Die zehn nicht hinterfragten Glaubenssätze des Kapitalismus

Von „sektenähnlichen Zuständen“ spricht das „Tagblatt“ vom 20. September 2022 im Zusammenhang mit dem Kioskbetreiber Selecta, wo kürzlich ein auf Englisch verfasster Leitfaden mit zehn Geboten für die Manager und die Angestellten des Unternehmens eingeführt worden ist. Die zehn Gebote umfassen „Prinzipien, Werte und unseren Weg zur Grossartigkeit“. Wer bei Selecta arbeite, der werde damit „Teil eines Kults, getragen vom fanatischen Glauben an das, was wir tun, und das totale Engagement dafür.“ Jeder, der zu Selecta komme, müsse demnach die Kultur, von welcher er komme, vor der Türe ablegen. Bei Schulungsmeetings würden die Angestellten dazu angehalten, die Glaubenssätze im Chor nachzusprechen. Jeder der PR-Sätze beginne dabei mit „We believe“ – wir glauben.

Nun kann man sich über solcherlei entweder empören oder ganz einfach lustig machen. Doch ist nicht unser ganzes kapitalistisches Wirtschaftssystem ein riesiges, umfassendes Glaubenssystem? Ein Glaubenssystem, das wir nur deshalb nicht als solches wahrnehmen, weil es ganz und gar in unser Fleisch und Blut übergegangen ist und weit und breit keine Alternative dazu in Sicht ist, so dass wir, wie bei einer Religion, dessen Glaubenssätze gar nicht mehr hinterfragen und davon ausgehen, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Art und Weise bildet, unsere Wirtschaft, die Arbeitswelt und das Alltagsleben zu gestalten.

Wie bei der Bibel mit ihren zehn Geboten, können wir auch beim Kapitalismus von zehn Glaubenssätzen sprechen. Jeder dieser Glaubenssätze betrifft innerhalb der kapitalistischen Wertewelt so etwas wie eine unumstössliche Wahrheit, die unser Leben bis in Einzelheiten dominiert, sich bei näherem Hinsehen aber sogleich als eine Art Seifenblase entpuppt, die mit wenigen kritischen Gedanken zum Platzen gebracht werden kann.

Der erste kapitalistische Glaubenssatz lautet, der Freie Markt sei das wirkungsvollste Mittel, um eine möglichst gerechte Abstimmung zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Produktion von Gütern sicherzustellen. Tatsache ist, dass genau das Gegenteil der Fall ist, denn im sogenannten „Freien Markt“ fliessen die Güter in aller Regel nicht dorthin, wo die Menschen sie am meisten brauchen, sondern dorthin, wo damit am meisten Geld verdient werden kann. Der zweite kapitalistische Glaubenssatz besagt, Geld vermehre sich von selber, wenn man es nur genug geschickt anlege. Tatsache aber ist, dass jeder Rappen, den jemand durch das Besitzen bzw. Anlegen von Geld „verdient“, von einem anderen, der mit seiner Arbeit weniger verdient, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, hart erarbeitet werden muss. Der dritte kapitalistische Glaubenssatz behauptet, Konkurrenz führe zwangsläufig zu Innovation und zu Fortschritt. Tatsache ist, dass der gegenseitige Konkurrenzkampf, wenn wir etwa an das Automobil, an die Digitalisierung oder an die Weltraumtechnik denken, vor allem zu technologischen Innovationen führt, während wünschbare gesellschaftliche Fortschritte wie etwa die soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut und Hunger oder des Klimawandels fast gänzlich auf der Strecke bleiben. Der vierte kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, dass die wirtschaftliche Leistung eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft existenziell auf immerwährendes Wachstum angewiesen und ohne Wachstum zum Scheitern verurteilt sei. Tatsache ist, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt gar nicht dauerhaft möglich ist und daher früher oder später unweigerlich zu einem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Kollaps führen muss. Der fünfte kapitalistische Glaubenssatz lautet, jeder könne, wenn er sich nur genügend anstrenge, reich und erfolgreich werden, und wer dies nicht schaffe, sei demzufolge selber Schuld. Tatsache ist, dass in Form des herrschenden Bildungs- und Selektionssystems so viele unüberwindbare Hürden aufgestellt sind, dass es stets nur einer Minderheit möglich ist, auf die oberen und obersten Ränge der gesellschaftlichen Machtpyramide zu gelangen. Auch verkennt dieser Glaubenssatz, dass weltweit Milliarden von Menschen täglich schwerste, körperlich und psychisch belastende Arbeit leisten, sich dabei noch so sehr abkämpfen und anstrengen können und dennoch in bitterster Armut verharren, ganz einfach deshalb, weil der Lohn dieser Arbeit nicht das Geringste zu tun hat mit der Schwere der Arbeit, die erbracht wird.

Der sechste kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, Lohnunterschiede seien Ausdruck unterschiedlicher Leistungsbereitschaft und unterschiedlicher Wichtigkeit der jeweiligen beruflichen Tätigkeit. Tatsache ist, dass der Lohn nicht Ausdruck der effektiven Arbeitsleistung ist, sondern von der jeweiligen Stellung auf der gesellschaftlichen Machtpyramide abhängt. Wenn, wie zum Beispiel in der Schweiz, das Verhältnissen zwischen höchsten und tiefsten Einkommen das Dreihundertfache beträgt, so müssten ja die Spitzenverdiener 300 Mal länger oder härter arbeiten als jene mit den tiefsten Einkommen, was schlicht und einfach unmöglich ist. Tatsächlich ist es in aller Regel umgekehrt: Wer besonders hart und lange arbeitet, muss häufig eher mit einem geringeren Lohn Vorlieb nehmen als jene, welche über leichtere und bequemere Arbeitsbedingungen verfügen. Der siebte kapitalistische Glaubenssatz gipfelt in der Aussage, Menschen würden nur dann arbeiten, wenn man sie auf die eine oder andere Weise dazu zwinge, oder, mit anderen Worten: Der Mensch sei von Natur aus faul. Um diesen Glaubenssatz zu widerlegen, brauchen wir uns nur das Kind in seinen ersten Lebensjahren vor Augen zu führen, das sich unermüdlich handelnd mit seiner Umgebung auseinandersetzt und buchstäblich nie müde wird. Wäre der Mensch von Natur aus faul, dann würden die Kinder bloss untätig und passiv herumliegen und sich nicht immer wieder neuen Beschäftigungen zuwenden. Zwingen muss man die Menschen höchstens zu unangenehmen, belastenden beruflichen Tätigkeiten, aber nicht deshalb, weil sie von Natur aus faul wären, sondern deshalb, weil die Menschen in diesen Tätigkeiten keinen Sinn sehen und ihre ursprüngliche Kreativität, Schaffenskraft und Lebensenergie nicht verwirklichen können. Der achte kapitalistische Glaubenssatz besagt, dass schneller stets besser ist als langsamer, oder, auf eine kurze Formel gebracht: „Time is Money“. Tatsache ist, dass es genau dieser Tempowahn ist, der immer absurdere Auswirkungen mit sich bringt, wenn wir nur an die Postboten denken, die in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Menge an Paketen auszutragen haben, oder an den Bau eines viele Millionen verschlingenden Eisenbahntunnels, nur damit die Fahrt von Stadt A nach Stadt B um drei oder vier Minuten verkürzt werden kann. Wie der Glaube an das immerwährende Wirtschaftswachstum, so ist auch der Glaube, Geschwindigkeit sei per se etwas Gutes, eine Katze, die sich letztlich in den eigenen Schwanz beisst: Denn früher oder später muss, wie beim Radrennsport oder bei den Skirennfahrerinnen, der Punkt kommen, an dem es einfach nicht mehr schneller geht, es sei denn nur noch mithilfe unmenschlicher und zerstörerischer Anstrengungen. Der neunte kapitalistische Glaubenssatz besteht darin, dass das Privateigentum die Grundlage sei für individuelle Freiheit. Tatsache ist, dass es genau umgekehrt ist: Wer über Privateigentum und überdurchschnittliches Vermögen verfügt, geniesst zwar grosse individuelle Freiheit und kann sich vieles leisten, was für andere unerschwinglich ist. Aber mit der Freiheit derer, die sich das leisten können, schwindet zugleich die Freiheit jener, welche sich dies nicht leisten können. So ist das, was der Kapitalismus „Freiheit“ nennt, nicht so sehr eine echte Freiheit, sondern es sind Privilegien einer Minderheit auf Kosten einer davon ausgeschlossenen Mehrheit. Der zehnte kapitalistische Glaubenssatz ist sozusagen eine Zusammenfassung aller anderen. Er gipfelt in der Aussage, der Kapitalismus – und damit auch die Globalisierung des Kapitalismus – sei ein Segen und diene dem Wohlergehen der Menschheit. Tatsache ist, dass dies nur für eine Minderheit der Menschheit gilt., während ein grosser Teil der Menschheit nicht nur nicht vom kapitalistischen Wirtschaftssystem profitiert, sondern im Gegenteil in vielerlei Hinsicht darunter leidet. Nicht nur dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden und über 800 Menschen weltweit unter Hunger leiden, sondern auch, dass die kapitalistische Wachstums- und Profitgier letztlich die Hauptursache bildet für die zunehmende Zerstörung der natürlichen Ressourcen, das Tier- und Pflanzensterben und die existenzielle Bedrohung durch die immer gefährlichere Ausmasse annehmende Klimakatastrophe.

Aufgrund aller dieser nicht hinterfragten Glaubenssätze ist es wohl nicht übertrieben, vom Kapitalismus als einer Art von Religion zu sprechen. Ja man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und von einer Sekte sprechen. Denn der Unterschied zwischen Religion und Sekten wird ja in der Regel so definiert, dass Religionen eine weitaus grössere Anzahl von Anhängerinnen und Anhängern haben, während Sekten oft nur winzig, tief eingeschworene Gemeinschaften bilden. Aber der Unterschied ist kaum ein wesentlicher. Höchstens der, dass den Mitgliedern einer Sekte meist bewusst ist, einer solchen Gemeinschaft anzugehören, während die „Mitglieder“ des Kapitalismus in der freiesten, besten, gerechtesten und einzigen Welt zu leben glauben, die überhaupt möglich ist.

Wie sehr sich der Kapitalismus selber heiligt und damit zur Religion oder gar zur Sekte geworden ist, beschrieb auch die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann in einem Interview mit der Zeitschrift „Kontext“ unter dem Titel „Die Sekte der Ökonomen“ am 9. November 2016: „Die Ökonomen sprechen immer von Wettbewerb, nur für sie selber gilt er nicht. In der herrschenden Mainstreamökonomie wird weder die Rolle der Grosskonzerne thematisiert, noch die Funktion der Spekulation, des Geldes und der Gewinne. Die Wirtschaftswissenschaftler sitzen in ihrem selbergebauten Elfenbeinturm, wo sie keinen Schaden anrichten können. Die heutige Ökonomie hat nichts mehr mit Wissenschaft zu tun – sie ist zur Religion geworden.“

Ob das neue Ritual für die Selecta-Mitarbeitenden oder der weltweite Kapitalismus im Grossen. Das religions- und sektenhafte Grundmuster ist das gleiche. Das bedeutet: Wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen, dann müssen wir auch all die kapitalistischen Glaubenssätze, die sich über 500 Jahre hinweg in unsere Köpfe hineingefressen haben, überwinden. Um den Blick freizubekommen auf jene andere Welt, die jenseits des Kapitalismus liegen wird, jene andere Welt, in welcher die Bedürfnisse der Menschen Vorrang haben werden vor den Bedürfnissen des Geldes und der Profitmaximierung, jene andere Welt, in der Mensch und Natur im Einklang sind und ein gutes Leben Wirklichkeit zu werden verspricht, nicht für eine privilegierte Minderheit, sondern für alle Menschen auf diesem Planeten, in der Gegenwart ebenso wie in der Zukunft…

Isjum: Nicht einzelne Gräueltaten, sondern der Krieg als solcher ist das Verbrechen…

 

„Das ist ein Völkermord an den Ukrainern“, sagt die ukrainische Politikerin Inna Sowsun, „schlimmer als Butscha“, so berichtet das „Tagblatt“ vom 19. September 2022, stellvertretend für nahezu die gesamten westliche Berichterstattung über den Fund von rund 450 Leichen in der Nähe der von den Ukrainern zurückeroberten Stadt Isjum vor wenigen Tagen. Und obwohl die Untersuchung der Leichen eben erst begonnen hat, vergleicht auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski das Vorgehen der russischen Besatzer mit Blick auf die Gräberfunde in Isjum mit den Nazigräueln im Zweiten Weltkrieg. Es gäbe grausamste Folter, Deportationen, verbrannte Städte, bodenlosen Hass und nichts Lebendiges mehr unter russischer Besatzung. Ins gleiche Horn bläst John Kirby, Kommunikationsdirektor des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrates: „Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen. Es ist absolut verdorben und brutal.“ Aussagen, welche das offizielle westliche Bild vom Ukrainekonflikt einmal mehr in aller Schärfe zementieren: Hier die „guten“ Ukrainer, welche für die Befreiung ihres Landes heldenhaft kämpfen, dort die „bösen“ Russen, die nicht einmal vor Völkermord und Kriegsverbrechen zurückschrecken, die sich mit nichts weniger als den Gräueltaten der Nazis im Zweiten Weltkrieg vergleichen lassen.

Doch entspricht dieses Schwarzweissbild der tatsächlichen Realität? Gehört der Krieg der Worte, der Propagandakrieg, nicht ebenso zum Arsenal einer Kriegspartei wie der Kampf auf dem Schlachtfeld? Ist das, was in Isjum geschah, tatsächlich mit den Gräueltaten der Nazis zu vergleichen? Immerhin muss zu denken geben, dass selbst Olek Kotenko, der ukrainische Verantwortliche für Vermisstensuche, einräumt, dass, wie „20minuten“ am 19. September 2022 berichtet, „die Mehrzahl der Opfer unter Beschuss gestorben sind, die Menschen sind umgekommen, als die russischen Truppen die Stadt mit Artillerie beschossen. Zudem sind viele Menschen an Hunger gestorben, weil es keine Versorgungsmöglichkeiten gegeben hat.“ Das macht das Ganze freilich nicht besser, jeder Tote ist einer zu viel. Doch es ist eben dennoch ein gewaltiger Unterschied, ob die getöteten Menschen Opfer der „russischen Brutalität“ sind oder aber Opfer eines Kriegs, der auf beiden Seiten und über alle Fronten hinweg unsägliches Leiden anrichtet. Denn so wie man in Isjum Gräber mit getöteten ukrainischen Zivilpersonen gefunden hat, so könnte man andernorts auch ebenso Gräber mit Opfern ukrainischer Kriegshandlungen entdecken. Denn in keinem Krieg gibt es bloss einzelne „Kriegsverbrechen“ und anderes, was man nicht als Verbrechen bezeichnen müsste. Nein, der Krieg als solcher ist ein Verbrechen. Und demzufolge kann auch nicht ein „Sieg“ der einen Seite gegen die andere diesem Verbrechen, diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, sondern nur ein Waffenstillstand sowie Friedensverhandlungen. Böse, abscheulich und verbrecherisch sind weder alleine die Russen noch alleine die Ukrainer. Böse, abscheulich und verbrecherisch ist der Krieg als solcher und die Unfähigkeit machtgieriger Politiker, ihn so schnell wie möglich und wenn nötig auch unter gegenseitiger territorialer und  politischer Zugeständnisse zum Stillstand zu bringen.

Als die ukrainischen Truppen in die Gegend von Isjum einmarschierten, wurden unter anderem Briefe von russischen Soldaten gefunden, in welchen diese die Sinnlosigkeit dieses Krieges und ihre Sehnsucht nach Frieden bekunden. Auch war kürzlich zu vernehmen, dass gemäss Meinungsumfragen die Mehrheit der Russinnen und Russen zwischen 20 und 30 Jahren das schnellstmögliche Ende des Kriegs befürworten. Meldungen, die in den westlichen Medien nicht einen Bruchteil des Widerhalls finden, welche das angebliche „Massaker“ von Isjum ausgelöst haben. Ob es deshalb ist, weil dies alles zu sehr jenes Bild der „bösen“ und „verbrecherischen“ Russen durcheinanderbringen würde, welches in der öffentlichen westlichen Meinungsbildung über so lange Zeit und so planmässig aufgebaut worden ist und uns schon gar nicht mehr auf den Gedanken bringen lässt, es könnte auch alles ganz anders sein?  

Die Trauerfeierlichkeiten für Queen Elizabeth II: Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus überwunden, muss sich augenreibend eines Besseren belehren lassen…

 

Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus endgültig überwunden, muss sich augenreibend dieser Tage eines Besseren belehren lassen: Vom Ausmass der Würdigung, welche ein ganzes Volk gegenwärtig der verstorbenen britischen Königin Elizabeth II entgegenbringt, hätte wohl nicht einmal König Louis XIV, Inbegriff des französischen Absolutismus, kurz vor seinem Tode im Jahre 1715 zu träumen gewagt…

Dabei gäbe es weit mehr als genug Gründe, hinter die Regierungszeit von Elizabeth II einige kritische Zeichen zu setzen. Doch Kritik ist in diesen Tagen höchst unerwünscht. Wer sie dennoch zu äussern wagt, wird schon fast als Staatsverräter abgestempelt. Gefragt ist die Einhelligkeit, das Zusammenstehen, die Verklärung, das schon fast heilige Festhalten an einem Mythos, der aus einer ganz gewöhnlichen sterblichen Frau geradezu eine Ikone werden lässt. Ein beklemmendes Beispiel dafür, was ein Massenwahn bewirken kann, in dem jegliche Sicht auf dunkle oder gegenteilige Seiten der Geschichte ganz und gar zum Schweigen gebracht wird.

Doch die Tränen der Trauernden sind scheinheilige Tränen. Sie gelten nicht vergessenen Opfern der Geschichte, sondern im Gegenteil dem verstorbenen Oberhaupt eines Landes, das im Laufe seiner über viele Jahrhunderte aufrechterhaltenen Kolonialgeschichte für entsetzliche Gräueltaten rund um die Welt verantwortlich ist, Gräueltaten, zu denen eben diese verstorbene Staatsoberhaupt stets nur geschwiegen und es niemals nötig befunden hat, sich dafür offiziell zu entschuldigen.

Die Liste ist lang. Sie beginnt mit dem transatlantischen Sklavenhandel, in den Grossbritannien in grossem Stil involviert war. Grossbritannien besass die weltweit grösste Flotte von Sklavenschiffen und Liverpool galt als „Hauptstadt“ des Sklavenhandels mit dem grössten Sklavenmarkt der Welt. Rund 40 Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen wurden über drei Jahrhunderte hinweg ihrer Heimat entrissen und zu unmenschlicher Arbeit auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas verdammt, zahllose Männer und Frauen, welche diesem Schicksal zu entrinnen versuchten und sich nicht schon auf den Schiffen der Sklavenhändler das Leben genommen hatten, wurden zu Tode gefoltert. Wenn dereinst die wahre Geschichte der Menschheit geschrieben wird, dann wird der transatlantische Sklavenhandel wohl als eines der grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beschrieben werden.

Es würde zu weit führen, sämtliche Verbrechen, die von Engländern zur Zeit des „British Empire“ begangen wurden, an dieser Stelle aufzuzählen. Stellvertretend soll hier von vier Beispielen die Rede sein. Erstens das im April 1919 von britischen Soldaten im indischen Amritsa begangene Massaker an unbewaffneten, für die Freilassung politischer Gefangener Demonstrierender, bei dem Hunderte von Männern, Frauen und Kindern ums Leben kamen. Rechnet man die Opfer weiterer Auseinandersetzungen zwischen den britischen Kolonialherren und der indischen Zivilbevölkerung dazu, so kommt man auf die schier unglaubliche Zahl von 75’000. Zweitens die Mau-Mau-Rebellion kenianischer Widerstandskämpfer zwischen 1952 und 1961, die von der britischen Besatzungsmacht mit ganz besonderer Brutalität niedergewalzt wurde: Rund 150’000 Kenianerinnen und Kenianer wurden interniert, gefoltert, verstümmelt, bewusstlos geprügelt, bei lebendigem Leib verbrannt, hingerichtet oder sexuell missbraucht, 90’000 kamen ums Leben. Drittens die Suezkrise 1956, bei der unter anderem britische Truppen Tausende ägyptische Unabhängigkeitskämpfer töteten. Schliesslich, viertens, die Unterstützung des südafrikanischen Apartheidregimes durch Grossbritannien, die als Folge europäischer Kolonialherrschaft bis heute den Alltag Südafrikas prägt.

Für alle diese und viele weitere, hier nicht erwähnte Verbrechen hat sich, wie gesagt, Queen Elizabeth II nie entschuldigt und nie öffentlich dazu Stellung genommen. Nicht einmal zur „Black-Lives-Matter“-Bewegung, mit der eine Geschichte jahrhundertelanger Unterdrückung wenigstens ein klein wenig aufgearbeitet hätte werden können, hat sich Elizabeth II jemals geäussert. Dies alles ist umso stossender, als es ja zwischen der kolonialen Ausbeutungsgeschichte und jenem Reichtum Europas, zu dem sich zweifellos auch das britische Königshaus zählen darf, einen ganz direkten Zusammenhang gibt: Über 500 Jahre hinweg hat die Ausplünderung des Südens durch den Norden all die Schätze und die Früchte aus Zwangs- und Sklavenarbeit im Süden nach und nach in jenes Gold verwandelt, das den Grundstein bildet sollte für jenen europäischen Wohlstand, von dem wir bis heute profitieren. Wenn der neue König Charles III nun von seiner verstorbenen Mutter rund 500 Millionen Franken erben wird, dann steckt auch in diesem Geld ein Teil jener Qualen, jenes Elends und jener Zerstörungen, welche Grossbritannien über so lange Zeit in seinen Kolonien angerichtet hat.

Wann endlich werden nicht nur absolutistische Herrscher zu Grabe getragen, sondern auch der Absolutismus als solcher? Wann endlich werden die wahren Ursachen jahrhundertelanger Ausbeutung und all die weltweit verheerenden Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum aufgedeckt? Wann wird die Geschichte nicht mehr die Geschichte der Herren, der Reichen und Mächtigen sein, sondern die Geschichte ihrer Opfer? Wann wird kritischer Journalismus wieder die Regel sein und nicht die seltene Ausnahme? Wann endlich werden die Tränen nicht mehr für jene vergossen, die auf der Sonnenseite der Geschichte stehen, sondern für jene, die im Schatten sind? Wenn wir das verfolgen, was dieser Tage in Grossbritannien geschieht, dann ist das alles wohl noch ein sehr, sehr weiter Weg…

Michail Gorbatschow und die versäumten Chancen des Westens

 

„Michail Gorbatschow“, so twitterte die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock am 30. August 2022, “ hat sich in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen den Menschen leiten lassen. Das Ende des Kalten Kriegs und die deutsche Einheit sind sein Vermächtnis. Wir trauern um einen Staatsmann, dem wir dafür ewig dankbar sind.“

Die von nahezu sämtlichen westlichen Politikern und Politikerinnen geteilte Dankbarkeit gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion dafür, dass er den Kalten Krieg beendet hat, hat jedoch noch eine andere, weitaus fragwürdigere und zwiespältigere Seite. Denn Gorbatschow strebte nicht nur mehr Demokratie und Wirtschaftsreformen innerhalb der Sowjetunion an – deren Zerfall nicht sein Ziel gewesen war -, sondern er strebte weit darüber hinaus eine neue Weltordnung an, die auf globaler Partnerschaft, Frieden und Abrüstung aufbauen sollte. „Wir alle“, sagte er, „sind Passagiere an Bord des Schiffs Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah gibt es nicht.“ Immer wieder betonte Gorbatschow die Bedeutung der friedlichen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: „Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind. Entweder steigen sie zusammen weiter bis zum Gipfel, oder sie stürzen zusammen in einen Abgrund.“ Nicht nur gegenüber dem Kommunismus legte er eine kritische Haltung an den Tag, sondern ebenso gegenüber dem Kapitalismus – beide Wirtschaftssysteme müssten überwunden werden, um einer neuen, menschenfreundlichen Ordnung Platz zu machen, einem neu zu schaffenden Humanismus, der sowohl die Nachteile des Kommunismus wie auch jene des Kapitalismus überwinden müsste: „Für die Zukunft besteht die Wahl nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus, sondern es geht um eine Synthese all jener Erfahrungen, die wir in diesen beiden Systemen gemacht haben.“ Konsequenterweise vertrat Gorbatschow dabei auch stets eine unmissverständliche Friedens- und Abrüstungspolitik: „Eben deshalb ist es notwendig, die nukleare Guillotine niederzureissen. Die kernwaffenbesitzenden Mächte müssen über ihren nuklearen Schatten springen, hinein in eine kernwaffenfreie Welt.“ Doch Gorbatschow stellte nicht nur die Kernwaffen in Frage, sondern ganz generell den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte: „Keines der aktuellen Probleme – Massenvernichtungswaffen, Armut, Umweltschutz und Terrorismus – kann mit militärischen Mitteln gelöst werden.“

Der Westen hätte nur die ausgestreckte Hand Gorbatschows ergreifen müssen und Veränderungen globalen Ausmasses in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung wären möglich geworden. Doch was geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, sondern zurückgeschlagen. Nicht der Beginn einer neuen friedlichen Weltordnung wurde gefeiert, sondern, wie es der amerikanische Ökonom Francis Fukuayama sagte, der „endgültige Sieg des westlichen Wirtschaftsmodells über alle mit im konkurrenzierenden Systeme“. Und der damalige US-Präsident George Bush sagte im Februar 1990: „Wir haben gewonnen, nicht sie.“ Mit anderen Worten: Wir, der Westen, haben die Schlacht gewonnen und nun bestimmen wir alleine, wie es weitergehen soll. „Dies“, schreibt der SPD-Politiker Klaus von Dohnany in seinem kürzlich erschienenen Buch „Nationale Interessen“, „erweist sich heute als grösste vertane Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa und für die Möglichkeit, Russland heute in den globalen Auseinandersetzungen als Partner zu behandeln.“

Den Triumph des Siegers sollte Russland nun auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen. Obwohl der amerikanische Aussenminister Jim Baker und Präsident Bush Gorbatschow 1991 zugesichert hatten, die NATO „keinen Inch“ nach Osten auszudehnen, erfolgte genau dies, Land um Land, bis an die Grenzen Russlands – ein Vorgehen, das man, auf der Gegenseite, damit vergleichen könnte, dass sich Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden, was die USA wohl kaum so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Es wird zwar oft gesagt, der Westen hätte bezüglich NATO-Osterweiterung nie eine schriftliche Zusicherung abgegeben. Gorbatschow musste sich also den Vorwurf gefallen lassen, gegenüber dem Westen zu leichtgläubig gewesen zu sein und sich auf mündliche Aussagen verlassen zu haben. In völliger Missachtung von Gorbatschows Zukunftsvision einer friedlichen Weltordnung steht auch die Tatsache, dass die USA rund um Russland herum Hunderte von Militärstützpunkten eingerichtet haben und die NATO über ein Militärbudget verfügt, dass 20 Mal höher ist als jenes von Russland. Eine weitere Machtdemonstration des Westens erfolgte 2019, als US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte, welcher 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelt worden war und die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. „Gorbatschow kritisierte diesen Schritt scharf als  leichtsinnig und als Gefahr für den Weltfrieden“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 1. September 2022, „doch da hörte ihm längst niemand mehr zu.“

Da hörte ihm schon längst niemand mehr zu. Dabei wäre Gorbatschows Vision einer friedlichen Weltordnung heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten aktueller denn je. Es nützt niemandem etwas, wenn nun plötzlich alle vom „Friedensengel“ Gorbatschow schwärmen. Es nützt auch niemandem etwas, dass man ihm den Friedensnobelpreis verliehen hat. Es sei denn, man nähme ihn und seine Botschaft der Menschenliebe wenigstens jetzt, nach seinem Tode, ernst. Würde sich das westlich-kapitalistische Machtsystem ebenso friedlich und gewaltlos auflösen, wie sich die Sowjetunion aufgelöst hat, dann, ja dann könnte man tatsächlich von einem wahren Zeitensprung in der Menschheitsgeschichte sprechen, denn, wie Gorbatschow sagte: „Gefahr wartet nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ 

Energieunternehmen: Milliardengewinne, während die Menschen hungern und frieren…

 

„Die Schreckensnachricht kam an diesem Freitag“, so berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 28. August 2022, „schon in den Morgennachrichten verkündete die britische Aufsichtsbehörde Ofgem, dass die Versorgeunternehmen ihre Preise ab Anfang Oktober um 80 Prozent anheben dürfen – ein Schlag nicht nur für die Ärmsten der Armen, sondern auch für jede normale Familie. Ein durchschnittlicher Haushalt wird dann für Gas und Elektrizität umgerechnet 337 Franken im Monat zahlen müssen, derzeit sind es 186 Franken. Für manche Engländerinnen und Engländer wird das bedeuten, seltener zum Friseur zu gehen, Ferien zu streichen und auf eine neue Kleidung zu verzichten. Manche sorgen sich gar, ob sie es sich noch leisten können, ihr Dialysegerät einzuschalten.“

Nicht nur in Grossbritannien, sondern weltweit leiden die Menschen unter steigenden Energiepreisen. Gleichzeitig haben die fünf grössten westlichen „Big Oil“-Konzerne im 2. Quartal 2022 die Rekordsumme von 62 Milliarden Dollar verdient. Von 4,7 Milliarden Dollar im 2. Quartal 2021 stieg der Gewinn von ExxonMobil auf 17.9 Milliarden Dollar im 2. Quartal 2022, Shell steigerte seinen Gewinn von 5,5 Milliarden Dollar auf 11,5 Milliarden, TotalEnergies von 3,5 auf 5,7 Milliarden und Repsol von 0,7 auf 2,7 Milliarden Dollar. „ExxonMobil“, so der amerikanische Präsident Joe Biden unlängst, „hat dieses Jahr mehr verdient als Gott.“

Drastischer könnte das Versagen des „Freien Markts“ nicht zutage treten. Entgegen aller Vernunft, entgegen allen gesunden Menschenverstands hat dieser „Freie Markt“ eine Eigendynamik entwickelt, die offensichtlich niemand mehr und schon gar nicht die Politikerinnen und Politiker auch nur annähernd im Griff haben. Während Menschen hungern und frieren, scheffeln Grosskonzerne Milliardengewinne. Das betrifft nicht nur die Versorgung mit Elektrizität, Erdöl und Gas, es betrifft beispielsweise auch die Lebensmittelversorgung in zahlreichen armen und sehr armen Ländern, wo vielerorts zwar ausreichend Nahrung vorhanden wäre, die Lebensmittelpreise aber so hoch sind, dass die meisten Menschen sie gar nicht kaufen können. Der „Freie Markt“ richtet sich eben nicht in erster Linie nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach den Bedürfnissen des Kapitals und der Konzerngewinne. Dabei beruht alles auf dem ominösen Glaubenssatz, wonach knappe Güter zwangsläufig teurer sein müssten als solche, die reichlich vorhanden sind. Doch was für ein teuflischer Glaubenssatz ist das denn? Ihm zu folgen, bedeutet nichts anderes, als Millionen von Menschen ins Elend zu stürzen und viel zu viele von ihnen dem Hunger und dem Tod preiszugeben.

Der Markt spiele „verrückt“ – ist auch von Unternehmerseite immer wieder zu hören. Und unlängst meinte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Gasmarkt sei so kompliziert, dass er selber auch nicht mehr den Durchblick hätte. Doch wenn der „Freie Markt“ schon so verrückt spielt und so tödliche Auswirkungen hat: Weshalb setzen wir ihm nicht so schnell wie möglich ein Ende? Das wäre ja gar nicht so schwierig: Sämtliche Energiekonzerne müssten verstaatlicht werden, die weltweite Energieproduktion und Energieversorgung müssten so organisiert werden, dass die vorhandene Energie zu fairen Preisen und gerecht verteilt werden müsste und sich niemand auf Kosten anderer mit diesem Geschäft bereichern könnte. Allfällige „Überschüsse“ dürften nie und nimmer in den Taschen von Aktionärinnen und Aktionären verschwinden, sondern müssten in die Förderung erneuerbarer Energiequellen investiert werden. Nur eine weltweit winzige Minderheit von Profiteuren würden sich wohl einem solchen Ansinnen entgegenstellen, während die ganz überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung zweifellos ganz erheblich davon profitieren würde. 

Das Geld, welches der AHV fehlt, findet sich wieder in den Taschen der Reichen und Reichsten…

 

Eigentlich ist es absurd. Über Generationen hart geleisteter Arbeit haben die Schweiz zu dem gemacht, was sie heute ist: das reichste Land der Welt. Wäre es nun nicht an der Zeit, auch entsprechende soziale Reformen entschieden voranzutreiben und beispielsweise den Menschen einen wohlverdienten längeren Lebensabend zu gewähren? Müsste, anders gefragt, nicht das Rentenalter gesenkt werden, anstatt es weiter anzuheben und schon mit einem künftigen Pensionierungsalter von 67 oder gar 70 Jahren zu drohen? Doch seltsamerweise geht die Diskussion nur in eine einzige Richtung, nämlich in Richtung einer zukünftigen Erhöhung des Rentenalters. Und niemand scheint auf die Idee zu kommen, die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung zu lenken, in die Richtung einer längerfristigen Senkung des Rentenalters oder einer Flexibilisierung des Rentenalters zwischen 62 und 65 Jahren, so wie dies schon vor längerer Zeit diskutiert wurde, in der heutigen öffentlichen Diskussion aber kein Thema mehr ist.

Das Hauptargument für eine Erhöhung des Rentenalters lautet, dass sich die Renten längerfristig nicht finanzieren liessen, wenn eine immer kleinere Zahl von Erwerbstätigen für eine immer grössere Zahl von Rentenbezügerinnen und Rentenbezügern aufkommen müssten. Dazu ist zu sagen, dass das Geld, welches für die Renten fehlen könnte, längst irgendwo ganz anders zu suchen ist, nämlich bei den Kapitalgewinnen, die nicht aus Arbeit entstehen, sondern aus jenem Geld, das aus der Arbeit der Werktätigen herausgepresst wird und in den Taschen der Reichen, der Unternehmerinnen, der Aktionäre verschwindet. Während noch bis vor etwa 20 Jahren das gesamtschweizerische Einkommen aus Arbeit jenes aus Kapital übertroffen hatte, ist es heute genau umgekehrt: Das Gesamteinkommen aus Kapital übertrifft jenes aus Arbeit bei Weitem. Allein die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer besitzen über 800 Milliarden Franken, das ist mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz und etwa gleich viel wie das jährliche Militärbudget der USA. Allein im Jahre 2021 verzeichnete das Vermögen der 300 Reichsten eine Zunahme von sage und schreibe 115 Milliarden Franken. Auf der anderen Seite beträgt das kumulierte Defizit der AHV gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen bis im Jahr 2050 über 260 Milliarden Franken, jährlich also rund 10 Milliarden, mehr als zehn Mal weniger, als die 300 Reichsten im gleichen Zeitraum „verdienen“. Allein der jährliche Vermögenszuwachs der 300 Reichsten würde also genügen, um die AHV um mehr als das Zehnfache zu sanieren. Und das sind erst die 300 Allerreichsten, von allen anderen zahllosen Milliardären und Millionären gar nicht zu reden.

Eine Herabsetzung des Rentenalters, zum Beispiel auf 62 Jahre mit der Möglichkeit flexibler Lösungen bis zu 65 Jahren, wäre also durchaus realistisch – vorausgesetzt, eine Umverteilung von Kapitaleinkommen in den öffentlichen Haushalt würde entschieden in Angriff genommen. Doch wird in der öffentlichen Diskussion dieser Zusammenhang kaum je thematisiert – als hätte die reiche Minderheit so etwas wie ein „gottgegebenes“ Anrecht darauf, sich auf Kosten der werktätigen Bevölkerung zu bereichern und in immer grösserem Luxus zu leben, den andere für sie erwirtschaften, indem sie immer härter und immer länger arbeiten müssen. Es geht darum, die Diskussion zu öffnen, auszuweiten. Wer über Renten und über Pensionierungsalter diskutiert, muss auch über das kapitalistische Wirtschaftssystem diskutieren, wie es funktioniert und welches seine Profiteure sind und welches seine Opfer. 

Heute diskutieren wir über eine Angleichung des Frauenrentenalters an jenes der Männer. Weshalb diskutieren wir nicht über eine Angleichung des Männerrentenalters an jenes der Frauen? Weshalb soll das, was in Frankreich möglich ist, nämlich ein Pensionierungsalter von 62 Jahren, in der Schweiz nicht möglich sein? Weshalb geht die Diskussion stets nur in die eine Richtung, in die Richtung einer immer grösseren Auspressung der Werktätigen und immer verrückterer Kapital- und Börsengewinne – statt in die Gegenrichtung, in die Richtung eines allgemeinen Anspruchs auf einen wohlverdienten Lebensabend, eines umfassenden Gemeinwohls, eines fairen Teilens aller erarbeiteten Früchte und einer sozialen Gerechtigkeit nicht für einige Wenige, sondern für alle?

Kriege können nur so lange dauern, als die künstlich aufgebauten gegenseitigen Feindbilder nicht durchbrochen werden…

 

Die öffentliche Aufführung von musikalischen Werken russischer Komponistinnen und Komponisten wird vom ukrainischen Parlament verboten. 100 Millionen Bücher russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt. Zahlreiche Strassennamen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden umbenannt, betroffen sind Alexander Puschkin, Leo Tolstoi, Anton Tschechow und 92 weitere berühmte russische Persönlichkeiten; eine Strasse erhält den Namen „Strasse der Helden des Regiments Asow“, jener ukrainischen Kampftruppe, die für ihre besonders grausamen Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung im Donbass bekannt ist. Sämtliche Gewerkschaften sollen entmachtet und alle verbrieften Arbeitnehmerrechte aufgehoben werden. Alle Oppositionsparteien ausser der rechtsradikalen Swobodapartei werden verboten, ebenso alle regierungskritischen TV-Sender. In Dnipropetrowsk wird eine Frau an einen Pfahl gefesselt und durchgeprügelt, weil sie auf Russisch kommuniziert hat – ähnliche Fälle sind auch von zahlreichen anderen Städten bekannt. Und der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko fordert die Wiedereinführung des Eisernen Vorhangs…

Schlagzeilen, die man in den westlichen Medien vergeblich sucht. Denn sie würden das Bild, welches von den politischen Machtträgern und Wortführerinnen des „freien“ Westens zurechtgezimmert worden ist, bloss auf unliebsame Weise stören. Dieses Bild eines demokratischen, mustergültigen, heroischen Landes, das sich mit Haut und Haaren gegen einen bösen, gewalttätigen und verbrecherischen Despoten und seine ebenso rücksichtslose, vor nichts zurückschreckende Armee zur Wehr setzt.

Doch, wie der österreichische Philosoph Paul Watzlawick sagte: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist eine gefährliche Selbsttäuschung.“ Doch nur diese Selbsttäuschung – auf beiden Seiten des Grabens zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ – hält den Krieg in Gange: Dass jede Seite in der anderen einen dermassen grausamen, unnachgiebigen, ja geradezu teuflischen Feind zu sehen glaubt, dem gar nicht anders beizukommen ist als durch Waffengewalt. Und so werden alle unliebsamen Tatsachen, alles, was dieses Bild stören könnte, entweder verschwiegen oder, wenn es nicht mehr anders geht, als „Propaganda“ oder gar als „Verschwörungstheorie“ diskreditiert, womit man dann schon mal allen Zweiflern und Skeptikerinnen den Wind aus den Segeln genommen hat, denn wer wollte schon der feindlichen Propaganda oder einer „Verschwörungstheorie“ auf den Leim gegangen sein.

„Der Aufbau von Feindbildern“, so der Autor Thomas Pfitzer, „ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“ Ist das Feindbild erst einmal geschaffen, die Trennlinien zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ widerspruchslos gezeichnet und alle möglichen menschlichen Kontakte zwischen „Freund“ und „Feind“ unterbunden, dann braucht es auf beiden Seiten nur noch die notwendigen Stichworte und schon bewegen sich die Massen wie auf Knopfdruck in die gewünschte Richtung. Deshalb ist jegliches „Einheitsdenken“ so gefährlich, es verunmöglicht den so unerlässlichen Gedanken, die so unverzichtbare Idee, dass alles auch ganz anderes sein könnte als so, wie es auf der Oberfläche erscheint. „Wenn man mit der Masse geht“, sagte Albert Einstein, „kommt man so weit wie die Masse. Wenn man den eigenen Weg geht, kommt man an Stellen, wo noch keiner war.“

Den eigenen Weg gehen, sich von der Masse absetzen, hinter den Scheinwirklichkeiten die Wahrheit zu suchen – nichts ist wichtiger als dies in einer Zeit, wo Menschen künstlich voneinander getrennt und zu gegenseitigen Feinden erklärt werden. Denn nur von Angesicht zu Angesicht können die Menschen erkennen, dass all das, was sie miteinander verbindet, ungleich viel stärker ist als das, was sie voneinander trennt. Deshalb können Kriege nur genau so lange dauern, als es den Mächtigen auf beiden Seiten gelingt, die gegenseitig aufgebauten Feindbilder aufrechtzuerhalten. Und das heisst: Der Frieden beginnt genau in dem Augenblick, da sich diese Feindbilder auflösen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.

Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, sich nicht nur mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, sondern auch mit der Gegenwart

 

„Die Geschichte der DDR“, schreibt Peer Teuwsen in der „NZZ am Sonntag“ vom 21. August 2022, „diese Diktatur, die vierzig Jahre lang Millionen von Menschen gefangen hielt, ist in weiten Teilen unaufgearbeitet. Und das in einem Land, das so stolz ist auf seinen Umgang mit den eigenen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Es gibt keinen Lehrstuhl für die Geschichte des Kommunismus, fast keine Museen, die sich mit der Gewalterfahrung in der DDR auseinandersetzen, kaum andere Formen des Gedenkens an die Opfer der realsozialistischen Diktatur, die Forschung ist praktisch zum Stillstand gekommen.“

Es ist zweifellos wichtig, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Aber mindestens so wichtig wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Wer bloss die Analyse der Vergangenheit fordert, verfestigt damit die allgemein verbreitete Auffassung, wonach wir selber in der besten aller Welten leben und „Böses“ oder „Schlechtes“ daher nur entweder in der Vergangenheit oder aber ausserhalb unserer eigenen Welt, ausserhalb unseres eigenen Denksystems, ausserhalb unseres eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, vorkommen kann. Tatsächlich aber ist der Kapitalismus, in dem wir leben, ein ebenso willkürliches, nach ganz bestimmten Gesetzen funktionierendes und mit zahllosen Unzulänglichkeiten, Widersprüchlichkeiten und zerstörerischen Auswirkungen behaftetes Gesellschaftssystem. Dass eine grundlegende kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus nicht nur in Deutschland, sondern in sämtlichen westlich-kapitalistischen Ländern weitgehend inexistent ist, hat wohl damit zu tun, dass die systematische kapitalistische Gehirnwäsche über 500 Jahre hinweg uns so weit gebracht hat, dass wir uns ein von Grund auf anderes, nichtkapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem schon gar nicht mehr vorstellen können und wir daher, wie eine bekannte Redewendung sagt, den Wald vor lauter Bäumen gar nicht mehr zu sehen vermögen. Auch die verschiedenen politischen Parteien täuschen bloss eine demokratische Vielfalt vor, tatsächlich sind sie nichts anderes als einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. 

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus wäre gerade in der heutigen Zeit dringender denn je, sind doch die immer grösser werdenden Herausforderungen von der sozialen Frage über die Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel mehr oder weniger direkte Folgen eines Wirtschaftssystems, das nicht so sehr auf die Bedürfnisse der Menschen und schon gar nicht auf die Bedürfnisse der Natur ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse der Aktienkurse, der Profitmaximierung und des Bruttosozialprodukts. Kapitalismus bedeutet, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was zur Folge hat, dass in den Ländern des reichen Nordens ein Drittel der gekauften Lebensmittel im Müll landen, während weltweit 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Kapitalismus heisst, dass man nicht dadurch reich wird, dass man viel arbeitet, sondern dadurch, dass man reich geboren wird. Kapitalismus bedeutet, dass das Geld nicht als Mittel zur allgemeinen Wohlstandsvermehrung dient, sondern als Instrument, welches es jenen, die es besitzen, ermöglicht, sich der Arbeitskraft jener zu bemächtigen, die es nicht besitzen – was dazu führt, dass sowohl die Zahl der weltweiten Millionäre und Milliardäre wie auch die Zahl jener, die selbst in den wohlhabenderen Ländern des Nordens von existenzieller Armut betroffen sind, unaufhörlich in die Höhe wachsen. Kapitalismus heisst, dass das weiterhin unangefochtene Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums dazu führt, dass die natürlichen Ressourcen in einem so grossen Masse ausgebeutet werden, dass ein Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten in 50 oder 100 Jahren mehr und mehr in Frage gestellt ist.

Ja. Es gäbe genug Anlass, sich mit der Gegenwart ebenso kritisch auseinanderzusetzen wie mit der Vergangenheit. Eigentlich müsste das schon in der Schule beginnen, wo nebst dem Einmaleins und dem ABC der Buchstaben auch das ABC des Kapitalismus vermittelt werden müsste. Und erst recht müssten an den Universitäten Lehrstühle für Kapitalismuskritik und Systemtheorien eingerichtet werden. Und auch Museen sollten sich nicht nur mit den Verbrechen vergangener totalitärer Systeme befassen, sondern auch mit den ganz aktuellen und gegenwärtigen Verbrechen, die im Namen des Kapitalismus begangen werden und an denen wir alle, solange wir uns nicht darüber empören und uns dagegen auflehnen, mitbeteiligt sind. 

Echte Meinungsvielfalt, Selbstkritik und das Hinterfragen von all dem, was bloss als „gottgegeben“ und „alternativlos“ angesehen wird, dies alles sind unverzichtbare Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Denn die „moderne Diktatur“, so der US-amerikanische Schriftsteller Gore Vidal, „kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen, sondern mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und mit einer Erziehung, die verdummt.“

Was haben der Ukrainekonflikt und das christliche Gebot der Feindesliebe miteinander zu tun?

 

„Ich verurteile Putins Aggressionskrieg“, sagt der Zürcher Musiker Dodo Jud in einem Interview mit dem „Tagblatt“ am 18. August 2022, „aber ich würde Putin meine Botschaft der Liebe, des Friedens, der Ehrlichkeit, des Respekts und der Gerechtigkeit übermitteln und ihn als Teil der Menschheit umarmen.“ Was für eine Ungeheuerlichkeit! Ich höre schon tausende Empörte wie hungrige Hyänen über jemanden, der in der heutigen Zeit noch so etwas zu sagen wagt, herfallen. Das Harmloseste, was er zu hören bekäme, wäre wohl die Aufforderung, sich als „Putinfreund“ so schnell wie möglich von der Schweiz zu verabschieden und sich nach Russland zu begeben. Doch Hand aufs Herz: Hat nicht Jesus genau das Gleiche gesagt? „Ihr habt gehört, was gesagt ist“, lesen wir in Kapitel 5 des Matthäusevangeliums, „du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde.“ Auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King berief sich immer wieder auf diese Botschaft. „Die Liebe auch zu unseren Feinden“, sagte er, „ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen. Jesus ist kein weltfremder Idealist, sondern ein praktischer Realist.“ Gerade das Beispiel von Martin Luther King zeigt, dass Feindesliebe nichts mit Weichheit, Ängstlichkeit oder Feigheit zu tun hat. Im Gegenteil: Martin Luther King kämpfte stets unerschrocken, mutig und setzte sich grössten Gefahren aus, die ihm schliesslich sogar das Leben kosten sollten – doch nie wich er vom Prinzip der Gewaltlosigkeit ab, setzte ausschliesslich auf gewaltfreie Aktionen wie Sitzstreiks, Märsche und Boykotte und distanzierte sich von Mitstreitern, die den Weg der Gewalt beschreiten wollten. 

Nun gut, werden viele sagen, aber man kann doch nicht einen Tyrannen, Despoten oder Gewalttäter wie Putin lieben wollen. Einen, der einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen und abertausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Eine solche Argumentation ist auf den ersten Blick zweifellos nachvollziehbar. Und doch müssen all jene, die in Putin schon fast die Wiedergeburt des Teufels zu erkennen glauben, zur Kenntnis nehmen, dass der von den USA angeführte Krieg gegen den Irak 2003 ein weitaus Mehrfaches an Todesopfern gefordert hatte, ohne dass der hierfür verantwortliche US-Präsident George W. Bush dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Auch müsste man zur Kenntnis nehmen, dass die weltweite Ungleichverteilung der Nahrungsmittel, welche zur Hauptsache eine Folge der westlich-kapitalistischen Handelspolitik ist, dazu führt, dass jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – eine Tatsache, die längst jedem auch nur einigermassen informierten Bürger, jeder auch nur einigermassen informierten Bürgerin der westlichen Hemisphäre bekannt sein müsste, ohne dass sich nennenswerter politischer Widerstand regen würde, diesen Missstand, den man nicht anders bezeichnen kann denn als himmelschreiendes Verbrechen, aus der Welt zu schaffen. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen oder gar zu verharmlosen. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Verbrechen. Aber der Irakkrieg 2003 war eben auch auch ein Verbrechen, ebenso wie der Hungertod von 15’000 Kindern jeden Tag. Wenn wir, zu Recht, die Missetaten und Verbrechen anderer anprangern, dann müssen wir, um glaubwürdig zu sein, unsere eigenen Missetaten und Verbrechen ebenso klar, unmissverständlich und hartnäckig anprangern.

Mit seiner Aussage, Putin umarmen zu wollen, hat Dodo Jud sozusagen die Welt auf den Kopf gestellt und gesagt: Schaut mal her, eigentlich könnte man alles auch ganz anders anschauen. Genau solche Perspektivenwechsel brauchen wir in der heutigen Zeit, wo die Fronten hüben und drüben fester eingefahren zu sein scheinen als je zuvor und es nur noch die „Wahrheit“ auf der einen Seite gibt und die „Wahrheit“ auf der anderen und nichts dazwischen. Feindesliebe löst die Fronten auf, macht den Blick frei für Neues, was man zuvor noch nicht gesehen hat. Bloss auf der Seite der „Mehrheit“ zu sein, heisst noch nicht, im Besitze der Wahrheit zu sein. Denn, wie der amerikanische Schriftsteller Mark Twain so treffend sagte: „Wann immer du feststellst, dass du auf der Seite der Mehrheit bist, ist es Zeit innezuhalten und nachzudenken.“ Auch Albert Einstein betonte stets die Bedeutung eigenständigen Denkens als Grundvoraussetzung für die Demokratie und warnte vor der Gefahr jeglichen „Gleichschritts“, bei dem sich alle in die gleiche Richtung bewegen und niemand mehr fragt, wohin es denn überhaupt gehe. „Wenn man mit der Masse geht“, so Einstein, „kommt man nur so weit wie die Masse. Wenn man den eigenen Weg geht, kommt man an Stellen, wo noch keiner war.“ Dodo Hug mag mit seiner Aussage reichlich weit gegangen sein. Und doch kann nur so Bewegung in das Erstarrte hineinkommen und nur so kann der Blick frei werden für neue Sichtweisen und die Hoffnung auf eine Zukunft, die vielleicht besser sein wird als die Gegenwart…

Drohende Strommangellage: Allmählich merken wir, dass die Party vorbei ist

 

„Angesichts der aktuellen Entwicklung ist das Risiko eines Strommangels für die Schweiz so gross wie nie zuvor“, sagt Valérie Bourdin, Sprecherin des Verbands schweizerischer Elektrizitätsunternehmens. Im schlimmsten Falle drohen im kommenden Winter – nebst Appellen zu individuellem Energiesparen – Verbrauchseinschränkungen, Kontingentierungen und zeitweise Netzabschaltungen für einzelne Industriezweige, Stadtteile oder ganze Dörfer. Was vor einigen Jahren noch als undenkbar galt, liegt heute im Bereich des Möglichen, ja geradezu des Wahrscheinlichen. Doch eigentlich musste es ja eines Tages, mit oder ohne Ukrainekrieg, mit oder ohne Klimawandel, soweit kommen. Denn wir haben über alle Massen auf Pump gelebt, uns – oder zumindest eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – an einen im Vergleich zu fast allen übrigen Ländern der Welt unvergleichlichen Luxus gewöhnt und natürliche Ressourcen in einem Masse verschwendet, welches das, was die Erde im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag, um mehr als das Dreifache übertrifft. 

Eigentlich müsste die Schweiz, in Anbetracht ihres kargen Bodens und dem gänzlichen Fehlen von Rohstoffen und Bodenschätzen, eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie das reichste Land der Welt ist, hat ganz bestimmte Gründe. Wie kein anderes Land hat die Schweiz es verstanden, sich den Reichtum anderer Länder verfügbar zu machen. Obwohl sie selber keines dieser Güter besitzt, ist sie doch der weltweit wichtigste Handelsplatz für Erdöl, Diamanten, Gold, Schokolade, Zucker, Baumwolle, Getreide und viele weitere Rohstoffe und Bodenschätze. Auch erzielt die Schweiz erhebliche Handelsbilanzüberschüsse durch den Import kostengünstiger Rohstoffe und Nahrungsmittel und den Export hochwertiger, teurer Fertigprodukte. Auch kommt der Schweiz eine überragende Rolle als international wichtiger Finanzplatz zu, der immerhin einen Zehntel des gesamten Bruttosozialprodukts ausmacht. Dies alles, sowohl die hochproduktive Wirtschaft wie auch der damit verbundene Lebensstandard, verbraucht stetig wachsende Unmengen an Energie. Und auch diese, wie könnte es anders sein, wird zum allergrössten Teil aus dem Ausland importiert. Ob Erdöl, Gas oder Kohle, ob Uran für die Brennstäbe oder Lithium für die Batterien der Elektromobile – alles muss, oft über lange Wege, von anderen Ländern und Kontinenten herbeigeschafft werden. Selbst die Solarmodule, welche „einheimischen“ Strom produzieren, stammen zum allergrössten Teil aus dem Ausland, vor allem aus China. Und auch die Wasserkraftwerke, auf die wir Schweizerinnen und Schweizer so stolz sind, wurden grösstenteils von Arbeitern aus Italien, Spanien oder Portugal gebaut.

Doch genau betrachtet, zapft die Schweiz, um ihren Energiebedarf zu decken, nicht nur zahllose ausländische Quellen an. Sie zapft, im Bunde mit allen anderen hochindustrialisierten Ländern, auch die Zukunft der Menschheit an. Denn, fast hätten wir es vergessen: Sowohl das Erdöl wie auch die Kohle, sowohl das Erdgas wie auch das Uran für die Atomkraftwerke und selbst das Lithium für die Batterien der Elektrofahrzeuge und die Solarzellen, alles ist endlich und wird eines Tages aufgebraucht sein. In hundert oder zweihundert Jahren wird verprasst sein, was die Erde in Millionen von Jahren hervorgebracht hat. Wir leben gleichsam auf Pump und schieben die Verantwortung für zukünftige Generationen wie einen immer höheren Berg vor uns her – wie den radioaktiven Müll, der noch in zehntausend Jahren seine tödliche Strahlung verbreiten wird.

„Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse“, sagte Mahatma Gandhi, „aber nicht für jedermanns Gier.“ Der Klimawandel wie auch die sich immer deutlicher abzeichnende „Energiekrise“ sind vielleicht der letzte Wink, dass ein grundsätzliches Umdenken stattfinden muss. Bisher lautete die Frage stets: Wie viel Energie brauchen wir? Und dann hat man alles noch so Verrückte getan, um diese steigende Menge an Energie aus den vorhandenen Quellen herauszupressen. Zukünftig müsste die Frage lauten: Wie viel Energie steht uns zur Verfügung, ohne die natürlichen Ressourcen, die Erde, das Klima und die Zukunft in verantwortungsloser Weise zu gefährden? Energie also als kostbares, endliches, sorgsam und sparsam zu nutzendes Gut, das nicht einfach in beliebiger Menge zur Verfügung steht. Eine unbequeme Wahrheit, die bisher nur von vereinzelten Politikerinnen und Politikern ausgesprochen worden ist, an der wir aber, früher oder später, nicht vorbeikommen werden. Denn, wie der deutsche Astrophysiker Harald Lesch unlängst sagte: „Wir haben auf viel zu grossem Fuss gelebt und merken allmählich, dass die Party vorbei ist.“