Die Anschläge auf die Gaspipelines in der Ostsee und die Rolle der Medien: Wie sich Meinungen und Hypothesen nach und nach in scheinbare „Wahrheiten“ verwandeln…

 

„Die Frage, wer es war, wird vielleicht nie mit abschliessender Sicherheit geklärt werden“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 1. Oktober 2022 in Bezug auf den Anschlag auf die Gaspipelines in der Ostsee vom 28. September. Und weiter: „Waren es vielleicht doch die USA, oder gar die Ukraine selber?“ Doch dann der Sprung, wie das Kaninchen aus dem Zauberhut, als hätte der Journalist nicht soeben noch die USA und die Ukraine als mögliche Tatverdächtige genannt und nicht soeben festgestellt, dass das Ereignis vielleicht nie aufgeklärt werden würde: „Als Hauptverdächtiger bleibt Wladimir Putin.“ Damit nicht genug. Später im Text heisst es: „Der Angriff auf die Nordstream-Pipelines ist letztlich auch eine Kriegserklärung an den Westen. Da sucht jemand die Eskalation.“ Ich bin sprachlos…

Einen Tag später scheinen auch noch die letzten Zweifel verflogen zu sein. „Es ist ein Krieg im Schatten“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ am 2. Oktober, „ein Krieg, den der Kreml, seine Geheimdienste und das Militär schon seit Jahren gegen den Westen führen. Die Europäer haben diese Woche vielleicht ein besonders spektakuläres Zeugnis dieses Kriegs in der Grauzone gesehen. Der offenkundige Sprengstoffanschlag auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee könnte von einer Spezialeinheit des russischen Militärs ausgeführt worden sein. Eine Tat ganz in der Tradition militärischen Denkens der Sowjetunion und Stalins, um die Öffentlichkeit im Westen wie im eigenen Land in die Irre zu führen.“ Kein einziger Hinweis im Artikel auf die USA oder einen der NATO-Staaten als mögliche Urheberschaft. Und auch nirgendwo die Frage, wie es denn überhaupt russischen Spezialeinheiten hätte möglich sein sollen, solche Anschläge ausgerechnet in der engmaschig von NATO-Flottenverbänden kontrollierten Ostsee durchzuführen.

Wer an dieser „offiziellen“ Version noch seine Zweifel hat, dem bleibt immer noch die Hoffnung, dass wenigstens die Untersuchungen über die Ursache der Anschläge noch Licht ins Dunkle bringen könnten. Doch auch das ist eine Fehlanzeige: Die Untersuchungen werden ausschliesslich von westlichen Spezialisten ausgeführt, Russland, das die Leitungen immerhin geplant und gebaut hat und deren Eigentümer ist, bleibt aussen vor. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was bei diesen „Untersuchungen“ wohl herauskommen wird.

Das also ist die vielgelobte Meinungsvielfalt und Objektivität, derer sich die westlichen Länder so gerne rühmen und mit der man sich bei jeder Gelegenheit von den Propagandamethoden autokratischer Staaten abzugrenzen versucht. Ein „scheibchenweiser“ Vorgang, in dem in fast unmerklich kleinen Portionen die Rhetorik der Kriegstreiber zur Rhetorik der Meinungsmacher wird, in so kleinen Portionen, dass der allmähliche Übergang von der Öffentlichkeit kaum mehr als solcher wahrgenommen wird und sich nach und nach Meinungen und Hypothesen in scheinbare „Wahrheiten“ verwandeln. Dabei hätten doch an vorderster Stelle die Medien die Aufgabe kritischer und möglichst objektiver Berichterstattung – um eben nicht blindlings bestehende Feindbilder zu übernehmen, sondern, im Gegenteil, diese auf Schritt und Tritt zu hinterfragen und dem öffentlichen Diskurs unterschiedlichster und auch gegensätzlicher Meinungen in gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Toleranz Raum zu geben. Denn wenn das Aufbauen nicht hinterfragter Feindbilder der Anfang vom Krieg ist, dann ist das Aufdecken und Hinterfragen dieser Feindbilder der Anfang vom Frieden. 

Ukraine: Das letzte Aufbäumen einer alten Zeit, die sich unweigerlich ihrem Ende entgegenneigt

 

Mit der Annexion der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson durch Russlands hat der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Ukraine wird alles daran setzen, diese Gebiete zurückzuerobern, gleichzeitig wird Russland alles daran setzen, sie nicht mehr aus der Hand zu lassen und auch noch die letzten weissen Flecken der vier Regionen, die noch von der Ukraine beherrscht werden, unter seine Gewalt zu bringen. Weitere verlustreiche Kämpfe scheinen unausweichlich zu sein, Tausende von Zivilpersonen werden sterben, ganze Dörfer und Städte drohen dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

Zynischerweise werden dabei ausgerechnet jene Menschen, die man aus der Gewalt des jeweiligen „Feindes“ befreien will, unsäglichem Leiden preisgegeben. Wenn sich Russland und die Ukraine gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, so dient dies zuallerletzt dem Wohl der Menschen, die hier leben. Nur in den Köpfen der ewiggestrigen Kriegstreiber auf beiden Seiten der Front spielt es eine Rolle, ob über diesem Dorf oder jener Stadt, dieser Brücke oder jenem Hügel die ukrainische Flagge weht oder die russische. „Je näher ich der Frontlinie komme“, so „Welt“-Reporter Steffen Schwarzkopf in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF, „umso mehr stellte ich fest: Vielen Menschen ist es egal, ob sie von der Ukraine oder von Russland regiert werden, sie möchten einfach in Frieden leben.“ 

Wäre es denn wirklich so schlimm, wenn die Ukraine diese vier Regionen an Russland „verlieren“ würde? Unermessliches Leiden und Blutvergiessen könnte vermieden werden. Zu Recht würde die Ukraine zwar den durch Gewalt erzielten Verlust eines Teils ihres bisherigen Staatsgebiets beklagen. Doch haben wir so schnell vergessen, dass auch die Sowjetunion 1991 mehr als ein Fünftel ihres früheren Territoriums „verlor“, und das, ohne dass eine einzige Gewehrkugel abgeschossen worden wäre? Und wie war das schon wieder 1999, als die USA und ihre Verbündeten Serbien bombardierten und eine Ablösung des Kosovos aus der Bundesrepublik Jugoslawien erzwangen? Und wurden nicht auch Ostjerusalem 1980 und die Golanhöhen 1981 von Israel annektiert? Staatliche Grenzen scheinen offensichtlich nicht immer ganz so „heilig“ zu sein, sondern vielmehr abhängig von den jeweiligen Grossmachtinteressen.

Betrachten wir die Weltlage als Ganzes, dann müssten eigentlich staatliche Grenzen nicht eine immer wichtigere, sondern eine immer weniger wichtige Rolle spielen. Denn letztlich sind wir ja nicht in allererster Linie Bürgerinnen und Bürger einer bestimmten Nation, sondern Bewohnerinnen und Bewohner einer grossen gemeinsamen Erde. Der drohende Klimawandel zeigt es uns in unmissverständlicher Deutlichkeit: Unser gemeinsames Überleben wird nicht davon abhängen, welche Flagge über unseren Häusern und unseren Städten weht, sondern vielmehr davon, ob es uns gelingt, die immensen sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, die vor uns liegen. Dies kann nur weltweit geschehen, in gegenseitiger Kooperation über alle Grenzen hinweg, im Bewusstsein, dass das, was die Menschen miteinander verbindet, viel grösser und viel wichtiger ist als das, was sie voneinander trennt, egal welcher Nationalität sie sich zugehörig fühlen. 

Wenn eine neue Zeit beginnt, dann muss auch eine alte zu Ende gehen. Vielleicht ist es ja genau diese Hoffnung, die uns davor bewahren kann, allen täglichen Schreckensmeldungen zum Trotz den Mut nicht zu verlieren: Dass das, was heute an Kriegen, Gewalt und Zerstörung weltweit geschieht, nichts anderes ist als das letzte Aufbäumen einer alten Zeit, die sich unweigerlich ihrem Ende entgegenneigt. Denn, wie schon der amerikanische Bürgerrechtskämpfer sagte: „Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.“ Noch haben wir die Wahl…

Universität Zürich: Standing Ovations für den „Kriegshelden“ im Kapuzenpulli

 

Als Selenskis Bild auf dem Bildschirm aufgetaucht sei, so berichtet das schweizerische „Tagblatt“ am 30. September 2022 über eine vom Europa Institut an der Universität Zürich durchgeführte Veranstaltung, hätte das Publikum mit tosendem Applaus reagiert. Selenski hätte in einem schwarzen Kapuzenpulli mit der Aufschrift „Ich bin Ukrainer“ vor seiner Landesfahne gesessen und in die Kamera gelächelt. Da die geplante Rede aus technischen Gründen nicht möglich gewesen sei, hätte man gleich mit der Fragerunde begonnen. Auf die Frage des Zürcher Regierungsrates Mario Fehr, wie es Selenski gelinge, trotz des Kriegs humorvoll zu bleiben und seinen Optimismus nicht zu verlieren, hätte Selenski geantwortet, er liesse sich von seinen tapferen Soldaten inspirieren, die sich den Russen entgegenstellten und „die Angriffe und die Geschosse Russlands mit ihren nackten Händen“ aufhielten. Der Austausch mit Selenski hätte sich zu einer „emotionalen Berg- und Talfahrt“ entwickelt, so das „Tagblatt“, Selenski hätte immer wieder gelächelt und gescherzt. In Bezug auf ein Zusammenleben mit Russland nach dem Krieg hätte sich Selenski pessimistisch gezeigt. Von der Schweiz erwarte er, dass diese ihre bisherige Neutralitätspolitik überdenken würde, denn jetzt ginge es um einen Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“. Selenskis Antworten seien mit Applaus quittiert worden und die Zuhörerinnen und Zuhörer hätten sich mehrmals von ihren Sitzen erhoben, um der „Legende“ und dem „Kriegshelden“, wie Selenski vom Vertreter des Europa Instituts genannt wurde, ihre Sympathie zu bekunden.

Ob wohl niemand die Frage stellte, wie man mit „nackten Händen“ Angriffe und Geschosse aufhalten kann? Oder wie jemand seinen Humor und seinen Optimismus bewahren kann dadurch, dass junge Männer auf dem Schlachtfeld qualvoll verbluten und unzählige Familien ihre geliebten Väter verlieren? Oder ob die Gräueltaten des ukrainischen Asowregiments an der ostukrainischen Zivilbevölkerung nicht ebenso „böse“ seien wie jene Massaker, die von russischen Truppen begangen wurden? Oder ob das Verbot sämtlicher russischer Schriftsteller und Komponistinnen in der gesamten Ukraine allen Ernstes ein Beitrag zu Demokratie, Toleranz und Völkerverständigung sein könne? Oder ob es einer zukünftigen Friedenslösung dienlich sei, wenn man gegenüber einem Zusammenleben mit Russland jetzt schon grundsätzlich pessimistisch eingestellt sei? 

Vielleicht wurden ja alle diese Fragen tatsächlich gestellt, bloss in der Zeitung nicht abgedruckt. Wahrscheinlicher aber ist, dass diese Fragen nicht gestellt wurden, weil sie das Bild von der „Legende“ und vom „Kriegshelden“ Selenski viel zu sehr gestört hätten. Und weil jene, die solche Fragen gestellt hätten, möglicherweise sogar ausgebuht worden wären. Der tosende Applaus schon beim ersten Anblick Selenskis, ohne dass dieser auch nur ein einziges Wort gesagt hatte, sein schon fast kumpelhaftes Auftreten, das ihm so viele Sympathien einbringt, eine „emotionale Berg- und Talfahrt“ zwischen Selenski und dem Publikum, die wiederholten Standing Ovations – all dies zeigt eines: Es geht bei solchen Anlässen offensichtlich weit weniger um das, was der Politiker im Einzelnen sagt. Es geht viel mehr um das Emotionale, um Gefühle, um die verlockende Gewissheit, im Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Zwischentöne, das Hinterfragen von Worthülsen, die kritische Reflexion der eigenen Weltsicht – all dies ist nicht mehr gefragt.

Doch genau das würde ich von einer demokratischen Gesellschaft erwarten. Nicht Massenveranstaltungen, bei denen schon von Anfang an klar ist, welches die „Guten“ und „Bösen“ sind. Sondern Debatten mit den Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Standpunkte, gründliches Erforschen historischer Zusammenhänge, Analysen, wie und weshalb Feindbilddenken zustande kommt und wie und weshalb so etwas Absurdes und Menschenfeindliches wie Kriege entstehen können. Um solche Wege zu beschreiten, muss man noch lange kein „Putinfreund“ sein, sondern nur ein Freund der Wahrheitsliebe. „Ein echtes Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ In einer so polarisierten Welt wie der unseren müsste das immer wieder der Leitsatz sein, um Fronten zu überwinden und hinter dem Feind das andere Ich zu suchen, das mit uns selber viel ähnlicher sein mag, als uns lieb ist. Zwar hat die Universität Zürich diesen Anlass nicht selber organisiert, sondern nur ihre Räumlichkeiten dafür zur Verfügung gestellt, dennoch trägt sie dafür eine wesentliche Mitverantwortung. Es gibt in der heutigen Zeit schon genug tiefe Gräben zwischen den Menschen, Völkern und Nationen. Und genau deshalb müsste man gerade von einer Universität, deren letztes und höchstes Ziel doch die Menschenbildung sein sollte, erwarten dürfen, dass sie nicht dazu beiträgt, bestehende Gräben noch weiter zu vertiefen, sondern alles tun müsste, um über alle diese Gräben hinweg neue Brücken zu bauen?

Wer arm ist, braucht nicht Hilfe, sondern Gerechtigkeit…

 

Der „Club“ vom 27. September 2022 am Schweizer Fernsehen SRF1 debattierte über steigende Lebenskosten, Inflation, Armut und darüber, was man dagegen tun könnte. Einig war sich die Runde darin, dass Menschen, die sich in prekären finanziellen Verhältnissen befänden, geholfen werden müsste, so etwa durch eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Stossend, dass in der Runde keine einzige selber von Armut betroffene Person vertreten war. Offensichtlich ist die Gruppe der von Armut Betroffenen bereits so marginalisiert, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, jemanden von ihnen zu einer öffentlichen Diskussion einzuladen, welche gerade sie doch am allermeisten betrifft.

Vielleicht hätte diese Person dann gesagt, dass sie sich nicht vor allem Hilfe und Mitleid wünschte, sondern Gerechtigkeit. Mitleid und Hilfe können nämlich, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, niemals ein Ersatz sein für soziale Gerechtigkeit. Denn Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht nur mit materieller Not verbunden, sondern auch mit Stigmatisierung, Ängsten und Schuldgefühlen. Viele von Armut Betroffene haben das Gefühl, an ihrer misslichen Lage selber Schuld zu sein – materielle Zuwendungen können diesen Zustand ein wenig erträglicher machen, ändern aber nichts an der Tatsache, dass sich die Betroffenen als Menschen „zweiter Klasse“ fühlen. In einer Gesellschaft, in der immer noch das Märchen verbreitet wird, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, und in der alle gegenseitig um den sozialen Aufstieg kämpfen, sehen sich die Zukurzgekommenen als Gescheiterte und Versagerinnen, die es nicht geschafft haben, den Traum von einem Leben in Wohlstand und sozialer Sicherheit zu verwirklichen. Hilfe und Almosen annehmen zu müssen, bedeutet für sie nicht nur eine Erleichterung des Alltags, sondern zugleich eine zusätzliche Stigmatisierung. Deshalb verzichten so viele arme Menschen auf den Bezug von Sozialhilfeleistungen, obwohl sie hierzu berechtigt wären.

Hilfe und Mitleid, so provokativ es klingen mag, bilden nichts anderes als die zynische Kehrseite der kapitalistischen Klassengesellschaft. Betrachten wir diese kapitalistische Klassengesellschaft doch als Ganzes: Der Reichtum der Reichen entsteht nicht so sehr durch eigene harte Arbeit, sondern durch eine permanente Umverteilung von unten nach oben, von denen, die für ihre Arbeit viel weniger verdienen, als diese eigentlich Wert wäre, zu denen, die sich, hauptsächlich in Form von Kapitalgewinnen, dank der Arbeit anderer bereichern. Grob gesagt, bildet jeder übertriebene Reichtum am einen Ort die Ursache für die Armut an einem anderen Ort – übertriebener Reichtum ist daher nichts anderes als Diebstahl an der Gesellschaft als ganzer. Wer daher ärmeren Menschen „Hilfe“ gewährt, tut nichts anderes, als einen winzigen Teil des zuvor Geraubten wieder „grosszügig“ zurückzugeben. Und da sollen die davon Betroffenen auch noch dafür dankbar sein?

Ins gleiche Kapitel gehört das Märchen von den Reichen, die weitaus mehr Steuern bezahlen als die Armen und somit angeblich einen wesentlichen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit leisten. Diesem Märchen fehlt der Anfang, nämlich, dass die „grosszügig“ geleisteten Steuergelder bloss einen winzigen Teil dessen bilden, was anderen zuvor geraubt worden ist,

Ob „Sozialhilfe“, „Winterhilfe“ oder was für weitere „Hilfsorganisationen“ auch immer: Sie alle sind bloss Feigenblätter der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft, die sich damit einen menschlichen Anstrich gibt und die noch um vieles brutaler dastehen würde, wenn es alle diese „Hilfen“ nicht gäbe. Das gilt nicht nur für die sozialen Verhältnisse jedes einzelnen kapitalistischen Landes. Es gilt zum Beispiel auch für das, was wir „Entwicklungshilfe“ nennen: Da rühmt sich ja die Schweiz immer wieder ihrer Grosszügigkeit. Doch bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ fast 50 Mal so hohe Profite erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Und da soll eines dieser Länder dafür tatsächlich noch dankbar sein?

Erst wenn soziale Gerechtigkeit nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auch weltweit der Normalfall sein wird, dann wird die „grosszügige“ Gabe, mit welcher der Reiche den Armen „beschenkt“ und sich dabei noch als Vorbild für alle feiern lässt, ein Ende haben. Denn, wie schon der italienische Mönch Franz von Assisi sagte: „Wenn jeder Einzelne darauf verzichtet, Besitz anzuhäufen, dann werden alle genug haben.“ Oder, mit den Worten des deutschen CDU-Politikers Heiner Geissler: „Es ist genug Geld vorhanden für alle, es haben nur die falschen Leute.“

Anschläge auf Gaspipelines in der Ostsee – Auch meine Nachbarin sagt: Klar, waren es die Russen, wer denn sonst?

 

„Verdacht auf gezielten Sabotageakt aus Moskau“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 28. September 2022 zum mutmasslichen Anschlag auf die Gaspipelines Nordstream1 und Nordstream2 in der Ostsee am 26. September. Und der „Tagesanzeiger“ vom 28. September schreibt, die deutsche Regierung halte eine russische Aktion, allenfalls unter „falscher Flagge“, für möglich, nämlich, um den Verdacht von sich selber abzulenken. Ebenfalls erwähnen Radio und Fernsehen SRF Russland als Hauptverdächtigen. Und auch meine Nachbarin sagt: „Klar, das waren die Russen, wer denn sonst?“

Doch bin ich nicht gerade auf „Twitter“ über Dutzende von Nachrichten gestolpert, die genau das Gegenteil behaupten? F.W. schreibt, im Rahmen der NATO-Übung Baltops hätte schon im Juni die 6. Flotte der US-Navy den Umgang mit Unterwasserdrohnen trainiert, und zwar an der Küste von Bornholm, im Bereich der Nordstream2-Lecks. Danach hätten die US- und die britische Navy gemeinsam die ukrainische Armee im Umgang mit diesen Drohnen trainiert. N.R. schreibt, mit Bezug auf eine Meldung des Norddeutschen Rundfunks, dass mehrere Tage, bevor die Anschläge erfolgten, rund 4000 US-Soldaten, Hubschrauberpiloten, Marineinfanteristen, Ärzte und Strategen auf dem Weg nach Osten gewesen seien. Nachdem sie die dänische Insel Bornholm passiert hätten, hätten die Amerikaner ihre automatischen Schiffsidentifikationssysteme ausgeschaltet und seien nicht mehr zu orten gewesen. C.L. schreibt, unter Hinweis auf einen absolut glaubwürdigen Link, dass sich Radek Sikonski, der ehemalige polnische Minister für nationale Verteidigung und Aussenminister, kurz nach den Anschlägen bei den Amerikanern mit den Worten „Thank You, USA“ bedankt hätte. Und S.N. schreibt, schon am 23. August hätte Polens Präsident Duda den Abriss von Nordstream2 gefordert. 

Wem soll ich glauben? Meiner Tageszeitung, den offiziellen Radio und Fernsehnachrichten? Oder doch eher den Meldungen auf „Twitter“, die sich zwar nicht alle bis ins letzte Detail überprüfen lassen? Doch dann stosse ich auf die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen US-Präsident Joe Biden und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, ausgestrahlt auf ARD am 8. Februar 2022. Wortwörtlich im Folgenden die entscheidende Passage des Gesprächs.

Biden: „Wenn Russland einmarschiert, das heisst Panzer und Truppen die ukrainische Grenze passieren, dann wird es kein Nordstream2 mehr geben. Wir werden es zu einem Ende bringen.“ Journalistin: „Wie genau möchten Sie das anstellen, da sowohl das Projekt als auch die Kontrolle darüber in deutscher Hand liegt?“ Biden: „Wir werden, das verspreche ich Ihnen, dazu in der Lage sein.“ Scholz: „Vielleicht ist es eine gute Idee, es unseren amerikanischen Freunden zu sagen, dass wir vereint sein und gemeinsam handeln werden. Und wir werden alle notwendigen Schritte einleiten, gemeinsam.“ Journalistin: „Werden Sie sich heute verpflichten, den Stecker zu ziehen und Nordstream2 abzuschalten?“ Scholz: „Wie ich bereits gesagt habe, wir handeln zusammen, wir sind vollkommen vereint und werden keine anderen Schritte unternehmen. Unsere Schritte werden Russland hart treffen und das sollen sie verstehen.“

Das wäre doch für die westlichen Medien Grund genug gewesen, kurz nach den Anschlägen auf die Gaspipelines ebenso schnell die USA als Hauptverdächtige ins Visier zu nehmen, wie sie nach der Einnahme von Butscha und Isjum Russland als Hauptverdächtigen von Massakern angeschuldigt hatten. Dies umso mehr, als Russland kein einziges nachvollziehbares Interesse daran haben kann, diese Gasleitungen zu zerstören. Anders sieht es bei den USA aus, wenn man an die grossen Profite denkt, welche US-Energiekonzerne mit Gaslieferungen an Europa machen. Zudem verfügen die Amerikaner, im Gegensatz zu den Russen, bekannterweise über viel spezifischere Einheiten, um Operationen dieser Art erfolgreich durchzuführen. 

Offensichtlich sind die westlichen Medien schon längst nicht mehr Ausdruck demokratischer Glaubwürdigkeit, sondern sind selber schon zur Kriegspartei geworden – das, was sie der Gegenseite stets so vehement zum Vorwurf machen. Auffallend ist auch, dass in den westlichen Medien überaus massvoll über die Anschläge berichtet wird – kein Vergleich jedenfalls mit dem Stellenwert, den beispielsweise die Ereignisse in Butscha und Isjum oder die „Scheinreferenden“ in der von Russland besetzten Ostukraine eingenommen hatten. Doch auch dafür finde ich auf „Twitter“ eine mögliche Erklärung. P.B. schreibt: „Der wohl grösste Beweis, dass die Amerikaner die Pipelines zerstört haben, ist, dass die Mainstream-Medien kaum darüber berichten.“

Können wir uns bei so vielen Widersprüchen schon ein abschliessendes Urteil bilden? Das dürfte noch schwerfallen. Jedenfalls gibt es wohl für die These, es seien die Amerikaner gewesen, mindestens so viele gute Gründe wie für die These, dass es die Russen gewesen sind.   

Die Ablehnung der Verrechnungssteuervorlage: Um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, muss man nicht Finanzminister sein oder Wirtschaftswissenschaften studiert haben…

 

Mit 52 Prozent Neinstimmen wurde am 25. September 2022 die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer durch die schweizerischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger abgelehnt. Sehr zum Leidwesen von Finanzminister Ueli Maurer, der im Interview mit dem „Blick“ sagte, dass ganz offensichtlich „das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge in der Bevölkerung schwindet“. Bereits im Abstimmungskampf hatte Maurer grobes Geschütz aufgefahren und den Gegnerinnen und Gegnern der Verrechnungssteuervorlage vorgeworfen, sie würden sich „in Klassenkampfrhetorik verirren“. Es hätten zwar alle mal ein Brett vor dem Kopf, aber in diesem Falle sei „der Abstand zwischen dem Brett und den Augen gleich null“.

Abgesehen davon, dass eine solche Reaktion ausgerechnet von einem Bundesrat, der bei jeder Gelegenheit die schweizerische direkte Demokratie in alle Himmel lobt, höchst unziemlich ist, muss man sich schon fragen, wem genau denn hier das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge fehlt und wer genau denn in diesem Falle ein Brett vor dem Kopf hat. Seit Jahren erleben wir eine schleichende Umverteilung von unten nach oben, von stagnierenden Löhnen hin zu Milliardengewinnen von Grosskonzernen und den ungebremst in die Höhe schnellenden Dividenden für Aktionärinnen und Aktionäre. Während die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer bereits über 800 Milliarden Franken besitzen – mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz -, leben über 700’000 Menschen hierzulande unter oder hart an der Armutsgrenze und haben am Ende des Monats oft nicht einmal mehr genug Geld für ein anständiges Essen. Mit der Abschaffung der Verrechnungssteuer hätte die Kapitalbeschaffung von rund 200 Konzernen, deren Finanzgesellschaften und von Banken privilegiert werden sollen. Eine Minderheit von gerade mal 0,03 Prozent aller Unternehmen hätte neue Sonderrechte erhalten. Und dies hätte insgesamt zu Steuerausfällen von jährlich bis zu 800 Millionen Franken geführt. Was nichts anderes bedeutet hätte, als dass der Druck auf erhöhte Steuern auf Löhnen, Renten und den Konsum weiter zugenommen hätte.

Nein, die Schweizer Bevölkerung ist nicht so dumm, wie Bundesrat Maurer dies wahrhaben möchte. Um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, muss man nicht Finanzminister sein. Man muss auch kein Ökonom und keine Ökonomin sein und man muss auch nicht Wirtschaftswissenschaften studiert haben. Der gesunde Menschenverstand genügt. Die Erkenntnis, dass hier im Grossen wie im Kleinen etwas ganz grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen ist und sich immer bedrohlicher und schneller nur noch in einer einzigen Richtung bewegt.

Letztlich geht es um den Kapitalismus. Dieses Wirtschaftssystem, das sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, sondern an den Bedürfnissen der Konzerngewinne, der Profitmaximierung, des Kapitals. Eigentlich müssten die Menschen in einer echten Demokratie das Recht haben, darüber abzustimmen, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben wollen oder ob sie ein alternatives, nichtkapitalistisches, auf soziale Gerechtigkeit und die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtetes System bevorzugen würden. Umfragen in Deutschland zeigen, dass 55 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an, in der Schweiz käme eine entsprechende Umfrage wohl zu einem ähnlichen Ergebnis. Weil es eine solche „Urabstimmung“ aller Voraussicht nach auch in einer ferneren Zukunft aber kaum jemals geben wird, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als einzelne Abstimmungen wie eben jene über die Abschaffung der Verrechnungssteuer dazu zu benützen, ihren Unmut und ihren Widerstand kundzutun.

Auch wenn Bundesrat Maurer und all die anderen Verfechter und Nutzniesser der reinen Lehre eines alleinseligmachenden kapitalistischen Wirtschaftssystems genau das Gegenteil behaupten: Tatsache ist, dass die breite Bevölkerung nicht immer weniger, sondern immer mehr von den wirtschaftlichen Zusammenhängen versteht. Und dass nicht so sehr jene ein Brett vor dem Kopf haben, die sich kritisch ihre eigene Meinung bilden, sondern vielmehr jene, die sich nur schon dem Gedanken verweigern, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen um zu erkennen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem einer radikalen Erneuerung bedarf, um nicht früher oder später an seinen eigenen Widersprüchen zu zerbrechen.  

Vergewaltigungen, Folterungen und andere Gräueltaten: Nur ein Ende des Kriegs kann dem allem ein Ende bereiten…

 

Die „NZZ“ am 22. August 2022 spricht im Zusammenhang mit Gräueltaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung und Vergewaltigungen von einem „zynisch erprobten Kampfmittel der russischen Armee, das kein Mass und keine Grenzen kennt“. Ohne Frage ist jede Form von sexueller oder körperlicher Gewalt aufs Schärfste zu verurteilen. Dennoch sollte uns dies nicht davon abhalten, zwischen Tatsachen und ihrer propagandistischen Instrumentalisierung zu unterscheiden. Selbst Marta Havryshko, ukrainische Historikerin zu sexueller Gewalt im Krieg und selbst aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet, wirft in der „Rundschau“ vom 22. Juni 2022 der ukrainischen Regierung vor, die Sexualverbrechen als „politisches Instrument“ zu benützen, um die „Grausamkeit der russischen Soldaten zu betonen“, während gleichzeitig wenig getan werde, um den Opfern die notwendige Hilfe zukommen zu lassen.

Vergewaltigungen kommen nicht nur im Ukrainekrieg vor und sie werden auch nicht nur von Russen begangen. So sind beispielsweise unzählige Vergewaltigungen durch US-amerikanische Soldaten im Vietnamkrieg begangen worden. Unvergesslich bleibt vor allem das Massaker von My Lai, bei dem amerikanische Soldaten Frauen in grosser Zahl vergewaltigten und schliesslich fast die ganze Dorfbevölkerung, über 500 Kinder, Frauen und Männer, ermordeten.

Auch Folterungen gibt es nicht nur in den berüchtigten Folterkellern der russischen Angriffstruppen, von denen immer wieder berichtet wird. Wie die Vergewaltigungen, so ist auch die Folter ein weitverbreitetes Kriegsmittel und nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch in den meisten übrigen bewaffneten Konflikten zu beobachten. So hätten, wie „Spiegel Online“ im März 2013 berichtete, in Hunderten Fällen US-Ärzte im Zuge des Irakkriegs bei Irakerinnen und Irakern grausamste Verletzungen festgestellt. Viele Häftlinge seien mit kochendem Wasser verbrüht worden, ihnen seien Fingernägel ausgerissen, die Fusssohlen mit Elektrokabeln zerschlagen, Genitalien mit Stromstössen malträtiert und Flaschen oder Holzstücke in den After eingeführt worden.

Sowohl Vergewaltigungen wie auch das Foltern von Gefangenen sind weitverbreitete Kriegsmittel und sind in jedem Krieg, so zynisch das klingen mag, geradezu an der „Tagesordnung“. Das soll keine einzige von Russen begangene Gräueltat verharmlosen oder beschönigen. Ganz im Gegenteil. Aber wir sollten nicht so tun, als wäre die Russen die einzigen „Bösen“, während alles andere die „Guten“ sind. So berichteten die „New York Times“ und die BBC im April 2022 von einem mutmasslichen Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten gegenüber gefangenen Russen im Dorf Dmytrivka in der Nähe von Butscha, die mit auf dem Rücken zusammengebundenen am Boden lagen und auf die so lange geschossen wurde, bis sie regungslos liegen blieben. Immer wieder ist auch zu hören von Gräueltaten, welche von der berüchtigten ukrainischen Asow-Brigade seit 2014 an der ostukrainischen Zivilbevölkerung begangen wurde und von der Menschenrechtskommission der UNO sorgfältig dokumentiert worden ist.

Diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen kann man zuallerletzt mit einer sinnlosen Fortsetzung dieses Kriegs, denn solange der Krieg andauert, werden auch alle mit ihm verbundenen Gewalttaten andauern. Dem Wahnsinn ein Ende setzen kann nur ein sofortiger Waffenstillstand, ein Ende des Kriegs und die Aufnahme von Friedensverhandlungen, bei denen jede Seite bereit sein müsste, gegenüber der anderen Zugeständnisse zu machen und auf die eigenen Maximalansprüche zu verzichten. Dann werden auch sämtliche Vergewaltigungen, sämtliches Foltern und sämtliche weitere Kriegsverbrechen ein Ende haben.

Gepäckarbeiter auf dem Flughafen Zürich und afrikanische Dienstmädchen im Libanon: Noch ein weiter Weg bis zur internationalen Solidarität…

 

„Wer in der Gepäcksortieranlage des Flughafens Kloten arbeitet“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 16. September 2022, „weiss am Abend, was er getan hat. Es ist harte körperliche Arbeit, von der kein Fluggast etwas mitbekommt. Eine Arbeit, die neue Angestellte bisweilen derart unterschätzen, dass sie schon nach wenigen Tagen wieder kündigen. An Spitzentagen belädt ein Mitarbeiter in einer 8-Stunden-Schicht rund 60 Wägeli à 300 Kilo. Das sind also insgesamt etwa 20 Tonnen. Etliche Gepäckstücke bringen 20 Kilo oder noch mehr auf die Wage. Zudem führt der ausgedünnte Fahrplan dazu, dass noch mehr Verbindungen in die drei Hauptverkehrszeiten gequetscht werden. Denn für viele Gäste sind kurze Umsteigezeiten das Hauptkriterium für die Wahl einer bestimmten Flugverbindung. Doch äusserst anstrengende Arbeit fällt nicht nur in der Sortierhalle an, sondern auch auf dem Rollfeld, wo die Arbeitsbedingungen noch um einiges härter sind. Egal, ob es regnet, schneit oder das Thermometer, wie das diesen Sommer mehrmals der Fall war, auf 60 Grad klettert, die Koffer müssen ins Flugzeug. Im Bauch der Maschine schichtet der eine Mann Gepäckstücke auf, welche ihm ein anderer vom Förderband zureicht. Platzangst darf man hier keine haben, Rückenweh auch nicht. Der Frachtraum ist so niedrig, dass man sich selbst auf den Knien nicht aufrichten kann.“

„Ein Stacheldrahtzaun zieht sich rund um die Beirut Terraces, einen 119 Meter hohen Wohnturm, der in einem der besten Quartiere der libanesischen Hauptstadt steht“, so ist in „20minuten“ vom 23. September 2022 zu lesen. Die Wohnungen, die in dem Wohnturm untergebracht sind, strotzen vor Luxus. Eine Wohnung im 12. Stock, 500 Quadratmeter gross, ausgestattet mit Böden aus Marmor, mit begrünten Terrassen und beeindruckender Aussicht, kostet 3,5 Millionen Dollar. Die im gleichen Gebäude untergebrachten Zimmer für die Hausangestellten dagegen verfügen über gerade mal knapp zwei Quadratmeter und sind fensterlos. Die rund 250’000 Hausangestellten aus Afrika und Asien, die im Libanon arbeiten, haben tägliche Arbeitszeiten von bis zu 18 Stunden, und dies ohne Pause. Sie kochen, putzen, waschen, servieren und führen den Hund aus. Ihren Hunger stillen sie meist erst abends, wenn sie die übriggebliebenen Reste essen dürfen. Häufig werden sie angeschrien, herumkommandiert oder geprügelt. Manche Hausangestellte verfügen nicht einmal über ein eigenes Zimmer, sondern müssen die Nacht auf einem verglasten Balkon, auf dem Küchenboden oder im Badezimmer verbringen.“

Was haben der Bericht von den Gepäckarbeitern auf dem Zürcher Flughafen und der afrikanischen und asiatischen Hausangestellten in Beirut miteinander zu tun? Ganz offensichtlich sehr viel. Es sind zwei Beispiele aus der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, der unzählige weitere hinzugeführt werden könnten. Sie alle zeigen, dass diese kapitalistische Klassengesellschaft stets eine süsse und eine bittere Seite hat, die fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Fluggäste auf dem Weg nach den Malediven, die sich behaglich in ihre Sessel zurücklehnen und ihren Prosecco schlürfen, merken nichts von der Schufterei und den Schmerzen der Gepäckarbeiter, die gleichzeitig im Bauch des Flugzeugs damit beschäftigt sind, dass alle Fluggäste stets pünktlich und einwandfrei ihre Koffer am Zielort in Empfang nehmen können. Und die Damen und Herren der libanesischen Oberschicht, die ihre Hausmädchen bis aufs Blut quälen, wissen nicht, wie es in ihren Herzen aussieht und wie viele Tränen sie voller Sehnsucht nach ihrer Heimat in  ihren winzigen, fensterlosen Kopien Nacht für Nacht vergiessen.

Nur aus der Sicht der Reichen und Privilegierten, derer auf den oberen und obersten Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide, ist diese Welt die beste aller möglichen Welten. Für die auf den unteren und untersten Rängen gilt das pure Gegenteil. Die süsse und die bittere Seite des Kapitalismus, die unauflöslich miteinander verbunden sind, denn die Welt ist für die einen nur deshalb so schön, weil sie für die anderen so qualvoll und so schrecklich ist.

Es liegt im ureigenen Interesse all derer, die auf der süssen Seite der kapitalistischen Klassengesellschaft leben, dass sich daran auch nichts ändert. Politik, Wirtschaft, Medien – sie alle halten zusammen und erzählen die Geschichten von Ausbeutung und Unterdrückung stets nur bruchstückhaft, so als handle es sich um lauter voneinander unabhängige Einzelfälle, ganz und gar getreu dem Motto des Römischen Reichs vor 2000 Jahren, wo die Devise „Divide et impera“ galt – Teile und herrsche, lass unter deinen Gegnern keine Solidarität aufkommen, wiegle sie gegeneinander auf, dann hast du leichtes Spiel, deine Macht über sie aufrechtzuerhalten.

Und so muss sie erst noch erzählt werden, die grosse, ganze Geschichte. Dass nämlich die Geschichte von der Arbeit auf der Gepäckabfertigung eines Zürcher Flughafens und die Geschichte asiatischer und afrikanischer Hausmädchen im Libanon nur zwei Einzelteile einer viel grösseren Geschichte sind, der Geschichte der weltweiten Klassengesellschaft. Erst dann, wenn die ganze Geschichte erzählt wird, kann so etwas entstehen wie internationale Solidarität, bei der sich die geknechteten und ausgebeuteten Menschen im einen Land für die geknechteten und ausgebeuteten Menschen in anderen Ländern einsetzen und umgekehrt. Wie viele Leiden braucht es noch, wie viele kaputtgearbeitete Rücken und wie viele Tränen in der Nacht, bis die Menschen das begreifen? 

Klimastreik in Zürich: Auch der breiteste Fluss besteht aus nichts anderem als aus Milliarden von Wassertropfen…

 

23. September 2022, Klimastreik in Zürich mit rund 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Zurecht wird in der Begrüssungsrede auf dem Bürkliplatz darauf hingewiesen, dass schon vieles erreicht wurde und der bisherige Kampf alles andere als vergeben gewesen ist. Und doch steht dieser heutige Tage unter einem ganz bedrohlichen Schatten. Soeben nämlich hat der Krieg in der Ukraine durch die Drohung Putins, falls nötig Atomwaffen einzusetzen, eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Auch ist allgemein bekannt, dass es noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg so viele bewaffnete Konflikte gegeben hat wie zurzeit, dass immer noch über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden, dass in viel zu vielen Ländern ausbeuterische, tödliche Arbeitsverhältnisse an der Tagesordnung sind, unzählige Menschen wegen ihrer politischen Gesinnung im Gefängnis sitzen und sich die Kluft zwischen Armut und Reichtum weltweit immer mehr verschärft. Und schliesslich ist da, nicht zuletzt, die Angst vor einem Winter, in dem nicht nur zahlreiche Notwendigkeiten des täglichen Lebens, sondern auch das Funktionieren weiter Teile der öffentlichen Versorgung und der Wirtschaft infolge eines umfassenden Energie- und Strommangels in Frage gestellt werden könnten. Und so ist es freilich alles andere als ein Zufall, dass zum Ende der Zürcher Kundgebung, auf dem Helvetiaplatz, über die Lautsprecher der Song „Hurra,die Welt geht unter“ eingespielt und von den gleichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die eben noch „System Change, not Climate Change“ skandierten, lauthals mitgesungen wird. Ja, eine verrückte Zeit. Und eine fast unaushaltbare Mischung von Hoffnung, Resignation, Leidenschaft, Angst und Verzweiflung. 

„Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“ – dieser Liedtext der deutschen Rockgruppe „Die Ärzte“ geht mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Ja, niemand weiss genau, was diese Kundgebung der Klimajugend an diesem Tag in Zürich oder anderswo tatsächlich bringt. Da führt uns rein ökonomisches „Vernunftdenken“ – welcher Einsatz hat welche Wirkung und lohnt sich das überhaupt – nicht weiter. Die Wirkung findet auf einer anderen Ebene statt, einer geistigen Ebene. Wenn Tausende von Menschen voller Leidenschaft auf der Strasse sind, für nichts mehr und nichts weniger als eine lebenswerte Zukunft singend und tanzend, dann muss das ganz einfach eine Wirkung haben, ob man will oder nicht. Eine Wirkung, die sich zwar nicht in Zahlen messen lässt, die aber umso tiefere Wurzeln schlägt, nicht nur bei denen, die aktiv mitmachen, sondern auch bei all jenen Schaulustigen, die am Rande der Strassen stehen und wohl von dieser unbändigen Lebensfreude und all den Botschaften auf den mitgetragenen Transparenten nicht gänzlich unberührt bleiben können.

Ja, es ist noch viel zu tun, sehr viel sogar. An allen Ecken und Enden. Und man möchte manchmal fast verzweifeln. Doch es ist genau dieses Engagement auf den Strassen mit der Klimajugend, das Flügel verleiht. Wir alle und ganz besonders die Älteren unter uns, welche dieses ganze Schlamassel angerichtet haben, sind es den jungen Menschen schuldig, ihren leidenschaftlichen Kampf für eine lebenswerte Zukunft, für den Frieden und für die Solidarität mit allen Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten dieser Welt zu unterstützen. Eigentlich bräuchte es nur wenig und schon wären statt 5000 Menschen bald 50’000 oder 500’000 auf der Strasse. Alle, die noch zögern, müssten bloss diese winzige Schwelle überwinden zwischen dem Gefühl, es nütze doch alles sowieso nicht, und dem Eintauchen in jenen Lebensstrom, der sie, sind sie erst einmal drinnen, nicht mehr loslassen wird. Jeder noch so weite Weg beginnt mit einem ersten Schritt, jeder noch so breite Fluss besteht auch nichts anderem als aus Milliarden von Wassertropfen. Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.

Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende…

 

Die Nachricht hat die ganze Welt aufgeschreckt: Der russische Präsident Wladimir Putin will zur Verstärkung im Kampf gegen vorrückende ukrainische Truppen 300’000 Reservisten aufbieten. Und er droht im Falle einer weiteren Eskalation des Konflikts gar mit dem Einsatz von Atomwaffen. Postwendend reagiert US-Präsident Joe Biden anlässlich der UNO-Vollversammlung in New York mit den Worten, die USA würden weiterhin solidarisch an der Seite der Ukraine stehen und gegen Russlands Aggression antreten. Und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz spricht im Zusammenhang mit Putins Ankündigungen von einem „Akt der Verzweiflung“ und davon, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen könne.

In einem immer lauter werdenden Wortgetöse und laufend sich gegenseitig überbietender Machtgebärden drohen die leiseren, differenzierteren Stimmen unterzugehen. Nur irgendwo ganz am Rande der neuesten Meldungen erfahren wir beispielsweise, dass Sheik Tamim aus Katar beide Kriegsparteien zu einer Waffenruhe aufruft, weder der einen noch der anderen Seite die alleinige Schuld gibt und davon spricht, dass dieser Konflikt überaus „komplex“ sei. Dabei wäre doch gerade eine solche vermittelnde, deeskalierende Haltung das einzige wirklich Vernünftige, was sich in der gegenwärtigen, gefährlich zugespitzten Lage mit gutem Gewissen vertreten lässt. Wenn auch unzählige Scharfmacher auf beiden Seiten der Front das Gegenteil behaupten: Noch nie waren Pazifismus und die Vision einer friedlichen Weltordnung ohne Waffen, Armeen und Krieg so aktuell und so existenziell notwendig wie heute.

Und das ist diese vielbeschworene Hoffnung, die erst ganz zuletzt stirbt: Dass wir uns nämlich nicht nur in rasanten Schritten dem schlimmstmöglichen Szenario eines atomaren Weltkriegs und damit einer möglichen Vernichtung sämtlichen menschlichen Lebens auf diesem Planeten nähern, sondern dass dieser Weg gleichzeitig auch zu einem Punkt führen kann, an dem das Ganze auch in die gegenteilige Richtung kippen könnte, in die Richtung einer neuen weltweiten Friedensordnung, in die Richtung eines Endes aller Kriege, in die Richtung des Beginns eines wahrhaft neuen Zeitalters. 

Dies alles liegt nicht nur an Putin, Selenski und Biden. Es liegt an uns allen. Denn, wie es der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt einmal gesagt hat: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Niemand kann sich davonstehlen, niemand kann behaupten, er hätte es nicht gewusst. Die ganz überwiegende Mehrheit der Menschheit, die nichts anderes will als ein Leben im Frieden und in sozialer Sicherheit, muss an jene Schalthebel der Macht gelangen, an denen sich die Kriegstreiber ewiggestriger Zeiten immer noch verbissen festklammern. Das Harte muss dem Weichen Platz machen, der Hass und die Gewalt müssen der Liebe und der Zärtlichkeit weichen. Eben hat es schon begonnen, Tausende Menschen in Russland, die mit dem Krieg in der Ukraine nichts zu tun haben wollen, sind auf den Strassen, aller Angst vor Repression und Verfolgung zum Trotz. Tun wir es ihnen gleich! Gehen wir auf die Strassen! Schreiben wir Millionen von Briefen für den Frieden! Nehmen wir Stellung, nicht für oder gegen die Ukraine, die USA oder Russland, sondern für ein Ende des Krieges so schnell wie nur irgend möglich! Was hält uns davon ab? Es ist höchste Zeit. Denn, wie der frühere amerikanische Präsident John F. Kennedy so treffend sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“