Afghanistan: eine der schlimmsten Hungerkatastrophen aller Zeiten – doch die humanitäre Hilfe bleibt aus!

 

Bilder, die man nicht so leicht vergessen kann: Weinende Kinder, verzweifelte Mütter. Afghanistan im Juli 2022. Im Bericht von SRF am 27. Juli 2022 ist die Rede von einer der verheerendsten Hungersnöte, die das Land je erleiden musste. Immer mehr Eltern sehen sich gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen, so auch die zehnjährige Amina, deren zukünftiger Mann 20 Jahre älter ist als sie. „Was soll ich tun?“, klagt Aminas Mutter, „wenn ich meine Kinder nicht verkaufe, müssen sie verhungern.“ Viele Menschen haben sich zudem verschuldet und brauchen das Geld, um ihre Schulden abzuzahlen. Auch die fünfjährige Sabera wird weggeben, ihre Familie muss gerade mal mit 50 Rappen pro Tag zurechtkommen. Und auch für Saberas Mutter ist klar: Wenn sie das Kind nicht verkaufen kann, muss es verhungern. Immer mehr Familien in den ärmlichen Bergdörfern Afghanistans, wo ein grosser Teil der Bevölkerung in notdürftig gebauten Zelten haust, leiden unter dem gleichen Schicksal: Innerhalb von einem Jahr hat sich der Verkauf kleiner Mädchen verdoppelt. Als die Fernsehreporterin der zehnjährigen Amina die Frage stellt, wann sie ihre Eltern verlassen werde, bricht das Kind in heftiges Schluchzen aus, die ganze himmelschreiende Traurigkeit und Verzweiflung eines zehnjährigen Mädchens, das, wäre es nicht in Afghanistan, sondern hier in der Schweiz geboren worden, nun wohlbehütet aufwachsen, zur Schule gehen und mit anderen Kindern spielen könnte. Und dann wird mitten in die Sendung dieser Satz eingeblendet, der in mir nichts weniger als eine unbeschreibliche Wut auslöst: DIE HUMANITÄRE HILFE BLEIBT AUS. Wie bitte? Wo bleibt der vielgelobte Westen, der angebliche Garant für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte? 20 Jahre lang wurde Afghanistan von den USA und ihren Verbündeten mit Krieg überzogen, 850 Milliarden Dollar liess man sich Tod und Verwüstung kosten. Und jetzt? Einfach nichts? Einfach Funkstille? „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Selten fand ich dieses Zitat eines kritischen Geistes, der immerhin als General und später als US-Präsident amtierte, so aktuell wie im Anblick dieses so bitterlich schluchzenden zehnjährigen afghanischen Mädchens. Ja, die buchstäblich verpulverte Hoffnung der Kinder. Hätten die USA jene 850 Milliarden Dollar nicht in Panzer, Raketen und Kampfflugzeuge investiert, sondern in den zivilen Aufbau des Landes, dann hätte genau diese Summe genügt, um jeder afghanischen Familie, die heute mit einem durchschnittlichen Prokopfeinkommen von 410 Dollar über die Runden kommen muss, 20 Jahre lang ihre täglichen Einkünfte mehr als zu verdoppeln. Und keine Mutter, kein Vater wären heute gezwungen, das eigene Kind, um es vor dem Hungertod zu bewahren, an fremde Leute zu verschachern. Und dann haben wir noch nicht einmal von Jemen gesprochen, von Somalia, von der Zentralafrikanischen Republik, vom Tschad, von der Demokratischen Republik Kongo, von Madagaskar – Länder, wo Väter und Mütter nicht einmal die Möglichkeit haben, ihre Kinder durch Verkauf vor dem Hungertod zu retten, weil es schlicht und einfach gar niemanden gibt, der genug Geld hätte, um ein Kind zu kaufen. Derweil die weltweiten Rüstungsausgaben gemäss dem neuesten Bericht des Friedensforschungsinstituts SIPRI das siebente Jahr in Folge gestiegen sind und 2021 ein Rekordhoch von 2113 Milliarden Dollar erreicht haben. Wie viele Mädchen müssen noch so bitterlich weinen wie die zehnjährige Amina oder die fünfjährige Sabera aus Afghanistan, bis endlich all die Energie, all die Kraft, all das Potenzial, all die Phantasie, all der Erfindergeist, all das Prestige und all das Geld, das heute in Tod, Verwüstung und Zerstörung investiert werden, dem Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt zugeführt werden, in der nie mehr eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind hergeben muss, bloss um es vor dem Hungertod zu bewahren?  

Dreadlocks und farbige Gewänder als „kulturelle Aneignung“ – und was ist mit der ökonomischen Aneignung?

 

Am 18. Juli, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 27. Juli 2022, bricht die Berner Brasserie Lorraine ein Konzert der Band Lauwarm ab. Der Grund: Reklamationen aus dem Publikum, wonach es sich bei den Frisuren einzelner Bandmitglieder – Dreadlocks -, den Kleidern – farbige Gewänder aus Gambia und Senegal – sowie der Musik – Reggae bis Indie World – um „kulturelle Aneignung“ handle. Mit der gleichen Begründung wurde unlängst auch in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn, welche ebenfalls mit Dreadlocks an einem Konzert auftreten wollte, von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten wieder ausgeladen. „Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung“, so der „Tagesanzeiger“, „wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägerinnen und Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet.“ Sozusagen ein Raubbau also an fremdem Kulturgut, was in den Augen der Gegnerinnen und Gegner einer kulturellen Aneignung verwerflich sei. Mit dieser Argumentation kann Dominik Plumettaz, Leadsänger von Lauwarm, nichts anfangen: „Wenn wir etwas aus einer anderen Kultur nutzen“, so begründet er seinen Standpunkt, „ist das etwas, was uns weiterträgt und auch bereichernd ist.“ Und auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Kolonialismus und Imperialismus an der ETH Zürich, kann dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in Form musikalischer Ausdrucksformen nichts abgewinnen: „Würde man kulturelle Aneignung verbieten, dann wäre keine populäre Musikform mehr spielbar, weder Jazz noch Blues, Rock, Tango oder Hip-Hop. Popmusik beruht stets auf der Vermischung von unterschiedlichen musikalischen Traditionen, Stilen und Instrumentarien. Nur so kann letztlich Neues entstehen.“ Man könnte in der Diskussion rund um „kulturelle Aneignung“ sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob solche Diskussionen um Frisuren, Modestile und dergleichen nicht von einem ungleich viel grösseren Problem ablenken, nämlich von dem, was man als „ökonomische Aneignung“ bezeichnen könnte. Höchstwahrscheinlich tragen viele der Frauen und Männer, die das Konzert der Gruppe Lauwarm besuchten, Kleider, die weit fort, in Bangladesch, Südkorea oder anderswo gefertigt wurden und hierzulande nur deshalb so billig sind, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter tausende von Kilometern von uns entfernt vierzehn Stunden pro Tag schuften müssen und erst noch kaum etwas verdienen. Die meisten Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher werden zweifellos auch ein Handy besitzen, mit dem sie Bilder vom Konzert an ihre Liebsten schicken können – Handys, die ebenfalls fernab dank billiger Arbeitskräfte gefertigt worden sind und die ohne seltene Metalle, tief aus afrikanischer Erde geschürft, nicht eine Sekunde lang funktionieren würden. Und wie ist es mit dem Kaffee, der nach dem Konzert genossen wird, wie ist es mit den tropischen Früchten, die man am späteren Abend verzehren wird, wie ist es mit dem E-Bike oder dem Automobil, mit dem man am nächsten Tag zur Arbeit fahren wird, wie ist es mit Sportgeräten, den Spielsachen und den Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum? In allem steckt billige Arbeit, Ausbeutung, „ökonomische Aneignung“. Und auch das ist längst noch nicht alles. Blenden wir um 500 Jahre zurück, dann sehen wir, dass der europäische Reichtum und damit das Fundament, auf dem der Kapitalismus und unser heutiger Wohlstand beruhen, nur möglich wurde durch millionenfache Sklavenarbeit auf den Feldern, den Plantagen und in den Minen Amerikas und durch die gnadenlose Ausbeutung Afrikas auf der unersättlichen Suche nach all jenen Rohstoffen, Bodenschätzen und Früchten, die sich nach und nach in die Goldberge und die unermesslichen Besitztümer des Nordens verwandelt haben bis zum heutigen Tag. Wer sich über „kulturelle Aneignung“ empört, müsste sich über die „ökonomische Aneignung“ um ein Vielfaches mehr empören, denn diese ist zwar viel weniger sichtbar, dafür aber viel umfassender, alles durchdringend. Die Brasserie Lorraine, wo das Konzert mit der Gruppe Lauwarm abgesagt wurde, plant nun eine Diskussionsrunde zum Thema. Das ist löblich. Noch löblicher wäre es, man würde eine solche Diskussionsrunde ausweiten und nicht nur von kultureller Aneignung sprechen, sondern auch von der ökonomischen bis hin zu den Grundlagen und Zusammenhängen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Solange aber sollen Musikerinnen und Musiker mit Frisuren und in Gewändern auftreten dürfen, so bunt, vielfältig und verwirrend sie auch sein mögen. Das Letzte, was wir brauchen, ist so etwas wie eine Sittenpolizei, das Beste, was wir brauchen, ist eine gründliche, systematische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, in die wir alle, ob wir wollen oder nicht und ganz unabhängig davon, wie wir uns kleiden und frisieren, verstrickt sind und die wir daher auch nur alle gemeinsam überwinden können.

Mit dem Blick in die Vergangenheit versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft

 

Nicht nur die Ukraine und Russland führen gegeneinander Krieg. Krieg, wenn auch nur mit Worten, herrscht auch zwischen all denen, welche Wladimir Putin bzw. Russland als Hauptschuldige betrachten, und denen, welche die Schuld an der kriegerischen Auseinandersetzung in erster Linie beim US-Imperialismus und der NATO-Osterweiterung sehen, von der sich Russland existenziell bedroht gefühlt hätte. Eine einzige, alleinige „Wahrheit“ scheint es nicht zu geben, für jedes Argument wird eine Fülle von Gegenargumenten aus dem Hut gezaubert. Tatsache ist: Je nachdem, wie weit wir in die Vergangenheit zurückblicken, sieht das Ganze wieder anders aus. Blenden wir ins Jahr 1991 zurück, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, als führende westliche Politiker Russland gegenüber das Versprechen abgaben, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, dann müssten wir in Anbetracht der späteren Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands dem Westen eine wesentliche Mitschuld, wenn nicht Hauptschuld an der heutigen Situation anlasten. Betrachten wir dagegen nur die Zeitspanne zwischen Februar 2022 und heute, dann kommen wir wohl nicht umhin, Russland den völkerrechtswidrigen Einmarsch in ein souveränes Nachbarland zum Vorwurf zu machen. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Der Blick in die Vergangenheit ist alles andere als hilfreich, um diesen Konflikt zu lösen. Das Einzige, was etwas bringt, ist der Blick in die Zukunft. Nicht die Frage, wer woran Schuld gewesen ist und wie alles angefangen hat, bringt uns weiter. Weiter bringt uns nur die Frage, wie jene Zukunft aussehen könnte, in der die Bewohnerinnen und Bewohner dieser heute so verheerend und zerstörerisch umkämpften Gebiete friedlich und in Eintracht miteinander leben könnten und zwischen der Ukraine und Russland eine friedliche, auf Kooperation beruhende Partnerschaft entstehen könnte, in welche auch die europäischen Staaten konstruktiv eingebunden wären. „Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft, denn in ihr will ich leben.“ Verharren wir zur sehr beim Blick in die Vergangenheit, dann versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft, in das, was hinter der heutigen Realität als Utopie liegen könnte. „Eine
Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen
Blick“, sagte der irische Schriftsteller Oscar Wilde, „denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.
Und wenn die Menschheit dort angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren
Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von
Utopien.“ Vieles deutet darauf hin, dass wir uns in einer Art „Zeitenwende“ befinden. Die gegenwärtigen Probleme und Bedrohungen von weltweit kriegerischen Auseinandersetzungen bis hin zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs, von Armut, Hunger und sozialer Ungleichheit bis zum Klimawandel mit seinen unabsehbaren zerstörerischen Folgen für nachfolgende Generationen, alle die Probleme und Bedrohungen scheinen uns immer mehr über den Kopf hinauszuwachsen und es wird immer deutlicher, dass die bisherigen Lösungsversuche je länger je weniger genügen, um dies alles in den Griff zu bekommen. Oder, wie es Albert Einstein sagte: „Probleme lassen sich niemals durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Der Blick in die Vergangenheit hat endgültig ausgedient, es braucht den Blick in die Zukunft. Mehr denn je brauchen wir die Kraft der Vision, der Utopie, dieses fernen Landes, hinter dem stets wieder ein noch besseres, noch schöneres Land verborgen liegt, ein Land, in dem Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein gutes Leben für alle nicht mehr bloss schöne Worte sind, sondern Wirklichkeit. „Konzentriere nicht alleine deine ganze Kraft auf den Bekämpfen des Alten“, sagte schon der griechische Philosoph Sokrates, „sondern darauf, das Neue zu formen.“ Und auch Albert Einstein sagte: 
„Was für eine Welt könnten
wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau
einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären
hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu
verhelfen.“ Wie tragisch, dass ausgerechnet in einer Zeit, da Visionen und positive Zukunftsvorstellungen wichtiger wären denn je, diese in der grossen öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielen oder oft sogar als „naiv“ und „gutgläubig“ ins Lächerliche gezogen werden. Kein Wunder, sehen wir an der Stelle hoffnungsvollen Zukunftsglaubens bei viel zu vielen Menschen Resignation, Verzweiflung, Rückzug aus allem, was mit Politik und Zukunftsarbeit zu tun hat. Doch in uns allen, die heute so oft einsam und verzweifelt sind, steckt, da bin ich mir ganz sicher, allem zum Trotz die unendliche Sehnsucht nach einer Welt, in der alles ganz anders ist. Vielleicht ist alles noch ein bisschen zu früh, aber irgendwann wird es kommen. 
„Wir
malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft
von der wir träumen, „so die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, „das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir
wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie
kommen.“ Und wer erinnert sich an dieser Stelle nicht auch an das unvergessliche Zitat des brasilianischen Erzbischofs 
Dom Hélder Câmara: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein
Traum; wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ 

Die Behauptung, es gäbe nicht genug Geld, um Armut und Elend zu beseitigen, ist eine Lüge…

 

„Die Preise für Essen, Energie und andere lebensnotwendige Güter“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 17. Juli 2022, „steigen überall schmerzhaft an.“ Und die Global Crisis Response Group der UNO spricht von einer „weltweiten Lebenskostenkrise“. Mit anderen Worten: Das Problem von Hunger und Armut in weiten Teilen des globalen Südens liegt nicht vor allem darin, dass zu wenige Güter für den täglichen Bedarf vorhanden wären, sondern dass zu viele Menschen nicht genug Geld haben, um sie kaufen zu können. Das ist ein himmelschreiendes Versagen des so genannten „Freien Marktes“, in dem angeblich Angebot und Nachfrage zum Wohle aller in einem permanenten Gleichgewicht stünden. Tatsächlich aber fliessen die Güter im „Freien Markt“ nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie tatsächlich kaufen zu können. Dies führt zu dem eklatanten Ungleichgewicht, dass weltweit über 800 Millionen Menschen hungern, während in den reichen Ländern des Nordens zwei Fünftel der Lebensmittel ungebraucht im Müll landen. 

Das Versagen des „Freien Marktes“ stellen wir aber nicht nur beim Vergleich zwischen reicheren und ärmeren Ländern fest, sondern auch innerhalb jedes einzelnen Landes. So gibt es wohl auch in den allerärmsten Ländern Luxusrestaurants für Reiche, Golfplätze und Fünfsternehotels für ausländische Touristinnen und Touristen und wohl nur selten ist bis heute in einem dieser Länder ein Mitglied der Regierung an Armut oder Hunger gestorben. Und während auch in diesen Ländern die Reichen und Privilegierten in Luxusvillen wohnen, lebt ein grosser Teil der armen Bevölkerung auf der Strasse oder in notdürftig zusammengebauten Wellblechhütten, dem Hunger, dem Elend und der Gewalt preisgegeben. Selbst wenn Eltern ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen und sie auf eine Schule schicken möchten, so ist ihnen auch das viel zu oft verwehrt, weil sie beispielsweise die Kosten für die Schulbücher oder die Schuluniform nicht aufbringen können. Nicht anders in den reichen Ländern. Selbst in einem so vermögenden Land wie der Schweiz gäbe es zwar auf dem Wohnungsmarkt ein genügend grosses Angebot, aber viele Wohnungen sind so teuer, dass ausgerechnet jene Familien, die am dringendsten darauf angewiesen wären, sich eine solche schlicht und einfach gar nicht leisten können. Insgesamt gibt es auch eine genügende Anzahl an Zahnärztinnen und Zahnärzten, aber ein grosser Teil der Bevölkerung muss auch bei gefährlichen Komplikationen und oft unerträglichen Schmerzen aus finanziellen Gründen auf eine Behandlung verzichten. Auch kulturelle Angebote wie Theater, Konzerte oder Ausstellungen, von denen es in der Schweiz eine grosse Vielzahl gibt, sind ausschliesslich denen vorbehalten, die hierfür über ein genug dickes Portemonnaie verfügen.

 „Jede und jeder“, so Artikel 25 der UNO-Menschenrechte, „hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Invalidität.“ Und im Artikel 26 heisst es: „Jede und jeder hat das Recht auf Bildung.“ Schliesslich Artikel 27: „Jede und jeder hat das Recht, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ Begeht der Kapitalismus, aus dieser Sicht betrachtet, nicht eine tagtägliche millionenfache Verletzung von Menschenrechten? Mit welchem Recht stellen westlich-kapitalistische Politikerinnen und Politiker andere Gesellschaftssysteme an den Pranger, wenn sie selber so gravierend elementarste Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger missachten? Wären der Kapitalismus und der „Freie Markt“ eine menschenfreundliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, dann müsste alles, aber auch alles unternommen werden, um die Grundbedürfnisse aller Menschen so, wie sie die UNO festgehalten hat, zu erfüllen, bevor man auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden könnte, Kreuzfahrtschiffe, Luxushotels, Überschallflugzeuge, Mondraketen oder Atombomben zu bauen. 

Wenn das Geld, das heute noch so unsäglich ungerecht verteilt ist, nicht mehr dazu dienen würde, denen, die es besitzen, zu Privilegien und Macht über andere zu verhelfen, sondern dazu, alles gerecht zu verteilen und auch nicht einen einzigen Menschen von den elementarsten Ansprüchen auf seine Bedürfnisse und Rechte auszuschliessen, dann hätten wir wohl in kürzester Zeit eine Welt, wo niemand mehr hungern müsste, niemand mehr auf der Strasse oder in einer Wellblechhütte leben müsste, niemand mehr auf eine lebensnotwendige Operation verzichten müsste, niemand mehr von kulturellen Anlässen ausgeschlossen wäre, niemand mehr unter Gewalt, Ausbeutung und Krieg leiden müsste. Denn alles Geld, das nicht zum Aufbau einer gerechten Welt verwendet wird, sondern für unnötigen Luxus und für Mittel der Zerstörung und der Vernichtung von Leben, ist verlorenes Geld. „Die Behauptung“, so der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, „es gäbe nicht genug Geld, um das Elend in der Welt zu beseitigen, ist eine Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es besitzen nur die falschen Leute.“

Von der Illusion, technische Probleme könnten allein durch technische Massnahmen gelöst werden…

 

„Im Süden Frankreichs“, so berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 17. Juli 2022, „entsteht gegenwärtig der experimentelle Fusionsreaktor Iter.“ Das Prinzip: Mittels Laserstrahlen werden die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium verdichtet und auf 100 Millionen Grad Celsius erhitzt, damit sie ihre Abstossung überwinden und verschmelzen. Doch es gibt nur langsame Fortschritte, erste Experimente mit der neuen Technologie zeigen, dass die Entwicklung voraussichtlich noch drei Jahrzehnte in Anspruch nehmen und Milliarden verschlingen wird. „Zwar ist es mittlerweile“, so die „NZZ am Sonntag“, „im Experiment gelungen, Kernfusionsreaktionen zu starten, doch die frei werdende Energie betrug nur einen Bruchteil dessen, was für den Betrieb des Reaktors aufgewendet wurde.“ Ein weiteres Beispiel für die gigantische Illusion, technische Probleme – in diesem Falle Energie- und Stromknappheit – könnten durch technische Massnahmen – in diesem Falle eine neue Generation von Kernreaktoren – dauerhaft gelöst werden. Die gleiche Illusion lässt uns hoffen, der Umstieg von Benzinautos auf Elektromobile wäre ein wirksamer Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel – wohlweislich ausser Acht lassend, dass der hierfür benötigte Strombedarf alle derzeit zur Verfügung stehenden Quellen um ein Vielfaches übersteigen würde, ganz abgesehen von den seltenen Metallen und allen weiteren Rohstoffen, die für die Herstellung der Fahrzeuge und der Batterien erforderlich sind. Die gleiche Illusion lässt uns ebenfalls hoffen, neu entwickelte Wasserstoffflugzeuge wären die Lösung aller Probleme und würden es zukünftigen Touristinnen und Touristen möglich machen, wieder ohne schlechtes Gewissen durch die ganze Welt zu fliegen – doch niemand rechnet aus, wie viel Strom benötigt würde, um den Wasserstoff aufzubereiten, und wie viel Energie und Rohstoffe aufgewendet werden müssen, um die Werkhallen der neuen Flugzeuge aufzubauen. Es ist die gleiche Illusion, die uns glauben machen will, man könnte Maschinen konstruieren, welche CO2 aus der Luft absaugen und in den Erdboden versenken könnten – ohne zu bedenken, dass der Aufwand für den Bau solcher Anlagen immens wäre und dennoch nur eine verschwindend kleine Menge CO2 auf diese Weise unschädlich gemacht werden könnte. Es ist die gleiche Illusion, mit der neuerdings auch das Problem des immer dichteren Strassenverkehrs angepackt werden soll, indem noch mehr Autobahnen gebaut und Kreisel durch „intelligente“ Signalanlagen ersetzt werden sollen – als würde nicht jeder neu gebaute Quadratmeter Strasse nur noch zusätzlichen Verkehr nach sich ziehen und als wären all die Materialien, all die Arbeit, all die Energie, all die Rohstoffe für den Umbau und den Ausbau von Strassen unerschöpflich zur Verfügung. Es ist die gleiche Illusion, mit der vorgegaukelt wird, es wäre ein wirkungsvolles Mittel gegen Energieverschwendung, wenn man ältere durch modernere Haushaltsgeräte, Computer oder Smartphones ersetzen würde – ohne daran zu denken, was mit all den nicht mehr benötigten Geräten geschieht und wie viele Rohstoffe und wie viel Energie gebraucht werden, um die „energiesparsameren“ Geräte herzustellen. Und so weiter bis hin zur Illusion, die Menschheit könnte sich dereinst, wenn Leben auf der Erde nicht mehr möglich wäre, mittels Weltraumraketen auf den Planeten Mars absetzen, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Nein. Technische Probleme lassen sich nicht mit technischen Massnahmen lösen, sie werden dadurch nur noch schlimmer. Der ökologische Fussabdruck der Schweiz beträgt drei Erden, mit anderen Worten: Wir verbrauchen drei Mal mehr Ressourcen, Rohstoffe und Energie, als uns die Erde im gleichen Zeitraum wieder zur Verfügung stellt. Wir werden, früher oder später, durch Einsicht oder gezwungenermassen, nicht darum herumkommen, unseren Lebensstil und unsere Lebensgewohnheiten der Erde anzupassen. „Die Welt“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Wir können aus der Zitrone nicht mehr herauspressen, als drin ist. Oder, wie es ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Der nächste Quantensprung, der unausweichlich auf uns zukommt, ist nicht der Quantensprung zu neuen Kernkraftwerken, nachdem sich schon die bisherigen mit der ganzen Problematik der Endlager für die radioaktiven Abfälle als bombastischer Fehlschlag erwiesen haben. Der nächste Quantensprung ist auch nicht das Elektromobil und schon gar nicht eine neue Zivilisation auf dem Mars. Der nächste Quantensprung ist die Besinnung auf das Wesentliche, auf eine Lebensweise, die im Einklang steht mit den Bedürfnissen der Natur und mit den Bedürfnissen zukünftiger Generationen. Der nächste Quantensprung ist die Überwindung des Kapitalismus und der selbstzerstörerischen Wahnidee, Wirtschaft und Technik müssten unaufhörlich wachsen, um nicht unterzugehen. Der nächste Quantensprung ist kein technischer, sondern ein geistiger, ein philosophischer, ein zutiefst kreativer im besten Sinne, wozu Menschen fähig sind. Denn man kann Probleme, wie schon Albert Einstein sagte, „nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

Beizensterben – nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag

 

Jetzt hat auch noch die letzte Beiz in unserem Dorf dichtgemacht. Es sei einfach nicht mehr gegangen, klagte der Wirt: zu wenig Personal während der Stosszeiten, zu viel Personal während der übrigen Zeiten, zu hohe Miete, zu hohe Betriebskosten, und als er notgedrungen die Preise hätte erhöhen müssen, seien ihm die Gäste immer öfters ferngeblieben. Jetzt hat unser Dorf von immerhin über 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern kein einziges Restaurant mehr, keine einzige Beiz. Nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und kultureller Kahlschlag, anders kann man es nicht sagen. Denn Restaurants und Beizen sind mehr als Orte, wo man etwas essen und trinken kann. Sie sind Begegnungsorte, Wohlfühloasen, ja so etwas wie Kulturzentren – fast die einzigen Schauplätze öffentlichen Lebens in einer kleinen Kommune, wo sonst nicht allzu viel los ist. Doch, und das ist das Übel, Restaurants und Beizen können fast nicht rentieren, zu gross ist die Diskrepanz zwischen den Betriebs- und Personalkosten auf der einen Seite, den Einnahmen auf der anderen. Rentieren können höchstens Restaurants, die sich voll und ganz auf ein Luxusangebot konzentrieren und wo genug gut betuchte Gäste bereit sind, für fingerhutgrosse Miniportionen, klitzekleine Salate und edle Weine noch so hohe Summen hinzublättern – und das ist dann genau das Gegenteil jenes Lokals, das angemessene Preise und gutes Essen auch für weniger gut Verdienende anzubieten vermag, Orte, wo sich Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten treffen und wo niemand ausgegrenzt wird, nur weil er weniger Geld in der Tasche hat als ein anderer. Die Lösung? Nun, ich sehe keinen anderen Ausweg als eine Subventionierung von Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand. Wir subventionieren ja auch die Schulen, die Museen, die Kirchen, die Bibliotheken, die Konzert- und Theaterhäuser, die Galerien. Restaurants und Beizen haben mindestens eine so wichtige soziale und kulturelle Funktion wie eine Bibliothek oder eine Kirche. Wer das nicht glaubt, soll sich mal in meinem Dorf umsehen. Seitdem auch noch die letzte Beiz dichtgemacht hat, scheint das Dorf wie ausgestorben zu sein, fast könnte man sagen, es fehle ihm die Seele. Denn Beizen und Restaurants sind auch Orte, wo man nach einem strengen Arbeitstag seine Kräfte wieder auftanken und sich etwas Feines gönnen kann, wo Freundschaften geschlossen oder vertieft werden, wo gelacht, gescherzt und geplaudert wird oder wo Geschäftsleute beim Arbeitslunch wichtige Angelegenheiten besprechen, Verträge abschliessen, sich von anderen inspirieren lassen – kurz: Das Restaurant und die Beiz haben eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und wirken sich auch positiv auf viele andere Arbeits- und Lebensbereiche aus. Doch von diesem Mehrwert, den sie schaffen, sehen sie selber keinen einzigen Rappen – höchstens das Trinkgeld, das der Kellnerin am Ende der Mahlzeit „grosszügigerweise“ gegeben wird. Und es sind ja nicht nur die Restaurants und Beizen in den Dörfern und Städten. Es sind auch die Gaststätten hoch oben in den Bergen, wo die Diskrepanz zwischen den betriebswirtschaftlichen Aufwendungen und den zu erzielenden Einnahmen noch viel krasser ist: An einem schönen Wochenende wollen hundert Touristinnen und Touristen ihr Mittagessen möglichst gleichzeitig auf dem Tisch haben, das Personal in der Küche und im Service arbeitet bis zur Erschöpfung. Bei schlechtem Wetter bleiben die Gäste aus, das Personal muss trotzdem weiter entschädigt werden und eine Unmenge bereits eingekaufter, wertvollster Lebensmittel, die nun nicht gebraucht werden, landen im Müll. Und auch hier hat das Restaurant, obwohl es für die touristische Attraktivität einer Region unerlässlich ist, nicht den geringsten Anteil an jenen Profiten, mit denen sich andere eine goldene Nase verdienen. Zu alledem kommt der Konkurrenzkampf, dem die einzelnen Betriebe im Kampf um die Gunst der Gäste unterworfen sind. Öffnet ein neues Restaurant seine Pforten, stürzen sich die Menschen wie Fliegen darauf. Aber wehe, der Gast muss ein bisschen länger auf sein Essen warten, hat irgendetwas noch so Belangloses auszusetzen oder erscheint ihm die Rechnung überrissen – gleich wird er der neu eröffneten Gaststätte den Rücken kehren und sich im Internet auf die Suche nach einem „besseren“ Angebot machen. Überhaupt, das Internet. Es befeuert die gegenseitige Konkurrenzierung zwischen den Gastronomiebetrieben um ein Vielfaches und leiht der gnadenlosen Jagd nach jenem Angebot, das sogleich das beste und billigste sein soll, unerbittlich Vorschub. Wer nicht rund um die Uhr 30 verschiedene Menus anbietet, kann gleich schon von Anfang an einpacken – und niemand fragt sich, was mit all den Lebensmitteln für jene Menus, die niemand bestellt, geschieht. Der Rentabilitätsdruck führt nicht zuletzt dazu, dass das Personal bis zum Gehtnichtmehr mit überlangen Arbeitszeiten und geringen Löhnen ausgepresst werden – ist es doch kein Zufall, dass die Löhne in der Gastronomie mit zu den tiefsten im Vergleich aller Branchen gehören. Logisch, wie sonst soll sich der Betrieb auch nur einigermassen über Wasser halten können. Was wiederum zur Folge hat, dass immer mehr in der Gastronomie Beschäftigte den Bettel hinschmeissen, sich einen leichteren und besser bezahlten Job suchen und die noch verbleibenden einem noch grösseren Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Aber auch die Wirte selber, ob sie nun Besitzer oder Pächter sind, stehen permanent unter Druck, müssen sich häufig verschulden und Existenzen, für die sie ein halbes Leben lang geschuftet haben, nicht selten von einem Tag auf den andern aufgeben. Eine Subventionierung der Beizen und Restaurants durch die öffentliche Hand gäbe allen einen festen Boden unter den Füssen, wäre eine faire Anerkennung des geleisteten gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Beitrags, würde den zerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzkampf beenden und liesse an vielen Orten weder jene Inseln purer Lebensfreude und Lebensqualität aus dem Boden spriessen, wo nicht nur die Gäste, sondern auch das Personal mit all seinen wunderbaren Begabungen des Kochens und der Gastfreundschaft voll und ganz auf ihre Rechnung kämen…

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu…

 

Jetzt, wo die Tage immer heisser werden, schlägt auch der Kapitalismus wieder mit voller Wucht zu. Während gut verdienende Verwaltungsangestellte, Firmenchefs und IT-Spezialistinnen ihre Arbeit in vollklimatisierten Büros verrichten, sind Bauarbeiter, Landarbeiterinnen, Fassadenreiniger, Gärtnerinnen, Solarmonteure, Strassenarbeiter, Dachdeckerinnen und Geleisearbeiter, von denen die meisten mit eher kärglichen Löhnen Vorlieb nehmen müssen, schutzlos der knallenden Sonne ausgesetzt und dies, wie wenn das nicht schon genug wäre, bis zu neun oder gar zehn Stunden pro Tag, weil, wie die Arbeitgeberseite es begründet, der Termindruck geringere Arbeitszeiten nicht zulasse. Während auch der Koch im Speiserestaurant bei 50 Grad mit täglichen Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden rechnen muss, sitzen seine Gäste im schattigen Garten des Restaurants und geniessen das kühle Bier und die edlen Speisen. Und während gutverdienende Teilzeitangestellte es sich leisten können, schon um 17 Uhr das Büro zu verlassen, um sich ein erfrischendes Bad im städtischen Freibad zu genehmigen, haben die Arbeiter auf dem Bau zur gleichen Zeit immer noch zwei Stunden Schufterei vor sich, obwohl nicht nur die Hitze, sondern auch die Anstrengung der schweren körperlichen Arbeit tief in ihren Knochen steckt. Kapitalismus pur. Klassengesellschaft in Reinkultur. Was vorher schon krass war, erscheint jetzt, infolge der unbarmherzigen Hitze, in einem noch viel grelleren Licht. Da mag es wie ein schlechter Scherz klingen, wenn die Landesregierung, wie soeben in der Tagesschau berichtet wurde, im Hinblick auf den morgigen Rekordhitzetag mit zu erwartenden 37 Grad die Empfehlung herausgegeben hat, „sich vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen und Aktivitäten im Freien auf die Morgen- und Abendstunden zu verlegen.“ Doch es ist nicht nur die Arbeit. Der Kapitalismus kennt keine Grenze. Er zieht sich durch alles hindurch, durch Arbeit und Freizeit, durch das öffentliche und das private Leben, durch alles, bis in den Schlaf. Der Hitze im Tal entfliehen durch eine Bergfahrt mit der Sesselbahn in die Höhe, wo es weniger heiss ist? Ins städtische Freibad gehen, die Kinder im Wasser planschen lassen? Einen Ausflug unternehmen zum idyllischen Caumasee in der Nähe des bündnerischen Flims? Oder gar Sommerferien in Norwegen oder Island, um der gröbsten Hitze zu entfliehen? Alles Fehlanzeige für mindestens eine Million von Menschen hierzulande, für die weder die Bergfahrt mit der Sesselbahn, noch der Eintritt ins städtische Freibad, noch das Baden im Caumasee und erst nicht die Ferienreise in den Norden bezahlbar sind. Alles, alles nur denen vorbehalten, die es bezahlen können. Und während sich Einfamilienhausbesitzer in ihrem Garten schattige Plätzchen einrichten und vielleicht sogar eine Dusche oder gar einen Swimmingpool aufstellen, müssen sich Abertausende Wenigverdienende in enge Mietwohnungen zwängen, wo sie vielleicht nicht einmal über einen Balkon verfügen, um in lauem Lüftchen ihr Abendessen zu geniessen. Noch krasser wird es, wenn wir über die Landesgrenze hinausschauen: In welcher Hitze wurden wohl die Trauben geerntet, aus denen der kühle Weisswein, denn wir so gerne als Aperitif geniessen, gemacht worden ist? Wie heiss war es wohl auf den Plantagen, wo all die tropischen Früchte geerntet worden sind, die uns in unserem angenehm klimatisierten Supermarkt angeboten werden? Und welche höllischen Temperaturen mussten wohl all die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Kongo über Brasilien bis nach Bangladesch ertragen, welche all die Rohstoffe und Bestandteile zu Tage gefördert haben, ohne die wir keine Kleider und keine Schuhe hätten und ohne die weder unsere Computer, noch unsere Autos und unsere Klimaanlagen auch nur einen einzigen Tag lang funktionieren würden? Und auch damit noch lange nicht genug. Denn der Klimawandel, welcher die weltweit zunehmenden Hitzewellen zur Folge hat, wird gerade nicht hauptsächlich von denen verursacht, welche am meisten unter ihnen leiden, sondern ausgerechnet von denen, die gegenüber anderen unzählige Privilegien geniessen: die reichen Länder des Nordens als Ganzes und innerhalb der reichen Länder wiederum vor allem die besonders Wohlhabenden, die mit ihrem überbordenden Lebensstil am meisten zur Klimaerwärmung beitragen und gleichzeitig alle möglichen Wege finden, um sich selber vor jeglichem Ungemach zu schützen. Eine Lösung innerhalb des kapitalistischen Systems ist daher kaum in Sicht und daher die Forderung der Klimabewegung nach einem „System Change“, nach einem von Grund auf anderen Wirtschaftssystem, aktueller denn je…

Nicht gegen die Politikerinnen und Politiker müssen wir ankämpfen, sondern gegen das kapitalistische Machtsystem

 

Vor drei Jahren, so berichtet die deutsche „Tagesschau“ am 15. Juli 2022, sind während laufender Plenarsitzungen im deutschen Bundestag zwei Abgeordnete zusammengebrochen. Seither werde vermehrt über die ausserordentliche Belastung, der Politiker und Politikerinnen ausgesetzt sind, diskutiert: überlange Sitzungen, nicht selten bis zwei Uhr nachts, öffentliche Präsenz rund um die Uhr und selbst am Wochenende, Angriffe und Kritik von allen Seiten, insbesondere auch durch die Medien, bei denen ein zunehmend rauerer Ton festzustellen sei, Krisen, die in immer schnellerem Tempo und gehäufter aufeinander folgen. Vor allem belastend sei, dass man als Politikerin und Politiker ständig unter Beobachtung stehe, nicht nur durch Zeitungen und Fernsehen, sondern vor allem auch durch die sozialen Medien, wo gegen einzelne Politiker und Politikerinnen immer wieder verheerende „Shitstorms“ ausgelöst werden, meist verbunden mit der Forderung, diesen Politiker oder jene Politikerin ihres Amtes zu entheben. „Wenn man den Zustand unserer Gesellschaft ansieht“, so war kürzlich in einem Twitter-Kommentar zu lesen, „dann zeugt es schon von grossem Mut, dass sich CDU-Politiker überhaupt noch an die Öffentlichkeit trauen.“ Bei alledem geht vergessen, dass Politikerinnen und Politiker ja nicht kleine Königinnen und Könige sind, welche ihre Macht missbrauchen und deshalb mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Tatsächlich ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, das an allen Ecken und Enden seine Herrschaft auf uns ausübt. Und auch die fähigsten Politikerinnen und Politiker sind nichts anderes als Marionetten in den Händen des kapitalistischen Machtsystems – so lange sie nicht aus dem Hamsterrad aussteigen, in dem wir, ob Politiker oder Nichtpolitikerinnen, gemeinsam gefangen sind. Während wir das Ganze immer noch als „Demokratie“ bezeichnen, leben wir in Tat und Wahrheit doch in einer Scheindemokratie, in der sich die einzelnen Politikerinnen und Politiker nur geringfügig voneinander unterscheiden, alle fest im Boden des kapitalistischen Wertesystems verankert sind und die verschiedenen Parteien somit letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Dies in einem System, wo die „neuen“ Politikerinnen und Politiker stets in die Fussstapfen der alten treten und sich daher auch im Grossen garantiert nichts verändert. So sind die Politiker und Politikerinnen sozusagen permanent eingeklemmt zwischen den Forderungen des Kapitals und den Forderungen der Menschen. Gegen Politikerinnen und Politiker zu schiessen, sie öffentlich blosszustellen, ja zu ihrer Abwahl aufzurufen, greift daher um ein Vielfaches zu kurz. Statt gegen Politikerinnen und Politiker anzukämpfen, müssten wir, gemeinsam mit ihnen, gegen das kapitalistische Machtsystem ankämpfen, welches einzig und allein dafür verantwortlich ist, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden, so viele Menschen ausgebeutet und mit Hungerslöhnen abgespeist werden, soziale Sicherheiten immer mehr unter Druck geraten, Natur, Umwelt und Klima fahrlässig bedroht und überlastet werden in einer Weise, welche die Chance auf ein gutes Leben für zukünftige Generationen immer weiter schmälert, und Kriege im Dienste kapitalistisch-imperialistischer Grossmachtpolitik auch heute noch möglich sind. „Divide et impera!“ – so lautet die Devise, mit der sich das Römische Reich vor zweitausend Jahren an der Macht hielt: Teile und herrsche! Je zerstrittener die einzelnen von Rom beherrschten Gebiete waren, umso unangefochtener die Herrschaft des Imperiums. Genau so ist es mit dem Kapitalismus, der seine Herrschaft über uns alle umso uneingeschränkter ausüben kann, je mehr sich die Menschen, Interessensgruppierungen, Parteien, Politiker und Politikerinnen, die im Kapitalismus leben, gegenseitig das Leben schwer machen. Um dies zu ändern, bräuchte es eine radikale Gegenstrategie: Nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander sollten die Menschen Partei ergreifen gegen ein System, das uns letztlich alle krank macht, die bis an die Grenze körperlicher Belastbarkeit ausgebeuteten Bauarbeiter und Krankenpflegerinnen ebenso wie die Lehrerinnen und Lehrer, die ständig wachsendem Erwartungsdruck seitens der Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind, die Landarbeiter, deren Rücken vor lauter schwerer Arbeit fast zerbrechen, ebenso wie die Studierenden, die mit unnötigem Wissensballast vollgestopft werden, die Bus- und LKW-Fahrer, die ständig am Limit arbeiten und trotzdem nicht einmal einen anständigen Lohn bekommen, ebenso wie die überforderten Politikerinnen und Politiker. Sie alle müssten gemeinsam gegen dieses System, das in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung fordert und gleichzeitig immer mehr Menschen an den Rand drängt, aufstehen und sich für den Aufbau eines neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einsetzen, in dem soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung, der Frieden mit der Natur, das Ende aller Kriege und das gute Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg Wirklichkeit geworden wären. Denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Die USA, die Ukraine und die zerstörerische Blutspur der Neokonservativen

 

Gerne wird den Befürworterinnen und Befürwortern einer Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine vorgeworfen, sie seien naiv. Wirklich naiv aber sind all jene, welche immer noch glauben, die USA hätten mit dem Ukrainekonflikt nichts zu tun und die Ukraine sei einzig und allein das unschuldige Opfer eines barbarischen Aggressors in der Gestalt Wladimir Putins. 

„Der Krieg in der Ukraine“, so der US-amerikanische Ökonom Jeffrey D. Sachs in der „Berliner Zeitung“ vom 30. Juni 2022, „ist der Höhepunkt eines 30jährigen Projekts der amerikanischen Bewegung der Neokonservativen. In der Regierung Biden sitzen dieselben Politiker, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011) starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert haben.“ Die Hauptbotschaft der Neokonservativen laute, so Sachs, dass die USA in jeder Region der Welt die militärische Vormachtstellung anzustreben hätten und den aufstrebenden regionalen Mächten entgegentreten müssten, die eines Tages die globale oder regionale Vorherrschaft der USA herausfordern könnten. Die USA sollten darauf vorbereitet sein, jederzeit bei Bedarf Kriege nach ihrer Wahl zu führen. Die Vereinten Nationen sollten von den USA nur dann genutzt werden, wenn dies für ihre Zwecke nützlich sei. 

„Dieser Ansatz“, so Sachs, „wurde erstmals von Paul Wolfowitz im Jahre 2002 dargelegt. In einem Bericht an das Verteidigungsministerium forderte er die Ausweitung des von den USA geführten Sicherheitsnetzes auf Mittel- und Osteuropa, obwohl der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher 1990 eine Ausweitung der NATO in Richtung Osten ausdrücklich ablehnte. Wolfowitz plädierte auch für amerikanische Kriege nach eigenem Gutdünken und verteidigte das Recht Amerikas, bei Krisen, die für die USA von Belang seien, unabhängig oder sogar alleine zu handeln. Wolfowitz machte bereits im Mai 1991 klar, dass die USA Operationen zum Regimewechsel im Irak, in Syrien und bei anderen ehemaligen sowjetischen Verbündeten anführen sollten.“ Die Neokonservativen, so berichtet Sachs, hätten sich schon für einen NATO-Beitritt der Ukraine eingesetzt, bevor dies 2008 zur offiziellen US-Politik geworden sei. Sie hätten von Anfang an die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als „Schlüssel zur regionalen und globalen Vorherrschaft der USA“ betrachtet. „Die Ansichten der Neokonservativen“, so Sachs, „beruhen auf der Annahme, dass die USA aufgrund ihrer militärischen, finanziellen, technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit in der Lage sind, die Bedingungen in allen Regionen der Welt zu diktieren.

 Tatsächlich aber wurden seit den 1950er-Jahren die USA in fast jedem regionalen Konflikt, an dem sie beteiligt waren, in die Schranken gewiesen oder besiegt. Doch in der Schlacht um die Ukraine waren die Neokonservativen bereit, eine militärische Konfrontation mit Russland zu provozieren, indem sie die NATO gegen die vehementen Einwände Russlands erweiterten, weil sie der festen Überzeugung sind, dass Russland durch die finanziellen  Sanktionen der USA und die Waffen der NATO besiegt werden kann. Die Fakten vor Ort deuten indessen auf etwas anderes hin. Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben sich auf Russland kaum negativ ausgewirkt, während ihr Bumerangeffekt auf den Rest der Welt gross war. Darüber hinaus ist die Fähigkeit der USA, die Ukraine mit Waffen und Munition zu versorgen, durch die begrenzten Produktionskapazitäten der USA und die unterbrochenen Lieferketten stark eingeschränkt.“ Und so kommt Sachs zum Schluss, dass es endgültig an der Zeit wäre, die neokonservativen Fantasien der letzten 30 Jahre zu beenden und die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zurückzuholen, den NATO-Beitritt der Ukraine abzublasen und einen tragfähigen Frieden zu finden, der die territoriale Integrität der Ukraine respektiere und schütze. Bleibt zu hoffen, dass möglichst viele politische Entscheidungsträger diesen Artikel in der „Berliner Zeitung“ gelesen haben und daraus die folgerichtigen Schlüsse ziehen, denn jeder Tag, an dem der sinnlos zerstörerische Krieg weiterwütet, ist ein Tag zu viel.

Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine Zukunft ohne Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Kriege zu glauben…

 

Ja, es braucht viel Kraft, um in dieser schweren Zeit zunehmender sozialer Ungerechtigkeit, kriegerischer Auseinandersetzungen bis hin zur Angst vor einem möglichen Atomkrieg und der Bedrohung zukünftiger Lebensgrundlagen durch den Klimawandel nicht zu verzweifeln. Viele Menschen, die sich eben noch für gesellschaftliche Veränderungen eingesetzt hatten, scheinen inzwischen aufgegeben zu haben. Auch die Klimabewegung hat ihren Schwung und ihre enorme Ausstrahlungskraft, die sie unlängst noch hatte, verloren. Und nichts anderes gilt für die Friedensbewegung, die ausgerechnet jetzt, wo ihre Botschaft aktueller wäre denn je, seltsam stumm geworden ist. Wie ist das zu erklären? Ich sehe fünf Lügen oder Scheinwahrheiten, welche diese Resignation, zumindest teilweise, erklären könnten. Die erste dieser Lügen: Der Mensch sei von Grund auf schlecht, Gier, Hass, Zerstörung und Kriege lägen in seiner Natur und die Selbstvernichtung sei nur die logische Folge davon. Doch wir brauchen nur in die Augen eines Kindes zu schauen, um zu wissen, dass diese Behauptung eine immense Lüge ist. Wie jede Blume und jeder Baum ist auch jeder Mensch ein Wunder der Natur, ausgestattet mit den wunderbarsten Anlagen und Begabungen, voller Kreativität, Neugierde, Lebenslust und Liebe – wer auch immer den Menschen erschaffen hat, er wäre der grösste Narr gewesen, hätte er ihn bloss dazu geschaffen, sich selber zu vernichten. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch Rutger Bregman schreibt in seinem kürzlich erschienen Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“: „Tief in uns drinnen sind wir kooperativ, freundlich, liebevoll, altruistisch, kurz: gut.“ Und auch Mahatma Gandhi teilte diese Sichtweise: „Und wenn ich verzweifle, dann erinnere ich mich, dass durch alle Zeiten in der Geschichte der Menschheit die Wahrheit und die Liebe immer gewonnen haben. Es gab Tyrannen und Mörder und eine Zeitlang schienen sie unbesiegbar, doch am Ende scheiterten sie immer.“ Die zweite Lüge: Habgier, Zerstörung und Krieg wären schon immer Wesenszüge der menschlichen Geschichte gewesen und würden es daher auch immer bleiben. Was für ein kurzsichtiger Gedanke. Ebenso gut könnte man sagen: Der Mensch habe immer schon in Höhlen gelebt und sei immer schon in einem Bärenfell herumgelaufen und werde daher auch bis in alle Ewigkeit weiterhin in Höhlen leben und in einem Bärenfell herumlaufen. Wie verrückt! Der technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklung des Menschen, angefangen von der Steinzeitkeule bis zur Weltraumrakete, traut man unglaubliche Fortschritte zu, bei der geistig-moralischen Weiterentwicklung gibt man sich damit zufrieden, dass halt eben alles so sei, wie es immer schon gewesen sei. Was für eine unglaubliche Diskrepanz. Dabei läge es doch in der Hand des Menschen, mit ebenso viel Neugierde, Kreativität und Geschicklichkeit, wie er weltumspannende Kommunikationssysteme, selbstfahrende Autos oder Weltraumteleskope baut, auch eine Welt ohne Waffen und Kriege, soziale Gerechtigkeit und eine Wirtschaft im Gleichgewicht mit der Natur aufzubauen. Die dritte Lüge: Es gäbe keine Alternative zum Kapitalismus, alle Versuche einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung seien gescheitert. Nun, dass Alternativen zum Kapitalismus, aus was für Gründen auch immer, gescheitert sind, heisst noch lange nicht, dass der Kapitalismus die einzige mögliche, beste und unersetzliche Art und Weise sei, wie Menschen auf diesem Planeten ihre Wirtschaftsweise und ihr Zusammenleben organisieren könnten. Wenn dem so wäre, dann wäre die Menschheit tatsächlich dem Untergang geweiht, denn die inneren Widersprüche des Kapitalismus von der Ungleichverteilung der Güter und Reichtümer über die kriegerische Expansion im Kampf um Rohstoffe und Einflusssphären bis zur fixen Idee eines immerwährenden Wirtschaftswachstums mit der daraus folgenden Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen sind dermassen zerstörerisch, dass der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom „Ende der Geschichte“ sprach und damit den endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus meinte, im Nachhinein noch Recht bekommen könnte, nur nicht so, wie er es gemeint hatte, sondern so, dass der Kapitalismus am Ende der Geschichte auch das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Nein, der Kapitalismus hat und braucht Alternativen, aber diese müssen wir nicht in der Vergangenheit suchen, sondern in der Zukunft, im Aufbau einer neuen, menschen- und naturgerechten Wirtschaftsordnung, die ein gutes Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg möglich machen kann. Die vierte Lüge: Der Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sei etwas zu Grosses, zu Schwieriges und daher undenkbar, die Kräfte der Menschen schlicht überfordernd. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Kompliziert ist nicht das, was wir unter einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstehen könnten. Kompliziert ist das heutige System gegenseitiger Ausbeutung, die Globalisierung mit allen ihren Tücken, die alles durchziehenden unsichtbaren Geldflüsse, die hilflosen Versuche der Politik, all die systembedingten Auswüchse wie eine total überforderte Feuerwehr immer nur dort zu löschen, wo es gerade am heftigsten brennt. Eine auf das Wohl von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wäre im Vergleich dazu etwas sehr Logisches, Einfaches. Auch hier hilft uns der Blick in die Augen des Kindes weiter: Wir sehen eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit. Vielleicht müssten wir die Kinder fragen, wie die Welt von morgen aussehen sollte, um gut zu sein für uns alle. Schliesslich die fünfte Lüge: Ein Einzelner könne sowieso nichts bewirken, deshalb lasse man es doch lieber gleich sein. Auch diese Lüge ist leicht zu entkräften. Denken wir nur an Mahatma Gandhi, der 1930 den berühmten Salzmarsch antrat, ganz alleine, bis ihm, nach insgesamt 388 Kilometern, Abertausende Inderinnen und Inder folgten – ein Unternehmen, das schliesslich massgeblich zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Oder denken wir an Greta Thunberg, die schwedische Schülerin, die 2018 ganz alleine mit einem Protestschild aus Pappe vor dem Stockholmer Rathaus sass und die in den folgenden Monaten weltweit Millionen von Jugendlichen auf die Strassen brachte, um gegen den drohenden Klimawandel zu protestieren. „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum“, sagte der brasilianische Erzbischof Dom Hélder Câmara, „wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ Nun, es kann nicht jede und jeder Greta oder Gandhi sein, aber die Wirkung, die jeder und jede Einzelne auf das Ganze ausübt, ist niemals zu unterschätzen, so wie ein einzelner winziger Tropfen das Fass, welches bis oben gefüllt ist, zum Überlaufen bringen kann. Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine bessere, friedlichere und gerechtere Zukunft zu glauben. Aber alle diese fünf Lügen sind durchschaubar, überwindbar. Ihnen entgegenzustellen ist die Kraft der Visionen, etwas, was wir heute dringender nötig haben denn je. „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte“, so der Psychoanalytiker und Autor Erich Fromm, „dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ Auch der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry befasste sich in seinen Büchern immer wieder mit der Kraft der Vision. „Wenn du ein Schiff bauen willst“, schrieb er, „so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeug vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Schliesslich die mutmachende Stimme des amerikanischen Linguistikprofessors und Publizisten Noam Chomsky: „Du hast die Wahl. Du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden. Eigentlich hast du gar keine Wahl.“