Damit auch unsere Kinder und Kindeskinder noch ihre Sommerferien geniessen können…

 

Sommerferienbilder:
16 Kilometer Stau am Gotthardtunnel, 80‘000 dicht aneinandergedrängte
Passagierinnen und Passagiere um Flughafen Kloten, nicht enden wollende
Kolonnen von Motorrädern, die über die Alpenpässe donnern, die einen vom Süden
in den Norden, die anderen vom Norden in den Süden. Und gleichzeitig, ohne
Unterlass, Schreckensmeldungen am Radio, am Fernsehen, im Internet: Der
Ukrainekrieg geht mit unverminderter Härte weiter, eine Friedenslösung liegt in
fernerer Zukunft denn je, die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs auf ganz
Europa ist längst nicht gebannt, selbst ein allesvernichtender Atomkrieg lässt
sich nicht gänzlich ausschliessen, als Folge davon eine gesamteuropäische
Energie- und Stromknappheit mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und für
das Alltagsleben von uns allen, gleichzeitig die Angst vor einer neuen
Coronawelle im Herbst und im Winter, das mögliche Auftreten neuer,
gefährlicherer Virenvarianten und, wie wenn das alles nicht schon genug wäre:
der Klimawandel, schmelzende Gletscher, Wasserknappheit, Hitzeperioden,
Waldbrände, steigende Meeresspiegel, existenzielle Bedrohungen für Milliarden
von Menschen schon in naher Zukunft, Hungersnöte in vielen südlichen Ländern,
von denen Hunderte von Millionen Menschen betroffen sind. Was haben boomende
Reiselust, ausschweifende Partys und Luxusvergnügungen aller Art mit diesen
Schreckensmeldungen zu tun? Ich sehe da einen engen Zusammenhang, ein sehr
verständliches und nachvollziehbares Verhalten: Je düsterer die Zukunft
aussieht, umso mehr will ich den jetzigen Zeitpunkt noch geniessen, so ganz
nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Doch so verständlich diese Einstellung
auch ist, so gefährlich wäre es, uns einzig und allein auf den jetzigen
Zeitpunkt zu beschränken, diesen zu geniessen und sich gleichzeitig damit
abzufinden, dass eine „Sintflut“ früher oder später ohnehin über uns
hereinbrechen wird und wir sowieso nichts dagegen unternehmen können.
Tatsächlich nämlich ist das Gegenteil der Fall: So wie letztlich alle
Zerstörungen und Fehlentwicklungen, vor deren Folgen wir heute stehen, von
Menschen verursacht worden sind, so haben es wiederum auch die Menschen in der
Hand, die bestehenden Verhältnisse in einer Art und Weise umzugestalten, dass
eben nicht die „Sintflut“ über uns hereinbrechen wird, sondern, im Gegenteil,
ein neues Zeitalter von Frieden und Gerechtigkeit anbrechen kann. Dass auf
diesem Wege bisher noch kein „Dammbruch“ stattgefunden hat, sondern erst
einzelne zaghafte Schritte, hat wohl damit zu tun, dass die bestehenden
Verhältnisse in einer Art und Weise hingenommen werden, als gäbe es keine
Alternative dazu. „Es ist einfacher geworden, sich das Ende der Welt
vorzustellen“, sagte der US-amerikanische Literaturkritiker Frederic Jameson,
„als das Ende des Kapitalismus.“ Es fehlt offensichtlich ganz wesentlich an
einer kritischen Analyse des bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.
Dieses kann nämlich nur dann überwunden werden, wenn seine Mechanismen und
Wirkungsweisen aufgedeckt werden, um sich sodann andere, bessere Mechanismen
und Wirkungsweisen vorstellen zu können. Es geht, einfach gesagt, um die
Überwindung des Kapitalismus. „Der Kapitalismus“, sagte der Philosoph Lucien
Sève, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle
mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere.
Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“
Unglaublich, aber wahr: Jeder Mensch verfügt über einen riesigen Schatz an
Wissen, Erfahrungen und Fertigkeiten. Fragt man die Menschen aber, was der
Kapitalismus sei und wie er funktioniere, dann zucken sie bloss mit den
Schultern und dies, obwohl es sich beim Kapitalismus doch um das Wirtschafts-
und Gesellschaftssystem handelt, in dem sie alle leben und das unser tägliches
Handeln und unseren Alltag tiefgreifender prägt und beeinflusst als alles
andere. Es ist, als lebten wir in einem Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht
mehr sehen. Deshalb sehen wir auch nicht, dass all das, was uns an so
zahlreichen Schreckensmeldungen entgegenschlägt, einen logischen Zusammenhang
hat, eben den Kapitalismus. Zum Ukrainekrieg: Es handelt sich letztlich um eine
Auseinandersetzung zwischen den USA auf der einen, Russland auf der anderen
Seite. Beide sind kapitalistische Mächte und beide sind getrieben von
imperialistischem Grossmachtdenken. Kapitalismus, Imperialismus,
Grossmachtdenken, Kampf um Rohstoff und Einflusssphären sind immer wieder
Ursachen kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Mächten –
deshalb würde eine Überwindung des Kapitalismus zwangsläufig auch zu einer
Überwindung des Kriegs als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte
führen. Zur Coronapandemie: Auch sie ist eine Folge kapitalistischen
Expansionsdrangs, indem der Mensch immer weiter in bisher unberührte
Lebensgebiete von Wildtieren eindringt und somit die Gefahr von Ansteckungen
durch Viren stetig zunimmt. Zum Hunger in der Welt: Auch dies eine Folge des
kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es wäre nämlich weltweit genug Nahrung für
alle Menschen vorhanden, aber im Kapitalismus fliessen die Güter nicht dorthin,
wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen
zu können. Schliesslich zum Klimawandel: Auch dieser ist eine ganz direkte und
logische Folge der kapitalistischen Wachstumsideologie, wonach die Wirtschaft,
will sie eine Zukunft haben, unaufhörlich wachsen müsse, was in einer Welt
begrenzter Ressourcen schlicht und einfach gar nicht möglich ist. Es geht heute
nicht mehr nur noch darum, gegen den einen oder anderen Missstand, unabhängig
voneinander, anzukämpfen. Es geht um das Ganze. Wir brauchen eine von Grund auf
neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Expansion,
Ausbeutung, Profitmaximierung, endlosem Wachstum und Krieg beruht, sondern auf
Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit, Frieden und einem guten Leben für
alle. Lebensgenuss, Feiern, Reisen, Partys, Vergnügungen und Lebensfreude – das
alles ist gut und schön, aber nur, wenn wir gleichzeitig alle unsere Kraft und
Energie darauf setzen, eine Welt aufzubauen, in der nicht früher oder später eine
Sintflut über uns hereinbrechen wird, sondern eine Welt, in der auch unsere
Kinder und Kindeskinder noch ein gutes Leben haben, viele, viele Feste und
Partys feiern und viele, viele schöne Ferienreisen unternehmen können…

Von den schweizerischen Busfahrern bis zu den Textilarbeiterinnen in Bangladesch: Die Maxime, dass die Interessen des Kapitals wichtiger sind als die Bedürfnisse der Menschen…

 

Gemäss einer Umfrage des universitären Zentrums für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit Université in Lausanne bei fast 1000 Busfahrerinnen und Busfahrern beklagen sich 57 Prozent der Befragten über Schmerzen in den Schultern oder im Nacken. Die Hälfte gibt an, an abnormaler Müdigkeit zu leiden. Ebenfalls jeder zweite Befragte leidet unter Rückenschmerzen. 43 Prozent leiden unter Schlafstörungen, 42 Prozent unter Stress und jeder Dritte unter Kopfschmerzen. Viele beklagen sich über den Druck, der von Vorgesetzten ausgeübt werde: Will man sich aus gesundheitlichen Gründen abmelden, bekomme man meistens zur Antwort, man müsste trotzdem zur Arbeit kommen. Viele Busfahrerinnen und Busfahrer nehmen Medikamente und beissen sich durch, auch deshalb, weil sie wissen, dass sonst jemand einspringen müsste, der eigentlich frei hat. Wegen der aus finanziellen Gründen eng getakteten Fahrpläne genügt schon eine kleine Verspätung, um am Ende der Tour keine Zeit zu haben, um aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Eine Mehrheit von 58 Prozent der Befragten gibt denn auch an, Arbeitseinsätze von mehr als zehn Stunden seien sehr belastend. Auch Anzeigen auf Bildschirmen oder akustische Warnsignale bei Verspätung üben auf die Fahrerinnen und Fahrer grossen Druck aus. 

Dies alles ist allerdings alles andere als ein Zufall. Dahinter steckt ein System und dieses System heisst Kapitalismus: Die Maxime, dass der Profit wichtiger ist als die Bedürfnisse der Menschen und dass es deshalb das Ziel sein muss, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Es sind ja bei Weitem nicht nur die Busfahrerinnen und Busfahrer. Es sind auch die Velokuriere, die auf ihre Touren oft Flaschen zum Pinkeln mitnehmen, weil sie zwischen ihren Auftragsfahrten nicht genug Zeit haben, eine Toilette aufzusuchen. Es sind auch die Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen, die laufend wachsendem Zeitdruck und laufend schwereren körperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Es sind auch die Zimmermädchen in den Hotels, die in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Anzahl von Zimmern herzurichten haben. Es ist auch das Pflegepersonal in den Spitälern, es sind die Verkäuferinnen im Supermarkt, die Paketboten der Post und der übrigen Transportunternehmen, die Lastwagenfahrer und Lastwagenfahrerinnen, das Kabinenpersonal in den Flugzeugen, Köche und Kellnerinnen in Hotels und Restaurants – sie alle sind gezwungen, in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung zu erbringen. 

Gerne wird dies alles der Coronapandemie in die Schuhe geschoben. Tatsache ist aber, dass die Entwicklung einer zunehmenden Auspressung der Arbeiterschaft schon längstens vor Corona ihren Lauf genommen hat und durch die Folgen der Coronapandemie nur noch zusätzlich verschärft worden ist. Das Römische Reich baute seine Macht über Dutzende von Ländern rund um das Mittelmeer auf der Devise „Divide et impera!“ auf: Teile und herrsche! Länder und Völker, die sich gegenseitig bekämpften, konnten dem Imperium nicht gefährlich werden, weil ein gemeinsamer Widerstand gegen die Vorherrschaft Roms dadurch verunmöglicht war. Genau so regiert der Kapitalismus. Busfahrer und Velokurierinnen, Krankenpflegerinnen und Bauarbeiter setzen sich je individuell für ihre Rechte ein, so, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsache ist, dass die weltumspannende Macht des Kapitalismus nur gebrochen werden kann, wenn sich auch seine Opfer über alle Berufe, Arbeitsbereiche und alle Grenzen hinweg weltweit miteinander verbünden und solidarisieren. Die kapitalistische Ausbeutung hört ja nicht an irgendwelchen Grenzen auf. Im Gegenteil: Textilarbeiterinnen in Bangladesch, Minenarbeiter im Kongo oder Bananenpflückerinnen in Honduras sind einem noch viel grösseren Ausbeutungsdruck ausgesetzt als schweizerische Busfahrer oder Krankenpflegerinnen. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Wie weise! Wie viele Schmerzen, wie grosses Leiden, wie viele zu Tode erschöpfte Arbeiterinnen und Arbeiter wird es noch brauchen, bis der grosse Widerstand seinen Anfang nimmt und eine Wirtschaftsordnung Wirklichkeit werden kann, in der nicht mehr die Interessen des Profits und des Kapitals an erster Stelle stehen, sondern die Bedürfnisse der Menschen?

Zunehmender Fachkräftemangel: Eine Pyramide, die schon bald umkippen könnte…

 

Gastronomie,
Handwerk, Baugewerbe, Krankenpflege – an allen Ecken und Enden fehlt es
zunehmend an Fachkräften. Gleichzeitig nimmt die Zahl Jugendlicher, welche sich
für das Gymnasium anstelle einer Berufslehre entscheiden, kontinuierlich zu.
Stellen wir uns die Arbeitswelt als Pyramide vor: „Unten“, an der Basis, der
Landarbeiter und die Verkäuferin, die Fabrikarbeiterin und der Bauarbeiter, der
Krankenpfleger und die Kitaangestellte, der Lastwagenfahrer und die Coiffeuse,
der Koch und die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Putzfrau, der
Müllarbeiter und die Floristin, der Elektroinstallateur und die Floristin, die
Gärtnerin und der Gebäudereiniger. „Oben“, in der Spitze der Pyramide, der
Rechtsanwalt und der Ingenieur, die Kinderärztin und der Geschäftsführer, die
Universitätsdozentin und der Architekt, die IT-Spezialistin und der
Unternehmensberater, der Immobilienmakler und die Pfarrerin. Die in der Spitze
der Pyramide Tätigen können ihren Beruf nur solange ausüben, als es genügend
andere Berufstätige an der Basis der Pyramide gibt, welche die elementaren
Grundleistungen erbringen, die für das Funktionieren der gesamten Wirtschaft
unerlässlich sind. Was wir heute erleben, ist, dass die Basis der Pyramide
immer schmaler wird und die Spitze immer breiter. Das kann auf die Länge nicht
gut gehen, eines Tages wird die Basis so schmal sein und die Spitze so breit,
dass die ganze Pyramide kippen wird. Um dies rechtzeitig zu verhindern, braucht
es drastische Massnahmen. Eine mögliche Massnahme könnte, so utopisch dies
heute noch klingen mag, darin liegen, über alle Berufe hinweg einen
Einheitslohn einzuführen. Es ist nämlich nicht einzusehen, weshalb eine
Krankenpflegerin oder ein Bauarbeiter, die täglich Schwerarbeit leisten und
dabei sogar ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, so viel weniger Lohn
haben sollen als etwa ein Vermögensverwalter oder der Chef eines
Kleinunternehmens, die körperlich weit weniger belastet sind. Gewiss, man kann
viele Argumente für Lohnunterschiede ins Feld führen, von der körperlichen
Belastung über den Grad der zu tragenden Verantwortung oder psychischen
Belastung bis hin zur Ausbildungsdauer. Gleichwohl sind alle diese Argumente
willkürlich. Tatsache ist, dass letztlich alle beruflichen Tätigkeiten von
allen anderen gegenseitig abhängig sind und auch der erfolgreichste CEO seinen
Beruf nicht ausüben könnte, wenn es keine Bauarbeiter gegeben hätte, welche die
Gebäude, in denen der CEO arbeitet, gebaut hätten, keinen Landarbeiter und
keine Arbeiterin in der Lebensmittelfabrik, die dafür sorgen, dass er stets
genug zu essen hat, niemand, der sein Auto, seine Kleider und seine Schuhe
hergestellt hätte. Das einzig wirklich Logische ist ein Einheitslohn, ein
gerechtes Verteilen des Gesamtgewinns, zu dem alle einen unentbehrlichen Teil
beitragen und deshalb alle auch wieder einen gerechten Anteil zurückbekommen
sollten. Da der Lohn und die gesellschaftliche Wertschätzung eng miteinander
verknüpft sind, würde der Einheitslohn bedeuten, dass alle in den
„Basisberufen“ Tätigen genau jene Wertschätzung erfahren würden, die ihnen
heute so fehlt und so oft der Grund sind, aus solchen beruflichen Tätigkeiten
auszusteigen oder sie schon gar nicht ausüben zu wollen. Wenn die Einführung
eines Einheitslohns das Problem der kippenden Pyramide noch nicht hinreichend
lösen könnte, dann liesse sich noch ein zweites Szenario vorstellen: ein Verzicht
auf rein akademische Bildungswege, also eine Abschaffung des Gymnasiums und der
Grundsatz einer „Berufslehre für alle“ – im Gegensatz zur oft gehörten
Forderung nach einer „Matura für alle“. Eine Berufslehre für alle hätte den
grossen Vorteil, dass eine viel grössere Zahl praktisch ausgebildeter junger
Erwachsener zur Verfügung stünden. Gewiss, man dürfte dabei nicht die Spitze
der Pyramide vernachlässigen. Doch eine Abschaffung des Gymnasiums würde ja
nicht dazu führen, dass es zukünftig keine Ärztinnen, Ingenieure und
Naturwissenschaftlerinnen mehr gäbe. Nur wäre der Ausbildungsweg ein anderer:
Die zukünftige Ärztin würde neu nicht mehr ein Gymnasium besuchen, eine Matura
machen und dann in eine Universität eintreten, sondern zunächst eine Lehre als
Gesundheitsfachperson absolvieren, dann eine Zeitlang diesen Beruf ausüben und
praktische Erfahrungen sammeln, mögliche Weiterbildungen besuchen und am Ende
ein universitäres Studium aufnehmen. Das Beispiel ist stellvertretend für alle
anderen, heute noch ausschliesslich auf dem akademischen Bildungsweg verfolgten
Berufsziele: Niemand würde auf direktem Weg an die Spitze der Pyramide
gelangen, alle würden an der Basis der Pyramide beginnen und zunächst viele
praktische Erfahrungen sammeln, um dann, allenfalls, in einer späteren Phase
ihres Bildungswegs, in die Spitze der Pyramide „aufzusteigen“. Es wäre eine
klassische Win-Win-Situation, wären damit doch gleichzeitig das Problem des
Fachkräftemangels wie auch der zunehmenden Akademisierung, die uns vor immer
grössere Probleme stellen werden, wirksam gelöst. Und vielleicht sieht ja dann
unsere zukünftige Arbeitswelt auch gar nicht mehr wie eine Pyramide aus, weder
eine am Boden noch eine auf dem Kopf stehende, sondern ein gleichberechtigtes
und gleichwertiges Nebeneinander und Miteinander arbeitender Menschen, von
denen sich niemand mehr als „wichtiger“, „angesehener“ oder „privilegierterer“
fühlen würde als alle anderen…

Die Ukraine und die NATO: die andere Seite der Geschichte

 

Im Zusammenhang mit dem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine wird von
westlicher Seite gerne behauptet, es sei schliesslich das Recht eines jeden
einzelnen freien, demokratischen Landes, welchem militärischen Bündnis es
angehören möchte und welchem nicht. Deshalb sei der Vorwurf Russlands an die
Adresse der USA, die NATO-Osterweiterung planmässig vorangetrieben zu haben,
ganz und gar aus der Luft gegriffen. Dass es, zumindest im Fall der Ukraine,
mit dieser „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ aber nicht allzu weit her ist,
zeigt ein kurzer Blick in die jüngste Vergangenheit. Ich beziehe mich im
Folgenden auf das Buch „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz, ehemaliger
Russland-Korrespondentin der ARD. Zurückzublenden ist ins Jahr 2004: Bei den ukrainischen
Präsidentschaftswahlen im November wurde Viktor Janukowitsch, ein Verfechter
guter Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland, zum Sieger erkürt,
wogegen das Lager seines unterlegenen, US-freundlichen Kontrahenten Viktor
Juschtschenko wegen angeblicher Wahlfälschungen protestierte. Es kam zu
Massendemonstrationen, die Wahlen wurden wiederholt und nun erlangte
Juschtschenko die Mehrheit. Erst später wurde bekannt, dass Juschtschenko für
seinen Wahlkampf von der US-Regierung finanzielle Unterstützung von schätzungsweise
über 50 Millionen Dollar erhalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollten gerade
einmal 16 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer der NATO beitreten und nur ein
Drittel der EU. Trotzdem verfolgte Juschtschenko eine aktive Aussenpolitik in
Richtung Westen und bemühte sich intensiv um eine Mitgliedschaft in EU und
NATO. Tatkräftige Unterstützung erhielt Juschtschenko unter anderem von der
US-amerikanischen Organisation USAID, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, „in
der Ukraine die gesellschaftliche Basis der EU-Befürworter zu erweitern.“ Nicht
weniger aktiv auch das „NATO Information and Documentation Centre NIDC“, dessen
Aufgabe auf der Website der NATO wie folgt beschrieben wird: „Das NIDC in Kiew
spielt eine aktive Rolle dabei, in der Ukraine ein besseres Verständnis zu
fördern für die Prioritäten und Kernaufgaben der NATO.“ In einem Bericht vom
15. Februar 2006 beklagte der US-Botschafter in Kiew die „ungewöhnliche
Spaltung zwischen den Befürwortern einer NATO-Mitgliedschaft und der
Bevölkerung.“ Die traditionellen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland,
so der US-Botschafter, „erschweren leider den Prozess der öffentlichen
Erziehung.“ Zu diesem Zeitpunkt sprachen sich 25 bis 30 Prozent der
Ukrainerinnen und Ukrainer für einen NATO-Beitritt aus. Zum Leidwesen der
NATO-Befürworter hatte man Ende 2005 in Ukraine damit begonnen, Unterschriften
für ein Referendum gegen einen NATO-Beitritt zu sammeln. Das notwendige Quorum
beträgt drei Millionen Unterschriften. Im Frühjahr 2006 hatte man bereits viereinhalb
Millionen zusammen. Der US-Botschafter in Kiew beeilte sich, das unerwünschte
Referendum abzuwürgen und schlug folgende Massnahmen vor: Unterschriften für
gefälscht erklären, behaupten, diese seien gekauft oder erpresst worden,
Anzweiflung der Rechtsmässigkeit der Verfassungsvorschriften, usw. Als dies
alles nichts half, nahm Präsident Juschtschenko von seinem Recht Gebrauch, den
Volksentscheid schlicht und einfach nicht durchzuführen. Die Regierung
versicherte dem US-Botschafter, keine Abstimmung zuzulassen, denn „würde das
Referendum jetzt abgehalten, würde eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
sich gegen einen NATO-Beitritt aussprechen, und das gilt es zu verhindern.“
2008 erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive,
und dies, obwohl die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel davor
warnte, dies würde einer Kriegserklärung an Russland gleichkommen. Dennoch
wurde auf jedem weiteren NATO-Gipfel die mittlerweile auch in der ukrainischen
Verfassung verankerte NATO-Beitrittsperspektive erneut bestätigt, so dass der
endgültige Beitritt zur NATO wohl nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre,
wenn es nicht im Februar 2022 zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine
gekommen wäre. Nachzutragen ist an dieser Stelle, dass bereits 1997 zwischen
der NATO und der Ukraine ein Kooperationsvertrag abgeschlossen worden war, der
die Übernahme von US-Standards durch die ukrainische Armee sowie gemeinsame
Trainings und Waffenlieferungen ermöglichte. Soviel zur „Selbstbestimmung“ demokratischer Staaten im vielgelobten
„freien“ Westen. Oder, wie es Krone-Schmalz formuliert: „Das Zerrbild, wonach
nur Russland eine zynische Machtpolitik betreibt, die noch in Einflusszonen und
geostrategischen Interessen denkt, entspricht ganz und gar nicht der Realität.
Nur wenn auch die fehlenden Teile der Geschichte erzählt werden, entsteht ein
vollständiges Bild.“

Alina Lipp und die Göttinger Staatsanwaltschaft: Völlig überrissene und masslose Kriminalisierung einer unliebsamen Internetaktivistin

 

Zuerst dachte ich, ich hätte nicht richtig gelesen. Aber dann sah ich, dass es tatsächlich wahr ist. Gemäss Internetportal „Watson“ ermitteln deutsche Behörden gegen Putins deutsche „Infokriegerin“ Alina Lipp wegen ihrer Postings zum Ukrainekrieg. Die Staatsanwalt Göttingen, die den „Fall“ inzwischen übernommen hat, wirft Alina Lipp vor, sich mit Russlands Krieg gegen die Ukraine zu solidarisieren. Es gehe um eine Vielzahl von Beiträgen, die sie regelmässig in sozialen Netzwerken absetze. So etwa hätte sie am 24. Februar 2022 geschrieben: „Die Denazifikation hat begonnen.“ Und am 12. März hätte sie in einem Video davon gesprochen, dass die russischen Truppen Regionen, die von „Genozid“ betroffen gewesen seien, befreit hätten. Die Göttinger Staatsanwaltschaft hält Lipps Aussagen offenbar für geeignet, das Klima in Deutschland aufzuheizen und „aufgrund verzerrender, zum Teil wahrheitswidriger Darstellungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzulösen“. Da Lipp auf dem Messengerdienst Telegram bereits 150’000 Abonnentinnen und Abonnenten habe, sei ihre Wirkung nicht zu unterschätzen. Wegen ihrer Unterstützung eines „verbotenen Angriffskriegs“ müsste Lipp, so die Göttinger Staatsanwaltschaft, gemäss Artikel 13 des Völkerstrafgesetzbuchs, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Bereits seien Spendengelder beschlagnahmt worden, die Lipp gesammelt hätte und mit denen „rechtswidrige Taten“ hätten finanziert werden sollen. Mir fehlen die Worte. Jede Seite in diesem Krieg weiss doch, dass die Gegenseite nicht davor zurückschreckt, alle ihr zur Verfügung stehenden Propagandamittel in die Schlacht zu werfen. Es wäre völlig naiv, anzunehmen, die eine Seite verbreite nur die pure Wahrheit und die andere bloss Lügen. Die Postings von Alina Lipp sind ein paar wenige von Abertausenden Schlagwörtern, Behauptungen, Unterstellungen, Inszenierungen und vermeintlichen „Wahrheiten“, welche sich die Kriegsparteien tagtäglich gegenseitig um die Ohren schlagen. Und die Beiträge sind ja inmitten dieses Informationskriegs nicht einmal nur falsch. Zum Beispiel ist der Begriff der „Denazifikation“ nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Stepan Bandera, der unter anderem auch von der „NZZ“ als „Terrorist“ bezeichnet wird und der mitschuldig war an der Ermordung Zehntausender Polen und Juden im Zweiten Weltkrieg, geniesst auch heute noch in weiten Kreisen der Ukraine grosses Ansehen. Auch die berüchtigte Asowbrigade, welche zwischen 2014 und 2021 in der Ostukraine entsetzliche Gräueltaten beging, hat einen nationalsozialistischen Hintergrund. „Rechtsradikale Strömungen und rassistische Übergriffe gibt es auch in der Ukraine“, so die „Gesellschaft für bedrohte Völker“, „vor allem Ressentiments gegen Roma sind in der Mitte der Gesellschaft zu finden und der ukrainische Staat tut wenig, um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken. Zudem duldet die Regierung ultranationalistische und rechtsextreme ukrainische Kämpfer in den östlichen Konfliktgebieten des Landes, die gegen russische Separatisten kämpfen.“ In diesem Zusammenhang von einem „Genozid“ zu sprechen, wie dies Alina Lipp tut, „mag übertrieben sein – doch auch dieser Aussage ist ein Kern Wahrheit nicht abzusprechen. Was Alina Lipp tut, ist nicht propagandistischer als das, was die westlichen Medien ebenso tun. Während Lipp Ereignisse „verzerrend“, „übertrieben“ und „einseitig“ darstellt, hüllen sich die westlichen Medien darüber in Schweigen und lassen nur zu, was in ihre Sicht der Dinge hineinpasst – beides ist ein Zerrbild und wird der objektiven „Wahrheit“ bei Weitem nicht gerecht. Dass allerdings gegen eine junge Internetaktivistin mit so grobem Geschütz aufgefahren wird, muss schon sehr zu denken geben. Im Gegensatz zu den Kriegstreibern auf beiden Seiten der Front hat sie nämlich kein einziges Menschenleben auf dem Gewissen. Zudem muss man ihr zugute halten, dass sie stets aus der Mitte des Kriegsgeschehens berichtet und in engem Kontakt mit der betroffenen Bevölkerung steht. Die völlig überrissene Dämonisierung der Internetaktivistin, die sich, mag ja sein, in ihre „Mission“ gar ein wenig stark hineingebissen hat, zeigt auf erschreckende Weise auf, wie wenig Widerspruch unsere westlich-demokratische Staatengemeinschaft offensichtlich noch zu dulden bereit ist. Unwillkürlich kommen mir bei dieser Gelegenheit die Talkshows am deutschen Fernsehen in den Sinn, vor allem jene von Markus Lanz, der jedes Mal, wenn eine kritische Person in der Runde sitzt, gleich einen Wutanfall bekommt. Ins gleiche Kapitel geht die Abschaltung des russischen Nachrichtensenders „Russia Today“ in sämtlichen EU-Ländern, um bloss nicht die Bevölkerung auf „dumme“ Gedanken zu bringen. Ob der Kampf gegen das „Andere“, das „Böse“ nicht letztlich bloss die Angst davor ist, es könnten andere, unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen? Haben die westlichen Regierungen so wenig Vertrauen in ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger, dass sie diesen nicht mehr zutrauen, sich in den Widersprüchen von Propaganda und Gegenpropaganda ihre eigene Meinung zu bilden? Wie brüchig muss das Selbstverständnis des herrschenden Machtsystems sein, wenn eine unliebsame Internetaktivistin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen muss, während ein US-amerikanischer Präsident, nämlich George W. Bush, aufgrund von Lügen und übelsten Machenschaften einen Krieg mit Hunderttausenden von Todesopfern anzetteln konnte und trotzdem immer noch frei herumläuft? „Alle, die sich ausserhalb des markierten Meinungskorridors bewegen“, schreibt die „Junge Welt“, „werden nun also nicht mehr nur verunglimpft und ausgegrenzt – sie werden kriminalisiert.“ Ob wohl auch Papst Franziskus, der unlängst behauptet hat, die Hauptschuld am Ukrainekrieg trage nicht Russland, sondern die NATO, ebenfalls schon bald im Gefängnis sitzen wird? 

NATO-Gipfel: „Ohne Frieden ist alles nichts“…

 

„Putin ist nun offizieller Feind des Westens“ („20minuten), „Die Nato definiert Russland offen als Feind“ („Tagesanzeiger“) und „Der Westen geht auf Gefechtsstation“ („Tagblatt“) – die Schlagzeilen vom 30. Juni 2022 in drei Schweizer Tageszeitungen, stellvertretend wohl für beliebige viele weitere, könnten deutlicher nicht sein: Der NATO-Gipfel in Madrid hat Stellung bezogen, unmissverständlicher, kompromissloser und einmütiger denn je. Das „Tagblatt“ schreibt sogar, die NATO hätte damit ihre „Wiedergeburt“ erlebt. Und so sieht diese „Wiedergeburt“ aus: In Polen soll ein neues US-Hauptquartier aufgeschlagen werden, eine neue zusätzliche US-Brigade wird nach Rumänien verlegt, nach Grossbritannien werden zwei neue US-Geschwader an F-35-Kampfjets geschickt, der Luftabwehrschirm in Deutschland und Italien wird ausgebaut, sechs Zerstörer werden in spanischen Häfen stationiert, die Zahl der kurzfristig mobilisierbaren Truppen soll von heute rund 40’000 auf über 300’000 ausgebaut werden und Schweden und Finnland sollen in die NATO aufgenommen werden, wodurch die Grenzlinie zwischen der NATO und Russland um 1340 Kilometer verlängert wird. Nicht zufällig spricht der „Tagesanzeiger“ im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel von einem „Kriegsrat“ und nicht mehr von einem Verteidigungsbündnis, was doch der offizielle Zweck der NATO sein müsste.

Wenn nun aus allen Rohren gegen Russland geschossen wird und längst kaum noch irgendwer das Feindbild Putin als menschenverachtender und blutrünstiger Aggressor zu hinterfragen wagt, müsste man dennoch und umso mehr auch immer wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen: Trotz gegenteiliger Versprechungen wurde nämlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die Osterweiterung der NATO schrittweise und planmässig vorgenommen, trotz grosser Bedenken, welche nicht zuletzt auch von namhaften Persönlichkeiten innerhalb der USA geäussert wurden. So etwa sagte der Historiker George F. Kennan im Jahre 1997: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den
Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die
russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden
missfallen wird.“ Mit der zunehmenden Einbindung schliesslich auch der Ukraine in die NATO-Strukturen war schliesslich aus der Sicht Putins definitiv eine rote Linie überschritten. Dazu der US-Publizist Noam Chomsky: „Ab 2014 begannen die USA und die NATO, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernstem Gerät, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO. Es war eine sehr bewusste, starke Provokation. Sie wussten, dass sie sich in einen Bereich einmischten, den jeder russische Führer als untragbar ansehen musste.“ 

Man kann sich nun freilich streiten, ob dies alles einen Einmarsch Russlands in die Ukraine gerechtfertigt haben könnte – ich würde diese Frage verneinen. Aber es muss doch in aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass der Westen nicht von einer unbestrittenen Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs freigesprochen werden kann, vor allem auch, wenn man bedenkt, dass Putin noch Ende 2021 der US-Administration vorgeschlagen hatte, über den Status der Ukraine zu verhandeln, was von den USA rundweg abgelehnt worden war. Dass die Bedenken Russlands bezüglich NATO-Osterweiterung nicht aus der Luft gegriffen sind, bestätigt auch Roland Popp von der Militärakademie der ETH Zürich: „Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ Dies wird noch klarer, wenn wir uns für einmal vorzustellen versuchen, wie wohl die USA reagieren würden, wenn Russland sich mit Mexiko oder Kanada verbünden und diese Länder massiv aufrüsten würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die USA dies einfach so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Mit dem NATO-„Kriegsrat“ in Madrid hat die NATO fatalerweise nun genau diesen Kurs der NATO-Osterweiterung, die mit ein wesentlicher Grund  des russischen Angriffs auf die Ukraine gewesen ist, noch einmal auf die Spitze getrieben und weiteres Öl ins Feuer gegossen, nicht nur durch Aufrüstung und massive Erhöhung der Truppenstärken, sondern insbesondere auch durch die Aufnahme der bisher neutralen Staaten Finnland und Schweden in die NATO. Und dies alles, obwohl bereits heute die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland. 

Madrid glich zur Zeit des NATO-Gipfels einer Festung. Polizeihelikopter kreisten über der Stadt, alle U-Bahnstationen und alle Verkehrsachsen waren gesperrt, über 10’000 Sicherheitskräfte waren aufgeboten worden und über tausend Journalistinnen und Journalisten berichteten laufend über das Geschehen. Es sei, wie das „Tagblatt“ schreibt, ein „martialischer Auftritt“ gewesen. Ich wünschte mir, die westlichen Regierungen würden nur einen Bruchteil der Energie, der Zeit und des Geldes, die sie nun in die Vorbereitungen für einen möglichen grösseren Krieg investieren, stattdessen in die Vorbereitungen für einen möglichen Frieden investieren. Noch beschränken sich die Kriegshandlungen auf ein relativ kleines Gebiet in der Ostukraine. Noch haben ein Waffenstillstand und nachfolgende Friedensverhandlungen eine reelle Chance. Wenn diese Chance vertan wird, ist die Gefahr eines Flächenbrands bis hin zu einem dritten Weltkrieg nicht mehr gänzlich auszuschliessen. Alles, alles – auch Zugeständnisse, Kompromisse, Abrücken von Machtansprüchen und Prestigedenken – muss unternommen werden, um diesen sinnlosen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. 

Alles spricht heute von einer „Zeitenwende“. Doch militärische Aufrüstung, die Produktion und Stationierung von immer mehr Waffen oder gar das Drohen mit der Atombombe haben nichts zu tun mit einer echten Zeitenwende. Im Gegenteil, es ist ein Rückfall in längst vergangene Zeiten, als, wie das noch im Alten Testament zu lesen ist, die Regel galt, Unrecht mit gleichem oder noch schlimmerem Unrecht zu vergelten, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Vor über 2000 Jahren kam tatsächlich eine Zeitenwende und Jesus propagierte im Widerstand zur Logik der Rache die Logik der Nächstenliebe, ja sogar der Feindesliebe. 

Heute verfügen wir über modernste Waffen, die laufend noch ausgeklügelter und noch gefährlicher und bedrohlicher werden. Doch während auf der militärisch-industriellen Ebene ungeahnte „Fortschritte“ erzielt worden sind, hinken wir auf der geistig-moralischen Ebene hoffnungslos hinterher und scheinen uns immer noch nicht von der uralten Denkweise der Rachelogik befreit zu haben. Von einer echten Zeitenwende könnten wir sprechen, wenn wir die Logik der Rache und des Kriegs endgültig überwunden hätten, denn, wie der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sagte: Konflikte nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lösen zu wollen, führt bloss dazu, dass am Ende alle blind sind. „Wenn wir den dritten Weltkrieg nicht wollen“, sagt der ehemalige deutsche Brigadegeneral Erich Vad, „müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik heraus und Verhandlungen aufnehmen.“ Noch kürzer brachte es der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auf den Punkt: „Ohne Frieden ist alles nichts.“

„Alle Länder der Welt werden sich zwischen der Demokratie und der Autokratie entscheiden müssen“ – wenn es so einfach wäre…

 

„Es gibt das autokratische Lager, angeführt von China“, sagt Anders Fogh Rasmussen, von 2009 bis 2014 Generalsekretär der NATO, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 26. Juni 2022, „und es gibt das demokratische Lager unter Führung der USA. Alle Länder der Welt werden sich entscheiden müssen, ob sie sich auf die Autokratie einlassen oder die Demokratie wählen.“ Ja, wenn es so einfach wäre. Demokratie oder Autokratie. Gut oder Böse. Weiss oder Schwarz. Und nichts dazwischen. Doch wenn wir einen kurzen Blick auf das werfen, was wir so stolz und selbstherrlich als „Demokratie“ bezeichnen, werden wir sogleich unschwer feststellen, dass diese „Demokratie“ letztlich nichts anderes ist als ein schönes Trugbild, das einer kritischen Betrachtung in keinster Weise standhält. Denn wie alles im Kapitalismus, ist auch die Demokratie letztlich nichts anderes als ein Privileg der Reichen und Mächtigen, ein System, welches es denen, die es sich leisten können, das Recht verleiht, an „demokratischen“ Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, während es unzählige andere in Not und Elend stürzt. Kapitalismus und Demokratie ergänzen sich nicht gegenseitig, nein, sie widersprechen sich und schliessen sich gegenseitig aus. „Demokratie“ im Kapitalismus ist nichts anderes als eine Scheindemokratie, die angebliche Vielfalt unterschiedlicher politischer Parteien, die doch letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer allesumfassenden kapitalistischen Einheitspartei. Im Namen der kapitalistischen „Demokratie“ haben die USA seit 1945 nicht weniger als 44 Angriffskriege und verdeckte Militäroperationen geführt, rund 30 Millionen Menschen getötet und rund 300 Millionen Verletzte zurückgelassen. Im Namen der „Demokratie“ haben die „freien“ Länder des Westens seit 500 Jahren systematisch die Länder des Südens ausgeplündert und sich auf Kosten der Arbeit und des Reichtums anderer masslos bereichert. Im Namen der „Demokratie“ schwelgt eine Minderheit Reicher und Superreicher in nie dagewesenem Luxus, während jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Im Namen der „Demokratie“ haben die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ein Vermögen von über 800 Milliarden Franken zusammengescheffelt, während eine knappe Million Schweizerinnen und Schweizer am Ende des Monats kaum mehr das nötige Geld für das tägliche Essen zusammenbringen. Im Namen der „Demokratie“ wird blindlings an der fixen Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums festgehalten, welches die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen immer stärker zu gefährden droht. Die von Rasmussen dargestellte Polarisierung der Welt in Demokratie und Autokratie ist nicht nur durch und durch falsch, sondern auch durch und durch gefährlich. Denn sie entbindet uns, den „freien“ und „demokratischen“ Westen, davon, unser eigenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem kritisch zu hinterfragen. Bevor wir anderen ihre Missetaten vorhalten und unsere eigene vermeintliche Überlegenheit in den Vordergrund stellen, müssten wir zuerst selber in unseren eigenen Spiegel schauen. Wenn autokratische Systeme des „Ostens“ keine Zukunft haben, dann hat es der Kapitalismus erst recht nicht. Bevor wir keine soziale Gerechtigkeit schaffen, bevor wir den Reichtum nicht gerecht verteilen, bevor wir nicht alle Formen von Ausbeutung von Mensch und Natur beseitigen, bevor wir nicht dem Wachstumswahn eine endgültige Absage erteilen und den Klimawandel stoppen, haben wir auch nicht den geringsten Anlass, andere zu belehren und unsere Überlegenheit zu propagieren. Was wir brauchen, ist nicht eine in Gut und Böse, Weiss und Schwarz geteilte Welt, sondern eine Welt, in der für alle Menschen über alle Grenzen hinweg ein gutes Leben in Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung Wirklichkeit geworden ist.

Vom Radrennfahren bis zum Synchronschwimmen: die zerstörerischen Folgen des Konkurrenzprinzips

 

Normalerweise geht die Schweizerin Nicole Reist zwischen 19 und 20 Uhr zu Bett. Um halb zwei steht sie auf, um dann bis halb fünf zu trainieren. Um fünf Uhr sitzt sie in ihrem Büro, wo sie bis 16 Uhr als Hochbauzeichnerin arbeitet. Danach folgt die nächste Trainingseinheit. Und nun, am 15. Juni 2022, ist es soweit: Nicole Reist steht am Start des „Race Across America“, des härtesten Radrennens der Welt. 4963 Kilometer, 22’575 Höhenmeter, von Oceanside in Kalifornien bis Annapolis in Maryland, durch Gebiete, von denen viele wegen ihrer Gluthitze, andere wegen häufiger Tornados berüchtigt sind. Etappen gibt es keine. Jede Fahrerin und jeder Fahrer entscheidet selber, wann sie oder er eine Schlafpause einlegen möchte. Die meisten Fahrerinnen und Fahrer schlafen während zehn Tagen höchstens zwölf Stunden, jeweils 30 bis 40 Minuten am Stück. Häufige Folge sind Übermüdung, Halluzinationen und Stürze. Und genau dies wird Nicole Reist auch in diesem Jahr zum Verhängnis: 450 Kilometer vor dem Ziel stürzt sie. Nachdem einer ihrer schärfsten Konkurrenten an ihr vorbeigezogen ist, nimmt sie sich vor, die restliche Strecke bis zum Ziel ohne Pause durchzufahren. Bei jedem Tritt schmerzt der beim Sturz lädierte Oberschenkel, die Hände werden taub, der Nacken ist steif. Kein Wunder, stürzt sie nur wenige Stunden später ein zweites Mal und bricht sich dabei eine Rippe. Gedanken ans Aufgeben verscheucht sie dennoch augenblicklich. Sie kann nicht mehr selber auf ihr Fahrrad steigen und muss sich von ihrer Crew hochheben lassen. Als sie endlich als schnellste Frau und als Gesamtdritte im Ziel anlangt, muss sie sich von einem Helfer aus dem Sattel heben lassen. Gehen kann sie nicht mehr, die Crew trägt sie zum Interview. Sie sagt: „Das war das härteste Rennen meines Lebens, ich habe noch nie so gelitten.“ Szenenwechsel: Am 22. Juni 2022 finden in Budapest die Weltmeisterschaften im Synchronschwimmen statt. Bei ihrer Einzelkür kollabiert die US-Amerikanerin Anita Alvarez und muss bewusstlos aus dem Becken gerettet werden. Kein Einzelfall: An den Olympischen Spielen 2008 in Peking verlor die Japanerin Hironi Kobayaski ebenfalls das Bewusstsein. Der Grund: Die Schwimmerinnen müssen bis zu 45 Sekunden lang unter Wasser bleiben, so kann es leicht zu einer Hypoxie, einem akuten Sauerstoffmangel, kommen, der im leichteren Fall Müdigkeit und Schwindel, im schlimmeren Fall permanente Hirnschäden zur Folge haben kann. Synchronschwimmen ist eine der härtesten Sportarten. Sieben Wassertrainings pro Woche sind bei den Eliteschwimmerinnen üblich, stundenlang. Dazu kommen neben kräftezehrenden Schwimm- und Koordinationsübungen stundenlanges Trainieren im Kraftraum. Viele Schwimmerinnen klagen über Hüftprobleme, Zerrungen und Muskelrisse durch übermässiges Dehnen, schon siebenjährige Mädchen werden mit Gewalt in den Spagat gezwungen, bis sie nicht mehr atmen können, weil der Rücken so stark nach hinten gezogen wurde. „Wir sehen immer so fröhlich aus“, sagte die deutsche Star-Synchronschwimmerin Marlene Boyer, „aber innerlich sterben wir.“ Doch es sind nicht nur Radrennfahrerinnen und Synchronschwimmerinnen. Auch Abertausende weiterer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler anderer Disziplinen sind gezwungen, im Kampf um die Medaillen ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, Kunstturnerinnen und Eiskunstläuferinnen, Balletttänzerinnen und Skirennfahrer, Boxer und Langstreckenläufer, Tennisspielerinnen und Gewichtheber. Erklären lassen sich alle diese Leiden, diese Schmerzen, diese Qualen und diese Opfer wohl nur durch die Gesetzmässigkeiten des Konkurrenzprinzips. Es ist diese Lüge, auf der alles aufbaut: Die Lüge nämlich, jeder und jede könne eines Tages zuoberst auf dem Podest stehen, wenn er oder sie sich bloss genug anstrenge. Dabei liegt es doch in der Natur der Sache, dass sich alle noch so sehr bis zur Selbstaufgabe anstrengen könnten und am Ende doch immer nur ein Einziger, eine Einzige zuoberst auf dem Podest stehen wird. Weil aber alle daran glauben, liefern sie sich einen gegenseitigen Konkurrenzkampf, der naturgemäss immer härter und immer zerstörerischer wird in dem Masse, wie der Level der erforderlichen Spitzenleistungen immer weiter in die Höhe geschraubt wird. Doch nicht nur im Spitzensport herrscht die Lüge des Konkurrenzprinzips. Diese durchzieht die ganze kapitalistische Gesellschaft, die Arbeitswelt, die Wirtschaft. Jeder soll besser sein als alle anderen, jeder könne die anderen übertrumpfen – er müsse sich bloss genug anstrengen. Was im Umkehrschluss nichts anderes heisst, als dass alle, welche es nicht zur Spitze schaffen, selber daran Schuld seien – sie hätten sich eben nur ein bisschen mehr anstrengen sollen. Schon den Kindern in der Schule wird diese Lüge eingeimpft: Jedes Kind könne zu guten Noten, zu einem guten Zeugnis und zu einer erfolgreichen Lebens- und Berufskarriere gelangen, es müsste sich bloss genug anstrengen. Doch auch hier gilt, wie überall: Die Kinder könnten sich noch so sehr anstrengen, Tag und Nacht nur noch Wissensstoff pauken – selbst dann wären am Ende immer nur ein paar wenige auf dem „Siegerpodest“ und alle anderen können früher oder später ihre Träume und Hoffnungen begraben. Doch glücklicherweise gibt es eine Alternative zum zerstörerischen und lebensfeindlichen Konkurrenzprinzip: das Prinzip der Kooperation. Kooperation bedeutet: Die Menschen werden bei ihrer Arbeit, ihren Leistungen und Begabungen nicht mehr miteinander verglichen und in einen gegenseitigen Wettstreit gezwungen, sondern jeder Mensch trägt zum Gelingen des Ganzen sein Bestes bei, ökonomisch, gesellschaftlich, politisch. Jeder Mensch erfährt dabei die volle Wertschätzung durch seine Umgebung dank dem, was er ist, und nicht dank dem, was er sein könnte.

„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und
der Anfang der Unzufriedenheit“, sagte der dänische Philosoph 
Søren Kierkegaard. Wahrscheinlich würden dann, wenn das Konkurrenzprinzip erst einmal überwunden wäre, solche Absurditäten wie der „Race Across America“ und Sportarten wie das Synchronschwimmen früher oder später von der Bildfläche verschwunden sein. Aber wäre das so schlimm? Ich bin fast ganz sicher, dass eine Neuorientierung weg von einem zerstörerischen Konkurrenzprinzip hin zu einem menschenfreundlichen Prinzip der Kooperation eine heute noch ungeahnte Riesenfülle an neuen, kreativen Ideen, Arbeitsformen, Projekten, Aktivitäten und Begegnungen aller Art zutage bringen würde, die alle davon leben würden, dass niemand mehr andere fertigmachen muss, um selber erfolgreich zu sein, sondern der Erfolg jedes Einzelnen stets auch der Erfolg aller anderen ist…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“ – und was sonst noch alles?

 

In seiner Rede vor dem deutschen Gewerkschaftsbund sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sei, der sei „aus der Zeit gefallen“. Seither wird der Ausdruck nachgerade inflationär verwendet. Doch was heisst eigentlich „aus der Zeit gefallen“? Heisst es zum Beispiel auch, der Pazifismus sei „aus der Zeit gefallen“? Und was ist mit den Gewerkschaften, wenn sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne fordern, sind die dann auch „aus der Zeit gefallen“? Und die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf der Strasse festkleben, um gegen den stetig wachsenden Autoverkehr zu protestieren, müssten sie sich ebenso diesen Vorwurf gefallen lassen? In der Tat. Mit einer solchen Worthülse kann man alles und gleichzeitig auch nichts rechtfertigen. Es ist nichts anderes als eine Waffe in der Hand der Mächtigen, um Widerspenstige und Andersdenkende gefügig zu machen, indem man ihnen vorwirft, „ewiggestrig“ zu sein und den Schritt in eine neue, andere Zeit verpasst zu haben. Nichts an dieser Worthülse ist moralisch oder ethisch begründet – sie könnte ebenso gut auch von einem skrupellosen Diktator verwendet werden, der damit seine Widersacherinnen und Widersacher in die Schranken zu weisen versucht, indem er ihnen vorwirft, aus der Zeit – nämlich aus der Zeit der von ihm etablierten Schreckensherrschaft – gefallen zu sein. Die Beliebigkeit, die der Worthülse innewohnt, zeigt, dass uns allgemein gütige ethische Normen, auf die sich alle berufen können, offensichtlich abhanden gekommen sind. Krieg ist ebenso möglich wie Frieden, Gerechtigkeit ebenso wie Ungerechtigkeit, Reichtum ebenso wie Armut – nur eben alles zur richtigen Zeit. Wer die Zeit auf seiner Seite hat, muss das, was er tut, nicht mehr rechtfertigen, denn er tut ja bloss das, was die Zeit von ihm verlangt. So wie die Grünen, welche sich in ihrem Wahlkampf noch vehement gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatten und jetzt, ein halbes Jahr später, an vorderster Front sogar für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine einstehen. Doch diese Wechselbäder, diese Beliebigkeiten, diese Austauschbarkeiten werden uns nichts Gutes bringen. So „konservativ“ es auch klingen mag: Wir brauchen wieder verbindliche Werte, auf denen sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheide und Abläufe abstützen lassen. Der Begriff „Religion“ mag vielen suspekt sein, weil es im Namen der Religionen im Laufe der Geschichte viel zu viel Missbrauch, Gewalt und Zerstörungen gegeben hat. Aber alles hat auch eine gute Seite. Nennen sich die meisten von uns nicht immer noch „Christinnen“ und „Christen“, ist nicht immer noch von „christlicher Kultur“ die Rede? Wäre nicht das zentrale Gebot der christlichen Glaubenslehre, nämlich die Nächstenliebe, genau das, was wir heute dringender denn je bräuchten? Die Bibel unterscheidet zwei Formen der Liebe: Das eine ist der „Eros“, das andere ist die „Agape“. Versteht man unter „Eros“ die leidenschaftliche, stürmische und brennende Liebe zwischen zwei Menschen, so handelt es sich bei „Agape“ um bedingungslose Liebe auf universeller Ebene, welche auch die Feindesliebe mit einschliesst. Dass dies nicht bloss eine „Idee“ der christlichen Tradition ist, sondern auch in den meisten anderen Religionen und Kulturen eine zentrale Rolle spielt, zeigt beispielsweise folgendes Wort des griechischen Philosophen Epiktet aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung: „Die Liebe zu den Menschen ist Pflicht, sind wir doch alle Kinder desselben Gottes.“ Dass Agape, die universelle Nächstenliebe, nicht bloss etwas für die eigenen vier Wände sein, sondern weit darüber hinaus Wirkung zeigen sollte, war auch für den norwegischen Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen klar: „Nächstenliebe ist die einzige mögliche Realpolitik.“ Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sah das genau gleich: „Die Liebe auch zu unseren Feinden ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen.“ Ja. Wer nicht „aus der Zeit fallen“ will, macht es sich allzu einfach. Alles wird beliebig, alles ist möglich, es gibt keinen moralisch-ethischen Boden mehr unter den Füssen, nichts, was uns verbindet und uns hilft, vom Gleichen zu sprechen auch dann, wenn wir verschiedener Meinung sind. Die Suche nach Agape, der Nächstenliebe, wäre ein hoffnungsvoller Anfang. Sie würde die Dinge wieder in einen Zusammenhang bringen, der sinnvolles politisches Handeln möglich machen würde. Die Agape, ernst genommen, lässt nicht zu, dass eine Minderheit in Reichtum schwelgt, während Abermillionen von Menschen hungern. Agape lässt nicht zu, dass sich Menschen und Völker gegenseitig umbringen und ihre Dörfer und Städte zerstören, nur weil sie territoriale oder andere Konflikte haben, die sich auch mit friedlichen Mitteln lösen liessen. Und Agape lässt ebenfalls nicht zu, dass Natur, Klima und Umwelt dermassen ausgeplündert, belastet und zerstört werden, dass für nachkommende Generationen nichts mehr übrigbleibt. „Wenn die Menschen einander verstünden und Liebe hätten zueinander“, schrieb der Schweizer Erzähler Jeremias Gotthelf vor rund 200 Jahren, „dann hätte man den ganzen Irrgarten von Gesetzen nicht mehr nötig, worin man je länger je weniger weiss, wo man ist und wo der Ausweg ist und alles je länger je mehr durcheinander ist.“ Ja, vielleicht ist ja Agape genau das, was übrig bleibt, wenn alles andere „aus der Zeit gefallen“ ist…

Der Parteitag der deutschen Linkspartei und die Suche nach den „grossen Fragen“…

 

„Grund zum Feiern hat sie nicht“, so die deutsche „Tagesschau“ vom 24. Juni 2022 über die Linkspartei, die zurzeit in Erfurt ihren Bundesparteitag abhält. Und weiter: „Die Partei steckt in einer tiefen Krise und ist zerstritten wie lange nicht mehr. Es gibt nicht mehr viele Chancen für die Partei, wieder auf die Beine zu kommen.“ Im Zentrum der Streitigkeiten stehen interne Macht- und Richtungskämpfe, innerparteiliche Sexismusvorwürfe, die Haltung gegenüber Russland im Ukrainekonflikt sowie die insbesondere von Sahra Wagenknecht angestossene Kritik an den von ihr so bezeichneten „Lifestyle-Linken“ aus Grossstadtmilieus, die sich von den tatsächlichen Sorgen und Nöten der breiten Bevölkerung verabschiedet hätten. Die Krise der deutschen Linkspartei ist umso bedauerlicher, als angesichts der aktuellen Weltlage und der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland eine konsequent linke, antikapitalistische Kraft dringender nötig wäre denn je. Gemäss dem „Trust Barometer“ der amerikanischen Kommunikationsagentur Edelman, die regelmässig internationale Befragungen durchführt, glaubt nur noch jeder achte Deutsche, dass er von einer wachsenden Wirtschaft profitiert. Mehr als die Hälfte der Befragten, nämlich 55 Prozent, sind der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schade als nütze. „Weil die Wirtschaft auf die Sorgen und Nöte der Menschen keine ausreichende Antwort gibt“, so Christiane Schulz von „Edelman Deutschland“, „stellen immer mehr Menschen das kapitalistische System selbst in Frage.“ Und: „Die Menschen sind auf der Suche nach den grossen Fragen.“ Die Suche nach den grossen Fragen. Müsste nicht genau dies das Motto der Linkspartei sein? Unglaublich, aber wahr: 55 Prozent der Deutschen sehen im kapitalistischen Wirtschaftssystem keine Zukunft. Gleichzeitig aber mangelt es an einer echten Alternative, viele sind ratlos, verzweifelt, richten ihre Wut gegen Andersdenkende und vermeintlich politische „Feinde“ oder ziehen sich ins Private zurück und wollen von allem, was mit Politik zu tun hat, nichts mehr wissen. Es wäre die Geburtsstunde einer neu erwachten Linkspartei. Sie könnte mit einem Wählerpotenzial von 55 Prozent rechnen und alle anderen Parteien weit überflügeln! Freilich nur, wenn es ihr gelänge, glaubwürdige Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzuzeigen, all die Zusammenhänge zwischen Reichtum und Armut und den ganz alltäglichen Ausbeutungsverhältnissen aufzudecken, nicht mehr länger um den heissen Brei herumzureden, sich nicht mehr länger in Scheindiskussionen und internem Machtgerangel zu verlieren. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht in Deutschland allein überwunden werden, zu sehr ist er ein globales Machtsystem geworden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine linke politische Kraft, der es mit der Überwindung des Kapitalismus ernst ist, müsste sich daher mit gleichgesinnten politischen Kräften anderer Länder verbinden. Der Globalisierung des Kapitalismus müsste die Globalisierung all jener politischer Kräfte entgegengestellt werden, welche seine Überwindung zum Ziel haben. Wenn, wie der „Edelman Trust Barometer“ feststellt, die Menschen je länger je mehr auf der „Suche nach den grossen Fragen“ sind, dann müsste es einer echt antikapitalistischen Linkspartei das wichtigste Anliegen sein, auf diese grossen Fragen eine Antwort zu geben, im Klartext: ein glaubwürdiges antikapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept zu erarbeiten. Das heisst: Die Partei braucht so etwas wie einen Wissenschaftsrat, der die theoretischen Grundlagen einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufbauen würde, in der die soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung und das gute Leben für alle an oberster Stelle stehen müssten. Freilich dürfte das niemals eine abgehobene, rein akademische Angelegenheit sein. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse des „Wissenschaftsrats“ müssten in eine Sprache heruntergebrochen werden, die auch vom Bauarbeiter, vom LKW-Fahrer, von der Krankenpflegerin und von der Putzfrau verstanden würde und sie alle begeistern könnte. Mit anderen Worten: Die Linke müsste im besten Sinne des Wortes eine echte Volkspartei werden und diese heute so verhängnisvolle Spaltung zwischen Politik und „gewöhnlicher“ Bevölkerung überwinden. Auch dürfte eine linke Partei, um wirklich glaubwürdig zu sein, sich nicht nur auf theoretische Diskussionen beschränken, sondern sich gleichzeitig auch um das tägliche Wohl der Menschen hier und heute kümmern, ohne freilich dabei das grosse Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn bei allen Nöten und Sorgen, bei aller Wut und Verzweiflung steckt doch in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Welt, die soviel gerechter und friedlicher wäre als die unsere. Könnte es für eine politische Partei eine schönere und wichtigere Aufgabe geben als die, Wegbereiterin zu sein für eine Zukunft, von der wird doch alle insgeheim träumen?