Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“ – und was sonst noch alles?

 

In seiner Rede vor dem deutschen Gewerkschaftsbund sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sei, der sei „aus der Zeit gefallen“. Seither wird der Ausdruck nachgerade inflationär verwendet. Doch was heisst eigentlich „aus der Zeit gefallen“? Heisst es zum Beispiel auch, der Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“? Und was ist mit den Gewerkschaften, wenn sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne fordern, sind die dann auch „aus der Zeit gefallen“? Und die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf der Strasse festkleben, um gegen den stetig wachsenden Autoverkehr zu protestieren, müssten sie sich ebenso diesen Vorwurf gefallen lassen? In der Tat. Mit einer solchen Worthülse kann man alles und gleichzeitig auch nichts rechtfertigen. Es ist nichts anderes als eine Waffe in der Hand der Mächtigen, um Widerspenstige und Andersdenkende gefügig zu machen, indem man ihnen vorwirft, „ewiggestrig“ zu sein und den Schritt in eine neue, andere Zeit verpasst zu haben. Nichts an dieser Worthülse ist moralisch oder ethisch begründet – sie könnte ebenso gut auch von einem skrupellosen Diktator verwendet werden, der damit seine Widersacherinnen und Widersacher in die Schranken zu weisen versucht, indem er ihnen vorwirft, aus der Zeit – nämlich aus der Zeit der von ihm etablierten Schreckensherrschaft – gefallen zu sein. Die Beliebigkeit, die der Worthülse innewohnt, zeigt, dass uns allgemein gütige ethische Normen, auf die sich alle berufen können, offensichtlich abhanden gekommen sind. Krieg ist ebenso möglich wie Frieden, Gerechtigkeit ebenso wie Ungerechtigkeit, Reichtum ebenso wie Armut – nur eben alles zur richtigen Zeit. Wer die Zeit auf seiner Seite hat, muss das, was er tut, nicht mehr rechtfertigen, denn er tut ja bloss das, was die Zeit von ihm verlangt. So wie die Grünen, welche sich in ihrem Wahlkampf noch vehement gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatten und jetzt, ein halbes Jahr später, an vorderster Front sogar für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine einstehen. Doch diese Wechselbäder, diese Beliebigkeiten, diese Austauschbarkeiten werden uns nichts Gutes bringen. So „konservativ“ es auch klingen mag: Wir brauchen wieder verbindliche Werte, auf denen sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheide und Abläufe abstützen lassen. Der Begriff „Religion“ mag vielen suspekt sein, weil es im Namen der Religionen im Laufe der Geschichte viel zu viel Missbrauch, Gewalt und Zerstörungen gegeben hat. Aber alles hat auch eine gute Seite. Nennen sich die meisten von uns nicht immer noch „Christinnen“ und „Christen“, ist nicht immer noch von „christlicher Kultur“ die Rede? Wäre nicht das zentrale Gebot der christlichen Glaubenslehre, nämlich die Nächstenliebe, genau das, was wir heute dringender denn je bräuchten? Die Bibel unterscheidet zwei Formen der Liebe: Das eine ist der „Eros“, das andere ist die „Agape“. Versteht man unter „Eros“ die leidenschaftliche, stürmische und brennende Liebe zwischen zwei Menschen, so handelt es sich bei „Agape“ um bedingungslose Liebe auf universeller Ebene, welche auch die Feindesliebe mit einschliesst. Dass dies nicht bloss eine „Idee“ der christlichen Tradition ist, sondern auch in den meisten anderen Religionen und Kulturen eine zentrale Rolle spielt, zeigt beispielsweise folgendes Wort des griechischen Philosophen Epiktet aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung: „Die Liebe zu den Menschen ist Pflicht, sind wir doch alle Kinder desselben Gottes.“ Dass Agape, die universelle Nächstenliebe, nicht bloss etwas für die eigenen vier Wände sein, sondern weit darüber hinaus Wirkung zeigen sollte, war auch für den norwegischen Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen klar: „Nächstenliebe ist die einzige mögliche Realpolitik.“ Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sah das genau gleich: „Die Liebe auch zu unseren Feinden ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen.“ Ja. Wer nicht „aus der Zeit fallen“ will, macht es sich allzu einfach. Alles wird beliebig, alles ist möglich, es gibt keinen moralisch-ethischen Boden mehr unter den Füssen, nichts, was uns verbindet und uns hilft, vom Gleichen zu sprechen auch dann, wenn wir verschiedener Meinung sind. Die Suche nach Agape, der Nächstenliebe, wäre ein hoffnungsvoller Anfang. Sie würde die Dinge wieder in einen Zusammenhang bringen, der sinnvolles politisches Handeln möglich machen würde. Die Agape, ernst genommen, lässt nicht zu, dass eine Minderheit in Reichtum schwelgt, während Abermillionen von Menschen hungern. Agape lässt nicht zu, dass sich Menschen und Völker gegenseitig umbringen und ihre Dörfer und Städte zerstören, nur weil sie territoriale oder andere Konflikte haben, die sich auch mit friedlichen Mitteln lösen liessen. Und Agape lässt ebenfalls nicht zu, dass Natur, Klima und Umwelt dermassen ausgeplündert, belastet und zerstört werden, dass für nachkommende Generationen nichts mehr übrigbleibt. „Wenn die Menschen einander verstünden und Liebe hätten zueinander“, schrieb der Schweizer Erzähler Jeremias Gotthelf vor rund 200 Jahren, „dann hätte man den ganzen Irrgarten von Gesetzen nicht mehr nötig, worin man je länger je weniger weiss, wo man ist und wo der Ausweg ist und alles je länger je mehr durcheinander ist.“ Ja, vielleicht ist ja Agape genau das, was übrig bleibt, wenn alles andere „aus der Zeit gefallen“ ist…

Der Parteitag der deutschen Linkspartei und die Suche nach den „grossen Fragen“…

 

„Grund zum Feiern hat sie nicht“, so die deutsche „Tagesschau“ vom 24. Juni 2022 über die Linkspartei, die zurzeit in Erfurt ihren Bundesparteitag abhält. Und weiter: „Die Partei steckt in einer tiefen Krise und ist zerstritten wie lange nicht mehr. Es gibt nicht mehr viele Chancen für die Partei, wieder auf die Beine zu kommen.“ Im Zentrum der Streitigkeiten stehen interne Macht- und Richtungskämpfe, innerparteiliche Sexismusvorwürfe, die Haltung gegenüber Russland im Ukrainekonflikt sowie die insbesondere von Sahra Wagenknecht angestossene Kritik an den von ihr so bezeichneten „Lifestyle-Linken“ aus Grossstadtmilieus, die sich von den tatsächlichen Sorgen und Nöten der breiten Bevölkerung verabschiedet hätten. Die Krise der deutschen Linkspartei ist umso bedauerlicher, als angesichts der aktuellen Weltlage und der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland eine konsequent linke, antikapitalistische Kraft dringender nötig wäre denn je. Gemäss dem „Trust Barometer“ der amerikanischen Kommunikationsagentur Edelman, die regelmässig internationale Befragungen durchführt, glaubt nur noch jeder achte Deutsche, dass er von einer wachsenden Wirtschaft profitiert. Mehr als die Hälfte der Befragten, nämlich 55 Prozent, sind der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schade als nütze. „Weil die Wirtschaft auf die Sorgen und Nöte der Menschen keine ausreichende Antwort gibt“, so Christiane Schulz von „Edelman Deutschland“, „stellen immer mehr Menschen das kapitalistische System selbst in Frage.“ Und: „Die Menschen sind auf der Suche nach den grossen Fragen.“ Die Suche nach den grossen Fragen. Müsste nicht genau dies das Motto der Linkspartei sein? Unglaublich, aber wahr: 55 Prozent der Deutschen sehen im kapitalistischen Wirtschaftssystem keine Zukunft. Gleichzeitig aber mangelt es an einer echten Alternative, viele sind ratlos, verzweifelt, richten ihre Wut gegen Andersdenkende und vermeintlich politische „Feinde“ oder ziehen sich ins Private zurück und wollen von allem, was mit Politik zu tun hat, nichts mehr wissen. Es wäre die Geburtsstunde einer neu erwachten Linkspartei. Sie könnte mit einem Wählerpotenzial von 55 Prozent rechnen und alle anderen Parteien weit überflügeln! Freilich nur, wenn es ihr gelänge, glaubwürdige Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzuzeigen, all die Zusammenhänge zwischen Reichtum und Armut und den ganz alltäglichen Ausbeutungsverhältnissen aufzudecken, nicht mehr länger um den heissen Brei herumzureden, sich nicht mehr länger in Scheindiskussionen und internem Machtgerangel zu verlieren. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht in Deutschland allein überwunden werden, zu sehr ist er ein globales Machtsystem geworden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine linke politische Kraft, der es mit der Überwindung des Kapitalismus ernst ist, müsste sich daher mit gleichgesinnten politischen Kräften anderer Länder verbinden. Der Globalisierung des Kapitalismus müsste die Globalisierung all jener politischer Kräfte entgegengestellt werden, welche seine Überwindung zum Ziel haben. Wenn, wie der „Edelman Trust Barometer“ feststellt, die Menschen je länger je mehr auf der „Suche nach den grossen Fragen“ sind, dann müsste es einer echt antikapitalistischen Linkspartei das wichtigste Anliegen sein, auf diese grossen Fragen eine Antwort zu geben, im Klartext: ein glaubwürdiges antikapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept zu erarbeiten. Das heisst: Die Partei braucht so etwas wie einen Wissenschaftsrat, der die theoretischen Grundlagen einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufbauen würde, in der die soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung und das gute Leben für alle an oberster Stelle stehen müssten. Freilich dürfte das niemals eine abgehobene, rein akademische Angelegenheit sein. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse des „Wissenschaftsrats“ müssten in eine Sprache heruntergebrochen werden, die auch vom Bauarbeiter, vom LKW-Fahrer, von der Krankenpflegerin und von der Putzfrau verstanden würde und sie alle begeistern könnte. Mit anderen Worten: Die Linke müsste im besten Sinne des Wortes eine echte Volkspartei werden und diese heute so verhängnisvolle Spaltung zwischen Politik und „gewöhnlicher“ Bevölkerung überwinden. Auch dürfte eine linke Partei, um wirklich glaubwürdig zu sein, sich nicht nur auf theoretische Diskussionen beschränken, sondern sich gleichzeitig auch um das tägliche Wohl der Menschen hier und heute kümmern, ohne freilich dabei das grosse Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn bei allen Nöten und Sorgen, bei aller Wut und Verzweiflung steckt doch in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Welt, die soviel gerechter und friedlicher wäre als die unsere. Könnte es für eine politische Partei eine schönere und wichtigere Aufgabe geben als die, Wegbereiterin zu sein für eine Zukunft, von der wird doch alle insgeheim träumen?

Tanja Stadler gewinnt einen Preis für „aussergewöhnliche Leistungen“ – doch was ist mit den aussergewöhnlichen Leistungen, welche von Bauarbeitern, Krankenpflegerinnen und alleinerziehenden Müttern Tag für Tag erbracht werden?

 

Wie der „Tagesanzeiger“ vom 24. Juni 2022 berichtet, erhält Tanja Stadler, Mathematikerin und ehemalige Leiterin der Covid-19-Taskforce, den diesjährigen Rösslerpreis der ETH Zürich im Wert von 200’000 Franken. Der Preis geht jährlich an Forschende, die „Ausserordentliches leisten“. Stadler erhält den Preis aufgrund ihrer wissenschaftlichen Forschungen im Zusammenhang mit dem sogenannten R-Wert, der angibt, wie viele Menschen jeweils von einer einzelnen Person angesteckt werden. Nicht, dass ich Tanja Stadler diesen Preis nicht gönnen würde. Aber wenn ich lese, dass dieser Rössler-Preis für „ausserordentliche Leistungen“ verliehen wird, dann muss ich kurz mal leer schlucken. Was sind denn „ausserordentliche Leistungen“? Leistet nicht auch der Bauarbeiter, der bei Hitze und Kälte, im Sommer wie im Winter, unter unerbittlichem Zeitdruck glitschige Baugerüste hochklettert, schwere Eisenstangen schultert, Ziegelmauern aufschichtet, hochgefüllte Schubkarren in die Höhe stemmt, bis ihm fast der Rücken zerbricht, leistet nicht auch dieser Bauarbeiter Ausserordentliches? Und was ist mit den Krankenpflegerinnen, den Müllarbeitern, den Kanalreinigern, den Angestellten im Supermarkt, den Landarbeitern, den Putzfrauen, den Köchen, den Serviceangestellten und den alleinerziehenden Müttern, die sich von früh bis spät abrackern, für wenig Lohn viel arbeiten und sich unermüdlich um das Wohl ihrer Kinder kümmern? Es wird doch wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, sie alle würden nicht ebenfalls „ausserordentliche“ Leistungen vollbringen. Der Unterschied ist nur: Weder der Bauarbeiter, noch die Putzfrau, noch die alleinerziehende Mutter werden für ihre Leistungen jemals einen Preis gewinnen, und schon gar nicht einen im Wert von 200’000 Franken. Preise in der kapitalistischen Gesellschaft sind denen vorbehalten, die sowieso schon zu den Privilegierten gehören. Preise schenken sich die Reichen gegenseitig – mit dem Geld, das sie den Armen gestohlen haben. Ja, gestohlen. Denn wenn man einfach so 200’000 Franken aus dem Hut zaubern kann, dann muss ja irgendwer dieses Geld überhaupt erst einmal erarbeitet haben. Und damit sind wir mitten im Kern der kapitalistischen Gesellschaftspyramide, die darauf beruht, dass am unteren Ende der Pyramide eine genügende Vielzahl von Menschen für ihre Arbeitsleistung weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre – damit sich am oberen Ende der Pyramide genug Geld ansammeln kann, um Luxusvergnügungen aller Arbeit möglich zu machen. Man könnte es auch noch anders formulieren: Wenn Tanja Stadler diesen Preis von 200’000 Franken erhält, dann ist das beispielsweise nur möglich, weil sie über Arbeitsgeräte aller Art verfügt, die alle von Menschen bis hin zum afrikanischen Minenarbeiter und der chinesischen Fabrikarbeiterin hergestellt wurden. Auch die Räumlichkeiten, in denen sie arbeitet, mussten irgendwann von irgendwem erbaut worden sein. Auch das Essen, mit dem sie sich täglich verpflegt, musste von irgendwem irgendwann angebaut, geerntet, verarbeitet, verpackt und transportiert worden sein. Und so weiter. Eigentlich, wenn es gerecht zu- und herginge, müsste Tanja Stadler ihren Preis mit allen, die dazu einen unentbehrlichen Beitrag geleistet haben, teilen. Sonst ist es eben, wie gesagt, nichts anderes als gestohlenes Geld. Doch noch scheint die Gerechtigkeit in ferner Weite zu liegen. Noch gibt es Preise ausschliesslich für jene, die sowieso schon im Rampenlicht stehen: Kunst-, Kultur-, Film- und Literaturpreise, die Music Awards, die Schweizerin und der Schweizer des Jahres, die Sportlerin und der Sportler des Jahres, der Nobelpreis, der Oscar, Preise für Forschung und wissenschaftliche Arbeit. Wir lange müssen wir wohl noch darauf warten, bis zum ersten Mal auch ein Preis verliehen wird an den Bauarbeiter des Jahres, an die Krankenpflegerin des Jahres, an die alleinerziehende Mutter des Jahres?

Ukraine und Russland: Wer hat Angst vor wem?

 

Wie das Internetportal „Watson“ am 20. Juni 2022 berichtet, hat das ukrainische Parlament unlängst mit einer Zweidrittelmehrheit einem Gesetzesentwurf zugestimmt, wonach die öffentliche Aufführung von Musik russischer Künstlerinnen und Künstler verboten wird. Begründet wird der Entscheid damit, dass das „musikalische Produkt des Aggressionsstaates auf separatistische Strömungen in der Bevölkerung einwirken“ könnte. Russische Musik würde die Annahme einer russischen Identität attraktiver machen und ziele auf eine Schwächung des ukrainischen Staates ab. Parallel dazu wurden der Import und die Verbreitung von Büchern und anderen Printprodukten aus Russland, Belarus und den russisch besetzten Gebieten komplett verboten. Schon seit 2016 unterlagen Bücher aus Russland einer Zensur. Der neueste Beschluss bedeutet, dass mehr als 100 Millionen Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt werden müssen, unter anderem Klassiker der Weltliteratur wie Leo Tolstois mehrfach verfilmtes Meisterwerk „Krieg und Frieden“, aber auch Kinderbücher, Liebes- und Kriminalromane.

Bereits vor dem Beginn des Krieges hatte die ukrainische Regierung elf regierungskritische Parteien sowie mehrere TV-Sender und Zeitungen verboten. Auch wurden bereits mehrere Gesetze erlassen, um die Vormachtstellung der ukrainischen gegenüber der russischen Sprache zu sichern. So sind beispielsweise Staatsangestellte, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärztinnen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken und Banken verpflichtet, ihre Kundschaft auf Ukrainisch anzusprechen, Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafen geahndet.

Seltsam. Eben noch erklärte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Hauptgrund für den Angriff auf die Ukraine sei die Angst der russischen Regierung vor einer „Sogwirkung“ gewesen, welche das westlich-demokratische Gesellschaftsmodell auf die russische Bevölkerung auszuüben drohte. Doch offensichtlich scheint nicht nur die russische Staatsmacht vor demokratischen Ideen Angst zu haben. Mindestens so viel Angst hat offensichtlich auch die ukrainische Staatsmacht selber vor demokratischen Tendenzen, selbst „feindliche“ Musik, Sprache und Literatur erachtet sie als gefährlich für die eigene Identität. Umso erstaunlicher ist das alles, wenn man bedenkt, dass auch die ukrainische Seite immer wieder betont, Russland und die Ukraine seien „Brüdervölker“. Behandelt man Brüder so, dass man ihre Musik, ihre Literatur, ihre Sprache und ihre politischen Ideen bekämpft und verbietet?

Und: Wer hat da eigentlich Angst vor wem? Bei alledem mutet es wie ein schlechter Witz an, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen von einer „europäischen Wertegemeinschaft“ spricht, die Ukraine als Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie in alle Himmel lobt und dem Land einen baldmöglichsten Beitritt zur EU in Aussicht stellt. Zwar könnte man einwenden, ein EU-Beitritt würde möglicherweise die demokratischen Strukturen des Landes unterstützen und fördern. Wenn dies aber so wäre, dann hätte man die sechs Länder des Westbalkans, welche zum Teil schon seit 20 Jahren auf eine Mitgliedschaft warten, schon längst in die EU aufnehmen müssen. Offensichtlich geht es da nicht um Gerechtigkeit, sondern um nichts anderes als reine Machtpolitik. Eine Machtpolitik, bei der jede Seite offensichtlich nur das sieht, was sie sehen will. Eine Machtpolitik, der es schon längst nicht mehr um die Wahrheit geht, sondern nur noch um das, was jede Seite als ihre Wahrheit definiert. Eine Machtpolitik, die bereits so reibungslos funktioniert, dass kein Aufschrei mehr durch die Welt geht, wenn aus Bibliotheken mitten im Herzen Europas 100 Millionen Bücher zu Grabe getragen werden und selbst jene, die trotz allem immer noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, all die wunderbaren Worte, die Leo Tolstoi vor über 150 Jahren schrieb, nicht einmal mehr lösen können. „Je weiter ich im Alter voranschreite“, so der begnadete Schriftsteller, den man heute wohl als Pazifisten bezeichnen würde, „und je mehr ich die Frage des Krieges durchdenke, desto überzeugte bin ich, dass die einzige Lösung der Frage die Weigerung der Bürger ist, Soldat zu werden.“ Sind es wohl solche Gedanken, die bei der ukrainischen Führung dermassen panische Angst auslösen?

 

2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll – und jeden Tag sterben 15’000 Kinder an Hunger…

 

Gemäss einem Bericht des schweizerischen TV-Magazins „Kassensturz“ vom 21. Juni 2022 landen schweizweit jährlich 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Verladen auf Lastwägen gäbe dies eine Kolonne von Zürich bis Madrid. Insgesamt wird in der Schweiz ein Drittel sämtlicher Lebensmittel fortgeworfen. Und dies in einer Welt, in der rund 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Es soll niemand behaupten, das eine hätte mit dem andern nichts zu tun. Wir alle leben gemeinsam auf der einen und gleichen Erde, die sämtliche acht Milliarden Menschen ernähren könnte, wenn wir nur das, was vorhanden ist, auf alle gerecht verteilen würden. „Die Erde“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Doch offenbar haben sich die auf der Sonnenseite schon so sehr an ihren Überfluss gewöhnt wie die auf der Schattenseite an die unsäglichen Schmerzen und das unsägliche Leiden, welche der endlose tägliche Hunger ihnen antut. Was absolut verrückt ist, erscheint uns als „Normalfall“: Dass Gemüse nicht im Lebensmittelladen, sondern auf dem Müll landet, weil es fix vorgegebenen Normen von Grösse und Form nicht entspricht. Dass wir kurz vor Ladenschluss zur Bäckerei gehen können und immer noch alle Brotorten, alle belegten Brötchen und alles Süssgebäck zum Verkauf bereitliegen, ohne dass jemand fragt, was denn mit all dem Unverkauften später geschehen wird. Dass auch im Supermarkt beim Ladenschluss immer noch alle Gestelle voll sind mit Abertausenden von Produkten, herbeigeschafft aus aller Welt, selbst aus Ländern, wo es an allem fehlt. Dass wir im Restaurant aus 30 oder 40 verschiedenen Menus auswählen können, ohne uns überlegen zu müssen, wo die viele überflüssige Ware all jener Gerichte, die von niemandem bestellt wurden, landen wird. Dass selbst ein so wertvolles Gut wie Fleischprodukte ganz selbstverständlich auf unserem täglichen Einkaufszettel stehen, obwohl wir doch wissen müssten, dass weltweit nicht weniger als 40 Prozent aller Agrarflächen dem Anbau von Futtermitteln für die Fleischproduktion dienen und damit dem Anbau von Grundnahrungsmitteln für die breite Bevölkerung entzogen werden. Ja, der kapitalistische Markt ist gnadenlos. Die Ungleichverteilung ist himmelschreiend. Die vollen Gestelle in unseren Supermärkten und die leeren Regale in afrikanischen und südamerikanischen Lebensmittelläden sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Denn in dieser Welt fliessen die Güter nicht dorthin, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können. Und selbst in den „reichen“ Ländern des Nordens wird die Ungleichheit immer grösser, zwischen denen, die sich im Luxusrestaurant ein Fünfgangmenu vorsetzen lassen und dazu einen hundert- oder zweihundertfränkigen Wein bestellen, und denen, die auf irgendeine Weise nach Ladenschluss an etwas Gemüse, ein Stück Brot und an ein paar Teigwaren gelangen, deren Verbrauchsdatum eigentlich schon abgelaufen ist und die sonst fortgeworfen worden wären. Die vom Bundesrat soeben in Auftrag gegebene Empfehlung, wonach die meisten Nahrungsmittel auch über das aufgedruckte Ablaufdatum hinaus problemlos konsumiert werden können, ist ja gut gemeint, letztlich aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Um das Problem der ungleichen weltweiten Nahrungsmittelverteilung zu lösen, braucht es weit mehr als das. „Jeder Mensch“, so steht es in Artikel 11 des von 162 Staaten verabschiedeten Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, „hat das Recht auf angemessene, ausreichende und gesunde Nahrung.“ Ob es uns lieb ist oder nicht, aber dieses Ziel muss ein schöner Wunschtraum bleiben, ein schönes Lippenbekenntnis, ein blutleerer Gesetzestext, solange ddas kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem alle Lebensbedürfnisse dem Geld, der Gewinnmaximierung und den Profitinteressen multinationaler Konzerne unterworfen werden, nicht von Grund auf überwunden und durch eine Wirtschaftsordnung ersetzt wird, deren oberstes Ziel die soziale Gerechtigkeit ist und das gute Leben für alle Menschen auf diesem Planeten. „Es gäbe genug Geld“, sagte Albert Einstein, „genug Arbeit, genug zu
essen, wenn wir die Reichtümer der Welt richtig verteilen würden, statt uns zu
Sklaven eines starren Wirtschaftssystems zu machen.“

Zurich Pride: Das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung

 

40’000 Teilnehmende und 34 Grad – das war die Zurich Pride am 18. Juni 2022. Eine überwältigende Demonstration der LGBTQ-Community für Vielfalt, Toleranz und das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung, farbenfroh, stimmungsvoll und lautstark. „Die vorwiegend jungen Teilnehmenden“, so der „Tagesanzeiger“, „feierten sich selbst.“ Und auch das Plakat eines in ein Regenbogentuch gekleideten Demonstrationsteilnehmers sagte auf seine Weise, was im Zentrum des Anlasses stand, nämlich das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung: „The Only Choice I Made was to Be Myself.“ So einfach, so klar, so unmissverständlich. Sich selber feiern, das Leben wählen, das der eigenen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung entspringt. Wären das nicht Botschaften, die weit über die LGBTQ-Community für uns alle wichtig sein müssten? Ist das Recht auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung nicht etwas, was für jeden Menschen, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, von essenzieller Bedeutung sein müsste? Müsste nicht die ganze Gesellschaft, ja die ganze Welt so vielfältig, bunt und farbenfroh sein wie die Feste und die Demonstrationen der LGBTQ-Bewegung? Doch noch sind wir nicht so weit: Schon die kleinen Kinder werden in unzählige, von Erwachsenen vorbestimmte Normen und Zwänge hineingepresst, in der Familie, in der Schule, später in der Ausbildung. Was ist mit all den „störrischen“, „widerspenstigen“, „faulen“, „träumerischen“, „hyperaktiven“ Kindern und Jugendlichen, die bei jeder Gelegenheit anecken und nur davon träumen können, ihre Persönlichkeit frei und selbstbestimmt ausleben zu können? Ja. die Frage eines selbstbestimmten Lebens stellt sich nicht erst an dem Tag, an dem ein junger Mensch sich seiner von der „Norm“ abweichenden sexuellen Orientierung bewusst wird. Sie stellt sich schon viel früher und für uns alle. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“ Vielleicht müsste man noch ergänzen, dass er auch noch die Wahl hat, ein ganz „normal“ funktionierender Erwachsener zu werden, um den Preis aber, die innersten Sehnsüchte seiner Kindheit preisgegeben und geopfert zu haben. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind die Schlüsselbegriffe für eine gesunde Entwicklung. Jeder Mensch sollte jeden Tag „sich selber feiern“ und jeden Tag die Wahl treffen, „myself“ zu sein – und nichts und niemand anders. Man mag an dieser Stelle einwenden, dies sei bloss ein frommer Wunsch – die meisten Menschen wären in der kapitalistischen Arbeitswelt dermassen eingespannt und könnten so hohe Ziele wie Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung glatt vergessen, und wenn, dann seien dies höchstens Privilegien bevorzugter Gesellschaftsschichten. Der Einwand ist berechtigt, nur: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für so viele Menschen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht zulassen, dann heisst das doch, dass es höchste Zeit ist, diese Verhältnisse zu verändern, und wer, wenn nicht selbstbestimmte, möglichst „unangepasste“, eigenständige Persönlichkeiten sollten diese Aufgabe übernehmen. Mit anderen Worten: Wenn die Zeit noch nicht reif ist, um allen Menschen die Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu geben, ist es umso wichtiger, sich für dieses Ziel einzusetzen. Und zwar nicht in erster Linie in der Form von Selbstfindungs-, Yoga-, Meditationskursen und zahllosen weiteren Angeboten auf dem kapitalistischen Markt, die sich ausschliesslich an Privilegierte wenden und zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht das Geringste beitragen, sondern diese im Gegenteil noch stabilisieren. Wie der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi richtig erkannte, beginnt der Prozess der persönlichen Selbstverwirklichung bereits in der Kindheit, wo jedes Kind noch ganz „myself“ ist und in seiner Einmaligkeit und Verschiedenheit von allen anderen Kindern seine Individualität noch unvergleichlich viel stärker zum Ausdruck bringt, als wenn man Erwachsene miteinander vergleicht, die schon viel stärker von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen geprägt sind. „Der Mensch“, sagte Pestalozzi, „wenn er werden soll, was er sein muss, muss als Kind sein und als Kind tun, was ihn als Kind glücklich macht.“ Und noch etwas Wichtiges sagte Pestalozzi: „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.“ Ja, das Vergleichen, nicht nur zwischen Kindern, sondern auch zwischen den Erwachsenen, ist der Hauptfeind der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung. Das Vergleichen, ob in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Politik, im Freundeskreis, versetzt einzelne Menschen stets in eine schwächere Position, in das Gefühl des Nichtgenügens, des Andersseins, der Selbstzweifel. Nicht die Suche nach dem Gleichen und das Messen an einer allgemeinen Norm sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Suche nach den Unterschieden, das Entdecken der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, verbunden mit dem Wissen um den guten Kern, der in jedem Menschen steckt. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, auch das ein Wort Pestalozzis, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Könnte jeder Mensch weltweit sich so verwirklichen, wie er als Kind einmal „gedacht“ war, so hätten ausbeuterische Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeit wohl nicht mehr allzu lange Bestand und wohl selbst Kriege würden in naher Zukunft der Vergangenheit angehören. Denn nicht das Hässliche, nicht das Zerstörerische, nicht das Gewalttätige zeichnen den Menschen aus, das sind alles Entgleisungen, Abartigkeiten, Irrwege. Nein, es sind die Schönheit, die Lebensfreude, die Kinder, der Tanz, das Spiel, die Kunst, die Musik, die Feste, die Farben, die Liebe, kurz: das Paradies, welches das tiefste Wesen des Menschen ausmacht. Dieses Paradies, das uns, wie uns zweitausend Jahre lang vorgegaukelt wurde, angeblich erst in irgendeinem „Jenseits“ Wirklichkeit werden kann, obwohl wir es doch in der Hand hätten, es hier und heute auf dieser Erde zu verwirklichen… 

Boris Johnson: „Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen“

 

„Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen“, sagt der britische Premierminister Boris Johnson in der „Sunday Times“ vom 18. Juni 2022. Das scheinen eine wachsende Zahl ukrainischer Soldatinnen und Soldaten nicht ganz genau gleich zu sehen: Gemäss Berichten des Washingtoner Instituts für Kriegsstudien und des britischen Militärgeheimdienstes hätte das ukrainische Militär angesichts der materiellen Unterlegenheit und daraus resultierenden explosionsartigen Verlustzahlen zunehmend Probleme, die Fälle von Desertionen nähmen von Woche zu Woche zu. Aber auch bei den russischen Truppen sei eine sinkende Moral festzustellen, es komme ebenfalls gehäuft zu Desertionen. So ist es mehr als zynisch, wenn Johnson von einem „langen Krieg“ spricht, für den „wir uns stählen müssen.“ Wer ist mit „wir“ gemeint? Ist es Boris Johnson und all die gut geschützten und in Sicherheit lebenden Politiker und Politikerinnen jener westlichen Staaten, deren Ziel es ist, den russischen Truppen eine vernichtende Niederlage zuzufügen und sie zur Gänze aus dem ehemals ukrainischen Staatsgebiet hinauszudrängen – was nur, wenn überhaupt, möglich ist mit dem Einsatz schwerster militärischer Mittel und dem Tod Zehntausender Soldatinnen, Soldaten und Zivilpersonen? Oder ist mit „wir“ die ukrainische Zivilbevölkerung gemeint, von denen wohl die meisten nichts anderes wollen, als schlicht und einfach in Frieden zu leben? Oder sind mit „wir“ die Soldatinnen und Soldaten gemeint, die gezwungen sind, andere Menschen zu töten, bloss um nicht selber umgebracht zu werden in einem Krieg, der auf beiden Seiten eine immer grössere Zahl von Opfern fordert und dem „Sieger“, wer immer auch das sei, nichts anderes hinterlässt als verbrannte Erde, menschenleere Siedlungen und eine alles Leben verschlingende Spur der Verwüstung? Ein „wir“ gibt es schon lange nicht mehr. Das „wir“ gaukelt bloss ein gemeinsames Interesse aller Menschen vor, tatsächlich aber ist die Menschheit gespaltener denn je. Noch immer, wie im 17. und 18. Jahrhundert, gibt es die „Kriegstreiber“ und das „Kanonenfutter“, diejenigen, die befehlen, und diejenigen, die zu gehorchen haben, diejenigen, die profitieren, und diejenigen, die dafür mit ihrem Leben bezahlen. Egal ob die politischen Führer des Westens oder Wladimir Putin: Sie alle scheinen ein elementares Interesse daran zu haben, einen fürchterlichen Krieg zu „gewinnen“ – der Macht zuliebe, dem Prestige zuliebe, wirtschaftlichen Interesse zuliebe. Aber nicht den Menschen zuliebe, die in diesem Krieg ihre Heimat, ihre Existenz, ihre Eltern, ihre Kinder oder gar ihr eigenes Leben verlieren. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass die Demokratie – würde man sie wirklich ernst nehmen – eine der grössten Errungenschaften der Menschheit ist. Nicht eine Scheindemokratie, in der man zu allen möglichen Nebensächlichkeiten seine Stimme abgeben darf. Sondern eine echte Demokratie, in der die Bevölkerung auch befragt wird, ob sie Krieg oder Frieden will. Ich bin fast ganz sicher, dass weder die russische Bevölkerung noch die ukrainische noch die deutsche noch die italienische sich mehrheitlich für den Krieg aussprechen würde. Jedes Volk ist im Grunde friedliebend, wie auch jeder Mensch im Grunde gut ist – das vergisst man in diesen dunklen Zeiten leider nur allzu oft. Der von den USA 2003 gegen den Irak angezettelte Krieg ist das beste Beispiel: Meinungsumfragen in den USA zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Krieg wollte. Erst als von der US-Regierung die Lüge verbreitet wurde, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, kippte die öffentliche Meinung. Das zutiefst Ungerechte ist, dass ausgerechnet die, welche den Krieg wollen, am Ende ungeschoren davon kommen oder sogar einen persönlichen Nutzen daraus ziehen, während all jene, die den Krieg nicht wollen, mit der Zerstörung ihrer Heimat oder mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen.

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den
Krieg“, sagte der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die,
die nicht hingehen müssen.“

 

Die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen und das „System“

 

Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen am 19. Juni 2022 stehen sich, wie die Schweizer „Tagesschau“ am 18. Juni berichtet, der linke Gustavo Petro und der Bauunternehmer Rodolfo Hernández gegenüber. Beide versprechen dem Volk ein Ende der Armut und der Korruption. Am Beispiel der Familie Siagana zeigt die „Tagesschau“, wie prekär für weite Teile der Bevölkerung die Lebensbedingungen in Kolumbien gegenwärtig sind: Die Familie lebt in zwei Zimmern eines billigen Hotels. Noch bis vor einem Jahr lebten sie in einem Haus, dann wurde das Leben immer teurer und für die Miete reichte das Geld nicht mehr. Heute versucht der Familienvater alles, um die Familie zu ernähren. Er selbst muss oft hungern, so wie auch Millionen anderer Kolumbianerinnen und Kolumbianer. „Ich weiss“, sagt Niober Siagana, „dass ich es irgendwie schaffen kann, ich habe Vertrauen in mich selbst durch meine Arbeit, aber das System ist einfach gegen mich.“ Gerne hätte ich über dieses „System“ noch ein wenig mehr erfahren. Doch wie immer bricht die Fernsehberichterstattung an dieser Stelle ab. Man zeigt das Elend, den Hunger, die Armut, drastische Bilder, die unter die Haut gehen – aber vom „System“ erfährt man nichts. So gebe ich denn bei „Google“ den Suchbegriff  „Reichtum in Kolumbien“ ein – und siehe da: Sogleich erfahre ich, dass der reichste Kolumbianer, Luis Carlos Sarmiento, über ein Vermögen von nicht weniger als 9,9 Milliarden Dollar verfügt, ihm folgen zahlreiche weitere, ein bisschen weniger reiche Milliardäre. Interessant, ist, weshalb Sarmiento so reich ist. Er ist Bauunternehmer, Bankier und Präsident der grössten Unternehmensgruppe Kolumbiens. Dieses Konglomerat umfasst Unternehmen in den Bereichen Energie und Gas, Printmedien, Hotellerie, Agroindustrie, Bergbau, Bauwesen und Finanzen. Aha, das System! 9,9 Milliarden Dollar fallen nämlich nicht einfach vom Himmel, sie wachsen auch nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Tiefseemuscheln auf dem Meeresgrund. Nein, jeder einzelne Dollar musste von irgendwem irgendwo hart erarbeitet worden sein, bevor er auf dem Konto von Sarmiento und den anderen reichen und superreichen Kolumbianern landen konnte. Mit jedem Dollar, den eine Zimmerfrau in einem der zu Sarmientos Unternehmensgruppe gehörenden Hotels weniger verdiente, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre, wird Sarmiento wiederum ein klein wenig reicher, auch mit jedem Minenarbeiter, der tief unter der Erde seine Gesundheit opfert, auch mit jedem Kind, das zu wenig zu essen hat. Armut auf der einen Seite, Reichtum auf der anderen – alles ist unauflöslich miteinander verbunden, mit unzähligen unsichtbaren Fäden, sodass niemand zu erkennen vermag, wie alles funktioniert. Das System. Doch das ist längst noch nicht alles. All die kolumbianischen Konzerne, welche immer härtere und immer schlechter bezahlte Arbeit der einen in das Gold der anderen verwandeln, sind ja ihrerseits wieder Teil noch grösserer Gebilde, multinationaler Konzerne, welche die Umverteilung von der Armut zum Reichtum nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern weltweit vorantreiben. Das System. Dieses System, im dem auch Niober Siagana gefangen ist und von dem er sagt: „Es ist einfach gegen mich!“ Und so wird es leider nicht eine so gewaltige Rolle spielen, ob Gustavo Petro oder Rodolfo Hernández die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Das System, das die Armen Tag für Tag in dem Masse ärmer macht, wie es die Reichen reicher macht, wird damit nicht überwunden sein. Das System, der Kapitalismus, kann nur überwunden werden, wenn er weltweit überwunden wird. Hierzu aber bedarf es einer neuen politischen Bewegung, die sich über alle Grenzen hinweg verbindet und solidarisiert für eine von Grund auf neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die nicht an irgendwelchen Landesgrenzen aufhört oder beginnt. Eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der soziale Gerechtigkeit an oberster Stelle steht, in der die Güter nicht mehr dorthin fliessen, wo es genug Geld hat, um sie kaufen zu können, sondern dorthin, wo die Menschen sie brauchen, in der kein Kind mehr des Abends hungrig zu Bett gehen muss, während die Reichen und Reichsten ihre Feste schmeissen und in der endlich ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist.

Kultur: Domäne der Reichen…

 

In dieser Stadt, meinte F., sei kulturell viel los, man merke eben, dass es hier viele Reiche gäbe. In der Tat: Schaut man sich die Eintrittspreise von Kabarett- und Theateraufführungen, Freilichtkonzerten, Ausstellungen oder gar Opernhäusern an, dann wird schnell klar, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung Vergnügungen solcher Art schlicht und einfach nicht leisten kann. Selbst der Eintritt in ein Kleintheater, ein Kinobesuch oder ein Zirkusticket sind für sehr viele Menschen nur ein seltener oder gar gänzlich unerreichbarer Luxus. Nie vergesse ich jenen etwa achtjährigen Knaben, der voll freudiger Erwartung von der Schule nach Hause gerannt war, nachdem seine Lehrerin bekannt gegeben hatte, dass im städtischen Kleintheater nachmittags das Stück vom Räuber Hotzenplotz gespielt würde, und die Kinder ermuntert hatte, diese Vorstellung zu besuchen. Gross war die Begeisterung in der Klasse gewesen und die meisten Kinder hatten schon abgemacht, sich eine Viertelstunde vor der Vorstellung beim Eintritt zu treffen. Als nun aber die Mutter ihrem Kind beibringen musste, dass sie für das Ticket zu dieser Vorstellung nicht genug Geld hätte, brach für den kleinen Jungen eine ganze Welt zusammen und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen… 

Nichts weniger als eine eklatante Menschenrechtsverletzung ist das, bilden kulturelle Angebote und Aktivitäten doch so etwas wie die geistige Nahrung, die, wie auch die Bildung, ein Grundrecht aller Menschen sein müsste, von dem niemand ausgeschlossen werden dürfte. Auch die UNO-Menschenrechte besagen gemäss Artikel 27, dass „jede und jeder das Recht hat, sich an den Künsten zu erfreuen.“ Das Unrecht geht aber noch viel weiter. Betrachtet man die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes, dann kann sich Geld am einen Ort nur deshalb ansammeln, weil es an anderen Orten fehlt. Die alleinerziehende Mutter des achtjährigen Knaben, der auf den geliebten Theaterbesuch verzichten muss, verdient als Verkäuferin bloss deshalb so wenig, damit das Geschäft, für welches sie arbeitet, einen möglichst hohen Profit erzielen kann – vermutlich wird sich das Kind des Geschäftsinhabers den Theaterbesuch problemlos leisten können. 

Das ist nur eines von abertausenden Beispielen dafür, auf welchen Wegen sich das Geld in der kapitalistischen Gesellschaft bewegt. Der Profit, der am Ende herausschaut und dann solche Dinge wie Theater- oder Konzertveranstaltungen und unzählige weitere kulturelle Angebote finanzierbar macht, ist, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, früher oder später von allen Menschen erarbeitet worden und in ganz besonderem Masse von all denen, die für wenig Lohn schwere Arbeit verrichten und so sogar einen überdurchschnittlichen Beitrag an die wirtschaftliche Gesamtbilanz leisten. Mit anderen Worten: Auch die Mutter unseres achtjährigen Knaben subventioniert durch ihre Arbeit indirekt das Theaterstück, von dem ihr Kind aber ausgeschlossen bleibt, weil das Ticket für sie zu teuer ist.

Eigentlich ist es eine Farce, in diesem Zusammenhang überhaupt von „Kultur“ zu sprechen. Viel eher müsste man von den Luxusvergnügungen der Reichen sprechen, welche von den Armen finanziert werden, welche aber selber von diesen „Luxusvergnügungen“ ausgeschlossen bleiben – ebenso wie sie auch vom Essen im Luxusrestaurant, von der Übernachtung im Wellnesshotel oder von den Ferien auf Mallorca oder den Malediven ausgeschlossen bleiben, obwohl sie, und das kann man nicht genug betonen, alle diese Luxusvergnügungen durch ihre tägliche Schufterei und ihre unverschuldete Armut mitfinanzieren und überhaupt erst möglich machen. 

Das Wort „Kultur“ entstammt dem lateinischen „colere“ für pflegen, hegen, umsorgen. Im ursprünglichen Sinne des Begriffs besteht Kultur nicht bloss im Veranstalten von Theater-, Musik- oder Kunstanlässen im Tausch mit Geld von Besucherinnen und Besuchern. Kultur ist etwas viel Umfassenderes. Kultur im ursprünglichen Sinne des Begriffs ist letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie das Zusammenleben der Menschen gestaltet ist. Dazu können Vorstellungen im Theater oder auf einer Freilichtbühne, im Zirkus oder im Opernhaus durchaus gehören, aber das alles ist bloss Teil eines grösseren Ganzen, in dem zuletzt das ganze Zusammenleben, aber auch die Wirtschaft, die Arbeitswelt zur „Bühne“ wird, auf der Kultur als Pflege des Gemeinschaftslebens gelebt und praktiziert wird. Damit wird aber auch klar, dass echte Kultur stets etwas sein muss, was alle Menschen miteinander verbindet. In unserer kapitalistischen Klassengesellschaft dagegen ist „Kultur“ zum reinen „Konsumobjekt“ verkommen, welches sich die einen leisten können und die anderen nicht – statt die Menschen miteinander zu verbinden, bewirkt diese Art von „Kultur“ genau das Gegenteil: Sie trennt die Menschen in solche, die sich die Angebote leisten können, und die anderen, denen dies verunmöglicht wird. 

Das effizienteste Mittel, um dies zu verhindern, wäre die Einführung eines Nulltarifs für sämtliche kulturelle Anlässe und Aktivitäten und deren Subventionierung durch Steuergelder. Dann wären die Bewohnerinnen und Bewohner der Goldküste im Opernhaus nicht mehr unter sich, um sich ein sozialkritisches Stück zu Gemüte zu führen, sondern vor und neben ihnen sässen Arbeiterinnen und Studierende, um mit ihnen vielleicht sogar in der Pause oder nach der Vorstellung über das Stück zu diskutieren. Und auch das Publikum im Kleintheater wäre bunt gemischt und niemand wäre ausgeschlossen. Und unser achtjähriger Bub müsste nicht mehr weinen, sondern könnte endlich, wie die anderen Kinder seiner Klasse, das Stück vom Räuber Hotzenplotz erleben. Eine verrückte Idee? Wohl weit weniger verrückt als das, was und heute als „normal“ erscheint: Dass Kultur zu einer kapitalistischen Ware verkommen ist, mit der man Geschäfte treibt, die man kauft und verkauft und welche die Gesellschaft mitten auseinanderschneidet in jene, die daran teilhaben dürfen, und jene, die so bitter und unverschuldet von alledem ausgeschlossen sind…

Ein Plädoyer für den Kommunismus

 

Wer heute noch das Wort Kommunismus in den Mund nimmt oder sich gar als Sympathisant oder als Anhängerin des Kommunismus bekennt, wird im besten Fall belächelt, im schlechtesten mit allen Mitteln verbaler Gewalt verunglimpft oder bekämpft. Tatsächlich aber ist der Kommunismus die vielleicht letzte Hoffnung der Menschheit. Um es vorwegzunehmen: Ich meine nicht jenen Kommunismus, wie er beispielsweise von der Sowjetunion oder von China praktiziert wurde, autoritären Machtsystemen, in denen sich bloss neue Eliten mit zahlreichen Privilegien herausbildeten und Andersdenkende unterdrückt und verfolgt wurden. Ich meine den Kommunismus als Uridee von der sozialen Gleichheit und dem Grundprinzip, dass alles allen gehören solle, jeder und jede zum Ganzen sein Bestmögliches beitrage und umgekehrt vom Ganzen das bekomme, was für ein gutes Leben nötig sei. Führen wir uns die gegenwärtigen globalen Zerstörungen vor Augen, die alle eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems sind – von der unaufhörlich sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über den Klimawandel bis zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs -, dann kann man sich eigentlich nur wundern, dass nicht schon längst dem Kapitalismus in Form einer weltweiten Gegenbewegung ein Ende gesetzt worden ist, sondern dass er sich, im Gegenteil, mittlerweile als alleinherrschendes Gesellschaftsmodell über die gesamte Erdoberfläche hinweg ausgebreitet hat. Dass der Kapitalismus nicht schon längst untergegangen ist, kann man sich wohl nur damit erklären, dass die Reichen weltweit sämtliche Instrumente zu ihrer Machterhaltung – von der Politik, dem Geld und der Wirtschaft über die Medien bis hin zur Justiz – in ihren Händen haben und die Armen immer mehr und mehr denn je eingebläut bekommen, sie könnten, wenn sie sich nur genug anstrengten oder ein bisschen Glück hätten, selber auch einmal zu den Reichen gehören. Im Kommunismus gäbe es diese Unterschiede zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Arm und Reich, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht mehr. Alles würde allen gehören. Alles wäre auf alle gerecht verteilt. Auch Lohnunterschiede würden der Vergangenheit angehören, alle gelangten in den Genuss eines Einheitslohns. Alles mit allen zu teilen, bedeutet auch: von der Natur nur soviel nehmen, wie wieder nachzuwachsen vermag, denn es muss ja für alle reichen, nicht nur heute und morgen, sondern auch übermorgen und noch in 50 oder 100 Jahren. Niemand würde hungern, aber auch niemand würde drei Mal so viel essen, wie sein Körper eigentlich bräuchte, oder würde vom Essen, das er gekauft hat, die Hälfte wieder fortwerfen. „Die Erde“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Das gilt auch heute noch ebenso wie zur Zeit Gandhis. Und weil das Prinzip der nachhaltigen Grundversorgung für alle an oberster Stelle stehen würde, so würde dies zwangsläufig auch bedeuten, dass die Lebensweise der Menschen und die Produktion von Gütern jenen Rahmen, der das Klima, die Natur und die Tier- und Pflanzenwelt zu gefährden droht, nicht überschreiten dürften. Gegnerinnen und Gegner des Kommunismus werfen diesem vor, er führe zur Missachtung und zur Unterdrückung der persönlichen Freiheit des Individuums. Das Gegenteil ist der Fall. Was im Kapitalismus unter „Freiheit“ verstanden wird, sind in aller Regel nur Privilegien, die sich eine Minderheit auf Kosten einer Mehrheit leisten kann. Diese „Freiheit“ verschafft einer Minderheit das Recht, andere für ihre Zwecke auszubeuten und zu missbrauchen. In einem egalitären Gesellschaftssystem dagegen wäre auch die Freiheit, genauso wie alle materiellen Güter, auf alle Menschen gleichmässig verteilt. Freiheit kann erst dann als echte Freiheit bezeichnet werden, wenn sie sämtlichen Angehörigen einer Gemeinschaft gleichermassen ermöglicht wird. Deshalb ist soziale Gerechtigkeit nicht ein Gegensatz zur Freiheit, sondern, im Gegenteil, die Voraussetzung dafür. Das hat auch nichts mit Gleichmacherei zu tun. Erst wenn die materiellen Bedürfnisse gesichert sind, kann ich es mir leisten, mich persönlich und individuell zu entfalten – wer täglich um seine Existenz kämpfen muss oder von Armut betroffen ist, hat diese Möglichkeit nicht. Wenn es etwas gibt, was die Gleichmacherei befördert, dann ist es der Kapitalismus, der die Menschen in einem unaufhörlichen Kreislauf von Arbeit und Konsum gefangen hält und jeden, der aus diesem Hamsterrad auszubrechen versucht, mit gesellschaftlicher oder materieller Stigmatisierung bestraft. Ähnliches lässt sich von den Arbeitsverhältnissen sagen. Gibt es im Kapitalismus die Klasse der Besitzenden und die Klasse der Besitzlosen, so wäre diese Grenze im Kommunismus, wo alles allen gehört, aufgehoben. Es gäbe keine „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ mehr, jeder „Arbeitnehmer“, jede „Arbeitnehmerin“ wäre ihr eigener „Arbeitgeber“, ihre eigene „Arbeitgeberin“ und umgekehrt. Alle Produktionsmittel, alle Banken, sämtliche Dienstleistungsunternehmen, auch das Wohneigentum, wären verstaatlicht – wobei freilich zu beachten wäre, dass nicht eine neue Klasse von staatlichen Funktionären an die Stelle der früheren kapitalistischen Besitzerkaste treten dürfte. Basisdemokratie, klassenlose Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit sind unabdingbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. An die Stelle der „freien“ Marktwirtschaft des Kapitalismus würde eine Art Planwirtschaft treten, welche regeln würde, was, wo und wie produziert werden müsste, um die Grundversorgung aller Menschen zu sichern und stets die Grenzen der Belastbarkeit natürlicher Ressourcen zu gewährleisten. Zu Ende gedacht, würde der Kommunismus schliesslich auch zu einem Ende von Krieg und militärischer Konfliktlösung führen. Denn wenn alles unter alle gerecht verteilt wäre, dann gäbe es für niemanden mehr einen Grund, gegen ein anderes Land einen Krieg anzuzetteln, denn was könnte er dabei schon gewinnen. Das Grundprinzip des Kommunismus, wonach die Angehörigen jeder kleineren oder grösseren Gemeinschaft nicht primär in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen, sondern in einem solidarischen Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens, würde nicht nur für jeden einzelnen Staat, sondern auch für die Beziehungen der Staaten untereinander gelten. So würde der Kommunismus nicht nur den Krieg zum Verschwinden bringen, sondern auch die Fluchtbewegungen aus den heute noch armen Länder des Südens in die heute noch reichen Länder des Nordens. Insgesamt lässt sich sagen, dass sich der Kommunismus auf allen Ebenen, im Grossen wie im Kleinen, am Wohlergehen der Menschen orientieren würde, während im Kapitalismus an oberster Stelle das Wohl des materiellen Profits steht. Bleibt die Frage, auf welchem Wege sich eine globale kommunistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verwirklichen bzw. auf welchem Wege der heute global herrschende Kapitalismus überwunden werden könnte. Karl Marx und andere Theoretiker des Kommunismus sprachen von „Klassenkampf“: Die Arbeiterklasse müsste die bürgerlich-kapitalistischen Gegenkräfte von der Macht verdrängen, um eine kommunistische Ordnung durchzusetzen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Weg wäre. Der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte einmal: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Das sehe ich genau gleich. Es darf nicht darum gehen, eine „Klasse“ durch eine andere „Klasse“ zu ersetzen. Zu gross ist die Gefahr, dass die bestehenden Machtverhältnisse bestehen bleiben, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. Nein, die Klassengesellschaft muss als Ganzes überwunden werden, und dazu braucht es alle, auch die, welche heute noch zu den Privilegierten gehören. Nicht mit Gewalt soll eine neue Gesellschaftsordnung aufgebaut werden, sondern sanft, geduldig, durch Einsicht und durch Vernunft. Vielleicht bin ich da zu optimistisch, aber ich sehe keinen anderen Weg. Das immense Potenzial vor allem an jungen Menschen und an Frauen, die sich quer über den Globus immer stärker in die Politik einmischen, gibt mir eine Hoffnung, die täglich stärker wird. Gewiss, es ist nicht einfach, ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns seit 500 Jahren unaufhörlich in die Köpfe eingehämmert worden ist, radikal zu hinterfragen, geschweige denn, uns ein von Grund auf anderes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das weit und breit noch nicht existiert, vorstellen zu können. Doch nur Phantasten können noch daran glauben, dass der Kapitalismus eine Zukunft hat. Seine Zeit ist abgelaufen. Und in dieser Situation gibt es tatsächlich nur noch zwei Möglichkeiten – wie auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King schon vor über 50 Jahren prophezeite: „Entweder werden wir gemeinsam als Brüder und Schwestern überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“