Ukraine: Müssen noch mehr Menschen sterben, nur damit ihr Land „befreit“ werden kann?

 

Gemäss einem Bericht des „Tagesanzeigers“ vom 8. Juni 2022 schliesst der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski eine Waffenruhe derzeit aus. Ziel sei es, wieder die Kontrolle über die von Russland eroberten Gebiete zu erlangen. Ein Ende des von Russland gegen sein Land geführten Kriegs sei nur „auf dem Schlachtfeld“ möglich. „Wir haben“, so Selenski, „schon zu viele Menschen verloren, um jetzt einfach unser Territorium abzutreten.“ Wie zynisch. Da ja bereits so viele Menschen gestorben sind, spielt es also laut Selenski keine Rolle mehr, noch weitere tausende Menschen zu opfern – Hauptsache, das Territorium wird von der russischen Besatzung „befreit“. Doch was ist der fürchterliche Preis, den die Menschen dafür bezahlen müssen! Ist es den Bewohnerinnen und Bewohnern der Ostukraine tatsächlich so wichtig, Staatsangehörige der Ukraine, aber auf keinen Fall Russlands zu sein? Ist es nicht unvergleichlich viel wichtiger, genug zu essen zu haben, sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, gute medizinische Versorgung, einen ausreichend bezahlten Job, Zugang zu Freizeitaktivitäten, Bildung und Kultur? „Die Menschen haben für mich Priorität“, sagt Selenski. Wenn er das wirklich ernst nähme, müsste er sich mit aller Vehemenz für eine Waffenruhe einsetzen und für Friedensverhandlungen mit Russland. Dem Wohl der Menschen ist gewiss nicht gedient, wenn der Krieg unnötig in die Länge gezogen wird. Denn ukrainische Waffen sind genauso tödlich und zerstörerisch wie russische Waffen. Ein Land befreien zu wollen, indem man es zerstört, bloss um in letzter Konsequenz über Gebiete zu herrschen, die fast gänzlich menschenleer geworden sind und in denen jegliche Bauten und jegliche Infrastruktur dem Boden gleichgemacht wären, könnte widersinniger nicht sein. Kriege kann man nicht gewinnen, sie hinterlassen nicht Sieger und Verlierer, sondern am Ende sind alle Verlierer. Die Waffen müssen so schnell wie möglich schweigen. An die Stelle der Kriegslogik muss die Friedenslogik treten. Es müsste das gemeinsame Ziel der Konfliktparteien sein, all den Menschen, die schon viel zu lange unter Krieg, Zerstörung, Sanktionen und Repressalien aller Art leiden mussten, endlich ein gutes Leben in Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und Frieden zu ermöglichen, durch Kooperation, Handelsbeziehungen und kulturellen Austausch im Dienste der Völkerverständigung – ganz unabhängig davon, ob die betroffenen Menschen nun Staatsangehörige der einen oder der anderen Nation sind oder gar Angehörige einer eigenständigen, unabhängigen Republik. Der Ukrainekonflikt zeigt uns, dass Nationalismus und die weit überdimensionierte Bedeutung staatlicher Grenzen wohl dringendst überwunden werden müssen. Stets sind nämlich auch weltweit die Staatszugehörigkeit und die Verabsolutierung staatlicher Grenzen stets die Quelle von Konflikten und Kriegen. Wir sollten endlich erkennen, dass jeder Mensch in erster Linie eine Weltbürgerin, ein Weltbürger ist und erst an zweiter oder dritter Stelle Angehöriger eines bestimmten Staates. Eine logische Weiterführung dieses Gedankens wäre die Idee, die bisherigen Staaten durch eine Vielzahl von Regionen zu ersetzen, deren Verhältnis untereinander nicht von Konkurrenz, Machtkämpfen und territorialen Besitzansprüchen geprägt wäre, sondern von gegenseitiger Kooperation sowie wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. „Die Ukraine“, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, „sollte nicht Teil des einen oder des anderen Machtblocks sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ Eine vielversprechende Vision, in der die Ukraine wie auch Russland, wenn erst endlich einmal die Waffen schweigen, die einmalige Chance hätten, mit dem guten Beispiel voranzugehen hin zu einer Welt, die nicht mehr vom Gegeneinander verfeindeter Machtblöcke bestimmt wäre, sondern in der jedes Land und jede Region eine Brücke wäre zu allen anderen, eine Stätte des Wohlergehens aller Menschen, des guten Lebens und des Friedens für alle. 

„Der Tag wird kommen, an dem das Töten eines Tiers genauso als Verbrechen betrachtet wird wie das Töten eines Menschen.“

 

Genügen die bestehenden Vorschriften oder braucht es strengere Auflagen und Kontrollen, um eine artgerechte Haltung von Nutztieren wirksam durchzusetzen? Dies das Thema der Diskussionssendung „Arena“ vom 3. Juni 2022 am Schweizer Fernsehen zur Volksinitiative gegen die Massentierhaltung, über welche die Schweizer Bevölkerung am 25. September 2022 abstimmen wird. Wie viele Hühner sollen maximal in einem Stall gehalten werden können, wie häufig sollen sie freien Auslauf bekommen, wie viel Fläche soll ein Schwein zur Verfügung haben? Fragen über Fragen im Spannungsfeld zwischen Tierwohl und wirtschaftlicher Profitabilität. Doch genau da, wo die Sendung endet, müsste sie doch eigentlich erst so richtig beginnen…

Bei der Frage nämlich, inwieweit der Konsum von Fleisch und Fleischprodukten in einer Welt immer knapper werdender Ressourcen überhaupt noch eine Zukunft haben kann oder ob es nicht an der Zeit wäre, vollumfänglich auf eine pflanzliche Ernährungsweise umzustellen. Tatsache ist, dass, wie der ETH-Agronom Eric Meili berechnet hat, ein Drittel des weltweiten Ackerlands heute für die Tierhaltung und die Tierfutterproduktion verwendet wird. Würde man flächendeckend auf pflanzliche Nahrungsmittelproduktion umstellen, könnte man, so Meili, selbst mit durchgehend biologischem Anbau locker zehn Milliarden Menschen ernähren. Wenn heute weltweit rund eine Milliarde Menschen zu wenig zu essen haben und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil es ihnen an der nötigen Nahrung fehlt, dann ist dies eine ganze direkte Folge des gigantischen Fleischkonsums, an dem in erster Linie die reichen Länder des Nordens beteiligt sind – in Afrika wird pro Kopf der Bevölkerung rund sechs Mal weniger Fleisch gegessen als beispielsweise in den USA oder Australien. „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen“ – mit diesem Slogan machten schon vor 50 Jahren Entwicklungsorganisationen auf die haarsträubenden Zusammenhänge zwischen dem Überfluss und dem Luxus auf der einen Seite und dem Mangel am Allernotwendigsten auf der anderen Seite aufmerksam. Und seither ist es nur noch schlimmer geworden, hat sich doch in diesen fünf Jahrzehnten die globale Fleischproduktion nahezu vervierfacht! 

Eine weitere höchst problematische Begleiterscheinung der Fleischproduktion ist der damit verbundene massive Wasserverbrauch. So sind, um ein Kilo Rindfleisch zu produzieren, mehr als 15’000 Liter Wasser notwendig – die Folge sind ausgetrocknete Flüsse und Feuchtgebiete, sinkende Grundwasserspiegel und versalzene Böden. Doch obwohl dies eigentlich schon genug Gründe sein müssten, gibt es noch ein weiteres, mindestens so gewichtiges Argument für eine weltweite Umstellung auf eine rein pflanzliche Ernährungsweise. Jahr für Jahr werden weltweit rund 70 Milliarden so genannte „Nutztiere“ getötet, die einzig und allein für den Zweck gezüchtet wurden, um dem Menschen als Nahrung zu dienen. 70 Milliarden Lebewesen, von denen jedes einzelne eine eigene Seele hat, eigenes Empfinden, eigene Ängste, eigene Lebensfreude, eigene Träume. Im Grunde, man kann es nicht anders sagen, ein Verbrechen, das nur deshalb von Generation zu Generation nahtlos weitergeführt werden kann, weil es in unseren Köpfen so etwas gibt wie eine unsichtbare Schranke. Auf der einen Seite dieser Schranke sind die lieben Haustiere wie Hund, Katze und Hamster, die liebevoll gehegt, gepflegt und gehätschelt werden wie kleine Kinder und bei denen sich kein Mensch vorstellen könnte, ihrem Leben eines Tages gewaltsam ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite der Schranke die sogenannten „Nutztiere“, deren einziger Zweck darin besteht, eines Tages als Stück Fleisch auf dem Teller eines Menschen zu landen. Nur der Akt einer totalen Entfremdung, eines totalen Bruchs zwischen dem ursprünglichen Lebewesen und dem hermetisch abgepackten Produkt auf dem Gestell im Supermarkt lässt uns diesen Widerspruch aushalten. „Wenn der Mensch“, sagte der deutsche Dichter Christian Morgenstern, „die Tiere, derer er sich als Nahrung bedient, selber töten müsste, würde die Zahl der Pflanzenesser ins Unermessliche steigen.“ Aber es ist nicht nur diese Spaltung zwischen Lebewesen und Fertigprodukt, sondern auch die Macht der Gewohnheit, die dazu führt, dass sich so viele Menschen ein Leben ohne Fleischkonsum gar nicht wirklich vorstellen können: Was immer schon so war und was so viele andere auch tun, kann ja nicht wirklich etwas Schlechtes sein: „Weil die Mehrheit noch am Fleischgenuss hängt“, so der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, „halten ihn die Menschen für gerechtfertigt.“ 

Noch bilden Vegetarier und Veganerinnen eine Minderheit. Noch wird nicht selten der Mann, der statt einer Wurst oder eines Steaks ein Stück Käse auf den Grill legt, insgeheim belächelt oder bemitleidet. Noch ist mancherorts der Sonntagsbraten fast so heilig wie früher der Kirchenbesuch. Doch jede Veränderung beginnt mit einer Minderheit, mit einer neuen Idee, die, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer dereinst sagte, „zuerst einmal belächelt und dann bekämpft wird – bis sie nach längerer Zeit selbstverständlich geworden ist.“ Dies auf dem Weg in eine Zukunft, die noch vor uns liegt, die aber Leonardo da Vinci, der als eines der grössten Universalgenies in die Geschichte eingegangen ist, schon vor über 500 Jahren prophetisch vorausgesehen hatte, als er sagte: „Der Tag wird kommen, an dem das Töten eines Tiers genauso als Verbrechen betrachtet wird wie das Töten eines Menschen.“ Keine Frage, der Tag wird kommen, auch und gerade wenn die Widerstände heute noch schier unüberwindlich scheinen. Denn die Frage, wie sich die Menschheit in Zukunft ernähren wird, ist weit mehr als die Frage, ob man sich diesen oder jenen Luxus noch leisten kann oder nicht. Es geht um nichts weniger als das gemeinsame Überleben: „Nichts“, sagte Albert Einstein, „wird die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern, wie der Schritt zu einer vegetarischen Ernährung.“    

Medien zeigen fast immer nur Einzelereignisse und Einzelbilder – tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen…

 

Sarla Devi, so berichtet das deutsche Magazin „Spiegel“ am 1. Juni 2022, ist 38 Jahre alt. Sie hat drei Töchter im Alter von zwölf, acht und sechs Jahren. Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie in einer Hütte mit zwei Zimmern in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Devis Mann ist Gemüseverkäufer, sie selbst Bauarbeiterin. Jeden Morgen steht sie früh auf, räumt das Haus auf, macht die Kinder für die Schule bereit. Dann geht sie zur Baustelle. Schon am Morgen ist es extrem heiss, bis am Mittag klettert das Thermometer auf bis zu 50 Grad. „Manchmal“, berichtet Sarla, „fühlt es sich bei der Arbeit auf der Baustelle an, als würde die Strasse in Flammen stehen. Einige meiner Kolleginnen haben bereits Hitzekrämpfe erlitten, sind zusammengebrochen, dehydriert, sie verlieren zu viele Elektrolyte durch das Schwitzen. Ich nehme deshalb jeden Tag ein paar Zitronen mit auf die Baustelle, die presse ich aus und mische den Saft mit Wasser, das erfrischt ein wenig. Ich habe ja gar keine andere Wahl, muss mich durch den Alltag quälen.“ Sarlas Arbeit auf der Baustelle besteht vor allem darin, Metallboxen hin- und herzutragen. Die Arme schmerzen schon nach ein paar Stunden immer stärker: „Jeden Tag, da gewöhnt man sich nicht dran. Ich arbeite, solange mein Körper durchhält. Früher, vielleicht vor zehn Jahren, ging mir die körperliche Arbeit noch leichter von der Hand. Heute, wenn ich abends nach Hause komme, bin ich todmüde wie ein Hund.“ Doch auch in der Nacht dauert die unerträgliche Hitze an. Und nachts fühlt man zugleich die Luftfeuchtigkeit, die sich auf alles legt wie ein Schleier. Irgendwann, während ihre Kinder immer noch weinen, findet Sarla vor lauter Erschöpfung dann doch noch den Schlaf, für vielleicht vier bis fünf Stunden pro Nacht, um am nächsten Morgen schon total erschöpft wieder zur Baustelle zu gehen. „Das Leben in dieser Stadt“, sagt sie, „ist eben eine einzige grosse Anstrengung.“ Doch was für Sarla Devi und ihre Familie bitterster Alltag ist, sieht für einen anderen Teil der indischen Bevölkerung, die in unvorstellbarem Reichtum schwelgt, so ganz und gar anders aus: Anfangs Dezember 2018, so berichtet der „Spiegel“ am 12. Dezember 2018, ging in Udaipur, einer im 16. Jahrhundert erbauten indischen Stadt, eine Hochzeitsfeier über die Bühne, welche zweifellos sämtlichen  noch so romantischen Märchenbüchern aller Zeiten Konkurrenz zu machen vermochte. Eingeladen hatte Mukesh Ambani, mit einem Vermögen von 40 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt. Das Hochzeitsfest für seine Tochter liess er sich rund 100 Millionen Dollar kosten, für insgesamt 5100 Gäste, inklusive Auftritt der Sängerin Beyoncé, die Miete von mehr als tausend Luxuslimousinen und die täglich 40 bis 50 Flugzeuge, mit denen die Gäste aus aller Welt anreisten. Sarla Devi und Mukesh Ambani – zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, im gleichen Land. Doch ist das alles andere als ein Zufall, höchstens ein besonders extremes Beispiel. Die Hölle und das Paradies gibt es nebeneinander in jedem kapitalistischen Land, nur sind die beiden Welten nicht überall gleich weit voneinander entfernt. Wo es Reichtum gibt, gibt es Armut, und umgekehrt, das eine bedingt das andere. Kein Mensch kann bloss aufgrund ehrlicher und harter Arbeit ein Vermögen von 40 Milliarden Dollar anhäufen, das geht nur, indem man sich an möglichst gewinnbringenden Finanzgeschäften und Unternehmen beteiligt, die aus ihren Arbeitern und Arbeiterinnen sowie aus Rohstoffen und dem Verkauf von Fertigprodukten einen möglichst hohen Profit herausschlagen. Umgekehrt könnten Sarla Devi und ihre Arbeitskolleginnen sich selbst fast zu Tode schuften – dennoch würden sie zeitlebens in bitterster Armut verharren. Wer arm ist, bleibt arm. Und wer reich ist, steigt so oft noch viel höher hinauf, vermehrt sich das einmal zusammengeraffte Geld doch in immer noch kürzeren Abständen um ein immer grösseres Vielfaches. Auch die Baufirma, für die sich Sarla Devi kaputtarbeitet, wird zweifellos ihre Schäfchen ins Trockene bringen, und eines Tages werden über die neu erstellte Strasse wohl schon bald die Luxuskarossen der städtischen Oberschicht rollen und niemand, aber garantiert niemand von all denen, die in ihren vollklimatisierten Fahrzeugen am Steuer sitzen, werden nach den Namen jener Frauen fragen, die beinahe gestorben wären, um diese Strasse zu bauen. „Kapitalismus tötet!“, sagte Papst Franziskus. Wie Recht er hat! Es ist ein stiller Tod, ein unheimlicher Tod, ein unsichtbarer Tod, der noch immer von der alles beherrschenden Lüge verschleiert wird, es stünde ja jedem Menschen frei, reich und erfolgreich zu werden, wenn er sich bloss genug anstrenge. Dabei ist es doch mehr als offensichtlich: In unzähligen Kreisen, grösseren und kleineren, sich gegenseitig ineinander verstärkenden, ist alles beherrscht von Mechanismen der Ausbeutung und des Herausquetschens des grösstmöglichen Profits aus der Natur und den arbeitenden Menschen. So wie sich die vermögende Oberschicht Indiens durch das Elend von Millionen von Landarbeitern, Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnern und Bauarbeiterinnen wie Sarla Devi bereichert, so bereichern sich wiederum reiche Industrieländer wie die Schweiz durch die Wirtschaftsbeziehungen mit den ärmeren so genannten „Entwicklungsländern“, die grösstenteils auf den Export billiger Nahrungsmittel und Rohstoffe angewiesen sind: Fast 50 Mal so hoch ist der Profit, den die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ erzielt, als die Summe, welche die Schweiz diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Und wie wenn das alles noch nicht genug wäre, ist jetzt noch die Klimaerwärmung die letzte, gewalttätigste und grausamste Form der kapitalistischen „Tötungsmaschine“: Genau jene Länder der nördlichen Hemisphäre, die den grössten Anteil an CO2-Emissionen verursachen, vom Klimawandel selber aber noch am wenigsten betroffen sind, halten, als wäre nichts gewesen, unverrückbar am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums fest, während rund 3,5 Milliarden Menschen in der südlichen Hemisphäre schon heute von den Folgen des Klimawandels existenziell betroffen sind. Sarla Devi und Mukesh Ambani: Für gewöhnlich – egal ob in der Zeitung, am Fernsehen oder im Internet – wird stets nur das einzelne Ereignis, die einzelne Nachricht, das einzelne Bild gezeigt, ganz so, als hätten diese Ereignisse, Bilder und Nachrichten nichts miteinander zu tun, ganz so, als wäre die Welt bloss eine Welt voller Zufälligkeiten, ein Würfelspiel, in dem Glück und Unglück immer wieder neu verteilt werden. Wir sehen eine indische Strassenarbeiterin bei 43 Grad kurz vor dem Kollaps. Aber wir sehen nicht ihren Chef, der gleichzeitig in seinem vollklimatisierten Büro sitzt, eine Tasse Tee schlürft und am Ende des Tages einen zehn Mal höheren Lohn kassiert als die Strassenarbeiterin. Wir sehen und hören von Börsengewinnen, von wirtschaftlichen Erfolgsbilanzen und von steigenden Bruttosozialprodukten. Aber wir sehen nicht den Schweiss, das Blut und die Tränen der sich zu Tode rackernder Menschen, die sich hinter allen diesen Erfolgsmeldungen verbergen und diese überhaupt erst möglich gemacht haben. Tatschlich aber hat alles mit allem zu tun und nichts ist bloss Zufall. Alle diese Verbindungen aufzudecken, die tieferen Ursachen von Armut, Hunger und Elend aufzuspüren, Zusammenhänge von Abhängigkeiten und Ausbeutung sichtbar zu machen – wäre dies nicht die wichtigste, ja geradezu unverzichtbare Aufgabe von Medienschaffenden im Blick auf eine Überwindung aller Ausbeutung, aller sozialer Ungerechtigkeit und aller Gewalt über alle Grenzen hinweg? Eigentlich wäre es gar nicht so kompliziert. Denn es geht schlicht und einfach nur um eines: um die Wahrheit. Darum, sich nicht zufrieden zu geben mit der erst besten Antwort, darum, nicht lockerzulassen, sondern allem bis zum Äussersten auf den Grund zu geben, darum, weder den Armen bloss zu bemitleiden und den Reichen bloss zu bewundern, sondern keine Ruhe zu geben, bis alles, wirklich alles aufgedeckt ist, was Ungerechtigkeiten, Abhängigkeiten und Bevormundung zu erklären vermag. „Die Wahrheit zu sagen“, so der US-amerikanische Autor Andrew Vachss, „ist so subversiv, wie es nur geht. Der subversivste Akt, den man begehen ist, wenn man den Menschen die Wahrheit sagt. Denn was, wenn nicht die Wahrheit, soll die Macht haben, das Unrecht zu untergraben?“    

 

Alte Welt und neue Welt: „Aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit…“

 

Am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, platzierte sich die schwedische Schülerin Greta Thunberg mit einem Pappschild mit der Aufschrift „Schulstreik für das Klima“ vor dem Reichstag in Stockholm. Im Laufe der folgenden Monate sollten ihr weltweit Millionen von jungen Menschen folgen, friedlich, beharrlich und voller Kreativität dafür kämpfend, dass die natürlichen Lebensgrundlagen und damit das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten nicht weiterhin rücksichtslos den Profitinteressen einer auf blinde Wachstumsideologie fixierten Wirtschaft geopfert werden. Im April 2019 verbreiteten Medien rund um den Globus das Bild der 20jährigen sudanesischen Studentin Alaa Salah, die sich, singend auf einem Autodach stehend, durch die Strassen von Karthum fahren liess, begleitet von einer vieltausendfachen Menschenmenge. Seit Jahren hatten sich sudanesische Frauenorganisationen für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Frieden eingesetzt, auch unter widrigsten und gefährlichsten Umständen. Nun war es soweit: Am 11. April 2019 wurde der verhasste Diktator al-Bashir abgesetzt und innerhalb weniger Wochen wurden gesellschaftliche Veränderungen Wirklichkeit, die eben noch undenkbar gewesen waren. Ende Mai 2022 berichtete Bruna Bianchi, Mitarbeiterin eines internationalen journalistischen Netzwerks, von einer zunehmend breiter werdenden Bewegung russischer Frauen, die ihren Protest gegen den Krieg in der Ukraine auf vielerlei friedliche und kreative Art auf die Strasse tragen: Sie legen Blumen an symbolischen Orten nieder und stellen Antikriegs-Kunstobjekte her, die sie überall verbreiten, sie beschreiben Geldscheine mit Friedensbotschaften, um mit älteren Menschen zu kommunizieren, sie weinen auf der Fahrt mit dem Bus, um Empathie und Diskussionen auszulösen, sie filmen und verbreiten mutig das brutale Vorgehen der Polizei. In mehreren hundert Städten haben solche Aktionen schon stattgefunden und die dahinter stehende Organisation des FAR (Feminist Anti-War-Resistance) zählt bereits über 26’000 Anhängerinnen. Greta Thunberg, Alaa Salah, die russischen Friedensfrauen und viele weitere Millionen namenloser Kämpferinnen für eine neue, friedliche und gerechte Welt, sind sie nicht Anlass zu einer grenzenlosen Hoffnung ungeahnten Ausmasses? In solchen Momenten kommt es mir vor, als lebten wir gleichzeitig in gänzlich unterschiedlichen, gegensätzlichen Welten. Als gäbe es so etwas wie eine alte Zeit, in der sich die Kräfte des Hasses, der Gewalt, der Ausbeutung, der Zerstörung und der Kriegstreiberei noch einmal so richtig aufbäumen – und gleichzeitig eine neue Zeit, die eben erst geboren wurde und immer deutlicher erkennen lässt, wie eine zukünftige, andere Welt aussehen könnte. Es ist wohl alles andere als ein Zufall, dass die alte Zeit hauptsächlich von Männern verkörpert wird, während die neue Zeit zum grössten Teil von Frauen getragen wird, gemeinsam mit einer wachsenden Zahl von Jugendlichen, aber auch Seite an Seite mit zahllosen Männern, die ihre traditionellen Rollenbilder abzulegen beginnen und sich einem neuen Selbstverständnis öffnen, das sie so viel gefühlvoller, friedlicher und ganzheitlicher macht. Ja. Was wir heute erleben, scheint tatsächlich so etwas zu sein wie eine Zeitenwende, das Ende des Patriarchats und der Anfang eines tatsächlich von Grund auf neuen Zeitalters. So viel Hoffnung. Ganz so, wie es die bekannte Anti-Apartheid-Kämpferin und Schriftstellerin Nadine Gordimer einmal formulierte: „Ich weigere mich, ohne Hoffnung zu sein.“ Ja, man muss an das Gute glauben, damit es Wirklichkeit werden kann. Und doch: Es ist nicht so, dass das Gute ganz von selber kommt, es braucht so viele Verbündete als nur möglich, so viele Menschen als nur möglich, die nicht abseits stehen, sondern Partei ergreifen. Denn, wie der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan einmal sagte: „Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“ Doch wie kann die Vision einer neuen, friedlichen und gerechten Welt Wirklichkeit werden? Es muss, banal gesagt, ein Weg der Zärtlichkeit sein. Denn wenn das Ziel eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein soll, in der Gerechtigkeit, Liebe und Frieden an oberster Stelle stehen, dann muss auch der Weg dorthin ein Weg der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens sein. „Ohne Wut wird sich nichts ändern“, sagte der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker, „aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit.“ Und auch für Mahatma Gandhi war klar: „Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass wächst, droht Untergang.“ Wir alle waren wohl schon mal von einem dicken Nebel eingehüllt. Wir befanden uns in einer fremden Gegend, wussten nicht, was für eine Landschaft sich hinter dem Nebel verbarg. Doch dann, ganz langsam, begann sich der Nebel aufzulösen und durch ein kleines Loch erblickten wir einen Teil jenes neuen Landes, wo wir hingekommen waren. Immer mehr löste sich der Nebel auf, immer weiter wurde der Blick auf das neue Land, bis es irgendwann in seiner ganzen Pracht und Fülle sichtbar geworden war. So kommt mir die heutige Zeit vor. Noch sind wir in dicken Nebel eingehüllt, noch ertönt millionenfaches Leiden von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Doch nach und nach wird sich der Nebel lichten und das neue Land, das wir bloss erahnen konnten, wird Wirklichkeit. „Wir malen sie uns aus“, sagte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, „und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft, von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“

Hunger hier, Milliardengewinne dort: Die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze

 

Wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres Mitte Mai 2022 berichtete, hat die Zahl der weltweit Hungernden einen neuen Höchststand erreicht. In den letzten zwei Jahren habe sich die Zahl der Menschen, die unter Mangelernährung leiden, von 135 auf 275 Millionen mehr als verdoppelt. Eine wesentliche Ursache dafür liegt, wie ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Entwicklungsorganisation Oxfam feststellt, bei den Lebensmittelpreisen, welche in den letzten zwei Jahren weltweit um 33,5 Prozent gestiegen seien und im Verlaufe des Jahres 2022 voraussichtlich um weitere 23 Prozent steigen würden. Wenn Menschen hungern, dann also nicht etwa deshalb, weil insgesamt weltweit zu wenige Nahrungsmittel vorhanden wären – die reichen Länder des Nordens können sich sogar, wie der WWF unlängst berichtet hat, den unverschämten Luxus leisten, rund 40 Prozent aller gekauften Nahrungsmittel im Müll landen zu lassen. Hunger ist menschengemacht. Hunger ist die Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen zu können. Und der Hunger ist vor allem auch ein Riesengeschäft für jene, die selber nicht davon betroffen sind: So stiessen in den vergangenen zwei Jahren aus dem Kreis der Besitzer und Manager von multinationalen Lebensmittelkonzernen nicht weniger als 62 neue Milliardäre in den Club der weltweiten Superreichen. Der Lebensmittelmulti Cardill, der zusammen mit vier weiteren Unternehmen mehr als 70 Prozent des weltweiten Markts für Agrarprodukte kontrolliert, verzeichnete 2021 mit fünf Milliarden Dollar das beste Ergebnis seiner Geschichte und zahlte 1,13 Milliarden Dollar Dividenden aus. Das Gesamtvermögen der Familie Cardill stieg seit 2020 um 14,4 Milliarden Dollar, also um 65 Prozent, das sind fast 20 Millionen Dollar pro Tag, und dies vor allem dank dem Anstieg der Lebensmittelpreise. Und der Agrarrohstoffhändler Louis Dreyfus, einer der Hauptrivalen von Cargill, konnte 2021 seine Profite ebenfalls wegen der gestiegenen Preise für Getreide und Ölsamen um satte 82 Prozente steigern. Selbst die nicht als radikale Kapitalismuskritikerin bekannte neuseeländische Premierministern Jacinda Ardern sagt: „Der Kapitalismus hat die Menschen im Stich gelassen. Wenn es Hunderttausende von Kindern gibt, die nicht genug zum Überleben haben, ist das ein eklatanter Misserfolg. Wie könnte man es sonst beschreiben?“ Ein eklatanter Misserfolg. Dabei ist das Geschäft mit Lebensmitteln auf der einen Seite, zunehmende Hungersnöte auf der andern ja nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs, der in den Bergwerken Afrikas, den Kaffee- und Bananenplantagen Südamerikas und in den Textilfabriken Vietnams und Bangladeschs beginnt und auf dem Tablett unzähliger Luxusvergnügungen für die Reichen und Reichsten in den Ländern des Nordens endet. Kapitalismus sei das denkbar erfolgreichste Wirtschaftssystem, wird immer wieder behauptet. Das stimmt sogar. Aber nur, so lange man es aus der Sicht der Reichen und derer, die daraus ihren Profit ziehen, betrachtet. Auf der anderen Seite stehen das nackte Elend, unsägliche Armut, tödliche Krankheiten und der frühe Tod aufgrund von Überarbeitung, fehlender Gesundheitsversorgung und mangelhafter Ernährung. Noch schlimmer wird es, wenn man in die Zukunft schaut: Mit dem kapitalistischen Dogma, wonach Wachstum das oberste Gebot jeder erfolgreichen Form von Wirtschaft zu sein habe, und der damit verbundenen und immer weiter um sich greifenden Plünderung aller natürlicher Ressourcen, gefährdet der Kapitalismus nicht nur das Leben der heutigen, sondern gleich auch noch jenes aller zukünftigen Generationen. „Kapitalismus tötet“ – diese Aussage von Papst Franziskus bringt es so kurz, so klar und so deutlich auf den Punkt, dass man dem eigentlich nichts mehr beifügen müsste. Doch wie ist es möglich, dass sich ein so zerstörerisches Wirtschaftssystem, das zu einer historisch derart einmaligen sozialen Ungleichheit geführt hat und selbst die gesamte Zukunft der Menschheit aufs Spiel setzt, immer noch und so lange schon an der Macht halten kann? Eine der wichtigsten Gründe liegt wohl darin, dass im Laufe der „Globalisierung“ des Kapitalismus ein so weit verzweigtes, undurchsichtiges weltweites Machtsystem die Oberhand gewonnen hat, dass sämtliche Verbindungen zwischen Tätern und Opfern gar nicht mehr zu erkennen sind. Würde nämlich der Konzernchef oder der Besitzer eines dieser multinationalen Lebensmittelkonzerne drei- oder vierjährige Kinder irgendwo in Afrika eigenhändig umbringen, dann würde wohl ein so gewaltiger Aufschrei durch die Welt gehen, dass die Machenschaften des betreffenden Konzerns sogleich eingestellt werden müssten. So aber können die Konzernchefs und die Aktionäre fein säuberlich in klimatisierten Büros und Konferenzsälen sitzen, während gleichzeitig jeden Tag Zehntausende von Kindern am anderen Ende der Welt unter unvorstellbaren Qualen ihr Leben verlieren, ganz so, als hätte das eine mit dem andern nicht das Geringste zu tun. 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche haben unser Denken geraubt, haben uns eingetrichtert, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Art ist, wie Gesellschaft und Wirtschaft zu organisieren sind, haben in uns die alles beherrschende Lüge eingepflanzt, wonach das Leben auf diesem Planeten ein permanenter Wettkampf aller gegen alle sei, aus dem stets wieder die einen als Sieger hervorgehen und alle anderen an ihren Niederlagen, ihrem Versagen und ihrem Leiden ganz und gar selber Schuld seien. Was wird, wenn dann endlich einmal alles vorüber ist, in den Geschichtsbüchern zukünftiger Generationen wohl dereinst über das Zeitalter des Kapitalismus geschrieben sein?

Zu viele Menschen finden in ihrer täglichen Arbeit keine Selbstverwirklichung

 

Nur gerade 50 Prozent aller Arbeitnehmenden in der Schweiz, so berichtet das „Tagblatt“ am 25. Mai 2022, sind mit ihrer aktuellen Arbeitssituation „sehr bis mässig zufrieden“. Es fehle häufig am Gefühl, „bei der Arbeit ganz sich selbst sein zu können“ und einer „erfüllenden Tätigkeit“ nachgehen zu können. Vermutlich hängt dies sehr stark von der jeweiligen beruflichen Tätigkeit ab. So könnte ich mir gut vorstellen, dass eine Architektin, welche ihre kreativen Ideen in interessante Bauprojekte umsetzen kann, mit ihrer Arbeitssituation durchaus „sehr bis mässig zufrieden“ sein wird, während die Angestellte eines Supermarkts, die von früh bis spät Lebensmittelregale auffüllen muss, in ihrem Job wahrscheinlich eher weniger „Erfüllung“ findet und kaum je das Gefühl hat, bei ihrer Arbeit „ganz sich selbst sein zu können“. Eigentlich ist die Berufswelt zutiefst ungerecht: Können viele ihre ursprünglichen beruflichen Wunschträume verwirklichen, sind ebenso viele andere dazu verdammt, lebenslang Jobs zu verrichten, die nicht das Geringste mit ihren ursprünglichen Wunschträumen zu tun haben. Kommt dazu, dass ausgerechnet diese oft unbeliebten, anstrengenden und mühsamen „Knochenjobs“ in aller Regel schlechter entlohnt sind als jene, die viel eher eine Selbstverwirklichung in der täglichen Arbeit ermöglichen. Es gäbe für dieses Problem eine naheliegende Lösung: Wie wäre es, wenn alle berufstätigen Menschen nicht nur einen einzigen, sondern zwei unterschiedliche berufliche Tätigkeiten ausüben würden? Die eine zum Beispiel vormittags, die andere nachmittags, oder die eine an zweieinhalb Tagen pro Woche, die andere an den übrigen zweieinhalb Tagen. Die eine Tätigkeit wäre die, welche dem ursprünglichen Wunschtraum nach Selbstverwirklichung entsprechen würde, eine Tätigkeit, in der man „ganz sich selbst sein“ könnte und seine Lebenserfüllung fände. Die andere Tätigkeit, das wäre dann eben ein „Knochenjob“, eine Arbeit, die zwingend von jemandem erledigt werden muss, wenn Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes funktionieren sollen. Dies hätte gegenüber dem heutigen, auf einen einzigen Beruf zugeschnittenen Arbeitsmodell viele Vorteile. Erstens: „Angenehmes“ und „Unangenehmes“ wäre gleichmässig auf alle Schultern verteilt, es gäbe nicht mehr Privilegien der einen auf Kosten der anderen. Zweitens: Körperliches und seelisches Wohlbefinden würden insgesamt gesteigert, alle hätten die Möglichkeit zu einer erfüllenden Tätigkeit, alle wären gleichermassen körperlich und geistig gefordert und Berufskrankheiten durch zu einseitige – körperliche wie psychische – Belastung würden wohl weitgehend verschwinden. Drittens: Die heutige durch die Segmentierung der Arbeitswelt bedingte Trennung zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten würde sich weitgehend auflösen. Sieht man den Rechtsanwalt, der am Vormittag in seinem Büro sass, am Nachmittag als Kehrichtmann oder als Strassenarbeiter, dann würden sich augenblicklich die konventionellen Denkmuster von „oben“ und „unten“ in Nichts auflösen. Ich gebe zu: Es handelt sich hier um eine Vision, die sich nicht so einfach von heute auf morgen umsetzen liesse. Und vielleicht gäbe es ja noch bessere Ideen, wie man das Problem. dass sich die Hälfte der Arbeitnehmenden in ihrer täglichen beruflichen Arbeit nicht wirklich wohl fühlen, lösen könnte. Aber allein der Umstand, dass so viele Menschen in ihrer Arbeit keine wirkliche Erfüllung finden, ist doch ein so grosser gesellschaftspolitischer Hilfeschrei, dass schlicht und einfach etwas Grundsätzliches und Wirksames dagegen unternommen werden muss, ob wir wollen oder nicht. Denn schon heute zeigt sich: Immer mehr Menschen wandern aus den unbeliebten und schlechtbezahlten Knochenjobs aus, an allen Ecken und Enden – von der Krankenpflege bis zu den Handwerkern, von der Gastronomie bis zu den Baustellen – fehlt es am nötigen Personal, während gleichzeitig immer mehr akademisch Ausgebildete überhaupt keine zu ihren Qualifikationen passende Stelle mehr finden. Früher oder später muss es darauf eine gesellschaftspolitische Antwort geben. Die Idee, dass jeder Mensch nicht nur einen, sondern zwei Jobs ausüben würde, ist nur einer von vielen möglichen Lösungsvorschlägen. Wer hat einen besseren?

„Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit…“

 

„Er räuspert sich oft, stockt und weicht nie auch nur einen Zentimeter von der bis ins Detail austarierten NATO-Sprachregelung ab – ein sicherer Wert für den Westen“ – so beschreibt das „Tagblatt“ vom 21. März 2022 den 63jährigen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das unverkennbare Gesicht jenes 30 Mitglieder umfassenden westlichen Militärbündnisses, das in den Monaten seit der russischen Invasion in die Ukraine zu einer nie dagewesenen Geschlossenheit und Einmütigkeit zusammengefunden hat. Nur ungern lässt sich Stoltenberg daran erinnern, dass da in seiner Jugendzeit alles ganz anders gewesen war: In den 1970er-Jahren nämlich demonstrierte der spätere NATO-Chef mit langen Haaren gegen den Vietnamkrieg. Und als Chef der sozialdemokratischen Jugend Norwegens kämpfte er sogar für den Austritt seines Landes aus dem westlichen Verteidigungsbündnis. Das sei Jahrzehnte her und da sei er eben noch ein „junger Mann“ gewesen und hätte „absolut falsche Positionen“ vertreten, meint Stoltenberg heute entschuldigend. Doch Stoltenberg ist nicht der Einzige, der als „junger Mann“ Positionen vertrat, von denen er heute nichts mehr wissen will. Auch schweizerische SP-Nationalrätinnen und SP-Nationalräte wie Tamara Funicelli, Fabian Molina und Cédric Wermuth – um nur einige wenige zu nennen – kämpften in ihrer Jugendzeit für die „Überwindung des Kapitalismus“, für eine Vision, von der sie längst Abschied genommen zu haben scheinen, die zumindest in ihrer heutigen realpolitischen Arbeit kaum je sichtbar ist und von der sie wahrscheinlich ebenfalls als von einer längst überwundenen „Jugendsünde“ sprechen würden. So wie der Davoser Landammann Philipp Wilhelm, der als „junger Mann“ und Globalisierungskritiker aus Überzeugung gegen das WEF demonstrierte, heute sich aber, wie das „Tagblatt“ m 23. Mai 2022 schreibt, „darauf freut, dass das Treffen nach der Covid-Zwangspause wieder stattfinden kann.“ So geht das. So werden sie zurechtgeschliffen. So werden aus aufmüpfigen, revolutionären, widerspenstigen jungen Menschen nach und nach so ganz richtig „vernünftige“ und „korrekt“ funktionierende Erwachsene, die selbst ihre eigenen früheren Überzeugungen verleugnen, ins Lächerliche ziehen oder sich sogar dafür entschuldigen. „Im Jugendidealismus“, sagte der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen soll.“ Es ist der verhängnisvollste Fehler des herrschenden Erziehungssystems, dass alles darauf ausgerichtet ist, aus Kindern und Jugendlichen möglichst schnell und effizient möglichst gut „funktionierende“ Erwachsene heranzubilden, während es doch eigentlich das Ziel jedes Menschen sein müsste, möglichst lange, bis zum Ende seines Lebens, ein Kind zu bleiben. „Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben“, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, „Sterne, Blumen und Kinder.“ Tragen wir ihnen Sorge, den Kindern, nicht nur ihnen selber, sondern vor allem auch ihren Gedanken, ihren Visionen, ihren Träumen, den in ihnen liegt so unendlich viel Wahrheit. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, dann müssen wir diese Funken aus dem Paradies zum Anfang werden lassen für eine neue Zeit, in der sich nie mehr ein Erwachsener dafür entschuldigen müsste, woran er in seiner Kindheit und seiner Jugendzeit gedacht, woran er geglaubt und wofür er gekämpft hatte. Eine neue Zeit, in der nicht mehr die Ideale und Visionen der Kinder und Jugendlichen der Erwachsenenwelt geopfert werden, sondern, im Gegenteil, die Erwachsenenwelt von den Kindern und Jugendlichen inspiriert wird, eine andere, neue Welt zu werden. „Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen“, sagte der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, „denn wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar noch weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“

Erster Tag des World Economic Forum in Davos: „Die Ukraine hat die Party gecrasht“…

 

23. Mai 2022: Erster Tag des World Economic Forum in Davos. Ein ukrainisches Mädchen mit gelbblauem Band im dunklen Zopf wartet schüchtern auf den Auftritt von Witali Klitschko, der sogleich den Raum betreten und eine feurige Rede mit einem glühenden Appell an das Gewissen aller Länder angesichts der Bedrohung der Ukraine durch das russische Regime halten wird. Als Selenski im grossen Plenarsaal überlebensgross auf der Videobildfläche erscheint, brandet spontan Applaus auf. Und als seine Rede, in der Selenski im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg immer wieder von einer „Zeitenwende“ spricht, zu Ende ist, erhebt sich das Publikum zu minutenlangen Standing Ovations. Das „Russian House“, wo früher die russische WEF-Delegation untergebracht war, ist zum „Russian Warcrimes House“ umfunktioniert worden und zeigt jetzt eine Ausstellung über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Kamerateams aus aller Welt filmen die ausgestellten Bilder und übermitteln sie als Beweise für die russischen Gräueltaten in alle Welt. „Die Ukraine“, schreibt der „Tagesanzeiger“, „kann die Bühne fast im Alleingang bespielen.“ Und das „Tagblatt“ spricht gar davon, dass die Ukraine an diesem Tag „die Party gecrasht“ habe. Einseitiger, manipulativer, demagogischer geht es nun wirklich nicht mehr. Ich erwarte ja nicht, dass irgendwer die russische Invasion in die Ukraine gutheissen sollte – das tut ja nicht einmal mehr eine wachsende Zahl von Russinnen und Russen selber. Aber ich erwarte ein Mindestmass an seriöser und selbstkritischer Aufarbeitung der Geschichte und nicht bloss eine Party, bei der sich lauter Gleichgesinnte so lange gegenseitig auf die Schultern klopfen, bis alle windelweich und ohne Ausnahme genau gleich denken. Viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Erstens: Wo sieht man die Bilder jener Gräueltaten, die seit 2014 vom ukrainischen Asowregiment und anderen nationalsozialistischen Kampfverbänden an der Zivilbevölkerung in der Ostukraine verübt wurden? Zweitens: Wer erzählt die Geschichte der NATO-Osterweiterung, die gegen wiederholte Bedenken Russlands seit 1991 immer weiter vorangetrieben wurde und durchaus mit einem Militärbündnis zwischen Kanada, Mexiko und Russland vergleichbar ist, welches auch in den USA niemals toleriert worden wäre? Drittens: Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das „Russian House“ in ein „Russian Warcrimes Hous“ umfunktioniert und wer garantiert, dass die dort ausgestellten Bilder tatsächlich alle echt sind – wo doch allgemein bekannt ist, dass nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine einen mit allen Mitteln modernster Technik geführten Informations- und Propagandakrieg führen. Viertens: Wenn Witali Klitschko davon spricht, dass ukrainische Teenager gefesselt und erschossen worden seien und man in Autos, welche von Panzern überfahren worden seien, sterbliche Überreste von Kindern gesehen habe, dann müsste er ehrlicherweise auch davon sprechen, wie grausam russische Kriegsgefangene von den Ukrainern behandelt werden: „Gleich auf mehreren Kanälen“, so die „NZZ“ am 11. März 2022, „werden russische Kriegsgefangene in erniedrigenden Situationen sowie verstümmelte, verkohlte oder blutüberströmte Gefallene gezeigt. In einem tausendfach geteilten Video verhöhnen zwei ukrainische Soldaten einen abgeschossenen russischen Piloten und drohen ihm vor der per Handy zugeschalteten Frau massive Gewalt an.“ Fairerweise, aber daran denkt offensichtlich niemand, müsste neben dem „Russian Warcrimes House“ auch ein „Ukrainian Warcrimes House“ stehen, wo die entsprechenden Bilder und Filme zu sehen wären – noch selten war das Sprichwort, wonach in jedem Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei, so aktuell wie heute. Wenn man schon für die Organisation des WEF einen so immensen Aufwand betreibt, Essen, komfortable Unterkunft und Dienstleistungen aller Art rund um die Uhr bereitstellt und die Gäste von nah und fern über Tausende von Kilometern heranfliegen lässt – dann müsste doch eine Konferenz von so grosser weltpolitischer Bedeutung vor allem der Wahrheitsfindung und der konstruktiven Problemlösung dienen und nicht dem fanatisierten Aufspalten der Welt in eine „gute“ und eine „böse“ Hälfte. Dieser Tage hat die italienische Regierung einen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, in dem erstmals mit dem Tabu gebrochen wird, es gäbe nichts ausserhalb eines totalen Sieges oder einer totalen Niederlage der einen oder der anderen Seite. Nur sucht man in den einschlägigen Medien nach der Meldung über diesen Friedensplan wie nach der Stecknadel im Heuhaufen – während Selenski, die Klitschkobrüder, ein Mädchen mit gelbblauem Haarband und die Bilder aus dem „Russian Warcrimes House“ alle Spalten der Tageszeitungen und alle Nachrichtensendungen am Fernsehen beherrschen. Als gehörte die ganze Welt nur der einen Seite. Lobt sich der Westen nicht stets seiner Meinungsfreiheit, seiner Demokratie, seiner Menschenrechte? Weshalb dann diese unglaubliche Einseitigkeit der öffentlichen Meinungsbildung, etwas, was man ja stets der Gegenseite zum Vorwurf macht. Böte nicht gerade ein Ort wie das WEF die einzigartige Chance, gängige Denkmuster aufzubrechen, eingefahrene Feindbilder zu hinterfragen, der Völkerverständigung, dem Dialog, dem Frieden eine Chance zu geben? Dies, und nicht der ständige Ruf nach noch mehr Waffen und noch mehr Krieg, wäre dann vielleicht das, was man tatsächlich als eine „Zeitenwende“ bezeichnen könnte… 

Der neueste Hit: Öko-Resorts für Reiche mit Zukunftsangst

 

Bei Kitzbühel, so berichtet die „Basler Zeitung“, soll es bald ein Öko-Resort für Reiche mit Zukunftsangst geben. Geplant ist eine mondäne Anlage mit 13 Villen, 37 Apartments und einem Fünfsternehotel mit 77 Zimmern und einem 3000-Quadratmeter-Spa. Es soll durch eine eigene Energie- und Wasserversorgung autark und nachhaltig sein. Geplant sind ausserdem ein Biogarten, ein Hühnerstall und ein wöchentlich stattfindender Bauernmarkt. Die Entwickler nennen ihr Projekt im Werbeversprechen eine „autarke Arche Noah“. Wer eine der geplanten Wohneinheiten erwerben möchte, muss aber zuerst einmal zwölf Fragen beantworten. Die erste lautet: „Wie viel möchten Sie bezahlen, 3 bis 6 Millionen, über 6 Millionen, über 10 Millionen?“ Doch die zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner sollen auch weltanschaulich zueinanderpassen. Das soll mittels folgender Fragen herausgefunden werden: „Sind Sie eine spirituelle Persönlichkeit?“ Oder: Was ist Ihnen wichtiger, ein Privatjet, eine Jacht oder ein langes Leben?“ Die ursprüngliche Idee der Initianten, jedem Chaletbewohner als Gratis-Dreingabe einen E-Porsche Tycan in veganer Ausstattung zu schenken, wurde erst nach massiven negativen Reaktionen aus der Öffentlichkeit wieder fallengelassen. Die „Arche Noah“ bei Kitzbühel ist indessen nur eines von zahlreichen Beispielen, wie sich Reiche und Superreiche weltweit ihr Überleben nach einer möglichen Finanz-, Wirtschafts- oder Klimakatastrophe versüssen wollen. So etwa bereiten sich, wie die österreichische Internetseite „Kontrast“ berichtet, mehrere Milliardäre aus dem Silicon Valley auf ein zukünftiges Leben in Neuseeland vor. Bereits hat sich Peter Thiel, Investor und Berater des ehemaligen Bundeskanzlers Kurz, mit einem Trick die neuseeländische Staatsbürgerschaft ergattert und mehrere Grundstücke für eine weltuntergangssichere Festung erworben. Auch Google-Chef Larry Page hat sich bereits die neuseeländische Staatsbürgerschaft organisiert. Und wahrscheinlich hat auch schon Elon Musik alle Vorbereitungen getroffen, um im Falle einer drohenden Weltkatastrophe in seine Weltraumrakete zu steigen und sein Lebensglück auf einem anderen Planeten zu suchen. Zynischer und menschenverachtender geht es nun wirklich nicht mehr. Ausgerechnet jene „Elite“ der Eliten, welche sich dank dem kapitalistischen Finanz-, Wirtschafts- und Ausbeutungssystem über alle Grenzen hinweg sündhaft bis zum Gehtnichtmehr bereichert hat, sich jetzt, wo es brenzlig wird und ihre Untaten immer offensichtlicher zutage treten, in untergangssichere Luxusresorts, Bunker und Festungen zurück und überlässt den Rest der Menschheit, den sie zuvor schamlos ausgebeutet hat, schlicht und einfach ihrem Schicksal, ohne dass diese nur den Hauch einer Chance hätten, irgendwohin anders zu fliehen als in ihre selbergebastelten, allem Unbill ausgesetzten Hütten. Doch würde es zu kurz greifen, mit den Fingern bloss auf die „bösen“ Superreichen zu zeigen. Weite Teile der Bevölkerung in den westlichen Ländern – oder zumindest all jene, die sich dies immer noch leisten können – verhalten sich grundsätzlich nicht anders. Millionen haben irgendwo in den Bergen eine Zweitwohnung, am Genfersee oder Bodensee eine Segeljacht oder gondeln mit ihren Wohnmobils von Land zu Land. Sie frönen immer noch – allen Katastrophenmeldungen zum Trotz – dem Dinieren im Luxusrestaurant, den Wellnessferien im Fünfsternehotel, der Sauna oder dem Swimmingpool im eigenen Haus, und lassen dabei jene, wie es der deutsche Wirtschaftsminister so treffend sagte, „Spur der Verwüstung“ zurück, welche die wachsende Mehrheit der Weltbevölkerung in immer grösseres Elend stürzt. Zweifellos wird dabei der Gegensatz zwischen dem Leben im Luxus, den sich eine Minderheit immer noch leisten kann, und dem Leben in der Hölle, das für immer mehr Menschen bittere Wirklichkeit wird, von Tag zu Tag grösser. Dabei wäre es so einfach: „Es gibt genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“, sagte Mahatma Gandhi. Auch heute noch würden die weltweit vorhandenen Ressourcen an Rohstoffen, Lebensgütern und Nahrungsmitteln vollauf genügen, um alle Menschen ausreichend zu versorgen – vorausgesetzt, alles würde unter alle gerecht verteilt und gäbe es dann nicht mehr bloss ein paar Inseln des Überlebens in den österreichischen Alpen oder auf Neuseeland, sondern wäre die ganze Erde eine einzige Arche Noah voller Gerechtigkeit, voller Liebe und voller Lebensfreude für sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten, für alle Menschen, alle Tiere und alle Pflanzen gleichermassen…  

Weshalb wir zu Kitaangestellten, Krankenpflegerinnen, Bauarbeitern, Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Fabrikarbeitern so viel mehr Sorge tragen müssten…

 

„Die meisten steigen bis Mitte zwanzig aus“, sagt die 27jährige Kitaangestellte L.W. in der Gewerkschaftszeitung „work“, „der dauernde Personalmangel, der Druck, das macht dich kaputt.“ Immer wieder müssen Kitas infolge Personalmangels den Betreuungsschlüssel erhöhen, was bedeutet, dass sich zu wenige Betreuende für längere Zeit gleichzeitig um zu viele Kinder kümmern müssen. Die Folge: Immer mehr Berufsausstiege, durch wird der Druck auf die Verbliebenen noch grösser – ein Teufelskreis. „Alarm, Alarm, Alarm!“, schreibt auch das „Tagblatt“ am 23. Mai 2022. Doch nicht nur bei der vorschulischen Kinderbetreuung brodelt es. Von einem Fachkräftemangel hört man aus allen Ecken und Enden, in der Kranken- und Alterspflege, bei Handwerkerinnen und Handwerkern, in der Gastronomie. Dies alles ist kein Zufall, sondern die ganz direkte und logische Folge eines falschen Bildungssystems. Schon von klein auf wird den Kindern nämlich eingetrichtert, einen möglichst „hohen“, wenn möglich akademischen Bildungsweg anzustreben, um dereinst einen Beruf mit möglichst hoher Wertschätzung und möglichst hoher Entlohnung ausüben zu können. Die Schule ist nichts anderes als ein Wettkampf um die zukünftigen Sonnenplätze in der Arbeitswelt und der Gesellschaft. Sei ein Lehrer, aber auf keinen Fall ein Strassenarbeiter, sei eine Kinderärztin, aber auf keinen Fall eine Verkäuferin, sei ein IT-Spezialist, aber auf keinen Fall ein Kehrichtmann – so tönt es pausenlos an die Ohren des Kindes und es wird alles unternehmen, um diesen Wettkampf möglichst erfolgreich zu bestehen. Jetzt rächt sich dies alles: Oben sammeln sich immer mehr „Sonnenhungrige“ auf den höheren Etagen der Gesellschaftspyramide an, von denen viele gar nicht einen Job finden, der ihrem langen und aufwendigen Bildungsweg Rechnung trägt – unten, auf der Schattenseite, wird es immer leerer. Als würde man ein Haus errichten, ohne zuvor ein genügend festes Fundament gebaut zu haben, um das Haus auch tatsächlich tragen zu können. Doch was wäre die Lösung des Problems? Erstens: Auf rein akademische Berufswege, die eine grosse Anzahl junger, arbeitsfähiger Menschen von der realen Berufswelt fernhalten, könnte man problemlos verzichten. Jeder junge Mensch sollte

eine
praktische Berufslehre absolvieren – Zehntausende, die heute auf den Gymnasien
sitzen, wären dann an konkreten Arbeitsplätzen anzutreffen, wo heute ein
gravierender Mangel an Arbeitskräften herrscht und jeder Abgang den Druck für
alle Verbliebenen nur umso mehr verstärkt. Sodann sollten alle jungen
Berufsleute mindestens fünf Jahre lang in ihrem erstgewählten, praxisbezogenen
Beruf verbleiben. Natürlich braucht es auch Akademiker, Ärztinnen,
Rechtsanwälte, Ingenieurinnen und Lehrer. Aber es genügt, wenn man diese
weiterführenden Ausbildungswege an die Basis grundlegender beruflicher
Tätigkeiten anknüpfen kann: Der junge Mann – um nur ein Beispiel zu nennen -,
der fünf Jahre lang als Krankenpfleger gearbeitet hat, könnte sich auf dem
zweiten Bildungsweg zum Arzt weiterbilden – die Vorkenntnisse und die
Berufspraxis nach fünfjähriger „Basisarbeit“ wären wohl mindestens so wertvoll,
wie wenn der junge Mann in dieser Zeit ein Gymnasium besucht hätte, ohne
Kontakt zur realen Arbeitswelt. Zweitens: Die Arbeitsbedingungen und die
Entlohnung in den „Basisberufen“ müssten mindestens so attraktiv sein wie in
den sogenannt „höheren“ beruflichen Tätigkeiten. Ideales Fernziel wäre, so
utopisch dies heute noch klingen mag, ein Einheitslohn, denn es gibt keine
einleuchtende Begründung dafür, weshalb eine Rechtsanwältin so viel mehr
verdienen sollte als eine Krankenpflegerin, die sich von früh bis spät
abrackert  und dabei sogar ihre
Gesundheit aufs Spiel setzt – wir kennen unzählige mehr oder weniger weit
hergeholte Begründungen für Lohnunterschiede, alle sind völlig willkürlich und
verkennen die Grundtatsache, dass eine Arbeitswelt und eine Wirtschaft, die
funktionieren sollen, auf den Einsatz und die Tatkraft sämtlicher Beteiligter angewiesen ist, welche dann auch alle gleichermassen am gemeinsamen Erfolg
beteiligt sein sollten. Schliesslich noch, drittens, vielleicht das Wichtigste:
Es geht um die Wertschätzung, um die Anerkennung, um die grundlegende Einsicht,
dass das Haus, in dem wir wohnen, nur dann nicht zusammenbricht, wenn das
Fundament, auf dem es steht, genug fest gebaut ist. Ohne Hochschulprofessoren,
Pfarrerinnen und Unternehmensberater würde unsere Wirtschaft wohl eine gute
Zeitlang problemlos weiterfunktionieren. Wenn aber Krankenpflegerinnen,
Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Kitaangestellte und Arbeiterinnen und Arbeiter in
den Lebensmittelfabriken ihre Arbeit niederlegen würden, käme wohl augenblicklich
alles zum Stillstand und wir würden zu spät erkennen, was in unserem
Bildungssystem, an den sogenannten „Bildungsidealen“, am allgemeinen Wertesystem
und am Umgang mit den unterschiedlichen Arbeitswelten und Berufszweigen alles
schiefgelaufen ist…