Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung…

 

Anlässlich eines Treffens mit Parteifreunden im appenzellischen Bühler äusserte sich gemäss „Tagblatt“ vom 15. August 2022 SVP-Bundesrat Ueli Maurer unter anderem auch zum Ukrainekonflikt. Maurer bezeichnete diesen als „Stellvertreterkrieg zwischen Westen und Osten“, es sei ein „Kampf um Machtansprüche“, der „auf dem Buckel der Ukraine“ ausgetragen werde. Bereits haben sich Vertreter mehrerer Parteien von den Aussagen Maurers distanziert und betont, im Falle des Ukrainekrieges gehe es um nichts anderes als die „militärische Aggression“ Russlands gegen ein demokratisches, souveränes Nachbarland. Diese Meinung herrscht auch in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten westlichen Ländern vor. 

Waren die Äusserungen Ueli Maurers also falsch? Keineswegs. All jene, die ihm widersprechen, scheinen sich offensichtlich nicht daran zu erinnern, dass führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 Russland gegenüber die Zusicherung abgegeben hatten, die NATO keinesfalls in Richtung Osten zu erweitern – eine Zusicherung, die der Westen dutzendfach gebrochen hat, indem eines ums andere Land in die NATO aufgenommen wurde bis hin an die russische Grenze. Offensichtlich haben sich all jene, für die der Alleinschuldige im Kreml sitzt, auch noch nie das Gegenteil vorzustellen versucht, nämlich, dass sich Mexiko und Kanada mit Russland verbünden würden und dort Atomraketen aufgestellt würden, die gegen die USA ausgerichtet wären, was die USA zweifellos kaum so mir nichts dir nichts hinnehmen würden. Auch will kaum je irgendwer etwas wissen von den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan anfangs 2014, als die damalige russlandfreundliche Regierung gestürzt und durch eine US-freundliche Regierung ersetzt wurde, wobei mutmasslich der CIA eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint. Auch scheinen viele noch nie etwas gehört zu haben von den geostrategischen Überlegungen sowohl des ehemaligen US-Aussenministers Kissinger wie auch des Sicherheitsberaters Brzezinski, die beide in der Ukraine einen gefährlichen Zankapfel zwischen östlichen und westlichen Machtinteressen sahen und deshalb einen möglichst unabhängigen, blockfreien Status dieses Landes forderten. Auch wird von den westlichen „Hardlinern“ gerne übersehen, dass die NATO über ein zwanzig Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland und dass Russland buchstäblich von allen Seiten her von US-Militärstützpunkten umzingelt ist, während man russische Stützpunkte global schon fast an zwei Händen abzählen kann. Schliesslich scheint auch viel zu wenig bekannt zu sein, dass sich mittlerweile 17 Millionen Hektar ukrainischer Agrarfläche im Besitz der multinationalen Agrarkonzerne Monsanto, Cargill und DuPont befinden, eine Fläche, die grösser ist als die gesamte Agrarfläche Italiens, und dies in einem Land, welches traditionell als wichtige Kornkammer Russlands diente.

Den Blick zu öffnen auf den Konflikt und seine Hintergründe als Ganzes heisst nicht, den militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Jeder kriegerische Akt ist zu verurteilen, egal von welcher Seite er verübt wird. Das gängige Schwarzweissbild zu durchbrechen und gegenseitige Feindbilder zu hinterfragen und abzubauen, kann aber im besten Falle dazu beitragen, den Konflikt zu entschärfen. Was wir heute dringend brauchen, sind keine Scharfmacher und Kriegstreiber. Was wir heute brauchen, sind Politikerinnen und Politiker, die das Augenmass nicht verlieren und unbeirrt für das Gespräch, für den Dialog und für den Frieden einstehen. „Lieber hundert Stunden ergebnislos verhandeln“, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, „als eine Minute lang schiessen.“ Man mag eine solche Haltung als naiv abtun. Aber unvergleichlich viel naiver ist es, daran zu glauben, auf kriegerische Weise einen Konflikt lösen zu können auf eine Art und Weise, dass daraus eine tragbare Lösung für alle Seiten entsteht. Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung, gegenüber nicht nur diesem, sondern ganz allgemein jedem Krieg. Es muss zu denken geben, dass pazifistische Gruppierungen und Bewegungen in Zeiten des Friedens viel grösseren Zulauf gehabt haben als in der heutigen kriegerischen Zeit und dass sich viele einst pazifistisch geprägte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens inzwischen vom Pazifismus losgesagt und distanziert haben. Pazifismus darf keine Modeerscheinung zu sein. Wenn er in friedlichen Zeiten wichtig ist, dann ist er in kriegerischen Zeiten noch unvergleichlich viel unverzichtbarer. Und vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass Pazifismus auch ansteckend sein kann. So wie Kriegsparolen der einen Seite meist zur Folge haben, dass sich auch die Kriegsparolen auf der anderen Seite verstärken, und so wie militärische Aufrüstung auf der einen Seite noch grössere Aufrüstung auf der anderen Seite bewirkt, so ist eben auch das Gegenteil möglich: dass Pazifismus, Friedensliebe und Abrüstung auf der einen Seite zu ähnlichen Bewegungen auf der anderen Seite führen. Dass dies keine Illusion ist, sondern durchaus eine realistische Haltung, lässt sich damit begründen, dass selbst jene Menschen, die am lautesten nach Krieg, Rache und Vergeltung schreien, dennoch in ihrem Innersten die unauslöschliche Sehnsucht nach einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit tragen.

SVP-Bundesrat Ueli Maurer warnte anlässlich seines Treffens mit Parteifreunden in Bühler davor, es könnte schon in wenigen Wochen zu einem atomaren Weltkrieg kommen. Es ist kein Tag zu früh, um dem Pazifismus nicht nur dort, wo gerade ein kriegerischer Konflikt im Gange ist, sondern auch weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Denn, wie schon US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Ukraine: Multinationale Agrarkonzerne besitzen 17 Millionen Hektar Agrarfläche und noch ist kein Ende in Sicht

 

Im Ukrainekonflikt geht es nicht nur um besetzte oder verlorene Territorien, um nationale Grenzen und um eine militärische Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Es geht insbesondere auch um knallharte wirtschaftliche Interessen. Wie soeben veröffentlichte Zahlen belegen, haben sich die US-amerikanischen Agrarkonzerne Monsanto, Cargill und DuPont bereits 17 Millionen Hektar ukrainischen Agrarlandes unter den Nagel gerissen, das ist mehr als die gesamte Agrarfläche Italiens. Aber auch in vielen weiteren Wirtschaftsbereichen wie etwa der Telekommunikation und des Bauwesens wittern westliche Konzerne auf ukrainischem Boden ungeahnte Gewinne, vor allem auch dann, wenn es um den Wiederaufbau des zerstörten Landes nach dem Krieg gehen wird. Wirtschaftliche Expansion ist freilich kein Zufall. Sie ist der eigentliche Motor des Kapitalismus, eines Wirtschaftssystems, das auf unaufhörliches, grenzenloses Wachstum ausgerichtet ist und daher naturgemäss sowohl im Inneren wie im Äusseren eine wachsende Zahl von Territorien benötigt, um immer mehr Rohstoffe, immer mehr Wirtschaftsaktivitäten, immer mehr Arbeit dem Ziel stetiger „Wertvermehrung“ zu unterwerfen. Wahrscheinlich träumen die Apologeten des Kapitals schon heute davon, sich nach der Ukraine auch noch Russland einzuverleiben, dann den Rest der Erdoberfläche, dann sämtliche Ozeane bis in ihre tiefsten Tiefen, dann den Mond, dann den Mars und schliesslich das ganze Universum…

Denn das kapitalistische Prinzip der nicht endenden Profitmaximierung kennt keine Grenzen. Entweder tritt es in Gestalt der Produktivitätssteigerung auf – immer weniger Menschen schaffen in immer kürzerer Zeit einen immer grösseren „Mehrwert“ – oder in Gestalt der Privatisierung – ehemals staatliche Unternehmen im Dienste der allgemeinen Wohlfahrt werden dem Ziel der Gewinnmaximierung unterworfen – oder in Gestalt künstlich geschaffener Konsumbedürfnisse, was vor allem überall dort Vorrang hat, wo sämtliche Grundbedürfnisse bereits abgedeckt sind und „Mehrwerte“ nur dadurch geschaffen werden können, dass man, mithilfe der entsprechenden Werbeindustrie, die Menschen davon überzeugt, Dinge zu kaufen, die sie eigentlich gar nicht wirklich brauchen. Ein weiteres Mittel besteht darin, Löhne so tief anzusetzen, dass Menschen gezwungen sind, mehr als einen Job auszuüben, so lässt sich aus ihnen ein weit höherer „Mehrwert“ herauspressen, als wenn sie nur in einem einzigen Job tätig wären. Dazu kommt die sich spiralförmig steigende Ausdehnung in Zeit und Raum. Die Ausdehnung in der Zeit gemäss dem Motto „Time is Money“: „Mehrwert“ wird geschaffen in immer schnellerem Arbeitstakt. Nicht nur durch Roboter und Maschinen wird das Tempo der Produktion beschleunigt, sondern speziell auch durch die digitalen Kommunikationssysteme, sodass nicht nur das Volumen der Wirtschaftsaktivitäten stetig zunimmt, sondern auch die Geschwindigkeit, in der sie ablaufen. Dann die Ausdehnung im Raum: Sie erfolgt, wie bereits erwähnt, durch territoriale Einverleibung oder etwa, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, durch das Niederbrennen von tropischen Regenwäldern im Umfang von weltweit über 40 Fussballfeldern pro Minute, um auf den so gewonnenen Flächen gewinnbringende Futtermittel anzubauen und unermessliche „Mehrwerte“ zu schaffen. Nichts symbolisiert das Prinzip der Ausdehnung in Raum und Zeit so drastisch wie die kapitalistische Stadt: Aus jedem Quadratmeter wird eine möglichst hohe Rendite herausgepresst und durch immer weiter in die Höhe wachsende Gebäude werden Flächen von ein paar hundert Quadratmetern um das Zwanzig- oder Fünfzigfache ihres eigentlichen Wertes zum willkommenen, x-fachen „Mehrwert“ ihres Besitzers. Gleichzeitig nimmt auch die Geschwindigkeit aller Abläufe stetig zu: Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Tempo, in dem sich Fussgängerinnen und Fussgänger in den Städten bewegen, kontinuierlich erhöht.

Permanente Steigerung der Produktivität. Privatisierungen. Künstlich geschaffene Bedürfnisse. Ausdehnung in Raum und Zeit. Ein Karussell, das sich immer schneller dreht und aus dem immer mehr Menschen, die dem Druck und dem Tempo nicht gewachsen sind, hinausfliegen. Eine Maschine, in der die einzelnen Menschen bloss winzige Rädchen sind, die sich stets alle in die gleiche Richtung drehen. Ein Raubtier, das umso hungriger wird, je mehr es zu fressen bekommt. Doch irgendwann werden die Rädchen durchdrehen, spätestens dann nämlich, wenn es nichts mehr gibt, was sich in Geld verwandeln lässt, dann, wenn die Kluft zwischen denjenigen, denen immer neue Bedürfnisse aufgeschwatzt werden, und denen, die nicht einmal genug zu essen haben, schlicht und einfach viel zu gross sein wird und die Auswirkungen der Klimakatastrophe so gewaltig sein werden, dass auch dem letzten Verfechter des kapitalistischen Wirtschaftssystems die Augen aufgehen müssen und er erkennen wird, dass der eben noch scheinbar unbestrittene Weg grenzenlosen Wachstums und grenzenloser Aneignung von Mensch, Arbeit, Erde und Natur durch das Kapital nichts anderes gewesen ist als ein tödlicher Irrweg. Dann, spätestens, werden wir uns wohl an jene uralte indianische Prophezeiung erinnern, die wir so lange und zu einem so hohen Preis missachtet haben: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“

Wenn man staatliche Unternehmen privatisieren kann, weshalb sollte dann nicht auch das Umgekehrte möglich sein?

 

„England durchlebt in diesem Sommer eine Dürreperiode wie seit langem nicht mehr“, berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 10. August 2022. Und weiter: „Gleichzeitig aber stehen manche Londoner knietief im Wasser. Im Stadtteil Islington ist diese Woche eine Hauptleitung geborsten und hat, zum Entsetzen der Anwohner, stundenlang ganze Strassenzüge überschwemmt. Fünfzig Häuser wurden schwer beschädigt, Pubs und Geschäfte mussten geschlossen werden. Vier Personen mussten vor der Flut gerettet werden. Und bei Tausenden von Haushalten kam anschliessend erst einmal kein Tropfen mehr aus dem Wasserhahn.“ Unlängst berichtete die „Times“, dass der Wasserkonzern „Thames Water“ durch Lecks und Wasserrohrbrüche ein ganzes Viertel seines Wasservolumens – über 600 Millionen Liter pro Tag – verliere. Und trotz der zunehmenden Dürre sei in Südengland seit 1976 aus Kostengründen kein einziges neues Wasserreservoir gebaut worden. Dies alles ist die Folge der Privatisierung der Wasserwerke durch Margaret Thatchers Regierung in den 80er Jahren. Seither steht auch für dringend notwendige Bauten und Infrastrukturen immer weniger Geld zur Verfügung, während Aktionärinnen und Aktionäre Jahr für Jahr mit enormen Beiträgen aus den Wassergebühren bedient und ihre Direktoren mit Millionengehältern bezahlt werden.

Zweites Beispiel: die Privatisierung der britischen Eisenbahngesellschaft im Jahre 1994, unter Premierminister John Major. Damit wurde das Gleis- und Signalnetz vom Betrieb der Bahn getrennt. Für die Infrastruktur der Bahn – 52’000 Kilometer Schienen und 2500 Bahnhöfe – war nun neu das Privatunternehmen Railtrack zuständig, für den Personenverkehr wurden 25 Streckenlizenzen an private Investoren vergeben. Das gesamte Rollmaterial der Bahn wurde an drei Leasing-Gesellschaften verkauft. Während Railtrack in den ersten Jahren noch stattliche Gewinne machte und der Aktienkurs in die Höhe schoss, kam es zu mehreren schweren Zugunglücken – nicht zuletzt wegen der maroden, kaputtgesparten Infrastruktur. Das Pendel schlug in der Folge um: Im Mai 2001 wies Railtrack erstmals einen Verlust von 534 Millionen Pfund aus, fünf Monate später wurde der Konkursantrag angemeldet und seither befindet sich Railtrack de facto wieder in staatlicher Hand.

Drittes Beispiel: Die Zerstückelung des schweizerischen staatlichen Transport- und Telekommunikationsunternehmen PTT im Jahre 1998. Stand zuvor die Erbringung eines qualitativ möglichst hochstehenden Service public im Vordergrund, so haben die einzelnen Sparten, in die das Unternehmen aufgeteilt wurde, vor allem eine grösstmögliche Gewinnmaximierung im Fokus. Wurden früher die Gewinne aus der Telekommunikation in Form von „Quersubventionierung“ der weniger rentablen Brief- und Paketpost zugewiesen, so wandert dieses Geld heute in die Taschen der Manager und der Aktionärinnen und Aktionäre. Leidtragende sind die Kundinnen und Kunden, die immer höhere Preise zu bezahlen haben, und die Angestellten, die einem laufend höheren Leistungsdruck ausgesetzt sind.

Viertes Beispiel: In der Schweiz hat man die Qual der Wahl zwischen nicht weniger als 58 verschiedenen Krankenkassen, von denen jede ihren eigenen Verwaltungsapparat hat, ihre eigenen Kader und Manager, ihre eigenen Gebäude, ihre eigene Infrastruktur und ihr eigenes Marketing, um sich im gegenseitigen Wettbewerb mit allen übrigen Kassen eine möglichst hohe und damit gewinnbringende Zahl von Kundinnen und Kunden zu sichern. Kein Wunder, steigen die Prämien von Jahr zu Jahr unaufhörlich in die Höhe – längst ist erwiesen, dass eine staatliche Einheitskrankenkasse analog der schweizerischen Unfallversicherungsanstalt SUVA viel kostengünstiger arbeiten würde, doch immer und immer wieder ist es den privaten Anbietern durch Lobbying und gezielte Werbeanstrengungen bisher gelungen, ihre Pfründe zu sichern und ein staatliches, einheitliches Krankenkassenmodell zu verhindern.

Die britischen Wasserwerke. Die britische Eisenbahn. Die schweizerische PTT. Die schweizerischen Krankenkassen. Braucht es noch mehr Beispiele, um deutlich zu machen, dass die Privatisierung öffentlicher Aufgaben nur vermeintlich die beste Lösung ist, und wenn, dann eigentlich nur für jene, die daraus einen persönlichen Nutzen ziehen, während die ganz „gewöhnlichen“ Bürgerinnen und Bürger, die Kundinnen und Kunden das Nachsehen haben. Doch wo sind die Grenzen? Wo und unter welchen Umständen ist die Privatisierung die bessere Lösung, wo und unter welchen Umständen die staatliche? Provokativ könnte man die These in den Raum stellen, dass eigentlich stets die staatliche Lösung die bessere ist, da sie eben darauf ausgerichtet ist, der allgemeinen Wohlfahrt zu dienen und nicht dem Gewinnstreben Einzelner. Dass der öffentliche Verkehr dem Wohle der Menschen dienen soll und ein Lebensmittelkonzern in erster Linie dem Wohl seiner Aktionärinnen und Aktionäre, ist eine seltsame und willkürliche Spaltung von zwei Dingen, die eigentlich zusammengehören, denn im Grunde hätte ja auch der Lebensmittelkonzern die vorrangige Aufgabe, dem Wohl der Menschen zu dienen. Es gibt eigentlich keinen einzigen plausiblen Grund, der dagegen spricht, sämtliche Unternehmen zu verstaatlichen. Der französische Automobilhersteller Renault, eines der erfolgreichsten und innovativsten europäischen Unternehmen dieses Sektors, war 51 Jahre lang, nämlich bis zu seiner Privatisierung im Jahre 1996, ein Staatsunternehmen. Und wenn es bei einem Automobilkonzern funktionierte, weshalb sollte es da nicht auch bei einem Lebensmittelkonzern, einer Bank oder einem Bauunternehmen funktionieren?

Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass bei einem privaten Unternehmen die Gewinnzahlen und die Geldgier der Aktionärinnen und Aktionäre den Ton angeben, während es beim staatlichen Unternehmen die allgemeine Wohlfahrt ist, an welcher sich der Betrieb hauptsächlich orientiert. Staatliche Vorgaben wie Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherung, Löhne und Umweltauflagen können eins zu eins umgesetzt werden und müssen nicht durch meist viel zu zahnlose Gesetze und Vorschriften Schritt für Schritt mühsam erkämpft werden. Die Privatwirtschaft mag in Zeiten des Aufbruchs und einer noch weitgehend intakten Umwelt ein sinnvolles Modell gewesen sein. Jetzt, in Zeiten zunehmender sozialer Spaltung und der drohenden Klimakatastrophe, wird sie je länger je mehr zum historischen Auslaufmodell. Man muss ja nicht gleich die ganze Welt auf den Kopf stellen. Es genügt schon, private Unternehmen nach und nach in staatliche umzubilden. Denn wenn Staatsbetriebe in Privatbetriebe umgebaut werden können, dann ist nicht einzusehen, weshalb nicht auch das Umgekehrte möglich sein sollte…

Erste Frachter aus Odessa ausgelaufen: Hühnerfutter für die Reichen statt Brot für die Armen

 

„Als der Frachter Razoni letzte Woche im Hafen von Odessa mit dem Ziel Libanon ablegte“, schreibt das „Tagblatt“ vom 10. August 2022, „feierten Politiker aus aller Welt die Abfahrt als Leuchtfeuer der Hoffnung im Kampf gegen den Hunger. Doch im Libanon, der dringend Getreide braucht, ist die Razoni nicht angekommen. Stattdessen wird sie in der Türkei erwartet. Der Mais an Bord ist nicht einmal für Brot bestimmt, sondern als Hühnerfutter.“ Tatsächlich fährt keines der elf Schiffe, die mittlerweile die ukrainischen Gewässer verlassen konnten, Häfen in armen Ländern an. Die Zielhäfen für die elf Transporte mit mehr als 200’000 Tonnen Mais, Sojabohnen, Sonnenblumenmehl und Sonnenblumenöl sind in der Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China.

Hunger in Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Jemen oder Kenia. Getreide aus der Ukraine als Tierfutter für die Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China. Zynischer und menschenverachtender geht es nicht mehr. Und doch ist das alles nur die ganz „normale“ Art und Weise, wie Produktion, Handel und ganz allgemein Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert: Die Güter fliessen nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Und so werden weltweit rund 40 Prozent aller Agrarflächen für die Produktion jener Unmengen von Fleisch verschwendet, das auf den Tellern des reichen Nordens landet, während gleichzeitig über 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Nicht umsonst sagte Papst Franziskus: „Kapitalismus tötet.“ Haben das all die glühenden Verfechter der sogenannten „freien“ Marktwirtschaft, die ja bloss ein anderes Wort für Kapitalismus ist, immer noch nicht begriffen? Wie viele Tote braucht es noch, bis ihnen die Augen aufgehen?

Doch übermässige Fleischproduktion für die Reichen und Hunger für die Armen sind nur die Spitzen des Eisbergs. Dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können, lässt sich an jedem Produkt auf dem globalen Warenmarkt nachverfolgen. Verfügen wohlhabende Europäer nicht selten nebst einem oder gar zwei Autos pro Familie zusätzlich über mehrere Stadträder, ein Tourenräder und gar noch E-Bikes, müssen zwölfjährige Mädchen in Afrika 15 oder 20 Kilometer weit zu Fuss gehen, um Trinkwasser oder Brennholz für ihre Familie zu beschaffen – und selbst wenn sie ein Fahrrad hätten, sind die Strassen in einem so miserablen Zustand, dass sie es gar nicht benützen könnten. Unter dem Weihnachtsbaum wohlhabender Menschen des Nordens liegen Berge von Kinderspielzeug, angefertigt von chinesischen Fabrikarbeiterinnen, deren Kinder als einziges Spielzeug gerade mal eine Blechdose besitzen, die sie an einer Schnur hinter sich herziehen. Und die Modehäuser des reichen Nordens überquellen derart von viel zu vielen Kleidern, dass diese oft schon im Müll landen, bevor sie auch nur ein einziges Mal getragen wurden – während Millionen von Menschen im ärmeren Süden schon dankbar sein müssen, wenn sie über zwei Paar Hosen, Röcke oder Schuhe verfügen.

Tatsächlich ist aber alles noch viel schlimmer. Denn der Reichtum am einen Ort ist mit der Armut am anderen aufs Engste verknüpft. Nur weil so viele Menschen im Süden Hunger leiden, stehen genügend grosse Agrarflächen zur Verfügung, um die Fleischgier des Nordens und der weltweiten Oberschichten zu befriedigen. Nur weil die Spielzeugfabrikantinnen in China so wenig verdienen, sind die Spielsachen in den Geschäften des Nordens so billig, dass sie von den genug Verdienenden im Norden in solchem Überfluss gekauft werden können. Nur weil afrikanische Minenarbeiter zu einem Hungerlohn Rohstoffe und Metalle in genügender Menge aus dem Boden schürfen, können sich so viele Menschen in den wohlhabenderen Ländern ohne Problem ein Elektromobil oder ein E-Bike leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen.

Als die Frachter infolge der Verminung ukrainischer Häfen nicht auslaufen konnten, reagierten die westlichen Regierungen mit hellster Empörung: Russland sei Schuld, wenn die Menschen nicht mit dem Getreide aus der Ukraine versorgt werden könnten und daher verhungern müssten. Jetzt, wo die Schiffe auslaufen und das Getreide abtransportieren können, wird dieses nicht für die notleidende Bevölkerung in den von Hunger am meisten betroffenen Ländern verwendet, sondern für die Produktion von Fleisch für all jene, die sowieso schon genug zu essen haben und sich diesen Luxus leisten können. Doch angesichts dieses unermesslichen Skandals hüllen sich die gleichen westlichen Regierungen, die eben noch so laut geschrien haben, in Schweigen. Offensichtlich ist es einfacher, den bösen „Feind“ zu beschuldigen und zu diffamieren, als an den Grundfesten der eigenen Ideologie der Profitmaximierung um jeden Preis auch nur ansatzweise zu rütteln. Ja. Viel zu viele Menschen sterben im Krieg. Aber es sterben auch viel zu viele Menschen in dem, was wir „Frieden“ nennen und was doch nichts anderes ist als ein an Grausamkeit nicht zu überbietender Krieg der Reichen gegen die Armen…

Nancy Pelosis Besuch in Taiwan: Veränderung erreicht man nicht durch Konfrontation, sondern nur durch Kooperation…

 

Unter dem Titel „Es ist Zeit für eine ehrliche Diskussion“ schreibt Anja Burri in der „NZZ am Sonntag“ vom 7. August 2022: „Wir müssen Nancy Pelosi dankbar sein. Die 82jährige Sprecherin des US-Repräsentantenhauses hat uns diese Woche eine Lektion erteilt. Mutig, selbstbewusst und eigensinnig ist sie nach Taiwan gereist, Drohungen hat sie ignoriert und dafür im Namen der Demokratie China brüskiert. Ihre Reise, und vielmehr noch Chinas Reaktion darauf, ist ein letzter Weckruf. Die Schweiz muss dringend ihre Neutralitätspolitik überdenken und allenfalls neu justieren.“ 

Ein Ende des Ukrainekonflikts scheint noch in weiter Ferne zu liegen und schon zeichnet sich ein neuer, hochgefährlicher Brandherd ab. Zeugt es in Anbetracht dieser globalen Konfliktpotenziale tatsächlich von „Mut“, in Form eines offiziellen Staatsbesuchs zusätzlich Öl ins Feuer einer schon seit Längerem schwelenden zwischenstaatlichen Auseinandersetzung zu giessen? Wäre es nicht viel mutiger, sich über alle Grenzen hinweg für eine neue globale Friedensordnung stark zu machen? Bereits hat China als Reaktion auf den Taiwanbesuch Nancy Pelosis acht Kommunikationskanäle mit den USA gekappt, darunter Gespräche über den Klimawandel und auch mehrere Militärdialoge. Die Spirale gegenseitiger Drohungen und Machtgebärden dreht sich offensichtlich stets nur immer wieder einzig und allein in die falsche Richtung und an ihrem letzten Ende steht im schlimmsten Falle ein alles vernichtender Krieg, ja vielleicht sogar ein atomarer Weltkrieg. 

Es ist nie zu früh, diese Spirale anzuhalten und dann in die gegenläufige Richtung zu drehen: in die Richtung des Dialogs, der Kooperation, der Abrüstung, des Friedens. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.“ Genau darum geht es: Ob Russen, Chinesen, Europäerinnen, ob die Menschen im Süden oder im Norden, im Westen oder im Osten: Letztlich sind wir alle Brüder und Schwestern, Kinder einer grossen, milliardenfachen Familie – alles Auseinanderreissen, alles Spalten in Freunde und Feinde, alle Trennung durch Grenzen und Ideologien  werden uns nie etwas Gutes bringen, sondern nur Elend, Leid und Zerstörung. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Was alle angeht, das ist die Erde, das ist das gute Leben aller Menschen auf diesem Planeten heute und erst recht in der Zukunft.

 „Im Namen der Demokratie“ hätte Nancy Pelosi durch ihren Taiwanbesuch „China brüskiert“, schreibt Anja Burri. Als würde die Provokation eines Staates oder einer Regierung dazu führen, dass sich die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse verändern und zu mehr Demokratie führen würden. Genau das Gegenteil ist doch der Fall, das müssten wir alle eigentlich schon aufgrund jeglicher zwischenmenschlicher Erfahrung schon längstens wissen: Greift man jemanden an, setzt man jemanden unter Druck, so wird er nicht weicher, sondern nur noch härter. Auch der Ukrainekonflikt bestätigt diese Regel: Je härter die gegen Russland verhängten Sanktionen, umso härter die Repression der russischen Staatsmacht gegen Dissidenten und Andersdenkende im eigenen Land. „Veränderung und Öffnung“, so der deutsche SPD-Politiker Egon Bahr, „erreicht man nicht durch Konfrontation, sondern nur durch Kooperation.“ Und Albert Einstein sagte: „Man kann Probleme nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“ Ja, das Harte kann nur durch Weiches weicher werden. „Auf der Welt gibt es nichts, was weicher und dünner ist als das Wasser“, sagte schon vor mehr als 2000 Jahren der chinesische Philosoph Laotse, „doch um Hartes und Starres zu bezwingen, kommts nicht diesem gleich. Das Weichste in dieser Welt überwindet das Härteste.“ 

Eine neue Denkweise muss sich von den alten Mustern lösen, Grenzen überwinden, ein neues globales Bewusstsein des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen, wo das Wohlergehen der einen stets auch das Wohlergehen aller anderen ist. Globalisierung würde dann nicht mehr nur im weltweiten Handel mit Rohstoffen, Textilien oder Mikrochips bestehen, sondern auch im weltweiten Handel mit Ideen, kultureller Begegnung und Kreativität im gemeinsamen Aufbau einer neuen, friedlichen Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Der Westen nimmt doch stets für sich in Anspruch, das beste aller möglichen Gesellschaftssysteme verwirklicht zu haben. Doch kann sich dies doch nicht allen Ernstes darauf beschränken, ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum zu erzeugen und ein Mehrfaches an Geld für militärische Aufrüstung aufzuwenden als alle anderen Länder der Welt. Wenn der Westen schon eine Vorreiterrolle spielen wollte, dann würde er der ganzen Welt wohl einen ungleich viel höheren Dienst erweisen, wenn er in Richtung auf eine friedliche, gerechte und kooperative Zukunft mit dem guten Beispiel vorangehen würde. „Gibt nicht normalerweise der Klügere nach?“, fragt Gabriele Krone-Schmalz, langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau, in ihrem Buch „Eiszeit“. Und weiter: „Wir halten uns doch eindeutig für die Klügeren, die moralisch Überlegenen, oder nicht? Dann müssten die Schritte zur Entspannung eigentlich vom Westen ausgehen.“ 

Gerade die Schweiz mit ihren traditionellen guten Beziehungen auf alle Seiten wäre prädestiniert, auf diesem Weg einen mutigen Schritt voranzugehen. Ins allgemeine Kriegsgeheul einzustimmen, ist das Einfachste und zugleich Primitivste. Sich hingegen für den Frieden und die Völkerverständigung einzusetzen, ist viel schwieriger und anspruchsvoller, aber umso notwendiger. Dem Harten das Weiche entgegenzustellen, der Gesprächsverweigerung den Dialog, dem Hass die Liebe – kann man sich eine wichtigere, dankbarere und wertvollere Aufgabe vorstellen? „Es ist Zeit für eine ehrliche Diskussion“, so lautete der Titel von Anja Burris Kolumne in der „NZZ am Sonntag“. Ja, je dunkler die Wolken am Horizont alter und neu aufgebrochener Brandherde, globaler Konfliktpotenziale und wachsender Zukunftsbedrohungen, umso wichtiger und unerlässlicher ist es, die alten Pfade zu verlassen und neue, noch nie begangene Wege aufzuspüren. Denn ja: Es ist höchste, allerhöchste Zeit für eine „ehrliche Diskussion“.

Arbeiten in der Gastronomie: „Manchmal fühlst du dich nur noch wie ein Stück Scheisse“

 

Jetzt ist sie schon seit zwölf Stunden auf den Beinen und immer noch ist kein Ende in Sicht. In der dicht gedrängten Bar wird das Servieren zum Spiessrutenlauf. Immer wieder wird sie von Gästen angerempelt und statt einer Entschuldigung kommen meist nur anzügliche Sprüche. Männer, die ihr an den Hintern fassen oder ihr an die Haare greifen, sind keine Seltenheit. Und je länger die Nacht dauert, umso schlimmer wird es, umso unerträglicher der Lärm, umso ungeduldiger die Gäste, die ihr fünftes oder sechstes Bier am liebsten schon auf dem Tisch hätten, bevor sie es noch bestellt haben, umso grösser die Schmerzen in den geschwollenen Füssen und in den Beinen. Gleichzeitig türmen sich hinter dem Tresen Berge von Gläsern, die zwischendurch abzuwaschen sind, während sie schon weiss, dass dies die Ungeduld der Gäste erst recht zum Explodieren bringen wird. Und seitdem eine ihrer Arbeitskolleginnen vor einer Woche gekündigt hat, ist alles doppelt so schlimm. Vierzehn Stunden und nicht einmal die Sperrstunde bringt die ersehnte Erlösung. Am Tresen hängen hartnäckig eine Handvoll Besoffene herum und sie weiss schon jetzt: Diese wird sie nicht so schnell fortbringen, also stellt sie sich schon drauf ein, an die vierzehn Stunden noch eine oder zwei weitere Stunden anhängen zu müssen. Denn sie weiss: Will sie diese letzten Gäste zum Fortgehen bewegen, muss sie schon mal damit rechnen, dass der eine oder andere von ihnen handgreiflich werden könnte. Sie hat einen der härtesten Jobs und verdient doch kaum mehr als das, was sie zum Überleben braucht. Dazu kommen die Arbeitszeiten am Abend, in der Nacht und am Wochenende, die es ihr verunmöglichen, Freundinnen und Freunde zu treffen und ihre Freizeit ebenso lustvoll und entspannt zu verbringen wie all die Besucherinnen und Besucher ihrer Bar, denen sie genau dies ermöglicht. „Es gibt kaum eine Branche, in der die Gegensätze so unvermittelt und doch so verdeckt aufeinanderprallen wie in der Gastronomie“, schreibt die „Wochenzeitung“ am 6. Dezember 2018, „hier der kulinarische Genuss, die inszenierte Leichtigkeit, das scheinbar ewige Lächeln der Angestellten, dort, hinter der Oberfläche, der Stress, die schlechte Bezahlung, die gesundheitliche Belastung. Ein Schleier zwischen zwei Welten, der aufrechterhalten werden will, denn schliesslich geht es um das Geschäft.“ Knallhart hätte es die Serviceangestellte A.N., so die „Wochenzeitung“, auf den Punkt gebracht: „Genug ist genug, ich kann nicht mehr. Die Kündigung war eine richtige Befreiung. Zuletzt habe ich mich nur noch wie ein Stück Scheisse gefühlt.“ Würde man ein Kind, das sich noch nicht an die Absurditäten und Verrücktheiten der kapitalistischen Arbeitswelt gewöhnt hat, fragen, wer denn nun einen höheren Lohn erhalten sollte, die Serviererin im Nachtclub oder der Bankangestellte, der täglich acht Stunden in seinem Büro sitzt und für den der freie Abend ebenso selbstverständlich ist wie das freie Wochenende, dann würde das Kind zweifellos sagen, dass die Serviererin den höheren Lohn bekommen sollte. Die Macht der Gewohnheit hat uns blind gemacht, hat das Verrückte zum Normalen werden lassen und umgekehrt. Das betrifft nicht nur die Serviererin im Nachtclub, es betrifft genauso die Bauarbeiter, die bei Hitze und Kälte und jedem Wetter unsere Häuser bauen, die Krankenpflegerinnen, die bis zur Erschöpfung von Krankenbett zu Krankenbett eilen und es dennoch nicht schaffen, den Bedürfnissen aller ihrer Patientinnen und Patienten gerecht zu werden, die Zimmermädchen in den Hotels, die unter dem unaufhörlichen Renditezwang des Hotelbesitzers eine immer grössere Anzahl von Zimmern in immer kürzerer Zeit bewältigen müssen. Eigentlich wäre es einfach: Man müsste nur alles auf den Kopf stellen und denen, die am wenigsten verdienen, den grössten Lohn geben und umgekehrt – und schon wäre die Welt in Ordnung. Nur weil es seit der Zeit der Sklaverei immer schon so war, wie es heute ist, scheint uns dieser Gedanke so fremd und so weit hergeholt. „Der niedrige Lohn“, sagte schon Karl Marx, „beruht auf der fehlenden politischen Macht der Arbeiterschaft, den wahren Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.“ Wenn Gewerkschaften es schon als Sieg verbuchen, wenn sie Lohnerhöhungen von zwei oder drei Prozenten in dieser oder jener Branche erkämpft haben, während sich gleichzeitig die Unterschiede zwischen höchsten und niedrigsten Einkommen auf das bis zu Dreihundertfache belaufen, dann zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie weit wir tatsächlich immer noch von so etwas wie sozialer Gerechtigkeit entfernt sind. So ist nicht verwunderlich, wenn uns gerade aktuell immer öfters Berichte erreichen, wonach es gerade in den Tieflohnbranchen zunehmend an Arbeitskräften mangelt. Eine Demonstration der anderen Art. Gingen früher Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strasse oder traten sie in einen Streik, um für ihre Rechte zu bekämpfen, drehen sie heute ganz einfach der ungeliebten Arbeit den Rücken zu. Vielleicht gar nicht die schlechteste Methode, um uns aus dem Schlaf der Selbstgerechten zu wecken. Denn spätestens, wenn die letzte Serviererin im letzten Nachtclub das letzte Bier serviert hat, werden wir wohl erkennen, dass bei der Art und Weise, wie die kapitalistische Arbeitswelt organisiert worden ist, etwas ganz Grundsätzliches ganz gründlich schief gelaufen ist…

Aargauer Mittelschulen: „Linke“ Lehrkräfte unter Beschuss – fragwürdiges Vorgehen unter dem Deckmantel „politischer Neutralität“

 

Aufgrund einer Maturaarbeit an der Kantonsschule Baden, wonach mehr als ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler die Inhalte der Fächer Geschichte, Deutsch, Englisch und Geografie als „eher links“ und 61,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler ihre Deutschlehrpersonen als „links“ oder „eher links“ wahrnehmen, soll nun die „politische Neutralität“ an den Aargauer Mittelschulen unter die Lupe genommen werden, dies aufgrund eines politischen Vorstosses des FDP-Grossrats Adrian Schoop. Dieser begründet sein Vorgehen damit, es gäbe immer mehr Anzeichen dafür, dass Schulleitungen und Lehrpersonen „ein strukturelles Problem mit der geforderten politischen Neutralität haben“. Es ist bezeichnend, dass von der Verletzung der „politischen Neutralität“ meist erst dann gesprochen wird, wenn sie, angeblich, von „linker“ Seite bedroht zu sein scheint. Völlig ausgeblendet wird dabei, dass wir alle nicht in einer wertefreien, „neutralen“ Gesellschaft leben, sondern diese durch und durch von bürgerlich-kapitalistischen Werten durchdrungen ist – ohne dass wir uns dessen in der Regel überhaupt bewusst sind. Kinder und Jugendliche wachsen in einer zutiefst von kapitalistischem Profit-, Leistungs- und Konkurrenzdenken geprägten Gesellschaft auf; individueller sozialer Aufstieg auf Kosten anderer, soziale Ungleichheit, Armut, Wachstum als oberstes Wirtschaftsziel, vielfach übertriebener, von der Werbung angeheizter Konsum bis hin zur Verschwendung natürlicher Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen – das alles erscheint „normal“ und unveränderbar. Und gerade deshalb sind Lehrerinnen und Lehrer so wichtig, die darauf hinweisen, dass alles auch anders sein könnte: Eine sozial gerechte und friedliche Welt wäre möglich, Armut und Hunger müssten nicht sein, die Klimakatastrophe wäre aufzuhalten. Man mag solche Lehrerinnen und Lehrer als „links“ bezeichnen, Tatsache ist, dass sie Allerwesentlichstes zur Aufrechterhaltung einer gelebten Demokratie beitragen. Denn die Demokratie lebt nicht davon, dass alle gleich denken, sondern davon, dass unterschiedliche Meinungen und Denkvorstellungen in friedlichem Wettstreit ausgetragen werden. Es versteht sich dabei von selber, dass Lehrerinnen und Lehrer bei alledem niemals auf einzelne Schülerinnen und Schüler Druck ausüben dürfen, eine bestimmte Haltung einzunehmen oder diese in irgendeiner Art und Weise zu bewerten. Aber authentisch dürfen sie sein, klar ihre persönliche Meinung äussern, ihre Weltbilder aufzeigen und gleichzeitig andere Meinungen und Denkvorstellungen respektieren. Das ist genau das, was auch die Jugendlichen selber fordern: Sie wollen sich mit ehrlichen, offenen erwachsenen Bezugspersonen auseinandersetzen, die ihre Gesinnung und ihre Ideale zeigen und sich nicht ängstlich hinter einer vermeintlichen „Neutralität“ verstecken, die es in Tat und Wahrheit gar nicht gibt. Wenn nun an den Aargauer Schulen die „politische Neutralität“ unter die Lupe genommen wird, dann müsste man ehrlicherweise nicht nur „linke“ Lehrerinnen und Lehrer überprüfen, wie „systemkritisch“ sie sind, sondern ebenso auch alle „bürgerlichen“ Lehrerinnen und Lehrer, wie „systemkonform“ sie sind und in welchem Masse sie kritisches, „linkes“ Denken ihrer Schülerinnen und Schüler zulassen. Richtet sich die Untersuchung aber nur gegen „linke“ Lehrkräfte, dann müsste man eigentlich schon geradezu von einer Form von Gesinnungsterror sprechen und würde der Vorwurf der einseitigen Beeinflussung Jugendlicher letztlich auf sie selber und ihr eigenes einseitiges Weltbild zurückfallen.

Hass, Intoleranz und Feindbilder sind keine Mittel, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen…

 

Am 29. Juli 2022 wird die 36jährige österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr tot in ihrer Praxis aufgefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin. Vorausgegangen ist dem Tod der Ärztin ein jahrelanger Zermürbungskrieg: auf der einen Seite die Ärztin, die sich bis zur Erschöpfung für ihre coronainfizierten Patientinnen und Patienten einsetzte, auf der anderen Seite militante „Coronaleugner“, denen jedes Mittel recht war, die Ärztin in einschlägigen Foren und persönlichen Nachrichten zu beleidigen und ihr mit dem Tod zu drohen. Bereits vor zwei Wochen unternahm sie einen ersten Suizidversuch, wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, dann wieder freigelassen. Jetzt ist sie tot. Doch Lisa-Maria Kellermayr ist kein Einzelfall. Im schweizerischen Spreitenbach musste der für eine Rede anlässlich des Nationalfeiertags eingeplante Nationalrat Roger Köppel kurzfristig wieder ausgeladen werden – aufgrund von Androhungen von Störaktionen und Gewalt von anonymer Seite. Köppel wird vorgeworfen, im Ukrainekonflikt gegenüber Russland eine zu wohlwollende Haltung einzunehmen. Mit wüsten Beschimpfungen und regelrechtem Niederschreien sind auch deutsche Politikerinnen und Politiker neuerdings bei öffentlichen Auftritten immer wieder konfrontiert, so unlängst Wirtschaftsminister Habeck in Bayreuth. Und der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach wäre um ein Haar im vergangenen April durch eine Gruppe sogenannter „Querdenker“ entführt worden, wenn es den Behörden nicht gelungen wäre, das Komplott rechtzeitig auffliegen zu lassen. Vier Beispiele für so etwas wie eine „Zeitenwende“ in der politischen Kultur. Ob Corona, der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, die „Genderdebatte“ oder die Politik im Allgemeinen: Der Ton wird zusehends schärfer, an die Stelle des Dialogs treten die Konfrontation, blindes Feindbilddenken und die Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“ mit unüberbrückbaren Gräben dazwischen. Zweifellos haben die „sozialen“ Medien wesentlich zu dieser Verschärfung beigetragen, ist es doch allemal viel einfacher, einen Menschen oder eine Gruppe Andersdenkender zu beleidigen, wenn dies anonym geschieht und man diesen anderen Menschen nicht Auge in Auge gegenübersteht. Toleranz droht immer mehr ein Fremdwort zu werden. Dabei ist Toleranz eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Zu oft wird Toleranz mit Standpunktlosigkeit verwechselt, dabei ist sie doch gerade das Gegenteil: Wer einen klaren eigenen Standpunkt, eine klar eigene Meinung hat, muss keine Angst haben, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, ohne diese gleich zum Vornherein zu verurteilen. Wer dagegen in Bezug auf seine eigene Meinung unsicher ist, versteckt sich gerne hinter Intoleranz, baut Feindbilder auf oder flüchtet sich in eine möglichst grosse Masse Gleichdenkender. Und noch etwas ist typisch für die Toleranz: Auch in noch so heftigen kontroversen Auseinandersetzungen werden stets nur Meinungen und Ideen „angegriffen“, nie aber die Menschen, welche sie aussprechen. „Intellektuell sein heisst gerecht sein“, sagte der österreichische Schriftsteller Stephan Zweig, „heisst Verständnis aufbringen für sein Gegenüber, für die Oppositionellen, für die Gegner.“ Eine Gesellschaft kann sich nur vorwärtsbewegen, wenn sich ihre Bürgerinnen und Bürger nicht hinter vermeintlichen „Wahrheiten“ verkeilen, sondern bereit sind, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und aus vielen guten Ideen noch bessere entstehen zu lassen. „Ein gutes Gespräch“, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „setzt stets voraus, dass der andere recht haben könnte.“ Bei alledem geht es letztlich um die Frage, wie wir unsere Mitwelt und die Gesellschaft, in der wir leben, in eine positive Richtung bewegen können. Dies geht niemals mit Hass, sondern einzig und allein durch Liebe. „Wo Liebe wächst, gedeiht Leben“, sagte Mahatma Gandhi, „wo Hass wächst, droht Untergang.“ Viel zu oft geht vergessen, dass es letztlich viel mehr gibt, was die Menschen miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Im echten Dialog, in der Toleranz, in der Menschenliebe wird dies sichtbar. Die Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, sind viel zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, unsere Zeit, unsere Energie und unsere Phantasie in gegenseitigen Zermürbungskämpfen zu vergeuden. „Solange die Menschlichkeit uns verbindet“, sagte der deutsche Komponist Erich Ferstl, „ist es völlig egal, was uns trennt.“ Dies ist nicht mehr und nicht weniger eine Frage des gemeinsamen Überlebens, denn, wie Martin Luther King es so wunderbar für uns Nachgeborene gesagt hat: „Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.“ 

Schwindendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik: Hintergründe und offene Fragen…

 

„Diejenigen, die zu klug sind, um sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selber.“ Dies sagte nicht irgendein Wutbürger im Jahre 2022, sondern der griechische Philosoph Platon vor über 2000 Jahren. Können wir diese Aussage auf die heutige Zeit übertragen? Im ersten Moment sagt alles in uns: Nein, es sind ja die Bürgerinnen und Bürger, die mit dem Wahlzettel an der Urne darüber entscheiden, dass die intelligentesten und fähigsten Politikerinnen und Politiker an die Macht gelangen. Zumindest in einer Demokratie ist das so. Und davon sprechen wir hier. Und doch: Betrachtet man das Ganze aus einer etwas grösseren Distanz, gewinnen die Worte von Platon, obwohl sie über 2000 Jahre alt sind, eine überraschende Aktualität. Denn in Anbetracht der Zeitumstände, der wachsenden sozialen Ungleichheit, der weltweit kriegerischen Konflikte und insbesondere der drohenden Klimakatastrophe verhalten sich unsere Politikerinnen und Politiker tatsächlich nicht besonders intelligent: Statt die herrschenden Probleme und Bedrohungen an der Wurzel anzupacken, werfen sie immer noch mit den gleichen Worthülsen um sich wie eh und je, bewegen sich beinahe ungebrochen im kapitalistischen Denksystem und scheinen dem Vorhaben, möglichst lange an der Macht zu bleiben, weit stärker zugeneigt zu sein als der Idee, die herrschenden Verhältnisse von Grund auf zu verändern. Gleichzeitig hört und liest man, in Bezug auf Politikerinnen und Politiker, von ausschweifenden Partys und Hochzeitsfeiern und nimmt staunend zur Kenntnis, dass dieser oder jener Politiker, obwohl er den gleichen Weg auch zu Fuss oder per Fahrrad bewältigen könnte, auch für kürzeste Strecken mit einer auf Hochglanz polierten, sündhaft teuren Staatskarosse chauffiert oder gar im Flugzeug oder Helikopter zu einem Sitzungsort gebracht wird, der sich ebenso bequem mit der Eisenbahn erreichen liesse – ganz zu schweigen von Joe Bidens Air Force One, einem Flugzeug, das, wie die „NZZ“ schreibt, „alles kann“ und das „berühmteste und geheimnisvollste Flugzeug der Welt“ ist. Ja, je länger wir es uns überlegen, umso stichhaltiger und nach wie vor höchst aktuell ist die Aussage von Platon. In einem ganz übergreifenden Sinne, nämlich in Bezug auf das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten, verhalten sich unsere Politikerinnen und Politiker tatsächlich „dumm“. Selbst Ameisen, Eichhörnchen und Elefanten, die alles tun, um das Überleben ihrer Nachfahren zu sichern, verhalten sich intelligenter. Kein Wunder, verlieren die Menschen immer mehr das Vertrauen in die Politik: Laut dem Standard Eurobarometer der Europäischen Kommission hatten Ende 2021 nur gerade 36 Prozent der deutschen Bevölkerung Vertrauen in die politischen Parteien, 58 Prozent vertrauen den Parteien nicht. Wie die Friedrich Ebert Stiftung in einer Studie feststellte, ist vor allem jener Teil der Bevölkerung, der am meisten von sozialer Ungleichheit betroffen ist, mit den Politikerinnen und Politikern unzufrieden. Und das ist nicht nur in Deutschland so: Aus einem Bericht des Centre for the Future of Democracy an der Universität Cambridge aus dem Jahre 2020 geht hervor, dass insbesondere bei den 18- bis 34Jährigen die Zufriedenheit mit der Demokratie in fast allen Regionen der Welt stark abnimmt. „Dies“, sagt Roberto Foa, Hauptautor dieses Berichts, „ist die erste Generation seit Menschengedenken, die weltweit mehrheitlich unzufrieden damit ist, wie die Demokratie funktioniert.“ Nun könnte man einwenden, nicht nur Politikerinnen und Politiker seien „dumm“, sondern ebenso die Menschen, welche diese wählen. Nicht nur, weil sie offensichtlich die „falschen“ Politiker und Politikerinnen wählen, sondern vor allem auch deshalb, weil sie sich selber durch ihre tägliche Lebensweise in Bezug auf aktuelle und zukünftige Bedrohungen auch nicht gerade besonders vorbildlich verhalten und in verantwortungsloser Weise Ressourcen verschwenden, die dadurch kommenden Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Dennoch darf man wohl an die Professionalität gewählter Politikerinnen und Politiker zu Recht einen besonders hohen Massstab legen und von ihnen erwarten, dass sie in vorbildlicher Weise vorausschauend, umsichtig und verantwortungsbewusst handeln. Der Bäcker hat genug damit zu tun, von früh bis spät Brot zu backen. Die alleinerziehende Mutter hat alle Hände voll zu tun, sowohl ihrer Erwerbsarbeit wie auch der Betreuung ihrer Kinder gerecht zu werden. Der Politiker, die Politikerin dagegen hat alle Zeit – und erst noch eine überdurchschnittliche Entschädigung -, um der Aufgabe gerecht zu werden, sich für die Sicherung eines guten Lebens für alle heute und in Zukunft zu engagieren. Doch genau dies ist der Knackpunkt: Zu vielen Politikerinnen und Politikern scheint es nicht so sehr um das Wohl der Menschen zu gehen als um ihre eigene Machtposition. Verfolgt man öffentliche politische Debatten, so ist es meistens ein Schlagabtausch zwischen Exponentinnen und Exponenten der einen Partei gegen die anderen, von denen jede und jeder alles daran setzt, Recht zu behalten, das eigene Tun in den Himmel zu loben und das Tun der anderen möglichst schlecht zu reden. Jedes Wort scheint schon darauf ausgerichtet zu sein, möglichst viele Punkte zu sammeln für die nächsten Wahlen. Von einem ernsthaften Bemühen, miteinander und nicht gegeneinander Probleme zu lösen, sind solche Debatten meist meilenweit entfernt. Machtgier und Idealismus – zwei Dinge, die sich gegenseitig auszuschliessen scheinen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz oder der schweizerische Bundesparlamentarier Fabian Molina – das sind nur drei Beispiele von Politikern, die in ihrer Jugendzeit alle einmal glühende Verfechter einer Überwindung der herrschenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gewesen waren. Darauf angesprochen, wollen sie heute, selber im Zentrum der Macht angekommen, nichts mehr davon wissen. Ganz so wie die deutschen Grünen, die sich unlängst noch als Antikriegspartei verstanden haben und nun an vorderster Front mit Waffenlieferungen an die Ukraine diesen Krieg zusätzlich befeuern. So bleiben genau jene Ideen und Visionen, die angesichts der heutigen Weltprobleme dringender nötig wären denn ja, auf der Strecke, geopfert einem Machtsystem, in dem die Politik kaum mehr ein Gegengewicht zu jenen Finanz- und Wirtschaftsmächten bildet, welche unsere Welt buchstäblich an die Wand zu fahren drohen, sondern selber zu einem Machtsystem im grossen Machtsystem geworden ist und eine grundlegende Erneuerung wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Denkens in weite Ferne gerückt ist. So gesehen handelt es sich bei unserer sogenannten „Demokratie“ in Tat und Wahrheit um eine Scheindemokratie, denn keine einzige all jener Parteien, die heute in irgendeinem europäischen Land an der Macht sind, stellt die Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftsmodells grundsätzlich in Frage. Was nichts anderes bedeutet, als dass die scheinbar unterschiedlichen politischen Parteien tatsächlich nichts anderes sind als einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Doch sollte uns nichts davon abhalten, daran zu glauben, dass die Intelligenz allem zum Trotz eines Tages stärker sein wird als die Macht der Mächtigen. Gerade in dunklen Zeiten sollte diese Hoffnung nicht verloren gehen. Denn, wie ein weiteres Zitat von Platon sagt: „Besonders nachts ist es schön, ans Licht zu glauben.“

Die Welt profitiere von der Globalisierung – Doch welche Welt? Und welche Globalisierung?

 

„Es gab schon immer Leute, die das Aus der Globalisierung voraussagten“, meint ABB-Konzernchef Björn Rosengren im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 28. Juli 2022, „aber ich glaube das nicht. Die Weltwirtschaft wird globalisiert bleiben, davon bin ich fest überzeugt, weil die Welt davon profitiert.“ Wie oft habe ich das schon gehört: Die Welt profitiere von der Globalisierung, sie fördere den allgemeinen Wohlstand und den Fortschritt der Menschheit, jegliche Alternative dazu wäre zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Aussage, die „Welt“ profitiere von der „Globalisierung“, ist indessen etwas so Ungeheuerliches, Anmassendes und offenbart sich in ihrer immensen Widersprüchlichkeit sogleich, wenn wir die Begriffe „Globalisierung“ und „Welt“ auch nur schon ein ganz klein wenig kritisch hinterfragen. Zunächst der Begriff „Globalisierung“: Er suggeriert ein Wirtschaftsmodell, das über alle Grenzen hinweg auf weltweiter Kooperation beruht. Was soll daran schlecht sein? Tatsache aber ist, dass sich im Laufe der Jahrhunderte, und in einem nie dagewesenen Schub vor allem in den vergangenen 30 Jahren, nicht „irgendetwas“ globalisiert hat, sondern nichts anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nicht so sehr auf gleichberechtigter Zusammenarbeit beruht, sondern auf grösstmöglicher Gewinnmaximierung durch grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur, wodurch die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur weltweit, sondern auch in jedem einzelnen Land stets vergrössert wird und die natürlichen Ressourcen in einer Art und Weise übernutzt werden, dass ein Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren je länger je mehr in Frage gestellt zu werden droht. Ehrlicherweise müsste man also nicht von „Globalisierung“ sprechen, sondern von einem Siegeszug des Kapitalismus – ganz im Sinne des US-Ökonomen Francis Fukuyama, der 1991, anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion, von einem endgültigen Sieg des Kapitalismus über alle ihn konkurrenzierenden Gegenmodelle gesprochen hatte und damit von nichts weniger als dem „Ende der Geschichte“. Und damit sind wir beim zweiten Begriff, der uns in die Irre führen will: die „Welt“. Woraus besteht die „Welt“, von welcher der ABB-Chef sagt, sie profitiere vom gegenwärtigen weltweit agierenden Wirtschaftssystem der „Globalisierung“? Ehrlicherweise müsste er von seiner Welt sprechen. Ja, er als Chef eines erfolgreichen Schweizer Industriekonzerns, kann gut reden. Wahrscheinlich lebt er mit seiner Familie nicht in einer winzigen Mietwohnung, wahrscheinlich fährt er nicht das billigste Auto, trägt nicht die billigsten Kleider, diniert nicht in den billigsten Kneipen und ist während seinen Ferien wohl kaum in einem billigen Hotelzimmer an einer lärmigen, dichtbefahrenen Strasse anzutreffen. Es gibt sie nicht, die „Welt“. Für jeden Menschen sieht die „Welt“ gänzlich anders aus. Für den Chef eines grossen Industriekonzerns sieht sie gänzlich anders aus als für seine Angestellten und noch einmal gänzlich anders für die Minenarbeiter irgendwo im fernen Afrika, welche all die Rohstoffe zu Tage fördern, ohne welche auch der erfolgreichste Industriekonzern in Deutschland oder in der Schweiz keinen einzigen Tag lang seine Produktion aufrechterhalten könnte. Für den philippinischen Grossinvestor, der reiche Finanzspekulanten aus aller Welt an Land zieht, sieht die „Welt“ gänzlich anders aus als für die philippinischen Hausmädchen, die in saudiarabischen Haushalten reicher Eliten wie Sklavinnen gehalten werden, den Launen ihrer Herrinnen und Herren 24 Stunden pro Tag schutzlos ausgeliefert sind und nach getaner Arbeit zu Tode erschöpft zum Dank noch auf bestialische Weise verprügelt oder missbraucht werden. Die „Welt“ sieht gänzlich anders aus, ob man als ägyptischer oder libanesischer Milliardär in der Schweiz willkommen geheissen wird und gleichsam auf dem Silbertablett eine Villa am Genfersee serviert bekommt, oder ob man, als syrischer oder afghanischer Flüchtling, an der Grenze zu Polen von schwerbewaffneten Grenzpatrouillen in die bitterkalte Nacht hinausgeprügelt wird, voller schmerzhafter Wunden, ohne medizinische Hilfe und ohne jegliche Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. Auch sieht die „Welt“ wohl gänzlich anders aus, je nachdem ob man in einem der reicheren Länder des Nordens sich den Luxus leisten kann, abends in einem feinen Restaurant zu essen, oder ob man eine afghanische oder jemenitische Mutter ist, die mit ansehen muss, wie eines um das andere ihrer Kinder qualvoll stirbt, weil es nicht genug zu essen hat. Und nicht zuletzt sieht die Welt auch ganz anders aus, wenn man sie, mit dem Sektglas in der Hand, auf einer Flugreise in den Süden durch das Fensterglas von oben betrachtet, oder ob man eines jener Millionen heute und morgen geborener Kinder ist, das auf diesem Planeten vielleicht keine Zukunft mehr hat. Ja, die „Welt“ ist nicht die Welt. Oder, anders gesagt: So gänzlich anders, ja gegenteilig, sieht die Welt aus, je nachdem, ob man sie von „oben“ erlebt“, aus der Warte der Mächtigen, Reichen, Privilegierten, Besitzenden, – oder von „unten“, aus der Sicht der Ohnmächtigen, der Armen, der Geknechteten, der Ausgebeuteten, der Opfer von Krieg, Verfolgung und politischer Unterdrückung. Damit fällt die Behauptung Björn Rosengrens, wonach die „Welt“ von der Globalisierung profitiere, wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Richtig müsste es heissen: „Eine privilegierte und reiche Minderheit profitiert von der Globalisierung bzw. vom Kapitalismus.“ Für alle anderen ist die „Welt“ mehr oder weniger ein Armenhaus und für nicht wenige schlicht und einfach die Hölle. Und dass dies auch weiterhin so bleibt, dafür haben die Reichen reichlich vorgesorgt. Selbst in „demokratischen“ und ganz besonders freilich in autokratisch regierten Staaten wird die Staatsmacht meistens durch Eliten verkörpert, man findet weltweit kein einziges Land, wo Angehörige der Arbeiterschaft und der Unterprivilegierten, auch wenn diese eine Bevölkerungsmehrheit bilden, in den Parlamenten auch nur annährend repräsentativ vertreten wären. Auch die Medien befinden sich weltweit zum allergrössten Teil im Besitz der Reichen und Mächtigen. Auch die Universitäten predigen unisono das Einmaleins des Kapitalismus, antikapitalistische Denkansätze sucht man in aller Regel vergebens. Und auch die Justiz befindet sich in der Hand der Reichen und Mächtigen und verfolgt in aller Härte Taschendiebe und gewalttätig gewordene Übeltäter, während wohl noch nie ein Politiker oder ein Wirtschaftsboss verurteilt worden ist, weil er wirtschaftliche Machtpolitik betreibt, welche das Leben unzähliger Menschen gefährdet. Doch es sind nicht nur die Regierungen, die Medien, die Universitäten und die Justiz. Der Kapitalismus hat sich auch bis in unsere Köpfe und unser Denken hineingefressen und die Lüge zur vermeintlichen Wahrheit gemacht, wonach jeder, der in diesem System erfolglos, arm und ausgebeutet bleibt, selber daran Schuld sei, denn er hätte sich eben ganz einfach zu wenig angestrengt. Diese Lüge ist gleich doppelt heimtückisch: Erstens, indem sie das Scheitern und den Misserfolg des Einzelnen individualisiert und das Opfer sozusagen zum Täter macht. Zweitens, indem sie die Menschen immer weiter dazu antreibt, in einem immer härter werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf ihre letzten Kräfte zu verausgaben. Der Kapitalismus kann deshalb nur überwunden werden, wenn wir ihn in unseren Köpfen überwinden und all die Lügen, in welche wir seit 500 Jahren verstrickt worden sind, schonungslos aufdecken. „Der Kapitalismus“, sagte der französische Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“