine zurückeroberten Gebiete sind erfreut, wieder unter Kiewer Herrschaft zu leben“, schreibt Pelda und erzählt von Waleri, 80 Jahre alt, einem früheren Schuldirektor. Beim ukrainischen Angriff auf sein Dorf hätte eine Rakete den Keller getroffen, in dem sich seine Frau verbarrikadiert hatte. Von seiner Frau habe er nicht mehr viel vorgefunden, ihre Arme hätten gefehlt, sein Leben habe jetzt keinen Sinn mehr. So also sieht das aus, was in der Regel von den gängigen Medien als „Befreiung“ gefeiert wird.

Unter den Menschen in einem von ukrainischem Militär „befreiten“ Dorf, so berichtet Pelda weiter, gäbe es zahlreiche Anhänger Russlands, die „kein gutes Haar am ukrainischen Staat lassen.“ Unwillkürlich kommen einem die Volksbefragungen in den Sinn, welche Russland in vier ostukrainischen Regionen durchgeführt hat und die allesamt von den westlichen Medien als „Scheinreferenden“ abqualifiziert worden sind. Wie viele westliche Journalisten waren, so wie Pelda, tatsächlich in diesen Gebieten und wie viele von ihnen haben die Bevölkerung gefragt, was sie tatsächlich von einer Staatszugehörigkeit zu Russland halten? Wenn man sich vergegenwärtigt, wie rigoros der ukrainische Staat gegen die russischsprachige Minderheit vorgeht, ihnen das Ukrainische als Amtssprache aufzwingt und sie zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse degradiert, dann würde es einen nicht wundern, wenn tatsächlich zahlreiche Menschen in den betroffenen Gebieten in den „Scheinreferenden“ einem Anschluss an Russland zugestimmt hätten. Auch Pelda stellte fest, dass es unter jenen schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung, die nicht geflüchtet seien, „einen erheblichen Anteil von Russlandfans“ gäbe. 

Sergej, der Wächter auf dem Markt von Bachnut, hätte, so Pelda, berichtet, dass über dem Markt Streubomben abgeworfen worden seien. Sergej hätte den Angriff mit seinem Mobiltelefon gefilmt. Später seien ukrainische Soldaten gekommen und hätten ihn gezwungen, die Videos zu löschen. Nun hoffe er, dass die Russen so bald wie möglich wieder zurückkommen würden, um ihn zu „befreien“. Streubomben auf einem Markt? Erinnert das nicht an die mutmasslichen Massaker von Butscha und Isjum? Nur dass jene von den „bösen“ Russen begangen wurden und dieses von den „guten“ Ukrainern…

Pelda beweist, dass Berichterstattung über den Ukrainekrieg auch anders möglich wäre und dass es nicht nur eine einzige Wahrheit gibt, sondern mindestens noch eine zweite. Dadurch, dass Pelda sich in die Kriegsgebiete wagt, mit den Menschen spricht und ihre Befindlichkeit ernst nimmt, wird er für uns alle zum Vorbild, einmal gefasste Meinungen immer wieder gründlich zu hinterfragen und uns nicht mit vermeintlichen „Wahrheiten“, die nur die eine Seite des Konflikts beleuchten, vorschnell zufriedenzugeben.

Ukraine: Ein Apartheidregime mitten in Europa – und alle schauen weg…

 

Am 16. Juli 2019 trat in der Ukraine, wie die deutsche „Tageszeitung“ berichtete, ein neues Sprachengesetz in Kraft. Demzufolge muss die ukrainische Sprache im Fernsehen und in Kinofilmen, in Buchverlagen sowie im Tourismus und bei Stadtführungen benützt werden. Überregionale Zeitungen dürfen nur noch in ukrainischer Sprache erscheinen. Beamte und Kandidatinnen für Staatsämter, der Premierminister, die Parlamentsvorsitzende und ihre Stellvertreter, Minister, Leiterinnen aller zentralen Behörden, Rechtsanwältinnen und Notare, Ärzte, das Management von staatlichen und kommunalen Unternehmen, Lehrerinnen, Militärs, Sportlerinnen, Künstler und Personen, welche die Staatsbürgerschaft erwerben möchten – sie alle müssen fliessend Ukrainisch sprechen können, wenn nicht, bleibt ihnen der Zugang zu allen diesen Ämtern und Funktionen verwehrt. Besonders hart betroffen sind Künstlerinnen und Wissenschaftler, deren Tätigkeitsfelder durch das Sprachengesetz stark eingeschränkt werden. Zudem dürfen öffentliche Reden nur auf Ukrainisch gehalten werden. In Geschäften, Supermärkten, Apotheken, Banken und Restaurants müssen die Mitarbeitenden auf Ukrainisch antworten, wenn sie auf Ukrainisch angesprochen werden. Verstösse gegen das Sprachengesetz werden, je nach der Schwere des „Vergehens“ mit kleineren oder grösseren Geldbussen geahndet. Wer einen politischen Versuch unternimmt, in der Ukraine eine offizielle Mehrsprachigkeit einzuführen, dem droht eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren. „Die ukrainische Sprache“, so Wolodymir Selenski, „ist die einzige Staatssprache in der Ukraine. So war es, so ist es und so wird es bleiben.“ Dabei geht es nicht nur um die Alltagssprache, betroffen sind auch die Musik und die Literatur: Ab sofort dürfen Werke russischer Komponisten und Komponistinnen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Auch der Import und die Verbreitung von Büchern und anderen Printmedien aus Russland, Belarus und den russisch besetzten Gebieten sind seit anfangs 2022 komplett verboten. Mehr als 100 Millionen Bücher wurden aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt, unter anderem Leo Tolstois mehrfach verfilmtes Meisterwerk „Krieg und Frieden“, aber auch Kinderbücher, Liebes- und Kriminalromane.

Von alledem ist ist den westlichen Mainstreammedien kaum je etwas zu hören. Selbstverständlich kann die Unterdrückung der russischen Sprache und Kultur in der Ukraine längst nicht den Einmarsch russischer Truppen rechtfertigen, doch der Umgang des ukrainischen Staates mit seiner russischsprachigen Minderheit von immerhin 30 Prozent der Bevölkerung relativiert doch ganz erheblich das Bild jenes vorbildlichen, demokratischen Musterknaben, welches im Westen so gerne verbreitet wird. Im Gegenteil sieht man sich nachgerade in Zustände zur Zeit der Sowjetunion versetzt, nur dass es dazumal genau umgekehrt war: 70 Jahre lang galt das Russische als alleinige Amtssprache in der Ukraine, die Regierung, Schulen und Unternehmungen waren verpflichtet, ausschliesslich die russische Sprache zu verwenden. Doch kann man ein Unrecht mit einem anderen gutmachen? Soll die Ukraine Ungerechtigkeiten vergangener Zeiten blindlings wiederholen, bloss mit umgekehrten Vorzeichen? Der Angriff auf Sprache und Kultur einer Minderheit der Bevölkerung, die Spaltung der Menschen in eine erste und eine zweite Klasse mit unterschiedlichen Rechten sowie unterschiedlichen beruflichen und politischen Aufstiegsmöglichkeiten, dies alles ist doch ein unverzeihlicher, durch nichts zu rechtfertigender Angriff auf Millionen von Menschen und ihren legitimen Anspruch auf Gleichberechtigung, ein Angriff auf ihr ureigenes Selbstverständnis, auf ihre Identität und auf ihre kulturellen Wurzeln. Denn, wie es der deutsche Schriftsteller und Historiker Felix Dahn sagte: „Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache.“ 

Man stelle sich vor: Das schweizerische Parlament würde beschliessen, Deutsch als einzige Amtssprache schweizweit durchzusetzen. Politikerinnen und Politiker, Lehrerinnen und Ärzte in der Westschweiz und im Tessin dürften nur noch Deutsch sprechen. Alle literarischen Werke französisch- und italienischsprachiger Autorinnen und Autoren würden aus den Bibliotheken entfernt. Alle kantonalen Gesetze müssten ins Deutsche übertragen werden. Sämtliche Zeitungen würden nur noch in deutscher Sprache erscheinen, am Radio und Fernsehen würde nur noch Deutsch gesprochen… 

Wir erinnern uns an den weltweiten Aufschrei und die Wirtschaftssanktionen gegen das Apartheidregime der südafrikanischen Regierung in den Neunzigerjahren. Weshalb hüllt sich die gleiche westliche Welt angesichts der heutigen Apartheidpolitik der Ukraine in so gänzlich unbegreifliches Schweigen? Vielleicht, weil es das Bild von der „guten“ Ukraine und dem „bösen“ Russland zu sehr stören würde?

Elon Musks Friedensplan für die Ukraine: Die richtige Idee zur richtigen Zeit

 

Kürzlich hat der Unternehmer Elon Musk einen eigenen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, mit folgenden Punkten: Erstens sollen die Abstimmungen in den von Russland annektierten Regionen unter UNO-Aufsicht wiederholt werden. So würde das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen gewahrt und Russland müsste, je nach Ausgang der Abstimmungen, diese Gebiete wieder räumen. Zweitens solle die Krim formell Teil Russlands werden. Drittens müsste die Wasserversorgung der Krim gesichert werden. Und viertens müsste die Ukraine ein neutraler Staat bleiben. Nüchtern betrachtet, ist den Vorschlägen Musks wohl wenig entgegenzusetzen, zumindest könnten sie eine brauchbare Grundlage bilden für Friedensverhandlungen, die angesichts der aktuell so verfahrenen und gefährlichen Lage dringendst nötig wären. Doch die Reaktionen der Kriegsparteien geben wenig Anlass zu Hoffnung: Russland findet Musks Friedensplan immerhin „positiv“, lehnt ihn aber dennoch ab. Selenski fragt seine Follower: „Welchen Elon Musik mögt ihr mehr, einen, der die Ukraine unterstützt, oder einen, der Russland unterstützt?“ Und Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, twittert: „Verpiss dich, das ist meine sehr diplomatische Antwort.“

Wer nun denkt, dass wenigstens unabhängige westliche Medien dem Friedensplan von Elon Musk eher zugeneigt sein könnten, sieht sich auch darin schnell getäuscht. Die „NZZ“ vom 5. Oktober schreibt, Musks Friedensplan könne man nur „im allerbesten Fall als naiv bezeichnen.“ Und der „Tagesanzeiger“ bezeichnet Musk im Zusammenhang mit seinem Friedensplan als „Troubleshooter vor dem Herrn“ und weist darauf hin, dass Musk schon einmal „seinen eigenen Klogang gewittert hat“ – als ob das auch nur im Entferntesten etwas mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hätte. Weiter feure Musk auf Twitter „immer wieder polemische Äusserungen ab.“ Kurz: Was der Mann in die Welt hinausposaune, sei nicht wirklich ernst zu nehmen.

Was für eine verrückte Welt. Während Berichte über den Kriegsverlauf, über Massaker und über Wirtschaftssanktionen seitenlange mediale Beachtung finden, werden Aufrufe zu Friedensverhandlungen und ein Ende des Kriegs ins Lächerliche gezogen, mundtot gemacht oder totgeschwiegen. Sahra Wagenknecht, eine der führenden Repräsentantinnen der deutschen Friedensbewegung, wird in Talkshows von ihren Gegnerinnen und Gegnern, für die es keine andere Lösung gibt als den Krieg bis zum bitteren Ende, jeweils dermassen polemisch und respektlos attackiert, dass man sich wundern muss, dass sie an solchen „Gesprächen“ überhaupt noch teilnimmt. Die Friedensbotschaften von Papst Franziskus und sein dringender Appell, den Krieg unverzüglich zu beenden, verhallen ungehört. Und von der Friedensinitiative des Dalai Lama, für die weltweit immerhin über eine Millionen Stimmen gesammelt wurden, war weder in einer Zeitung, noch im Fernsehen oder auf einem der grossen Internetportale jemals auch nur ein einziges Wort zu hören.

Eine verrückte Welt. In der es normal geworden ist, Vorschläge für eine Friedenslösung als „naiv“, „unrealistisch“ oder gar „absurd“ abzutun, während das einzig wirklich Absurde doch dieser Krieg ist, der am Ende keine Gewinner kennt, nur Verlierer und endlose, sinnlose Zerstörung. Eine verrückte Welt, in der viel zu viele Menschen offensichtlich schon so viel Krieg im Kopf haben, dass der Frieden darin gar keinen Platz mehr findet. „Probleme“, sagte Albert Einstein, „lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wenn alles absurd geworden ist, dann ist jeder neue Gedanke der Anfang einer neuen Zeit, in der von Neuem die Liebe, die Gerechtigkeit und der Frieden das Normale sein werden. Fragt die Kinder, die ihre Erinnerung ans Paradies noch nicht verloren haben! Fragt die Blumen am Wegesrand, die Tiere im Wald! Fragt die Frau, die soeben im Bombenhagel ihr Kind zur Welt gebracht hat! Elon Musks Vorschläge wären eine wunderbare Chance gewesen, der schon fast verlorenen Hoffnung auf Frieden doch noch eine Chance zu geben. Alle, die sie bekämpfen, sie lächerlich machen oder sie totschweigen, machen sich daran mitschuldig, dass Zerstörung, Leiden und der Wahnsinn, Gewalt könne nur durch Gewalt überwunden werden, wohl noch viel zu lange Zeit kein Ende finden.

Weshalb die Rolle des Westens und der USA im Ukrainekonflikt nicht einfach verschwiegen werden darf…

 

„Wie weit geht Putin noch?“ – dies das Thema der Diskussionssendung „Club“ am Schweizer Fernsehen vom 4. Oktober 2022. Es geht um die aktuelle militärische Lage in der Ukraine, um Putins machtpolitische Strategien und um die Frage, wie weit er gehen würde im Falle einer militärischen Niederlage im Donbass. Doch dies alles ist nur die halbe Wahrheit. Die andere halbe Wahrheit, das ist die Rolle der westlichen Staaten, allen voran der USA. 

Kurze historische Rückblende: Als 1991 die Sowjetunion zerfiel, versicherten namhafte westliche Politiker, unter ihnen der französische Präsident François Mitterrand, der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher, der amerikanische Aussenminister Jim Baker und der amerikanische Präsident George Bush, gegenüber Michail Gorbatschow, dem letzten Generalsekretär der Sowjetunion, es sei nicht geplant, die NATO nach Osten auszudehnen. Doch im Folgenden geschah genau das Gegenteil, ein europäisches Land ums andere wurde in das westliche Militärbündnis aufgenommen, und dies nicht nur aus freien Stücken, sondern aufgrund von massivem politischem und finanziellem Druck seitens der USA. Dabei hätte es genug warnende Stimmen gegenüber der NATO-Osterweiterung gegeben. So jene des US-Historikers George F. Kennan, der im Jahre 1997 Folgendes sagte: „Die Entscheidung, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Ähnlich äusserte sich Robert Hunter, NATO-Botschafter der USA von 1993 bis 1998: „Die Hauptschuld an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs trifft die USA, insbesondere wegen der Expansion der NATO.“ Und, man höre und staune, selbst Joe Biden, damals Senator, sagte 1997: „Das Einzige, was Russland zu einer heftigen militärischen Reaktion zwingen könnte, wäre eine Expansion der NATO bis zur russischen Grenze.“ 

Als nun ab 2014 auch ein Beitritt der Ukraine zur NATO spruchfrei geworden war, bedeutete dies genau das Überschreiten jener roten Linie, vor der Kennan, Hunter und Biden so eindringlich gewarnt hatten. „Sie machten nicht einmal ein Geheimnis daraus“, sagte Noam Chomsky, „sie versorgten die Ukraine mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO.“ Selbst NATO-Generalsekretär Stoltenberg war bewusst, dass hier etwas in Gang gesetzt worden war, was kaum ein russischer Führer als tragbar ansehen konnte. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon 2008 gewarnt: „Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“ Und der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt meinte: „Das Vertrauen zu Putin wurde durch die NATO-Osterweiterung unter starkem Einfluss der USA in Richtung Russland zerstört und nicht durch den russischen Überfall auf die Krim.“  

Man stelle sich einmal vor, Mexiko und Kanada würden sich einem Militärbündnis mit Russland anschliessen. Wie würden die USA darauf wohl reagieren? So oder ähnlich musste sich Russland fühlen, als die NATO Land um Land immer näher heranrückte. Und so ist es kein Wunder, dass Putin im Dezember 2021 das Gespräch mit der US-Regierung suchte, um bezüglich Ukraine eine einvernehmliche Lösung zu finden. Hätte Joe Biden in ein solches Gespräch eingewilligt, statt es in Bausch und Bogen zu verwerfen, wer weiss, ob damit nicht vielleicht sogar der russische Überfall auf die Ukraine hätte abgewendet werden können…

Wenn man Putin als „Aggressor“ und „Massenmörder“ an den Pranger stellt, dann sollte man nicht vergessen, dass auch die USA alles andere als eine weisse Weste tragen. 44 Militäroperationen, zum überwiegenden Teil völkerrechtswidrig, haben die USA seit 1945 vom Zaun gerissen, allein schon die im Vietnamkrieg angerichteten Massaker gehören zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Insgesamt 50 Millionen Menschen sind den US-Militärschlägen bis heute zum Opfer gefallen, 500 Millionen Verwundete erlitten unvorstellbare Qualen und viele von ihnen tragen lebenslange psychische und körperliche Wunden. Und auch wenn man sich die aktuellen globalen Machtverhältnisse vor Augen führt, dann ist Russland längst nicht jener gefährliche und übermächtige Feind, als der es im Westen immer wieder dargestellt wird, ganz im Gegenteil: Verfügen die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte, von denen sich ein grosser Teil in unmittelbarer Nähe Russlands befinden, hat Russland gerade mal 20 militärische Basen im Ausland. Ebenso krass ist der Unterschied bei den militärischen Ressourcen: Rund 20 Mal grösser als jenes von Russland ist das jährliche Militärbudget der NATO.

Wer ernsthaft über den Krieg in der Ukraine diskutieren will, müsste auch all jene Fakten zur Kenntnis nehmen, die dem gängigen Feindbild nicht entsprechen oder dieses sogar in Frage stellen. Und er müsste sich auch mit der Frage beschäftigen, wie es denn möglich ist, dass über so viele Fakten, Aussagen und Zusammenhänge jüngster Vergangenheit ein so dicker Deckel des Vergessens gelegt werden konnte, dass die Erinnerung daran schon fast gänzlich ausgelöscht worden ist. Sollte schon jetzt die Wahrheit dem Krieg zum Opfer gefallen sein, dann ist, um dem Frieden eine Chance zu geben, nichts so wichtig, als vergessene und verdrängte Tatsachen so schnell wie möglich wieder aus der Vergessenheit hervorzuholen. Um nicht nur über die halbe Wahrheit zu diskutieren, sondern über die ganze. Ob das vielleicht ein Thema für den nächsten „Club“ am Schweizer Fernsehen wäre?