Die Trauerfeierlichkeiten für Queen Elizabeth II: Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus überwunden, muss sich augenreibend eines Besseren belehren lassen…

 

Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus endgültig überwunden, muss sich augenreibend dieser Tage eines Besseren belehren lassen: Vom Ausmass der Würdigung, welche ein ganzes Volk gegenwärtig der verstorbenen britischen Königin Elizabeth II entgegenbringt, hätte wohl nicht einmal König Louis XIV, Inbegriff des französischen Absolutismus, kurz vor seinem Tode im Jahre 1715 zu träumen gewagt…

Dabei gäbe es weit mehr als genug Gründe, hinter die Regierungszeit von Elizabeth II einige kritische Zeichen zu setzen. Doch Kritik ist in diesen Tagen höchst unerwünscht. Wer sie dennoch zu äussern wagt, wird schon fast als Staatsverräter abgestempelt. Gefragt ist die Einhelligkeit, das Zusammenstehen, die Verklärung, das schon fast heilige Festhalten an einem Mythos, der aus einer ganz gewöhnlichen sterblichen Frau geradezu eine Ikone werden lässt. Ein beklemmendes Beispiel dafür, was ein Massenwahn bewirken kann, in dem jegliche Sicht auf dunkle oder gegenteilige Seiten der Geschichte ganz und gar zum Schweigen gebracht wird.

Doch die Tränen der Trauernden sind scheinheilige Tränen. Sie gelten nicht vergessenen Opfern der Geschichte, sondern im Gegenteil dem verstorbenen Oberhaupt eines Landes, das im Laufe seiner über viele Jahrhunderte aufrechterhaltenen Kolonialgeschichte für entsetzliche Gräueltaten rund um die Welt verantwortlich ist, Gräueltaten, zu denen eben diese verstorbene Staatsoberhaupt stets nur geschwiegen und es niemals nötig befunden hat, sich dafür offiziell zu entschuldigen.

Die Liste ist lang. Sie beginnt mit dem transatlantischen Sklavenhandel, in den Grossbritannien in grossem Stil involviert war. Grossbritannien besass die weltweit grösste Flotte von Sklavenschiffen und Liverpool galt als „Hauptstadt“ des Sklavenhandels mit dem grössten Sklavenmarkt der Welt. Rund 40 Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen wurden über drei Jahrhunderte hinweg ihrer Heimat entrissen und zu unmenschlicher Arbeit auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas verdammt, zahllose Männer und Frauen, welche diesem Schicksal zu entrinnen versuchten und sich nicht schon auf den Schiffen der Sklavenhändler das Leben genommen hatten, wurden zu Tode gefoltert. Wenn dereinst die wahre Geschichte der Menschheit geschrieben wird, dann wird der transatlantische Sklavenhandel wohl als eines der grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beschrieben werden.

Es würde zu weit führen, sämtliche Verbrechen, die von Engländern zur Zeit des „British Empire“ begangen wurden, an dieser Stelle aufzuzählen. Stellvertretend soll hier von vier Beispielen die Rede sein. Erstens das im April 1919 von britischen Soldaten im indischen Amritsa begangene Massaker an unbewaffneten, für die Freilassung politischer Gefangener Demonstrierender, bei dem Hunderte von Männern, Frauen und Kindern ums Leben kamen. Rechnet man die Opfer weiterer Auseinandersetzungen zwischen den britischen Kolonialherren und der indischen Zivilbevölkerung dazu, so kommt man auf die schier unglaubliche Zahl von 75’000. Zweitens die Mau-Mau-Rebellion kenianischer Widerstandskämpfer zwischen 1952 und 1961, die von der britischen Besatzungsmacht mit ganz besonderer Brutalität niedergewalzt wurde: Rund 150’000 Kenianerinnen und Kenianer wurden interniert, gefoltert, verstümmelt, bewusstlos geprügelt, bei lebendigem Leib verbrannt, hingerichtet oder sexuell missbraucht, 90’000 kamen ums Leben. Drittens die Suezkrise 1956, bei der unter anderem britische Truppen Tausende ägyptische Unabhängigkeitskämpfer töteten. Schliesslich, viertens, die Unterstützung des südafrikanischen Apartheidregimes durch Grossbritannien, die als Folge europäischer Kolonialherrschaft bis heute den Alltag Südafrikas prägt.

Für alle diese und viele weitere, hier nicht erwähnte Verbrechen hat sich, wie gesagt, Queen Elizabeth II nie entschuldigt und nie öffentlich dazu Stellung genommen. Nicht einmal zur „Black-Lives-Matter“-Bewegung, mit der eine Geschichte jahrhundertelanger Unterdrückung wenigstens ein klein wenig aufgearbeitet hätte werden können, hat sich Elizabeth II jemals geäussert. Dies alles ist umso stossender, als es ja zwischen der kolonialen Ausbeutungsgeschichte und jenem Reichtum Europas, zu dem sich zweifellos auch das britische Königshaus zählen darf, einen ganz direkten Zusammenhang gibt: Über 500 Jahre hinweg hat die Ausplünderung des Südens durch den Norden all die Schätze und die Früchte aus Zwangs- und Sklavenarbeit im Süden nach und nach in jenes Gold verwandelt, das den Grundstein bildet sollte für jenen europäischen Wohlstand, von dem wir bis heute profitieren. Wenn der neue König Charles III nun von seiner verstorbenen Mutter rund 500 Millionen Franken erben wird, dann steckt auch in diesem Geld ein Teil jener Qualen, jenes Elends und jener Zerstörungen, welche Grossbritannien über so lange Zeit in seinen Kolonien angerichtet hat.

Wann endlich werden nicht nur absolutistische Herrscher zu Grabe getragen, sondern auch der Absolutismus als solcher? Wann endlich werden die wahren Ursachen jahrhundertelanger Ausbeutung und all die weltweit verheerenden Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum aufgedeckt? Wann wird die Geschichte nicht mehr die Geschichte der Herren, der Reichen und Mächtigen sein, sondern die Geschichte ihrer Opfer? Wann wird kritischer Journalismus wieder die Regel sein und nicht die seltene Ausnahme? Wann endlich werden die Tränen nicht mehr für jene vergossen, die auf der Sonnenseite der Geschichte stehen, sondern für jene, die im Schatten sind? Wenn wir das verfolgen, was dieser Tage in Grossbritannien geschieht, dann ist das alles wohl noch ein sehr, sehr weiter Weg…

Michail Gorbatschow und die versäumten Chancen des Westens

 

„Michail Gorbatschow“, so twitterte die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock am 30. August 2022, “ hat sich in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen den Menschen leiten lassen. Das Ende des Kalten Kriegs und die deutsche Einheit sind sein Vermächtnis. Wir trauern um einen Staatsmann, dem wir dafür ewig dankbar sind.“

Die von nahezu sämtlichen westlichen Politikern und Politikerinnen geteilte Dankbarkeit gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion dafür, dass er den Kalten Krieg beendet hat, hat jedoch noch eine andere, weitaus fragwürdigere und zwiespältigere Seite. Denn Gorbatschow strebte nicht nur mehr Demokratie und Wirtschaftsreformen innerhalb der Sowjetunion an – deren Zerfall nicht sein Ziel gewesen war -, sondern er strebte weit darüber hinaus eine neue Weltordnung an, die auf globaler Partnerschaft, Frieden und Abrüstung aufbauen sollte. „Wir alle“, sagte er, „sind Passagiere an Bord des Schiffs Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah gibt es nicht.“ Immer wieder betonte Gorbatschow die Bedeutung der friedlichen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: „Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind. Entweder steigen sie zusammen weiter bis zum Gipfel, oder sie stürzen zusammen in einen Abgrund.“ Nicht nur gegenüber dem Kommunismus legte er eine kritische Haltung an den Tag, sondern ebenso gegenüber dem Kapitalismus – beide Wirtschaftssysteme müssten überwunden werden, um einer neuen, menschenfreundlichen Ordnung Platz zu machen, einem neu zu schaffenden Humanismus, der sowohl die Nachteile des Kommunismus wie auch jene des Kapitalismus überwinden müsste: „Für die Zukunft besteht die Wahl nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus, sondern es geht um eine Synthese all jener Erfahrungen, die wir in diesen beiden Systemen gemacht haben.“ Konsequenterweise vertrat Gorbatschow dabei auch stets eine unmissverständliche Friedens- und Abrüstungspolitik: „Eben deshalb ist es notwendig, die nukleare Guillotine niederzureissen. Die kernwaffenbesitzenden Mächte müssen über ihren nuklearen Schatten springen, hinein in eine kernwaffenfreie Welt.“ Doch Gorbatschow stellte nicht nur die Kernwaffen in Frage, sondern ganz generell den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte: „Keines der aktuellen Probleme – Massenvernichtungswaffen, Armut, Umweltschutz und Terrorismus – kann mit militärischen Mitteln gelöst werden.“

Der Westen hätte nur die ausgestreckte Hand Gorbatschows ergreifen müssen und Veränderungen globalen Ausmasses in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung wären möglich geworden. Doch was geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, sondern zurückgeschlagen. Nicht der Beginn einer neuen friedlichen Weltordnung wurde gefeiert, sondern, wie es der amerikanische Ökonom Francis Fukuayama sagte, der „endgültige Sieg des westlichen Wirtschaftsmodells über alle mit im konkurrenzierenden Systeme“. Und der damalige US-Präsident George Bush sagte im Februar 1990: „Wir haben gewonnen, nicht sie.“ Mit anderen Worten: Wir, der Westen, haben die Schlacht gewonnen und nun bestimmen wir alleine, wie es weitergehen soll. „Dies“, schreibt der SPD-Politiker Klaus von Dohnany in seinem kürzlich erschienenen Buch „Nationale Interessen“, „erweist sich heute als grösste vertane Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa und für die Möglichkeit, Russland heute in den globalen Auseinandersetzungen als Partner zu behandeln.“

Den Triumph des Siegers sollte Russland nun auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen. Obwohl der amerikanische Aussenminister Jim Baker und Präsident Bush Gorbatschow 1991 zugesichert hatten, die NATO „keinen Inch“ nach Osten auszudehnen, erfolgte genau dies, Land um Land, bis an die Grenzen Russlands – ein Vorgehen, das man, auf der Gegenseite, damit vergleichen könnte, dass sich Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden, was die USA wohl kaum so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Es wird zwar oft gesagt, der Westen hätte bezüglich NATO-Osterweiterung nie eine schriftliche Zusicherung abgegeben. Gorbatschow musste sich also den Vorwurf gefallen lassen, gegenüber dem Westen zu leichtgläubig gewesen zu sein und sich auf mündliche Aussagen verlassen zu haben. In völliger Missachtung von Gorbatschows Zukunftsvision einer friedlichen Weltordnung steht auch die Tatsache, dass die USA rund um Russland herum Hunderte von Militärstützpunkten eingerichtet haben und die NATO über ein Militärbudget verfügt, dass 20 Mal höher ist als jenes von Russland. Eine weitere Machtdemonstration des Westens erfolgte 2019, als US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte, welcher 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelt worden war und die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. „Gorbatschow kritisierte diesen Schritt scharf als  leichtsinnig und als Gefahr für den Weltfrieden“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 1. September 2022, „doch da hörte ihm längst niemand mehr zu.“

Da hörte ihm schon längst niemand mehr zu. Dabei wäre Gorbatschows Vision einer friedlichen Weltordnung heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten aktueller denn je. Es nützt niemandem etwas, wenn nun plötzlich alle vom „Friedensengel“ Gorbatschow schwärmen. Es nützt auch niemandem etwas, dass man ihm den Friedensnobelpreis verliehen hat. Es sei denn, man nähme ihn und seine Botschaft der Menschenliebe wenigstens jetzt, nach seinem Tode, ernst. Würde sich das westlich-kapitalistische Machtsystem ebenso friedlich und gewaltlos auflösen, wie sich die Sowjetunion aufgelöst hat, dann, ja dann könnte man tatsächlich von einem wahren Zeitensprung in der Menschheitsgeschichte sprechen, denn, wie Gorbatschow sagte: „Gefahr wartet nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ 

Energieunternehmen: Milliardengewinne, während die Menschen hungern und frieren…

 

„Die Schreckensnachricht kam an diesem Freitag“, so berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 28. August 2022, „schon in den Morgennachrichten verkündete die britische Aufsichtsbehörde Ofgem, dass die Versorgeunternehmen ihre Preise ab Anfang Oktober um 80 Prozent anheben dürfen – ein Schlag nicht nur für die Ärmsten der Armen, sondern auch für jede normale Familie. Ein durchschnittlicher Haushalt wird dann für Gas und Elektrizität umgerechnet 337 Franken im Monat zahlen müssen, derzeit sind es 186 Franken. Für manche Engländerinnen und Engländer wird das bedeuten, seltener zum Friseur zu gehen, Ferien zu streichen und auf eine neue Kleidung zu verzichten. Manche sorgen sich gar, ob sie es sich noch leisten können, ihr Dialysegerät einzuschalten.“

Nicht nur in Grossbritannien, sondern weltweit leiden die Menschen unter steigenden Energiepreisen. Gleichzeitig haben die fünf grössten westlichen „Big Oil“-Konzerne im 2. Quartal 2022 die Rekordsumme von 62 Milliarden Dollar verdient. Von 4,7 Milliarden Dollar im 2. Quartal 2021 stieg der Gewinn von ExxonMobil auf 17.9 Milliarden Dollar im 2. Quartal 2022, Shell steigerte seinen Gewinn von 5,5 Milliarden Dollar auf 11,5 Milliarden, TotalEnergies von 3,5 auf 5,7 Milliarden und Repsol von 0,7 auf 2,7 Milliarden Dollar. „ExxonMobil“, so der amerikanische Präsident Joe Biden unlängst, „hat dieses Jahr mehr verdient als Gott.“

Drastischer könnte das Versagen des „Freien Markts“ nicht zutage treten. Entgegen aller Vernunft, entgegen allen gesunden Menschenverstands hat dieser „Freie Markt“ eine Eigendynamik entwickelt, die offensichtlich niemand mehr und schon gar nicht die Politikerinnen und Politiker auch nur annähernd im Griff haben. Während Menschen hungern und frieren, scheffeln Grosskonzerne Milliardengewinne. Das betrifft nicht nur die Versorgung mit Elektrizität, Erdöl und Gas, es betrifft beispielsweise auch die Lebensmittelversorgung in zahlreichen armen und sehr armen Ländern, wo vielerorts zwar ausreichend Nahrung vorhanden wäre, die Lebensmittelpreise aber so hoch sind, dass die meisten Menschen sie gar nicht kaufen können. Der „Freie Markt“ richtet sich eben nicht in erster Linie nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach den Bedürfnissen des Kapitals und der Konzerngewinne. Dabei beruht alles auf dem ominösen Glaubenssatz, wonach knappe Güter zwangsläufig teurer sein müssten als solche, die reichlich vorhanden sind. Doch was für ein teuflischer Glaubenssatz ist das denn? Ihm zu folgen, bedeutet nichts anderes, als Millionen von Menschen ins Elend zu stürzen und viel zu viele von ihnen dem Hunger und dem Tod preiszugeben.

Der Markt spiele „verrückt“ – ist auch von Unternehmerseite immer wieder zu hören. Und unlängst meinte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Gasmarkt sei so kompliziert, dass er selber auch nicht mehr den Durchblick hätte. Doch wenn der „Freie Markt“ schon so verrückt spielt und so tödliche Auswirkungen hat: Weshalb setzen wir ihm nicht so schnell wie möglich ein Ende? Das wäre ja gar nicht so schwierig: Sämtliche Energiekonzerne müssten verstaatlicht werden, die weltweite Energieproduktion und Energieversorgung müssten so organisiert werden, dass die vorhandene Energie zu fairen Preisen und gerecht verteilt werden müsste und sich niemand auf Kosten anderer mit diesem Geschäft bereichern könnte. Allfällige „Überschüsse“ dürften nie und nimmer in den Taschen von Aktionärinnen und Aktionären verschwinden, sondern müssten in die Förderung erneuerbarer Energiequellen investiert werden. Nur eine weltweit winzige Minderheit von Profiteuren würden sich wohl einem solchen Ansinnen entgegenstellen, während die ganz überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung zweifellos ganz erheblich davon profitieren würde. 

Das Geld, welches der AHV fehlt, findet sich wieder in den Taschen der Reichen und Reichsten…

 

Eigentlich ist es absurd. Über Generationen hart geleisteter Arbeit haben die Schweiz zu dem gemacht, was sie heute ist: das reichste Land der Welt. Wäre es nun nicht an der Zeit, auch entsprechende soziale Reformen entschieden voranzutreiben und beispielsweise den Menschen einen wohlverdienten längeren Lebensabend zu gewähren? Müsste, anders gefragt, nicht das Rentenalter gesenkt werden, anstatt es weiter anzuheben und schon mit einem künftigen Pensionierungsalter von 67 oder gar 70 Jahren zu drohen? Doch seltsamerweise geht die Diskussion nur in eine einzige Richtung, nämlich in Richtung einer zukünftigen Erhöhung des Rentenalters. Und niemand scheint auf die Idee zu kommen, die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung zu lenken, in die Richtung einer längerfristigen Senkung des Rentenalters oder einer Flexibilisierung des Rentenalters zwischen 62 und 65 Jahren, so wie dies schon vor längerer Zeit diskutiert wurde, in der heutigen öffentlichen Diskussion aber kein Thema mehr ist.

Das Hauptargument für eine Erhöhung des Rentenalters lautet, dass sich die Renten längerfristig nicht finanzieren liessen, wenn eine immer kleinere Zahl von Erwerbstätigen für eine immer grössere Zahl von Rentenbezügerinnen und Rentenbezügern aufkommen müssten. Dazu ist zu sagen, dass das Geld, welches für die Renten fehlen könnte, längst irgendwo ganz anders zu suchen ist, nämlich bei den Kapitalgewinnen, die nicht aus Arbeit entstehen, sondern aus jenem Geld, das aus der Arbeit der Werktätigen herausgepresst wird und in den Taschen der Reichen, der Unternehmerinnen, der Aktionäre verschwindet. Während noch bis vor etwa 20 Jahren das gesamtschweizerische Einkommen aus Arbeit jenes aus Kapital übertroffen hatte, ist es heute genau umgekehrt: Das Gesamteinkommen aus Kapital übertrifft jenes aus Arbeit bei Weitem. Allein die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer besitzen über 800 Milliarden Franken, das ist mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz und etwa gleich viel wie das jährliche Militärbudget der USA. Allein im Jahre 2021 verzeichnete das Vermögen der 300 Reichsten eine Zunahme von sage und schreibe 115 Milliarden Franken. Auf der anderen Seite beträgt das kumulierte Defizit der AHV gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen bis im Jahr 2050 über 260 Milliarden Franken, jährlich also rund 10 Milliarden, mehr als zehn Mal weniger, als die 300 Reichsten im gleichen Zeitraum „verdienen“. Allein der jährliche Vermögenszuwachs der 300 Reichsten würde also genügen, um die AHV um mehr als das Zehnfache zu sanieren. Und das sind erst die 300 Allerreichsten, von allen anderen zahllosen Milliardären und Millionären gar nicht zu reden.

Eine Herabsetzung des Rentenalters, zum Beispiel auf 62 Jahre mit der Möglichkeit flexibler Lösungen bis zu 65 Jahren, wäre also durchaus realistisch – vorausgesetzt, eine Umverteilung von Kapitaleinkommen in den öffentlichen Haushalt würde entschieden in Angriff genommen. Doch wird in der öffentlichen Diskussion dieser Zusammenhang kaum je thematisiert – als hätte die reiche Minderheit so etwas wie ein „gottgegebenes“ Anrecht darauf, sich auf Kosten der werktätigen Bevölkerung zu bereichern und in immer grösserem Luxus zu leben, den andere für sie erwirtschaften, indem sie immer härter und immer länger arbeiten müssen. Es geht darum, die Diskussion zu öffnen, auszuweiten. Wer über Renten und über Pensionierungsalter diskutiert, muss auch über das kapitalistische Wirtschaftssystem diskutieren, wie es funktioniert und welches seine Profiteure sind und welches seine Opfer. 

Heute diskutieren wir über eine Angleichung des Frauenrentenalters an jenes der Männer. Weshalb diskutieren wir nicht über eine Angleichung des Männerrentenalters an jenes der Frauen? Weshalb soll das, was in Frankreich möglich ist, nämlich ein Pensionierungsalter von 62 Jahren, in der Schweiz nicht möglich sein? Weshalb geht die Diskussion stets nur in die eine Richtung, in die Richtung einer immer grösseren Auspressung der Werktätigen und immer verrückterer Kapital- und Börsengewinne – statt in die Gegenrichtung, in die Richtung eines allgemeinen Anspruchs auf einen wohlverdienten Lebensabend, eines umfassenden Gemeinwohls, eines fairen Teilens aller erarbeiteten Früchte und einer sozialen Gerechtigkeit nicht für einige Wenige, sondern für alle?

Kriege können nur so lange dauern, als die künstlich aufgebauten gegenseitigen Feindbilder nicht durchbrochen werden…

 

Die öffentliche Aufführung von musikalischen Werken russischer Komponistinnen und Komponisten wird vom ukrainischen Parlament verboten. 100 Millionen Bücher russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt. Zahlreiche Strassennamen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden umbenannt, betroffen sind Alexander Puschkin, Leo Tolstoi, Anton Tschechow und 92 weitere berühmte russische Persönlichkeiten; eine Strasse erhält den Namen „Strasse der Helden des Regiments Asow“, jener ukrainischen Kampftruppe, die für ihre besonders grausamen Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung im Donbass bekannt ist. Sämtliche Gewerkschaften sollen entmachtet und alle verbrieften Arbeitnehmerrechte aufgehoben werden. Alle Oppositionsparteien ausser der rechtsradikalen Swobodapartei werden verboten, ebenso alle regierungskritischen TV-Sender. In Dnipropetrowsk wird eine Frau an einen Pfahl gefesselt und durchgeprügelt, weil sie auf Russisch kommuniziert hat – ähnliche Fälle sind auch von zahlreichen anderen Städten bekannt. Und der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko fordert die Wiedereinführung des Eisernen Vorhangs…

Schlagzeilen, die man in den westlichen Medien vergeblich sucht. Denn sie würden das Bild, welches von den politischen Machtträgern und Wortführerinnen des „freien“ Westens zurechtgezimmert worden ist, bloss auf unliebsame Weise stören. Dieses Bild eines demokratischen, mustergültigen, heroischen Landes, das sich mit Haut und Haaren gegen einen bösen, gewalttätigen und verbrecherischen Despoten und seine ebenso rücksichtslose, vor nichts zurückschreckende Armee zur Wehr setzt.

Doch, wie der österreichische Philosoph Paul Watzlawick sagte: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist eine gefährliche Selbsttäuschung.“ Doch nur diese Selbsttäuschung – auf beiden Seiten des Grabens zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ – hält den Krieg in Gange: Dass jede Seite in der anderen einen dermassen grausamen, unnachgiebigen, ja geradezu teuflischen Feind zu sehen glaubt, dem gar nicht anders beizukommen ist als durch Waffengewalt. Und so werden alle unliebsamen Tatsachen, alles, was dieses Bild stören könnte, entweder verschwiegen oder, wenn es nicht mehr anders geht, als „Propaganda“ oder gar als „Verschwörungstheorie“ diskreditiert, womit man dann schon mal allen Zweiflern und Skeptikerinnen den Wind aus den Segeln genommen hat, denn wer wollte schon der feindlichen Propaganda oder einer „Verschwörungstheorie“ auf den Leim gegangen sein.

„Der Aufbau von Feindbildern“, so der Autor Thomas Pfitzer, „ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“ Ist das Feindbild erst einmal geschaffen, die Trennlinien zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ widerspruchslos gezeichnet und alle möglichen menschlichen Kontakte zwischen „Freund“ und „Feind“ unterbunden, dann braucht es auf beiden Seiten nur noch die notwendigen Stichworte und schon bewegen sich die Massen wie auf Knopfdruck in die gewünschte Richtung. Deshalb ist jegliches „Einheitsdenken“ so gefährlich, es verunmöglicht den so unerlässlichen Gedanken, die so unverzichtbare Idee, dass alles auch ganz anderes sein könnte als so, wie es auf der Oberfläche erscheint. „Wenn man mit der Masse geht“, sagte Albert Einstein, „kommt man so weit wie die Masse. Wenn man den eigenen Weg geht, kommt man an Stellen, wo noch keiner war.“

Den eigenen Weg gehen, sich von der Masse absetzen, hinter den Scheinwirklichkeiten die Wahrheit zu suchen – nichts ist wichtiger als dies in einer Zeit, wo Menschen künstlich voneinander getrennt und zu gegenseitigen Feinden erklärt werden. Denn nur von Angesicht zu Angesicht können die Menschen erkennen, dass all das, was sie miteinander verbindet, ungleich viel stärker ist als das, was sie voneinander trennt. Deshalb können Kriege nur genau so lange dauern, als es den Mächtigen auf beiden Seiten gelingt, die gegenseitig aufgebauten Feindbilder aufrechtzuerhalten. Und das heisst: Der Frieden beginnt genau in dem Augenblick, da sich diese Feindbilder auflösen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.

Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, sich nicht nur mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, sondern auch mit der Gegenwart

 

„Die Geschichte der DDR“, schreibt Peer Teuwsen in der „NZZ am Sonntag“ vom 21. August 2022, „diese Diktatur, die vierzig Jahre lang Millionen von Menschen gefangen hielt, ist in weiten Teilen unaufgearbeitet. Und das in einem Land, das so stolz ist auf seinen Umgang mit den eigenen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Es gibt keinen Lehrstuhl für die Geschichte des Kommunismus, fast keine Museen, die sich mit der Gewalterfahrung in der DDR auseinandersetzen, kaum andere Formen des Gedenkens an die Opfer der realsozialistischen Diktatur, die Forschung ist praktisch zum Stillstand gekommen.“

Es ist zweifellos wichtig, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Aber mindestens so wichtig wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Wer bloss die Analyse der Vergangenheit fordert, verfestigt damit die allgemein verbreitete Auffassung, wonach wir selber in der besten aller Welten leben und „Böses“ oder „Schlechtes“ daher nur entweder in der Vergangenheit oder aber ausserhalb unserer eigenen Welt, ausserhalb unseres eigenen Denksystems, ausserhalb unseres eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, vorkommen kann. Tatsächlich aber ist der Kapitalismus, in dem wir leben, ein ebenso willkürliches, nach ganz bestimmten Gesetzen funktionierendes und mit zahllosen Unzulänglichkeiten, Widersprüchlichkeiten und zerstörerischen Auswirkungen behaftetes Gesellschaftssystem. Dass eine grundlegende kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus nicht nur in Deutschland, sondern in sämtlichen westlich-kapitalistischen Ländern weitgehend inexistent ist, hat wohl damit zu tun, dass die systematische kapitalistische Gehirnwäsche über 500 Jahre hinweg uns so weit gebracht hat, dass wir uns ein von Grund auf anderes, nichtkapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem schon gar nicht mehr vorstellen können und wir daher, wie eine bekannte Redewendung sagt, den Wald vor lauter Bäumen gar nicht mehr zu sehen vermögen. Auch die verschiedenen politischen Parteien täuschen bloss eine demokratische Vielfalt vor, tatsächlich sind sie nichts anderes als einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. 

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus wäre gerade in der heutigen Zeit dringender denn je, sind doch die immer grösser werdenden Herausforderungen von der sozialen Frage über die Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel mehr oder weniger direkte Folgen eines Wirtschaftssystems, das nicht so sehr auf die Bedürfnisse der Menschen und schon gar nicht auf die Bedürfnisse der Natur ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse der Aktienkurse, der Profitmaximierung und des Bruttosozialprodukts. Kapitalismus bedeutet, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was zur Folge hat, dass in den Ländern des reichen Nordens ein Drittel der gekauften Lebensmittel im Müll landen, während weltweit 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Kapitalismus heisst, dass man nicht dadurch reich wird, dass man viel arbeitet, sondern dadurch, dass man reich geboren wird. Kapitalismus bedeutet, dass das Geld nicht als Mittel zur allgemeinen Wohlstandsvermehrung dient, sondern als Instrument, welches es jenen, die es besitzen, ermöglicht, sich der Arbeitskraft jener zu bemächtigen, die es nicht besitzen – was dazu führt, dass sowohl die Zahl der weltweiten Millionäre und Milliardäre wie auch die Zahl jener, die selbst in den wohlhabenderen Ländern des Nordens von existenzieller Armut betroffen sind, unaufhörlich in die Höhe wachsen. Kapitalismus heisst, dass das weiterhin unangefochtene Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums dazu führt, dass die natürlichen Ressourcen in einem so grossen Masse ausgebeutet werden, dass ein Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten in 50 oder 100 Jahren mehr und mehr in Frage gestellt ist.

Ja. Es gäbe genug Anlass, sich mit der Gegenwart ebenso kritisch auseinanderzusetzen wie mit der Vergangenheit. Eigentlich müsste das schon in der Schule beginnen, wo nebst dem Einmaleins und dem ABC der Buchstaben auch das ABC des Kapitalismus vermittelt werden müsste. Und erst recht müssten an den Universitäten Lehrstühle für Kapitalismuskritik und Systemtheorien eingerichtet werden. Und auch Museen sollten sich nicht nur mit den Verbrechen vergangener totalitärer Systeme befassen, sondern auch mit den ganz aktuellen und gegenwärtigen Verbrechen, die im Namen des Kapitalismus begangen werden und an denen wir alle, solange wir uns nicht darüber empören und uns dagegen auflehnen, mitbeteiligt sind. 

Echte Meinungsvielfalt, Selbstkritik und das Hinterfragen von all dem, was bloss als „gottgegeben“ und „alternativlos“ angesehen wird, dies alles sind unverzichtbare Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Denn die „moderne Diktatur“, so der US-amerikanische Schriftsteller Gore Vidal, „kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen, sondern mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und mit einer Erziehung, die verdummt.“

Was haben der Ukrainekonflikt und das christliche Gebot der Feindesliebe miteinander zu tun?

 

„Ich verurteile Putins Aggressionskrieg“, sagt der Zürcher Musiker Dodo Jud in einem Interview mit dem „Tagblatt“ am 18. August 2022, „aber ich würde Putin meine Botschaft der Liebe, des Friedens, der Ehrlichkeit, des Respekts und der Gerechtigkeit übermitteln und ihn als Teil der Menschheit umarmen.“ Was für eine Ungeheuerlichkeit! Ich höre schon tausende Empörte wie hungrige Hyänen über jemanden, der in der heutigen Zeit noch so etwas zu sagen wagt, herfallen. Das Harmloseste, was er zu hören bekäme, wäre wohl die Aufforderung, sich als „Putinfreund“ so schnell wie möglich von der Schweiz zu verabschieden und sich nach Russland zu begeben. Doch Hand aufs Herz: Hat nicht Jesus genau das Gleiche gesagt? „Ihr habt gehört, was gesagt ist“, lesen wir in Kapitel 5 des Matthäusevangeliums, „du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde.“ Auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King berief sich immer wieder auf diese Botschaft. „Die Liebe auch zu unseren Feinden“, sagte er, „ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen. Jesus ist kein weltfremder Idealist, sondern ein praktischer Realist.“ Gerade das Beispiel von Martin Luther King zeigt, dass Feindesliebe nichts mit Weichheit, Ängstlichkeit oder Feigheit zu tun hat. Im Gegenteil: Martin Luther King kämpfte stets unerschrocken, mutig und setzte sich grössten Gefahren aus, die ihm schliesslich sogar das Leben kosten sollten – doch nie wich er vom Prinzip der Gewaltlosigkeit ab, setzte ausschliesslich auf gewaltfreie Aktionen wie Sitzstreiks, Märsche und Boykotte und distanzierte sich von Mitstreitern, die den Weg der Gewalt beschreiten wollten. 

Nun gut, werden viele sagen, aber man kann doch nicht einen Tyrannen, Despoten oder Gewalttäter wie Putin lieben wollen. Einen, der einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen und abertausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Eine solche Argumentation ist auf den ersten Blick zweifellos nachvollziehbar. Und doch müssen all jene, die in Putin schon fast die Wiedergeburt des Teufels zu erkennen glauben, zur Kenntnis nehmen, dass der von den USA angeführte Krieg gegen den Irak 2003 ein weitaus Mehrfaches an Todesopfern gefordert hatte, ohne dass der hierfür verantwortliche US-Präsident George W. Bush dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Auch müsste man zur Kenntnis nehmen, dass die weltweite Ungleichverteilung der Nahrungsmittel, welche zur Hauptsache eine Folge der westlich-kapitalistischen Handelspolitik ist, dazu führt, dass jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – eine Tatsache, die längst jedem auch nur einigermassen informierten Bürger, jeder auch nur einigermassen informierten Bürgerin der westlichen Hemisphäre bekannt sein müsste, ohne dass sich nennenswerter politischer Widerstand regen würde, diesen Missstand, den man nicht anders bezeichnen kann denn als himmelschreiendes Verbrechen, aus der Welt zu schaffen. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen oder gar zu verharmlosen. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Verbrechen. Aber der Irakkrieg 2003 war eben auch auch ein Verbrechen, ebenso wie der Hungertod von 15’000 Kindern jeden Tag. Wenn wir, zu Recht, die Missetaten und Verbrechen anderer anprangern, dann müssen wir, um glaubwürdig zu sein, unsere eigenen Missetaten und Verbrechen ebenso klar, unmissverständlich und hartnäckig anprangern.

Mit seiner Aussage, Putin umarmen zu wollen, hat Dodo Jud sozusagen die Welt auf den Kopf gestellt und gesagt: Schaut mal her, eigentlich könnte man alles auch ganz anders anschauen. Genau solche Perspektivenwechsel brauchen wir in der heutigen Zeit, wo die Fronten hüben und drüben fester eingefahren zu sein scheinen als je zuvor und es nur noch die „Wahrheit“ auf der einen Seite gibt und die „Wahrheit“ auf der anderen und nichts dazwischen. Feindesliebe löst die Fronten auf, macht den Blick frei für Neues, was man zuvor noch nicht gesehen hat. Bloss auf der Seite der „Mehrheit“ zu sein, heisst noch nicht, im Besitze der Wahrheit zu sein. Denn, wie der amerikanische Schriftsteller Mark Twain so treffend sagte: „Wann immer du feststellst, dass du auf der Seite der Mehrheit bist, ist es Zeit innezuhalten und nachzudenken.“ Auch Albert Einstein betonte stets die Bedeutung eigenständigen Denkens als Grundvoraussetzung für die Demokratie und warnte vor der Gefahr jeglichen „Gleichschritts“, bei dem sich alle in die gleiche Richtung bewegen und niemand mehr fragt, wohin es denn überhaupt gehe. „Wenn man mit der Masse geht“, so Einstein, „kommt man nur so weit wie die Masse. Wenn man den eigenen Weg geht, kommt man an Stellen, wo noch keiner war.“ Dodo Hug mag mit seiner Aussage reichlich weit gegangen sein. Und doch kann nur so Bewegung in das Erstarrte hineinkommen und nur so kann der Blick frei werden für neue Sichtweisen und die Hoffnung auf eine Zukunft, die vielleicht besser sein wird als die Gegenwart…

Drohende Strommangellage: Allmählich merken wir, dass die Party vorbei ist

 

„Angesichts der aktuellen Entwicklung ist das Risiko eines Strommangels für die Schweiz so gross wie nie zuvor“, sagt Valérie Bourdin, Sprecherin des Verbands schweizerischer Elektrizitätsunternehmens. Im schlimmsten Falle drohen im kommenden Winter – nebst Appellen zu individuellem Energiesparen – Verbrauchseinschränkungen, Kontingentierungen und zeitweise Netzabschaltungen für einzelne Industriezweige, Stadtteile oder ganze Dörfer. Was vor einigen Jahren noch als undenkbar galt, liegt heute im Bereich des Möglichen, ja geradezu des Wahrscheinlichen. Doch eigentlich musste es ja eines Tages, mit oder ohne Ukrainekrieg, mit oder ohne Klimawandel, soweit kommen. Denn wir haben über alle Massen auf Pump gelebt, uns – oder zumindest eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – an einen im Vergleich zu fast allen übrigen Ländern der Welt unvergleichlichen Luxus gewöhnt und natürliche Ressourcen in einem Masse verschwendet, welches das, was die Erde im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag, um mehr als das Dreifache übertrifft. 

Eigentlich müsste die Schweiz, in Anbetracht ihres kargen Bodens und dem gänzlichen Fehlen von Rohstoffen und Bodenschätzen, eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie das reichste Land der Welt ist, hat ganz bestimmte Gründe. Wie kein anderes Land hat die Schweiz es verstanden, sich den Reichtum anderer Länder verfügbar zu machen. Obwohl sie selber keines dieser Güter besitzt, ist sie doch der weltweit wichtigste Handelsplatz für Erdöl, Diamanten, Gold, Schokolade, Zucker, Baumwolle, Getreide und viele weitere Rohstoffe und Bodenschätze. Auch erzielt die Schweiz erhebliche Handelsbilanzüberschüsse durch den Import kostengünstiger Rohstoffe und Nahrungsmittel und den Export hochwertiger, teurer Fertigprodukte. Auch kommt der Schweiz eine überragende Rolle als international wichtiger Finanzplatz zu, der immerhin einen Zehntel des gesamten Bruttosozialprodukts ausmacht. Dies alles, sowohl die hochproduktive Wirtschaft wie auch der damit verbundene Lebensstandard, verbraucht stetig wachsende Unmengen an Energie. Und auch diese, wie könnte es anders sein, wird zum allergrössten Teil aus dem Ausland importiert. Ob Erdöl, Gas oder Kohle, ob Uran für die Brennstäbe oder Lithium für die Batterien der Elektromobile – alles muss, oft über lange Wege, von anderen Ländern und Kontinenten herbeigeschafft werden. Selbst die Solarmodule, welche „einheimischen“ Strom produzieren, stammen zum allergrössten Teil aus dem Ausland, vor allem aus China. Und auch die Wasserkraftwerke, auf die wir Schweizerinnen und Schweizer so stolz sind, wurden grösstenteils von Arbeitern aus Italien, Spanien oder Portugal gebaut.

Doch genau betrachtet, zapft die Schweiz, um ihren Energiebedarf zu decken, nicht nur zahllose ausländische Quellen an. Sie zapft, im Bunde mit allen anderen hochindustrialisierten Ländern, auch die Zukunft der Menschheit an. Denn, fast hätten wir es vergessen: Sowohl das Erdöl wie auch die Kohle, sowohl das Erdgas wie auch das Uran für die Atomkraftwerke und selbst das Lithium für die Batterien der Elektrofahrzeuge und die Solarzellen, alles ist endlich und wird eines Tages aufgebraucht sein. In hundert oder zweihundert Jahren wird verprasst sein, was die Erde in Millionen von Jahren hervorgebracht hat. Wir leben gleichsam auf Pump und schieben die Verantwortung für zukünftige Generationen wie einen immer höheren Berg vor uns her – wie den radioaktiven Müll, der noch in zehntausend Jahren seine tödliche Strahlung verbreiten wird.

„Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse“, sagte Mahatma Gandhi, „aber nicht für jedermanns Gier.“ Der Klimawandel wie auch die sich immer deutlicher abzeichnende „Energiekrise“ sind vielleicht der letzte Wink, dass ein grundsätzliches Umdenken stattfinden muss. Bisher lautete die Frage stets: Wie viel Energie brauchen wir? Und dann hat man alles noch so Verrückte getan, um diese steigende Menge an Energie aus den vorhandenen Quellen herauszupressen. Zukünftig müsste die Frage lauten: Wie viel Energie steht uns zur Verfügung, ohne die natürlichen Ressourcen, die Erde, das Klima und die Zukunft in verantwortungsloser Weise zu gefährden? Energie also als kostbares, endliches, sorgsam und sparsam zu nutzendes Gut, das nicht einfach in beliebiger Menge zur Verfügung steht. Eine unbequeme Wahrheit, die bisher nur von vereinzelten Politikerinnen und Politikern ausgesprochen worden ist, an der wir aber, früher oder später, nicht vorbeikommen werden. Denn, wie der deutsche Astrophysiker Harald Lesch unlängst sagte: „Wir haben auf viel zu grossem Fuss gelebt und merken allmählich, dass die Party vorbei ist.“

Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung…

 

Anlässlich eines Treffens mit Parteifreunden im appenzellischen Bühler äusserte sich gemäss „Tagblatt“ vom 15. August 2022 SVP-Bundesrat Ueli Maurer unter anderem auch zum Ukrainekonflikt. Maurer bezeichnete diesen als „Stellvertreterkrieg zwischen Westen und Osten“, es sei ein „Kampf um Machtansprüche“, der „auf dem Buckel der Ukraine“ ausgetragen werde. Bereits haben sich Vertreter mehrerer Parteien von den Aussagen Maurers distanziert und betont, im Falle des Ukrainekrieges gehe es um nichts anderes als die „militärische Aggression“ Russlands gegen ein demokratisches, souveränes Nachbarland. Diese Meinung herrscht auch in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten westlichen Ländern vor. 

Waren die Äusserungen Ueli Maurers also falsch? Keineswegs. All jene, die ihm widersprechen, scheinen sich offensichtlich nicht daran zu erinnern, dass führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 Russland gegenüber die Zusicherung abgegeben hatten, die NATO keinesfalls in Richtung Osten zu erweitern – eine Zusicherung, die der Westen dutzendfach gebrochen hat, indem eines ums andere Land in die NATO aufgenommen wurde bis hin an die russische Grenze. Offensichtlich haben sich all jene, für die der Alleinschuldige im Kreml sitzt, auch noch nie das Gegenteil vorzustellen versucht, nämlich, dass sich Mexiko und Kanada mit Russland verbünden würden und dort Atomraketen aufgestellt würden, die gegen die USA ausgerichtet wären, was die USA zweifellos kaum so mir nichts dir nichts hinnehmen würden. Auch will kaum je irgendwer etwas wissen von den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan anfangs 2014, als die damalige russlandfreundliche Regierung gestürzt und durch eine US-freundliche Regierung ersetzt wurde, wobei mutmasslich der CIA eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint. Auch scheinen viele noch nie etwas gehört zu haben von den geostrategischen Überlegungen sowohl des ehemaligen US-Aussenministers Kissinger wie auch des Sicherheitsberaters Brzezinski, die beide in der Ukraine einen gefährlichen Zankapfel zwischen östlichen und westlichen Machtinteressen sahen und deshalb einen möglichst unabhängigen, blockfreien Status dieses Landes forderten. Auch wird von den westlichen „Hardlinern“ gerne übersehen, dass die NATO über ein zwanzig Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland und dass Russland buchstäblich von allen Seiten her von US-Militärstützpunkten umzingelt ist, während man russische Stützpunkte global schon fast an zwei Händen abzählen kann. Schliesslich scheint auch viel zu wenig bekannt zu sein, dass sich mittlerweile 17 Millionen Hektar ukrainischer Agrarfläche im Besitz der multinationalen Agrarkonzerne Monsanto, Cargill und DuPont befinden, eine Fläche, die grösser ist als die gesamte Agrarfläche Italiens, und dies in einem Land, welches traditionell als wichtige Kornkammer Russlands diente.

Den Blick zu öffnen auf den Konflikt und seine Hintergründe als Ganzes heisst nicht, den militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Jeder kriegerische Akt ist zu verurteilen, egal von welcher Seite er verübt wird. Das gängige Schwarzweissbild zu durchbrechen und gegenseitige Feindbilder zu hinterfragen und abzubauen, kann aber im besten Falle dazu beitragen, den Konflikt zu entschärfen. Was wir heute dringend brauchen, sind keine Scharfmacher und Kriegstreiber. Was wir heute brauchen, sind Politikerinnen und Politiker, die das Augenmass nicht verlieren und unbeirrt für das Gespräch, für den Dialog und für den Frieden einstehen. „Lieber hundert Stunden ergebnislos verhandeln“, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, „als eine Minute lang schiessen.“ Man mag eine solche Haltung als naiv abtun. Aber unvergleichlich viel naiver ist es, daran zu glauben, auf kriegerische Weise einen Konflikt lösen zu können auf eine Art und Weise, dass daraus eine tragbare Lösung für alle Seiten entsteht. Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung, gegenüber nicht nur diesem, sondern ganz allgemein jedem Krieg. Es muss zu denken geben, dass pazifistische Gruppierungen und Bewegungen in Zeiten des Friedens viel grösseren Zulauf gehabt haben als in der heutigen kriegerischen Zeit und dass sich viele einst pazifistisch geprägte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens inzwischen vom Pazifismus losgesagt und distanziert haben. Pazifismus darf keine Modeerscheinung zu sein. Wenn er in friedlichen Zeiten wichtig ist, dann ist er in kriegerischen Zeiten noch unvergleichlich viel unverzichtbarer. Und vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass Pazifismus auch ansteckend sein kann. So wie Kriegsparolen der einen Seite meist zur Folge haben, dass sich auch die Kriegsparolen auf der anderen Seite verstärken, und so wie militärische Aufrüstung auf der einen Seite noch grössere Aufrüstung auf der anderen Seite bewirkt, so ist eben auch das Gegenteil möglich: dass Pazifismus, Friedensliebe und Abrüstung auf der einen Seite zu ähnlichen Bewegungen auf der anderen Seite führen. Dass dies keine Illusion ist, sondern durchaus eine realistische Haltung, lässt sich damit begründen, dass selbst jene Menschen, die am lautesten nach Krieg, Rache und Vergeltung schreien, dennoch in ihrem Innersten die unauslöschliche Sehnsucht nach einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit tragen.

SVP-Bundesrat Ueli Maurer warnte anlässlich seines Treffens mit Parteifreunden in Bühler davor, es könnte schon in wenigen Wochen zu einem atomaren Weltkrieg kommen. Es ist kein Tag zu früh, um dem Pazifismus nicht nur dort, wo gerade ein kriegerischer Konflikt im Gange ist, sondern auch weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Denn, wie schon US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Ukraine: Multinationale Agrarkonzerne besitzen 17 Millionen Hektar Agrarfläche und noch ist kein Ende in Sicht

 

Im Ukrainekonflikt geht es nicht nur um besetzte oder verlorene Territorien, um nationale Grenzen und um eine militärische Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Es geht insbesondere auch um knallharte wirtschaftliche Interessen. Wie soeben veröffentlichte Zahlen belegen, haben sich die US-amerikanischen Agrarkonzerne Monsanto, Cargill und DuPont bereits 17 Millionen Hektar ukrainischen Agrarlandes unter den Nagel gerissen, das ist mehr als die gesamte Agrarfläche Italiens. Aber auch in vielen weiteren Wirtschaftsbereichen wie etwa der Telekommunikation und des Bauwesens wittern westliche Konzerne auf ukrainischem Boden ungeahnte Gewinne, vor allem auch dann, wenn es um den Wiederaufbau des zerstörten Landes nach dem Krieg gehen wird. Wirtschaftliche Expansion ist freilich kein Zufall. Sie ist der eigentliche Motor des Kapitalismus, eines Wirtschaftssystems, das auf unaufhörliches, grenzenloses Wachstum ausgerichtet ist und daher naturgemäss sowohl im Inneren wie im Äusseren eine wachsende Zahl von Territorien benötigt, um immer mehr Rohstoffe, immer mehr Wirtschaftsaktivitäten, immer mehr Arbeit dem Ziel stetiger „Wertvermehrung“ zu unterwerfen. Wahrscheinlich träumen die Apologeten des Kapitals schon heute davon, sich nach der Ukraine auch noch Russland einzuverleiben, dann den Rest der Erdoberfläche, dann sämtliche Ozeane bis in ihre tiefsten Tiefen, dann den Mond, dann den Mars und schliesslich das ganze Universum…

Denn das kapitalistische Prinzip der nicht endenden Profitmaximierung kennt keine Grenzen. Entweder tritt es in Gestalt der Produktivitätssteigerung auf – immer weniger Menschen schaffen in immer kürzerer Zeit einen immer grösseren „Mehrwert“ – oder in Gestalt der Privatisierung – ehemals staatliche Unternehmen im Dienste der allgemeinen Wohlfahrt werden dem Ziel der Gewinnmaximierung unterworfen – oder in Gestalt künstlich geschaffener Konsumbedürfnisse, was vor allem überall dort Vorrang hat, wo sämtliche Grundbedürfnisse bereits abgedeckt sind und „Mehrwerte“ nur dadurch geschaffen werden können, dass man, mithilfe der entsprechenden Werbeindustrie, die Menschen davon überzeugt, Dinge zu kaufen, die sie eigentlich gar nicht wirklich brauchen. Ein weiteres Mittel besteht darin, Löhne so tief anzusetzen, dass Menschen gezwungen sind, mehr als einen Job auszuüben, so lässt sich aus ihnen ein weit höherer „Mehrwert“ herauspressen, als wenn sie nur in einem einzigen Job tätig wären. Dazu kommt die sich spiralförmig steigende Ausdehnung in Zeit und Raum. Die Ausdehnung in der Zeit gemäss dem Motto „Time is Money“: „Mehrwert“ wird geschaffen in immer schnellerem Arbeitstakt. Nicht nur durch Roboter und Maschinen wird das Tempo der Produktion beschleunigt, sondern speziell auch durch die digitalen Kommunikationssysteme, sodass nicht nur das Volumen der Wirtschaftsaktivitäten stetig zunimmt, sondern auch die Geschwindigkeit, in der sie ablaufen. Dann die Ausdehnung im Raum: Sie erfolgt, wie bereits erwähnt, durch territoriale Einverleibung oder etwa, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, durch das Niederbrennen von tropischen Regenwäldern im Umfang von weltweit über 40 Fussballfeldern pro Minute, um auf den so gewonnenen Flächen gewinnbringende Futtermittel anzubauen und unermessliche „Mehrwerte“ zu schaffen. Nichts symbolisiert das Prinzip der Ausdehnung in Raum und Zeit so drastisch wie die kapitalistische Stadt: Aus jedem Quadratmeter wird eine möglichst hohe Rendite herausgepresst und durch immer weiter in die Höhe wachsende Gebäude werden Flächen von ein paar hundert Quadratmetern um das Zwanzig- oder Fünfzigfache ihres eigentlichen Wertes zum willkommenen, x-fachen „Mehrwert“ ihres Besitzers. Gleichzeitig nimmt auch die Geschwindigkeit aller Abläufe stetig zu: Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Tempo, in dem sich Fussgängerinnen und Fussgänger in den Städten bewegen, kontinuierlich erhöht.

Permanente Steigerung der Produktivität. Privatisierungen. Künstlich geschaffene Bedürfnisse. Ausdehnung in Raum und Zeit. Ein Karussell, das sich immer schneller dreht und aus dem immer mehr Menschen, die dem Druck und dem Tempo nicht gewachsen sind, hinausfliegen. Eine Maschine, in der die einzelnen Menschen bloss winzige Rädchen sind, die sich stets alle in die gleiche Richtung drehen. Ein Raubtier, das umso hungriger wird, je mehr es zu fressen bekommt. Doch irgendwann werden die Rädchen durchdrehen, spätestens dann nämlich, wenn es nichts mehr gibt, was sich in Geld verwandeln lässt, dann, wenn die Kluft zwischen denjenigen, denen immer neue Bedürfnisse aufgeschwatzt werden, und denen, die nicht einmal genug zu essen haben, schlicht und einfach viel zu gross sein wird und die Auswirkungen der Klimakatastrophe so gewaltig sein werden, dass auch dem letzten Verfechter des kapitalistischen Wirtschaftssystems die Augen aufgehen müssen und er erkennen wird, dass der eben noch scheinbar unbestrittene Weg grenzenlosen Wachstums und grenzenloser Aneignung von Mensch, Arbeit, Erde und Natur durch das Kapital nichts anderes gewesen ist als ein tödlicher Irrweg. Dann, spätestens, werden wir uns wohl an jene uralte indianische Prophezeiung erinnern, die wir so lange und zu einem so hohen Preis missachtet haben: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“